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Neun Tage Latein Plaudereien

Date post: 07-Aug-2015
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Philologically inspired handbook for learning Ancient Latin - 4ed. by Bruno Snell
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Copyright Das Copyright für alle Webdokumente, insbesondere für Bil- der, liegt bei der Bayerischen Staatsbibliothek. Eine Folge- verwertung von Webdokumenten ist nur mit Zustimmung der Bayerischen Staatsbibliothek bzw. des Autors möglich. Exter- ne Links auf die Angebote sind ausdrücklich erwünscht. Eine unautorisierte Übernahme ganzer Seiten oder ganzer Beiträge oder Beitragsteile ist dagegen nicht zulässig. Für nicht-kom- merzielle Ausbildungszwecke können einzelne Materialien ko- piert werden, solange eindeutig die Urheberschaft der Autoren bzw. der Bayerischen Staatsbibliothek kenntlich gemacht wird. Eine Verwertung von urheberrechtlich geschützten Beiträgen und Abbildungen der auf den Servern der Bayerischen Staats- bibliothek befindlichen Daten, insbesondere durch Vervielfälti- gung oder Verbreitung, ist ohne vorherige schriftliche Zustim- mung der Bayerischen Staatsbibliothek unzulässig und strafbar, soweit sich aus dem Urheberrechtsgesetz nichts anderes ergibt. Insbesondere ist eine Einspeicherung oder Verarbeitung in Da- tensystemen ohne Zustimmung der Bayerischen Staatsbiblio- thek unzulässig. The Bayerische Staatsbibliothek (BSB) owns the copyright for all web documents, in particular for all images. Any further use of the web documents is subject to the approval of the Baye- rische Staatsbibliothek and/or the author. External links to the offer of the BSB are expressly welcome. However, it is illegal to copy whole pages or complete articles or parts of articles without prior authorisation. Some individual materials may be copied for non-commercial educational purposes, provided that the authorship of the author(s) or of the Bayerische Staatsbibli- othek is indicated unambiguously. Unless provided otherwise by the copyright law, it is illegal and may be prosecuted as a punishable offence to use copyrighted articles and representations of the data stored on the servers of the Bayerische Staatsbibliothek, in particular by copying or disseminating them, without the prior written approval of the Bayerische Staatsbibliothek. It is in particular illegal to store or process any data in data systems without the approval of the Bayerische Staatsbibliothek.
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Page 1: Neun Tage Latein Plaudereien

Copyright

Das Copyright für alle Webdokumente, insbesondere für Bil-der, liegt bei der Bayerischen Staatsbibliothek. Eine Folge-verwertung von Webdokumenten ist nur mit Zustimmung der Bayerischen Staatsbibliothek bzw. des Autors möglich. Exter-ne Links auf die Angebote sind ausdrücklich erwünscht. Eine unautorisierte Übernahme ganzer Seiten oder ganzer Beiträge oder Beitragsteile ist dagegen nicht zulässig. Für nicht-kom-merzielle Ausbildungszwecke können einzelne Materialien ko-piert werden, solange eindeutig die Urheberschaft der Autoren bzw. der Bayerischen Staatsbibliothek kenntlich gemacht wird.

Eine Verwertung von urheberrechtlich geschützten Beiträgen und Abbildungen der auf den Servern der Bayerischen Staats-bibliothek befindlichen Daten, insbesondere durch Vervielfälti-gung oder Verbreitung, ist ohne vorherige schriftliche Zustim-mung der Bayerischen Staatsbibliothek unzulässig und strafbar, soweit sich aus dem Urheberrechtsgesetz nichts anderes ergibt. Insbesondere ist eine Einspeicherung oder Verarbeitung in Da-tensystemen ohne Zustimmung der Bayerischen Staatsbiblio-thek unzulässig.

The Bayerische Staatsbibliothek (BSB) owns the copyright for all web documents, in particular for all images. Any further use of the web documents is subject to the approval of the Baye-rische Staatsbibliothek and/or the author. External links to the offer of the BSB are expressly welcome. However, it is illegal to copy whole pages or complete articles or parts of articles without prior authorisation. Some individual materials may be copied for non-commercial educational purposes, provided that the authorship of the author(s) or of the Bayerische Staatsbibli-othek is indicated unambiguously.

Unless provided otherwise by the copyright law, it is illegal and may be prosecuted as a punishable offence to use copyrighted articles and representations of the data stored on the servers of the Bayerische Staatsbibliothek, in particular by copying or disseminating them, without the prior written approval of the Bayerische Staatsbibliothek. It is in particular illegal to store or process any data in data systems without the approval of the Bayerische Staatsbibliothek.

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• Bruno Snell

NEUN TAGE LATEIN

Plaudereien

4. Auf!age

{ .;fOs-9)

VANDENHOECK & RUPRECHT· GOTTINGEN

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B r u n o S n e l l ,

geborm am 18. o. 1896 in Hilduheim, tludierte zmtachtl'

Jura rmd Nationaliikonomi e in Edinburgh und Oxford.

Dann wandte er .rich der klauitchen Pbilologie zu und bo"rte

an den Univenitaten Ltiden , Berlin, Miinchen 1111d Go·tti11gm.

1922 promovierle er in Giilli11gen rmd ging 1921 all deul­

tcher Ltklor 11acb Pita. Noch im g/eichm Jahr lief1 er .rich'

alt Privatdozmt in Hamburg nieder rmd itt hier teil 19}1.

ordent/icher Profeuor ftir klauitche Phi/ologie.

Werke: Enldtckrmg du Geitlu ( 1940, ita/. Autgabe I9J 2 ,

e11gl. A usgabe 19 JJ). Der Aujbar1 der Sprache ( 19 J 2).

Arugaben von Bakchylides u11d Pitrdar.

r B... t�·:uc . f\�fih; IOIHt

Y0��85fl

Kleine V andtnbou J:-& ibe 1 o

16.-:zo. Tausend

Schutzumschlag: lJlllgard Suckstorff. - @ Vandenhoeck & Ru­precht, Gtlttingen 1955; 1956; 1959· - Printed in Germany. -·

Oboe ausdriickliche Genchmigung des Vedages ist es oicbt

gesuttct, das Buch oder TeiJe daraus auf foto- oder akusro-

mechaoiscbem Wegc zu verviel£iltigeo Gcs:umberstdlung: Hubert & Co., Gottingeo

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47 B�ya·i ··ht

�::fi s tn� MONCHSU

I

Verehrte Horerinnen und Horer,

aus mir ist ein Altphllologe geworden, obwohl ich ein ga.nz normaler Junge war, dem das Latein durchaus nicht das Plasierlichste im Leben zu sein schien. Ja, ich mu13 beichten, daB Lateinisch eigentlich meine schwache Seite in der Schule war. Jedenfalls entlarvte mich meine Abiturienten-Klausur auf so bedenkliche Weise, daB ich auch das mundliche Examen uber mich ergehen lassen mu13te, womit ich durchaus nicht gerechnet hatte. Und so hatte ich denn auch jeden ausgelacht, der mir damals, - kurz vor dem Ausbruch des ersten Weltkrieges -prophezeit hatte, ich wiirde dereinst bei den klassischen Sprachen landen. Ich weill, es ist ein Zeichen daflir, daB ich nachgerade alt werde, wenn mir heute die Zeit, die ich auf der Schule mit Latein und Griechisch zugebracht habe, nicht mehr so verloren scheint wie damals, als Briefmarkensammeln und Schwimmen, Schachspielen, Karikaturen-Zeichnen und Lesen von Theatersrucken mir so ungeheuer viel wichtiger waren als die unregel­ma13igen Verben und die consecutio temporum. Immerhin war es doch schon eine kleine Verzauberung, wenn die erste Lateinstunde mit dem Satz anfing: ,Die Tochte.r des Landmanns schmiickt den Altar." Welch ein Land, welch eine Zeit, da die Konigin sich an Rosen ergotzte und die Einwohner der Insel ein Mabl bereiteten. Das alles lieB sich nicht nur mit Substantiven der ersten Deklioation beschreiben, sondern war fiir den acht-• jahrigen eine Welt - realer zwar als die der lvfarchen;

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denn das wuBte man nachgerade, daB es keine Hexen und keine Zauberer gab, aber doch in einer goldenen Ferne. Und dieser Glanz verlor sich nicht, auch wenn dallll Caesar in Eilrnarschen die Gallier mit Krieg iiberzog und ihnen einen Hinterhalt bereitete. Freilich kam dann der Tag, daB wir iiber dieses Lesebuch· Deutsch schnodelten und mit Vergoiigen Satze auf· stoberten wie den foJgenden: ,Wenn wir die LOwen be­trachten, clie sich freundlicher gegen ihre Wachter ver­halten als die Menschen, die sich undankbar gegen ihre Wohltater erweisen, so erkennen wir, wieviel Erziehung und Bildung vermag", - oder: ,Die Alten betrachteten den Staat nicht als einen Strom, aus dem moglichst viel Wasser zu schopfen sich jeder zum Verdienst anrechnete, sondem vielmehr als einen Bach, in den jeder sein eigenes Wasser hineinzuleiten bestrebt war",- oder gar: ,Weno. euch, o J iinglinge, die Greise sich nabern, erhebt euch von den Sitzen." Das Schnodeln iiber solche Satze fiihrte uns aber gottlob einen Schritt weiter, und wit: batten in den oberen Klassen Lehrer, die uns dabei halfen und anleiteten. Solche Satze, die das Obertragen ins Lateinische leicht rnachen sollten, zeigten, dal3 die romische Welt wohl nicht nur deswegen fremd war, weil dort Tochter von Landleuten Altire schmiickten, sondem dal3 die Sprache selbst die Dinge anders fal3te oder anders wandte, daB der Stil und das Denken von dem uns Gel.aufigen verschieden war. So ging uns auf, wenn auch !eider nur in seltenen Augen­blicken, was das Ubersetzen bedeutet, zumal das Uber­setzen a us einer Sprache, die uns femer ist als das Fran­zosische und Englische unserer Tage. 1m alltaglichen Schulbetrieb freilich ging das Ubersetzen seinen uner· quicklichen Schlenddan. Da standen wir etwa vor der Lateinstunde zusammen in den Anlagen vor dem J ohan­neum in Liineburg, die den oberen Klassen wa.hrend der Pause zur Verfiigung standen, jeder mit seinem Livius-

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text in der Hand, und einer, der prapariert hatte, mufite iibersetzen, - dafiir half man ibm dann in dec Mathe­matikstunde, - und aile anderen versuchten notdiirltig in dem lateinischen Text die deutschen Worter wieder­zufinden, urn einigermaBen vorbereitet zu sein auf den schrecklichen Augenblick, da es vom Katheder tonte: ,Jetzt iibersetzt weiter - -" und bauz I sauste das Fallbeil, gottlob diesmal noch, auf den Nachbam, oder, - entsetzlicb - auf einen selbst, und man erhob sich langsam und todesmutig, auf Hilfe von seitwarts und riickwarts und von Gott hoffend, urn irgendetwas wie eine Ubersetzung zusammenzustockem. Aber es kam doch vor, daB einen die Fasz:ination des Dbersetzens pad."te. Ich eriooere mich, daB ich auf der Prima einmal, weil es sich wieder herausgestellt hatte, daB ich unprapariert in die Stunde gekommen war, als Strafarbeit eine horazische Ode schriftlich zu iibersetzen hatte. Abends, an meinem Pult, merkte ich, da.B das, was Horaz sagte, nicht herauskam, wenn icb es in langweilige Prosa brachte, und so versuchte ich, die lateinischen Metren nachzubilden, und tat noch ein iibriges und zwangte die Verse in Reime; wie geschmacklos das war, merkte ich nicht, - ich fand es ein aufregendes und er­gotzliches Geschaft und war iiber das Resultat so be­gliickt, daB ich es tief in der Nacht noch in das schwarze Wachstuchheft eintrug, in dem ich meine Original­Poesien heimlich verwahrte. Am nachsten Morgen lieferte icb, etwas iibemachtig und mit einigem Herzklopfen, mein BuB-Stiick ab. Ich hatte die Vers-Zeilen beim Abschreiben so gestreckt, daB sie immer his zum rechten Rand liefen und wie Prosa aussahen; denn wie peinlich ware es gewesen, wenn ,Fritze" (so nannten wir unseren Lehrer) gleicb auf Anhieb, vor der Klasse, gesehen hatte, daB die Strafarbeit ein Gedicht war. Er war£ denn auch nur eincn fliichtigen Blick auf den Zettel und steckte ihn dann gleich zwischen

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seine Papiere. Ich wartete einige Tage, hoffend und angstt­voll, was er sagen wi.irde, aber offenbar hat er das Oputs nie gelesen. Doch ich hatte Wichtiges gelemt. Ein andermal bekamen wir als schriftliche Hausarbeit eiJo. Stiick aus der Zeitung zu ubersetzen, einen Abschnittt aus einer Reichstagsrede Bethmann-Hollwegs. Auch dabei fing ich Feuer. Es war ein unbandiges Vergni.igea, da.s Aktuelle, kaum im Druck trocken Gewordene, urn zwei­tausend Jahre zuri.ickzuversetzen und in moglichst schon.e ciceronianische Perioden umzukneten. Wieviel reizvoll�r war das, als sich mit den fur das Dbersetzen eigei\s zurechtgemachten Ubungsstiicken unseres Lateia-Buches abzurackem. Solche Dbungen, aus dem Deutschen ins Lareinische zu iibersetzen, sind inzwischen aus der Mode gekommen. Ich will hier nicht dari.iber streiten, ob das gut oder schlecht ist. Nur ein Argument, das man gegen das Latein­Schreiben vorbringt, mag ich nicht gem horen. Man sagt: das Latein ist eine tote Sprache; man spricht es nicht meht; man muB es vielleicht lesen und verstehen konnen, aber es zu schreiben erfilllt keinen emsten Zweck mehr, das ist Spielerei. Selbstverstandlich ist es Spielerei. Selbstverstandlich haben wir es als Spielerei aufgefaBt, daB wir Bethmann­Hollweg zu einem Cicero machten. Eben deswegen hat es uns ja SpaB geiJlacht. Eben deswegen hat solche Dbung aber auch ihren Wert; denn etwas Wesentliches des Geistes kommt in solchem Spiele zum V orschein. Das Dbersetzen ist schon deswegen immer ein Spiel, weil es niemals aufgeht; denn wie kann man jemals alles, was an Sian und Klang in einem Satze liegt, in eine andere Sprache ubertragen? Und doch reizt es immer wieder, sich etwa dessen, was man in einer anderen Sprache versteht, ganz zu versichern, indem man es auf Deutsch zu sagen sucht. Diese Spannung zwischen dem Moglichen und dem Erreichbaren, die urn so groBer ist, je voll-

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kommener und fremder das Original erscheint, ist fur die Bildung des Geistes iiberaus fruchtbar. Denn wenn der sich entfaltende Geist lernen soll, sich von dem Gegebenen und Vorhandenen zu losen, wenn er nicht eingesperrt bJdben soli in den einfach hingenommenen Traditionen und Konventionen, mu13 er urn andere Moglichkeiten v.zissen. Und urn den rechten Auftrieb zu bekomrnen, rnuB er urn Moglichkeiten wissen, die ihm nicht gleich bequern zufallen, urn die er sich - wenn auch nur spielend- bemiihen mu13. Es gehortzurn Wesen des freien und iiberlegenen Menschea, daB er so mit Moglichkeiten spielen kann, und es scheint mir, daB es unserem Gymnasium nur gut tun konnte, wenn es diesen Spielcharakter des Lateinlernens etwas mehr hervor­kehrte. Nebenbei wiirde die dadurch hervorgerufene Freude auch das Lemen erleichtern, und auBerdem ge­horen Heiterkeit und Witz wesentlich zu der humanisti­schen Tradition, die das Gymnasium pflegen soli. Denn Cicero, der Begriinder des romischea Humanismus, war einer der witzigsten Menschen Roms, - our merkt man das weniger an den Red en und an den philosophischen Abbandlungen, die auf der Schule gelesen werden, und man sollte ruhlg auch seine Briefe mit heranziehen. Uad die Schriften des Erasmus, der den Humanismus in unsere nordlichen Regionen verpflanzt hat, zumal seine Collo­quien und sein Lob der Torheit, stecken voli der ur­bansten Ironie. Und wenn sich unsere Scbulen auf diese ihre Vorlaufer berufen, so soliten sie aucb alles Gramliche, Pedantische und Trocken-Feierlicbe moglichst zum Teufel jagen. Scbillers Satz: ,Der Mensch ist our da ganz Mensch, wo er spielt", ist jedeafa11s ein eminent bumanistischer Satz, und Schillers Name wird dem Millverstii.ndnis vor­beugen, als ob der Sinn fur das GroBe und fiir das Wesent­liche einem Lappisch-Spieleriscben aufgeopfert werden solite. Bleiben wir bei dem Dbersetzen ins Latdn.ische: das ist schon deswegen ein wiirdiges Spiel, well das

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Lateinische eine groBe feste Form der Rede ausgebild.et und ein klassisches Muster des Sprechens entwickelt hat. An clieser Sprache Hillt sich, wie an keiner andereJl, lernen, was es beillt, seine Gedanken zu ordnen, clie Rede zu einem iibersichtlichen Bau zusammenzufiigen und der Sprache Anmut oder Wiirde zu geben. Man tut bci ullS gem dergleicben mit dem abschatzigen Urteil ab, das &ei bloB forrnale Bildung, und man liebt den Aberglauben, es sci Tiefsinn, irn Ungeformten und Wollcigen herurn­zuwuscheln. Dazu irn Augenblick nur so viel: auch die Algebra und clie Geometrie ist solch ein nur formales Spiel, - aber da pflegt man diesen Vorwurf nicht �u erheben. - und so sollte man das auch nicht gegen das Spiel des Lateinlernens tun. Aber dariiber wird in der Folge noch eiJliges zu sagen sein. Dieses Spiel hat sicb, wenn es fruchtbar sein soli, auf einer schmalen Gren�e zwischen zu groBern Ernst und zu groBem Uncrnst zu hal ten. Natiirlich hat dies Spiel seine Gefahren, und es ist nicht zu leugnen, daB der Lateinunterricht die Schiller in mancherlei Fallgruben gelockt hat, als da sind: Pedanterie, Weltfrerndheit, Rheto!fneitelkeit, Bildungsstolz und so fort. Wir werden auf diese Bedenklichkeiten noch zu sprechen kommen in unseren weiteren acht Unterhaltungen tiber das Latcinische. Aber furchten Sie nicht, daB ich Thnen systematisch kommen werde. Ich will Ihnen nur von eigenen Erfahrungen erzahlen, guten und schlimmen, die ich mit dem Latein gemacht habe und vielleicht springt dann doch dabei heraus, daB es nicht notwendig vertane Zeit ist, die man uber der lateinischen Grammatik und tiber den romischen Autoren geseufzt hat. Und ich mochte Sie auBerdem noch mit einigen latei­nischen Gedichten unterhalten, an denen man vielleicht einige Freude haben kann.

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Schon das vorige Mal habe ich erwahnt, daB unser Lateinunterricht nicht immer sonderlich gut war. Er lief meist darauf hinaus, daB man pauken sollte, Vokabeln pauken, Gramrnatik pauken, Ubersetzungen pauken, -und ich hatte schon als Junge eine so gesunde Abneigung gegen alles stumpfsinnige Lemen, daB wohl die meiste Zeit, die ich die Schulbank gedriickt habe, nutzlos vertan war. Aber trotzdem habe ich, - zieht man our die Summe, - Grund, dankbar zu sein fur das, was ich auf der Schule gelemt habe; denn die lichten Momente und einige hervorragende Lehrer machten das tigliche Grau und Einerlei wieder wett. Es ist seitdem viel iiber Reform des Unterrichts geredet und geschrieben, man hat ver­sucht, Methoden zu entwickeln, dem Stumpfsinn des Paukens abzuhelfen. Viel ist da wohl auch gebessert, -aber die Gefah.r ist immer, daB man das Kind mit dem Bade ausschiittet und meint, das Lemen als solches sei vom Dbe1, wahrend es darauf ankame, das Lemen selbst lebendig und vergnuglich zu machen. Aber dazu gehort ein Lehrer, der zugleich klug und munter ist, der in der Wissenschaft zu Haus ist und sich seine Frische auch iiber vierzig Jahre taglicher Schularbeit bewahren kann. Da liegt wohl auch das Hauptproblem aller Schulreform - wenn man einmal absieht von dem anderen Wichtigen, daB die Klassen nicht zu groG sind. Fiir gewohnlich wird man schon zufrieden sein miissen, wenn jeder Schiller einmal in seiner Schulzeit einen einzigen Lehrer hat, der ihm seinen geistigen Motor in Gang bringen kann. Und da ich mehrere solcher Lehrer gehabt habe, kann ich our froh sein.

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Freilich, das Pauken-Miissen und eigentlich nicht Paukeo­Konnen hat mir wahrend der Schuljahre - ja, noch auf der Universitat - immer ein Unbehagen, fast etwas wie ein schlechtes Gewissen gegeben, womit ich nach meinen Kraften und mit einigem Leichtsinn fertigzuwerden hatt.e, - im Grunde ist es soga.r heute noch so. Mein Vater versuchte es redlich, m.ich zum hauslichen A.rbeiten anzuhal ten. Er hatte als Psychiater eine freuncl­liche Art, dem kindlichen Gemiit das Lemen zu erleich­tern. Beim V okabelabhoren erfand er allerlei Hilfen und Briicken, und wenn etwa das Wort ,autoritas" nicht ln den Kopf wollte, so hob er, wenn er nach ,Ansehe.n, Wiirde" fragte, den rechten Zeigefinger und kniff mir mit der linken Hand Ieise in den Arm, - und au - toriutS war Ieicht gelemt, allerdings mit dem Erfolg, daB dHs Autoritare seitdem immer mit einem Schmerzgeflihl ver­bunden geblieben ist. Diese liebevolle vaterliche Hilfe dauerte allerdings nur his in die Zeit, als wir anfingen, Griechisch zu Iemen. Denn in der ersten griechischen Hausarbeit, die wir zu machen batten, korrigierte mir mein Vater die Akzente und Lesezeichen mit dem E.rfolg, daB ich die schlechteste Zensu.r bekam. Da zog er sich endgiiltig davon zu.ruck, mir bei den Schularbeiten helfen zu wollen, - woriiber ich gar nicht traurig war. Die Folge war allerdings, daB ich auf das Vokabel-Lemen und Grammatik-Pauken weite.rhin ziem­lich verzichtete. Viele Jahre spater, als ich gerade Privat­dozent fiir Griechisch geworden war, traf ich zufallig einmal meinen ersten Griechisch-Lehrer wieder. Ich er­zahlte ibm, daB ich mich schlie.!3lich doch noch auf sein Gewerbe eingelassen hatte, obwohl ich ( ob er das wohl noch wiillte?) in meiner ersten griechischen Arbeit eine 5

bekommen hatte. Da sagte er mit ernstem Gesicht: ,Die Lucken werden Sie hoffentlich inzwischen ausgeglichen haben." So komisch schulmeisterlich das klang, - seine Besorgnis war nur zu berechtigt, - denn da ich das

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richtige Pauken nie fertiggebracht habe und als Junge die Zeit, in der ich wohl noch am ehesten clazu imstande gewesen ware, so schmahlich verpaBt habe, muB ich ehrlich gestehen, daB ich diese Lucken wirklich niemals ganz ausgeglichen habe. Nur bei einer Gelegenheit, soweit ich mlch erinnere, bin ich mit Begeisterung dabei gewesen, lateinische Formen zu pauken. Da veranstaltete unser Latein-Lehrer in den Jetzten Stunden vor den Ferien sogenaonte Formen­Schlachten: die Klasse wurde aufgeteilt in zwei Lager von annahernd gleich starken Lateinem, und es wurde ein grol3er Kampf inszeniert: immer gab einer von der einen Seite einem von der anderen eine Form auf, etwa: .2.. Person Pluralis Conjunctivi Activi Perfecti von iacio,

- de.r Lehrer z:ihlte his drei, und war his dahin nicht die richtige Antwort da, war der Gefragte tot und hatte aus­zuscheiden. Da ware es ehre.nriihrig gewesen, nicht seinen Mann zu stehen, well man doch nicht zu denen gehorte, mit denen als Schafskopfen von vornherein nicht zu rechnen war. So muBte man sich also mit kraftigen Geschossen waffnen, dem ausgefallensten Futurum ex­actum und Imperativ des Passivs von den seltensten und uoregelmal3igsten Verben. Derselbe Lehrer hatte noch einen anderen simplen Trick, uns in einen wahren Lerneifer zu stiirzen, indem er spater bei der Odyssee-Lektfu:e nicht etwa sagte: ,Ihr tniijlt zum nachsten Mal so und so viele Homer-Verse auswendig lernen", sondern, ,Ihr diirft einige Verse lernen, und wer welche auswendig weill, darf sie am Anfang der Stunde vortragen." Das stachelte unsern Ehrgeiz gewaltig, und ich ze.hre heute noch dankbar davon, daB ich mir darnals viele, viele Hexameter eingepragt babe. Wie muB der Gute geschmunzelt haben, wenn er uns so iiberlistete,­aber wir stiirzten uns mlt Sporteifer und Wettkampfgeist auf den alten Homer. Nur schade, daB wir auf diese Weise nicht sehr viel mehr an lateinischer und griechischer

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Dichtung gelemt haben; denn ein guter Vorrat an AtJS­wendiggelemtem ist ein unvergleichlich solides Funda­ment fur die Beherrschung einer Sprache, wie z. JB. Schliemann seine stupenden Sprachkenntnisse dadurch erworben hat, daB er sich zu.nachst einmal, weon er sich cine neue Sprache aneignen wollte, eine Dbersetzung von Paul et Virginie besorgte und sie auswendig lemte. Schade aqch, daB uns niemand recht anleitete, die Schon­heit der Verse zu empfinden, die wir auswendig lemten. Das Lesen von lateinischen Gedichten begann zwar munter genug: In dem Buch, das den unverstandlichen aber schonkliogenden Namen ,Tirocinitlf!J poeticum" hatte, standen Verse, die schon dem Iojahrigen Freude machen konnten wie der von Ennius iiber das Trompetensign.'\1:

At tuba terribili sonitu faratantara dixit,

und der andere von Vergil iiber das Pferdegetrampel:

Q11adr11peda.nte putrem sonitr1 quatit ungt1la campum,

oder noch schonet, der Satz aus Ovid uber die in Frosche verwandelten.lykischen Bauern:

Quamvis sint sub aqua, sub aqt�a maledicere temptanf.

Ober diese handgreiflichen und etwas naiven Schon­heiten bat uns kaum jemand hinausgefiihrt, - obwohl es sicher nicht schwer gewesen ware, uns auf solchem Wege vom Pauken zum lebendigen Lemen zu bringen. Liebe zur Grammatik babe ich in einer einzigen Schul­stunde gewonnen, die mir unausloschlich in der Er­innerung steht. Unser Latein-Lehrer war krank oder muBte zum Bezirkskommando, was bei ihm cine groBe Rolle spielte, da er Major der Reserve war, und zu seiner Vertretung kam der Direktor, der sehr kluge, aber wegen seines beiBenden Sarkasmus sehr gefiirchtete Cornelius Holk. Vertretungsstunden pflegte er dazu zu benutzen, urn die Schwer aller Klassen kennenzulernen und in

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sokratischer Methode aus ihnen Dinge herauszufragen, die etwas abseits vom Programm des Schuljahres lagen, die ibm aber vielleicht noch wichtiger schienen als das vorgeschriebene Pensum. Diesmal warf er die Frage auf, in welchem Verhaltnis Satze zueinander stehen konnten. An dem Beispiel ,es regnet, es wird na13" probierten wir die verschiedenen Formen der Koordination und Sub­ordination durch: ,Es regnet, also wird es naB", ,es wird na13, denn es regnetcc, ,es regnet, so daB es naB wird", ,es wird na13, well es regnet", ,wenn es regnet, wird es na13", ,obwohl es regnet, wird es doch nicht na13". Wir muBten herausfinden, wodurch sich all diese Satze voneinander unterschieden, und wir lemten zu unserem groi3en Staunen, da13 all diesen Fugungen ein und das­selbe Prinzip zugrunde lag, daB namlich zwischen dem Regen und der Nasse das Verhaltois von Ursache und Wirkung aozusetzen war. Wir ahnten noch nicht, wie sehr alles wissenschaftliche Denken darauf beruht, in verschiedenen Erscheinungen das Gleiche und Identische zu entdecken, - hier waren wir auf beinahe spielerische Art dazu gefuhrt, das selber herauszufinden, und auf zauberhafte Weise enthiillte sich etwas, das der Gram­matik einen neuen Sinn gab, und etwas Wesentliches an der Sprache und am Denken wurde offenbar. Aber es ging noch weiter. Es blieb der Final-Satz: ,,Es regnet, damit es na13 wird." War das ein sinnvoller Satz? War es erlaubt, so zu reden? Der Physiklehrer wiirde uns das ja wohl nicht durchgehen lassen. Hochstens in der Religionsstunde durften wir so reden. Und nun wurde durchprobiert, wo man harmlos und mit gutem Gewissen Final-Satze gebrauchen durfte: Ich nehme ein Messer, damit ich das Brot schneide; ich Ierne· Lateinisch, damit ich mein Abiturienten-Examen bestehe. Und so kamen wir an den Satz: Ich pflanze eine Kastaoie, damit ein Kastanienbaum in meinem Garten wachst. Ob man skh denn ebenso darauf verlassen konne, daB a us der Kastanie

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auch ein Kastanieobaum wiirde, wie darauf, daB es naB wiirde, wenn es regnete? Wo denn aber die Ursa.che dafiir sei, daB a us der Kastanie auch der Baum wiitede? Die gabe es doch offeobar nicht. Doch in der Kastanie sei zweifellos etwas, das ootweodig zu dem voll ent­wickelten Baum flihrte, eine Zielsttebigkeit, oder wie man das oeonen wolle, - die jedeofalls mit der Kau­salitat nichts zu tun hatte. Die Naturwissenschaftler seien heute freilich meistens zu dumm, urn das einzusehen, und zu ungebildet; denn sie batten Aristoteles nicbt gelesen; sonst wiirden sie wissen, daB man das Lebendige nicht verstehen konne, oboe eine Entelechie, etwas Teleolo­gisches anzunehmeo. So wu13te er uns auf kiodlich-drastische Art die Augen zu offnen fur ernsthafte philosophische Probleme, und i n einer Stunde konnte er uns etwas vermitteln, das uns fur unser gauzes Leben die Gedanken ordnen konnte. Wir waren durch einen griindlichen Unterricht in latei­nischer Grammatik vorbereitet auf solche Erorterungen. Mit Kausal-Satzen und Konditional-Satzen zu hantieren, machte uns keine Mlihe. Mao mag auch das, - wie das Dbersetzen, von dem wir das vorige Mal sprachen, -formale Bildung nennen. lch babe jedenfalls in dieser einen Stunde mehr an Logik gelernt als jemals spater. Und da ich so die logischen Probleme nicht von den formal-logischen Schemata, sondern von der lebendigen Sprache aus zuerst kennengelemt babe, ist mit immer ein Stachel in der Seele geblieben, ob mit diesem Lo­gischen our etwas Formales gegeben, oder ob nicht doch etwas Sachliches getroffen ist. Aber das ist ein weites Feld, und wir wollen hier abbrechen. Die nachsten Male wolleo wir uns mit lateinischeo V etsen beschaftigen, mit Catull, mit Vergil und Ovid und dabei stellt sich vielleicht auch heraus, daB es auch sonst allzu simpel ist, solch scharfen Trennungsstrich zu ziehen zwischen dem For­malen und dem Sachlichen.

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Gestem und vorgestern haben wir uns iiber das Latein­Lemen auf der Schule unterhalten und uns auf unsere Kinderjahre besonnen. Wenn wir den Faden nun fort­spinnen, und uns iiberlegen, welchen Nutzen und welches Vergniigen man aus dem Latein ziehen kann, und wenn Sie mir dabei auch weiterhio gestatten, personlich zu reden, so mochte ich Ihnen im Verfolg einige Stiicke lateinischer Dichtung vorfiihren, die mir selbst bedeut­sam gewesen sind bei meiner Beschaftigung mit der romischen Literatur. Dies soll keine systematische Ein­fiihrung in die Literaturgeschichte werden - haben Sie bitte keine Angst davor,-sondern ich mochte hier und da etwas herausgreifen, an dem sich verschiedenerlei zeigen laBt, manches, das ihnen vielleicht bekannt ist, anderes, das mehr abseits von den begangenen Wegen liegt. Ob Sie wohl heute die Geduld haben, sich eine Viertel­stunde lang mit zwei Zeilen lateinischer Poesie zu be­schaftigen? Es sind zwei beriihmte Verse des Dichters Catull, des Zeitgenossen Ciceros, - ,Ein ganzes Leben in zwei Zeilen", wie einmal ein Philologe etwas pathetisch gesagt hat. Falls Sie ein Stiick Papier und einen Bleistift zur Hand haben, mochte ich Sie bitten, die heiden Verse aufzuschreiben, damit wir gem:ichlich jedes Wort be­trachten konnen, den Sinn, den Klang, und daB wir bei der deutschen Ubersetzung, die ich mitteilen mochte, festellen konnen, was an ihr unzulanglich ist. Und wenn ich schlieBlich noch zu zeigen versuche, was Catull dem Abendland an neuem Fiihlen vermittelt hat, wird es auch niitzlich sein, die Worte vor Augen zu haben.

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• Das Distichon Catulls lautet (c. 8�):

Odi et amo, quare id faciam, fortasse reqllirit. nucio, sed fieri sentio et excrucior.

Das ist ein Hexameter: odi et amo, quare id jacian1, fortasse requiris. Dann folgt, scharf gegen das Vorige abgesetzt, der Pentameter: nescio, sed fori tentio et excrucior. Das hei13t in platte Prosa iibersetzt:

,Ich hasse und liebe. Wie ich das rnache, fragst Du viel­leicht. Ich weill es nicht. Dafi es geschieht, - wortlich: daB es gernacht wird, - fuhle ich und ich werde gefo l­tert,- oder: ich martere mich ab."

Morike, der eine ganze Reihe von Catull-Gedichten iibet­setzt hat, gibt das auf Deutsch so wieder:

Hassen und lieben zugleich mufi ich. Wie das?- Wenn ich's wiillte I

Aber ich fuhl's, und das Herz mochte zerreillen in mit.

Dies ist eines der rneistiibersetzten lateinischen Gedichte, und so viele Dbertragungen ich kenne, die Morikes scheint mir die schonste. Und trotzdem: wieviel ist auch bei ibm verlorengegangen. Wenn ich nun an diesem Beispiel zeige, wie unzulanglich das Dbersetzen ist, so wahrhaftig nicht, urn Morike etwas am Zeug zu Hicken, denn, wie gesagt, seine Obertragung ragt unter allen hervor. Aber durch solchen Vergleich des Originals mit der Obertragung konnen wir uns die Schonheiten der Catullschen Verse besonders eindringlich klarmachen. Schon der Anfang stellt den Obersetzer vor eine uniiber­windliche Schwierigkeit. Er kann odi et amo nicht, wie es natiirlich und an gem essen ware, wiedergeben mit: ,Ich hasse und liebe" - denn der Hexameter fordert am An­fang eine betonte Silbe, wahrend bei ,ich hasse" das ,ich" unweigerlich unbetont ist. Morike hilft sich -nicht ungeschickt - durch ,,Hassen und Lieben zugleich

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muB ich". Das hat aber den Nachteil, daB er statt I 1/1 Versfu.B 3 1/1 notig hat, - und damit ist der pragoante programmatiscbe Anfang zerdebnt und urn seine lapidare Wirkung gebracht. Es kommt binzu, daB durch das ,muB ich" vorweggenornrnen wird, was sich bei Catu!l erst im Lauf der ersten I 1/1 Verse entwickelt: denn i n der Frage: quare id faciam, wird zunachst die Moglichkeit offeoge­balten, daB Catull dieses zwiespiltige Gefiihl als eigene Tatigkeit hervorbrachte, und erst in dem fieri sentio kommt heraus, daB er unter einem Zwaog steht: daB er fiihlt, wie dies mit ibm gemacht wird, daB es ihrn geschieht. Die wesentlichste Anderung Morikes aber ist, daB er den ge­dachten Gesprachspartner Catulls ausgeschaltet hat. Catull sagt: Quare idfaciam,Jortasse requiris, ,Wie ich das anfange, magst du wohl fragen", - wahrend bei Morike der Dichter sich selbst den Einwand macht: ,Wie das?" -und gleich aotwortet ,Wenn ich's nur wi.illte." Nun ist es sicher, daB dieser Satz: quare id faciam, fortasse requiris, das schwachste Stiick in dem Gedicht ist, well diese An­rede nicht nur etwas trivial-prosaisch ist, - absichtlich­prosaisch vielleicht, aber daon ohne das Herausfordernde, das solch eine ni.ichterne Frage haben mi.ifite, - sondem auch, weil der Angeredete in dieser Situation nicht deutlich wird. Aber es kommt auch ein wesentlicher Unterschied zwi­schen der aotiken und der modemen Lyrik durch dieses Abweichen Morikes heraus: Die antike Lyrik ist nicht

. ein Selbstgesprach des einsamen Herzens, sondem richtet sich immer an ein Gegeniiber, sei es die Gottheit, sei es der Kreis derer, in deren Gesellschaft der Dichter sich befindet, sei es ein Einzelner, der Freund, die Geliebte, der Feind usf. Hier bei Catull sind wir gewissermafien an der Grenze der antiken Form: die Anrede ist noch beibehalten, aber eigentlich ist dies Gedicht schon ein einsamer Herzens­ausbruch. Gerade deswegen ist diese Anrede auch so

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schwachlich geraten, - und so werden wir es Motike nicht veriibeln, daB er bier geandert hat. Allerdings hat er das Gedicht dadurch wesentlich modemisiert. Aus dem niichtern-konstatierenden ,nescio" macht Morike den Seufzer: ,Wenn ich's nur wiilltel" Und auch der SchluB, so schon er ist, sentimentalisiert ein wenig: statt ,ich werde zermartert", heillt es: ,das Herz mochte zerreillen in mir". Catull spricht nicht vom Herzen und nicht davon, daB es etwas mochte, sondern stellt hart our die Tatsache fest, daB er zu Tode gequalt wird. Auch in der metrischen Form ist dieses Gedicht hatter als Morikes Dbertragung crkennen la13t, ja es ist geradezu anstoBig mit seinen vielen etwas gewaltsamen Elisionen. Aber auch das hingt mit dem Inbalt zusammen. Urn den Inhalt dieses Distichons zu verstehen, miissen wir uns etwas mit dem Leben des Dichters bekannt machen. Catull war ein recht liederlicher J iingling, und zwar in des Wortes eigentlicher Bedeutung, dem seine Lieder wichtiger waren als die soliden Grundsatze eines rornischen Burgers, und der, wie es manchem anderen Dichter seit Anakreon iiber Villon bis Verlaine auch ergangen ist, bei Wein und Liebe die Erregungen und Stimmungen fand, die sich ibm zu Versen formten. Er gehorte zu einer Gruppe junger Schriftsteller, die, so kann man sagen, in Rom zum ersten Mal der Faszination des Literarischen verfielen. Es gab vor ihnen schon mancherlei Literatur in lateinischer Sprache, Tragodien und Komodien, ge­schichtliche Epen wie das des Ennius und die Satiren des Lucilius, aber in den Augen dieser jungen Gruppe, wie sie sich nannten, war all das recht provinzielles, halb­barbarisches Zeug. Denn sie entdeckten fiir die Romer die asthetischen Reize der hellenistischen Dichtung, das

, geistreiche und formvollendete Spiel des Kallimachos und seiner Zeit, und versuchten, diese Poesie ins Latei­nische einzufuhren und fortzuentwickeln. Mondan.. leicht,

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heiter, witzig zu sein, war ihr vomehmlicher Ehrgeiz, -und fiir die Romer war das zu jener Zeit ein hochst an­riichiges Geschaft; denn wenn es schon keinen Platz in der biirgerlichen Gesellschaft gab fiix Kiinstler, Dichter, Schauspieler, Tanzer usw., so hrachte diese Sotte von Poesie die jungen Literaten vollends in ein zweifelhaftes Milieu. Dlese ihrerseits reagierten, wie sie es seitdem in der europ:iischen Literatur immer wieder in solchen Situationen getan haben, damit, daB sie nun erst recht darauf insistierten, daB ein guter Vers bedeutsamer sei als die Eroberung Galliens duxch Caesar, und ein geist­reicher Witz wichtiger als aile Romer-Tugend. Ein echtes epater le bourgeois hat denn Catull auch des ofteren die Feder gefuhrt und es ist nicht immer erquicklich, was dabei herausgekommen ist: Manches ist wirklich nur Biirgerschreck und Zote. Aber das erste, wodurch seine guten Gedichte bedeutsam geworden sind, und worin auch heute noch ihr Zauber liegt, ist, da3 er die lateinische Sprache geschmeidig ge­macht hat, den Stimmungen des Augenblicks nachzu­gehen und daB er es als erster vermochte, mit den von den Griechen iiberkommenen Formen frei zu spielen. Treff­sicherer Ausdruck, Grazie, Wohlklang, durchgefeilte Form, - all das findet sich hie.r zum ersten Mal auf Latei­nisch zusammen. Das sind im wesentlichen formate Qualit:iten, - denn was Catull sachlich zu sagen hat, ist zunachst nicht allzu bedeutsam, -am bedeutsamsten ist noch, daB iiberhaupt so etwas wie ein literarischer Bereich geschaffen wurde, der auBerhalb der von den Romem gebilligten und anerkannten m:innlichen Be­sch:iftigung wie Politik, Milit:ir, Ackerbau, Handel usw. stand. Da das Spiel dem Romer nux zur Entspannung und Erholung diente und da das Spielen des Geistes ibm unbekannt war, so siedelten sich die Dichter in den Kaschemmen Roms an. Aber das Spiel des Literaten Catull nahm eine iiberraschende Wendung, als er sich in

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die schone Oodia verliebte. Sie war die Schwester des beriichtigten Clodius, eines der Hauptgegner Ciceros wab.rend der catilinarischen Verschworung. Und sie war kaum wenige.r iibel als ihr Bruder. DaB sie ein lockeres Leben fiihrte, wird sie zunachst der jungen Boheme nu.r empfohlen haben. Fur Catull, der aus Verona in dieses groBstadtische Leben hineingekommen war, anderte sich p!Otzlich alles dadurch, dal3 aus seinem frivolen Spiel eine emsthafte Liebe wurde. Clodia spielte mit ihm, betrog iho, lockte ihn wieder ttn

sich und fuhrte ihn offenbar quilend an der Nase herwn. Da tat sich plotzlich ein grausamer Widerspruch zwischen der Wirklichkeit auf und de.r Theorie, die alles nur als Spiel und Wit:z nahm. Das hat Catull zu einer Besinn\U1g auf sich selbst geflihrt, deren Resultat z. B. auch das Distichon ist, das wir besprochen haben. Und das, was Catull da an sich entdeckte, hatte vorher kein Mensch an sich selber gesehen, weder ein Grieche noch ein Romer. Was ibm selbst his dahin ein einheitliches Gefuhl der Liebe gewesen war, zerbrach in zwei Stiicke. Er erfuhr, als seine Geliebte ihm verachtlich wurde, dal3 seine Liebe doch weiter ging, dal3 er zugleich ha13te und liebte; -

odi et an;o - er besann sich darauf, daB seine gluckliche Liebe nicht nu.r ein amare gewesen war, nicht nur die sinnliche Leidenschaft, die jetzt noch fortbestand, sondem noch etwas anderes, das jetzt in Ha13 umgeschlagen war. Catull fillt es schwer, dieses andere Gefiihl deutlich zu machen. E.r nennt es bene ve/le, ,Wohlwollenu, und sagt (c. 72.3), urn dieses Gefuhl zu beschreiben, ffu das es noch kein bezeichnendes Wort gibt: ,Damals hatte ich dich gem, nicht wie man gewohnlich seine F reundin gern hat, sondem wie ein Vater seine Sohne und seine Schwiegersohne gern hat. u Auf recht absonderliche Weise kornmt Catull, den sein Vater sicher als recht ver­lorenen Sohn angesehen hat, dazu, sich auf die Gefiihle des romischen pater familia.r zu besinnen, der den Sohnen

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und Schwiegersohnen sein Haus mit fiirsorgender Liebe instand halt. Aber fiir die Liebe, die nicht ihren eigenen Gewinn sucht, sondem fur den Geliebten da sein mochte, ist das offenbar das nachstliegende Beispiel, - etwas tapsig und unbe­holfen sagt Catull, der sonst so virtuos mit den V ersen gespielt hatte, etwas Neues, denn ,amare" hatte damals noch nicht diesen Klang, da.B eine innere herzliche Liebe zu einer Geliebten damit bezeichnet werden konnte. In dem bene ve/le klingt aber noch etwas anderes zum erst en Mal auf: da.B der gu te Wille, die herzliche Gesinnung das eigentlich Wertvolle, das moralisch Relevante sei. Auch das gibt es im Griechischen noch nicht. Die Grie­chen fassen das Gute als das Ziel des Erkennens, aber nicht des Willens auf. Es gilt, das Gute als solches einzusehen - dann ist es selbstverstandlich, da.B man es tut -, man mu.B sich nur hiiten, da.B die Leidenschaften oder Be­gierden nicht starker werden als die Erkenntnis. Erst bei Seneca wird der Wille, die vol1111tas, das Funda- ·

ment fiir die Etbik, und tiber Augustin hat das dann seine tiefe Wirkung auf die christliche Moral geubt. Der erste Anfang dieser Vorstellung steckt aber bei Catull. Catull ist dazu gekommen, dieses Neue an sich und an den Menschen zu sehen, weil er in einer wiisten, sinnlosen, aus den Fugen gegangenen Zeit sich doch ein natlirliches gesundes Ernpfinden bewahrt hatte. Durch bittere Erfahrungen hat er zu diesem Einfachen und Schlichten zurlickgefunden. Wir werden das nichste Mal sehen, wie Vergil an solche Gedanken Catulls an­knupft.

21 -

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IV

Wir haben von Catull gesprochen, der eigentlich erst die Dichtung in Rom heimisch gemacht hat, oder, um es ge­nauer zu sagen, der der erste richtige Dichter in Rom war. Diese erste originale Dichterfigur in Rom war aber nicht nur anders als seine etwas ungehobelten und steifleinenen V orlaufer, sondem auch als die griechischen Poeten, und er hat etwas Neues in die europaische Poesie gebracht, das nicht wieder daraus fortzudenken ist. Das war ein his dahin ungehorter Ton der Empfindsamkeit. In seiner ungliicklichen Liebe zu der bedenklichen Clodia lemte er zu unterscheiden zwischen dem amare, der sinnlichen Leidenschaft, und dem bene velle, dem reinen Gefuhl einer herzlichen Gesinnung. Damit wurde er zu dem ersten empfindsamen Dichter. Auf diesem Wege ist der Dichter, von dem wir heute sprechen wollen, Vergil, der in seinen J ugendgedichten stark unter dern Einflul3 Catulls stand, fortgeschritten. Er ist nicht nur in besonderen Situationen ernpfindsarn, sondern sieht den Dichter prin­zipiell als den empfindsamen Menschen, und hat darnit ein Bild des Dichters gepragt, das his in unsere Tage hinein wirksam ist, - obwohl das Ressentiment dagegen heute immer starker wird. Verzeihen Sie mir, wenn ich versuche, Ihnen das Nach­leben der Vergilscben Auffassung vom Dichter an einem sehr drastischen Beispiel deutlicb zu machen. Wilhelm Busch hat in seinem Balduin Bahlamm das moderne Bild vom Dichter persi.Biert. Der Dichter, so heillt es in der Einleitung, entflieht den V erdriefilichkeiten des All tags

2.2.

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Und zieht als freier Musensohn In die Poetendimension,

und als schonster Lohn seines Dichtens winkt ihm, daB die Geliebte ihm entgegenfliegt:

,, Gottlicher Mensch, ich schatze Dich I Und daB Du so mein Herz gewannst, Macht blo3, dal3 Du so dichten kannst l lc c

Balduin Bahlamm, der arrne verh.inderte Poet, zieht hinaus in die reine Natur, urn sich dort seiner Inspiration zu iiberlassen :

In freier Luft, in frischem Griin, D a wo die bunten Bliimlein bliihn, In Wiesen, Waldem, auf der Heide, Entfemt von jedem Wohngebaude, Auf rein botanischem Gebiet Weilt jeder gem, der voll Gemiit.

Hier legt sich Bahla.mm auf den Riicken Und fiihlt es tief und mit Entziicken, Nachdem er Bein und Blick erhoben : Grofi ist die Welt, besonders oben.

Dieser Dichter, der mit liebendem Herzen in die Einsam­keit zieht und der sich gefuhlvoll an die Natur verliert, der sich iiber den prosaischen Alltag erhebt, als ein gott­licher Mensch, taucht zum ersten Mal bei V ergil auf, und zwar in seinen Bucolica, in dem 10. Hirtengedicht, wo er seinen Freund, den Dichter Gallus, besingt, dem seine Geliebte untreu geworden ist. Die uns bier interes­sierenden Verse gibt Rudolf Alexander Schroder, der getreue Hiiter und Obersetzer antiker Dichtung, so in deutschen Versen wieder:

Um ihn klagte daselbst der Lorbeer, klagte die Myrte, Ihn, der am Berghang einsam lag, der fichtenumrauschte Manalus selbst und Felsengesteio des kalten Lycaus.

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Und so liebe denn auch, du gottlicber Sanger der Herdeo, Trieb doch Adonis selbst, der Reizende, Lammer zum FluB hln. • • • • • •

Pan, der Gott Arkadiens kommt - wir schauen ihn selber -, • • • • • •

Fragt: So endest du nicht? Dein lacht der tiickische Amor. Gras hat nimmer die Wiese genug, noch Krauter der Geillbock Oder die Bieoe des Cystiusstrauchs, noch Amor der Tranen. Traurig erwjdert der Freund: A.rkadier, dennoch, ihr Hirten, Eimige Mdstcr des Lieds, Arkadier, singet ihr spat noch Hier im Gebirg dies Weh I Wie sanftiglich schlummert me.io

Leichnam, W enn eure Flote dereinst mein Lied und Lie ben verkiindet I Oh, und ware ich eine:r von eucb, ein Hiiter der Herdeo, Oder ein Winzer, und brach des Rebstocks reifes Gewachs ab I Traun, und lage daselbst mir Phyllis oder Amyntas Oder ein ander Gesell . . . . Unter dem Weidengebiisch und rankenden Rebeo zu:r Seite . • • • • • •

Ich aber waodere nun und stimme chakidische Weisen, So mir kund, zum Schall der siziliscben Hirtenflote. Wahrlich, in Wald und Gebirge und behaust wie die Tiere der

Wildnis, Duldet sich leichter ein Leid. Ich ritz in die Rinden der Baume Nameo der Liebe; so wacbst das Holz und wachsen die Namen.

DaB so ein Dichter die menschliche Gesellschaft flieht, daB er in seiner ungliicklichen Liebe Trauer und Teil­oahme bei den Baumen und Bergen findet, daB selbst die Gotter ihn t.rosten, daB er durch sein Empfinden sich ii her die gewohnlichen Menschen erhebt und deswegen von den Teilnehmenden als gottlich angeredet wird, daB er sich selbst bemitleidet und Trost darin findet, daB man auch spater noch urn sein Liebesleid und un;1 seinen Tod klagen wird, daB er sich seiner poetischen Phantasie iiberlaBt - das alles sind Motive, die sich in der grie­chischen Dichtung noch nicht finden. Dena die grie­chischen Dichter stehen noch fest in der sie umgebenden

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menschlichen Gesellschaft. Zwar hi.Bt sich schon in der griechischen Literatur verfolgen, daB die Gesellschaft sich verengt, in der die Dichter sich heimisch und aner­kannt fiihlen, und zumal die hellenistischen Dichter wenden sich nicht mehr an die ganze Biirgerschaft, wie es noch die klassische Tragodie und Komodie tat, sondern an einen exklusiven Kreis von Gebildeten, die das gelehrte und kunstvolle Spiel ihres Dichtens goutieren konnen. Aber selbst die Hirtengedichte Theokrits, von denen Vergil in seinen Bucolica so stark abhangig ist, kennen noch nicht dieses sentimentale Gefiihl des Verlorenseins und das dadurch bedingte Selbstgefiihl dessen, der in ein schoneres Reich der Poesie flieht. Fur Vergil ist Arkadien das Land der Dichtung, dec Liebe und des eigentlichen, zarten Menschentums. Wenn wir von bier aus noch einmal zuriickblicken auf Catull, von dem wir das letzte Mal gesprochen haben, so wird klar, daB vieles, was bei Vergil hervorttitt, sich bei ihm schon vorbereitet. Zunachst haben wir bei Catull die gleichen soziologischen Voraussetzungen gefunden wie bei Vergil: daB der Dichter in einer Welt steht, die eigentlich keinen Platz fiir ibn hat, daB er dadurch zugleich sich fremd fiihlt und doch lebendig von seiner geistigen Oberlegenheit weill. So wie Vergil sich nach Arkadien fli.ichtet, war Catull in die Boheme gegangen. DaB Catull das lockere Milieu der Tavemen und noch zweifelha.fterer Lokale als einen Platz des dichterischen Spielens und der geistigen Be­weglicbkeit ansah, hat er in einem Gedicht ausgesprochen, in dem er die beschlmpft, die ibn wegen seiner unzi.ichtigen Gedichte getadelt batten (c. 16), die aus seinen Versen geschlossen hatten, daB er selbst ein lasterhaftes Leben fiihrte. Denen antwortete er:

,castum esse decet pium poetam ipsum, versiculos nihil necesse est"

..

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,Der fromme Dichter, d. h. der den Musen client, soli sdber keusch sein, aber daB es auch seine Verse sind, ist nicht notig." - Solch einen Trennungsstrich zwischen Kunst und Leben hat, soviel ich weill, ein griechischer Dichter nie gezogen. (W ohl aber haben spatere Romer sich des ofteren auf diesen Satz Catulls berufen.) Ob Catull sich in seinem Privadeben wirklich streng nach dieser Maxime gerichtet hat, wage ich nicht zu ent­scheiden, jedenfalls zeigt der Vers, daB Catull sich auch schon einen Bereich der Kunst geschaffen hat, der zu dem geordneten und niichtemen Leben des romiscben Burgers im Gegensatz stand. So verschieden die Boheme Catulls und das Arkadien Vergils auch sind, - denn in Vergils Arkadien geht es durchaus dezent zu - so sind doch die verwandten Ziige nicht zu verkennen. Und flit die abendlandische Dichtung sind beide Formen, sich eine Freistatt des Dichtens auBerhalb der biirgerlichen Welt zu schaffen, exemplarisch geblieben. Das Vergilsche Arkadien hat his in das Rokoko hinein die Dichter zu seinen Herden gelockt, - und nachdem dann die Schaferpoesie ihre Kt:aft vedoren hatte, das poetische Spiel in die gesellige Unterhaltung der Ge­bildeten einzufiigen, wanderten die Dichter desto ent­schiedener in die Boheme aus. Bei den Romem ist aber noch ein dritter poetischer Schauplatz entdeckt, auf dem sich das ungebundene Dichten tummeln konnte, - und davon werden wir morgen noch etwas sprechen, das ist der Olymp, die heitere Welt der griechiscben Gotter, die Ovid in seinen Metamorphosen gestaltet hat und die durch ibn in der Renaissance und im Barock auch fur die abendlandiscbe Dichtung, vor allem aber auch fiir Plastik und M.alerei, eine Poeten-Dimension und Kunst-Wirklichkeit neben

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der banalen Realitat geworden sind. Wir in Deutschland sind sehr geneigt, den EinfluB der Romer auf die abendHindische Kultur zu unterschatzen,

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und gewill reicht das, was die Griechen fiir Europa ge­leistet haben, noch sehr viel tiefer. Seit Winckelmann und Herder uns das griechische Erbe wieder vor Augen gestellt haben, spielt man gem die Griechen gegen die Romer aus. Deswegen ist es bei uns besonders ntitzlich, sich dat:auf zu besinnen, daB das Griechische zum guten Teil in romischer Metamorphose auf das Abendland gewirkt hat. Dafi.ir ist Arkadien ein gutes Beispiel. Arkadien ist eine griechische Landschaft, abet: was Arkadien fur die Romer und fur die spatere Zeit war, konnte es nie fur die Griechen sein: ein femes Land, die Heimat der Poesie, zu der die sehnstichtig hintibersahen, bei denen Dichtung und hoheres geistiges Leben nicht ursprtinglich gewachsen, sondern zunachst als etwas Fremdes tibemommen ist. So stehen seit den Romero aile westlichen Volker zu den Griechen, und deswegen haben sich die von den Romero entwickelten V orstellungen von einem dichterischen, dem All tag fremden Bereich immer wieder eingestellt. J a, das Paradoxe ist, daB selbst seit der Wiederentdeckung der Griechen in der Mitte des 18. Jaruhunderts die Griechen zum guten Teil seru romisch von uns gesehen sind. Denn wenn nun die Griechen plOtzlich in einem idealen Licht dastanden, die griechische Dichtung und die griechlsche Kunst als V orbild erschien, so wurde gewissermaf3en das ganze Griechenland zu einem Arkadien, zu einem pro­fanen Olymp. Abet: his zu der Entthronung der Romer durch die Grie­chen haben die lateinischen Dichter gerade durch die Ziige gewirkt, die wir heute und gestem al� typisch romisch kennengelernt haben. Die Griechen wruden wiederentdeckt unter dem Stich­wort des Natfulichen, des Schonen. Die Romer sind immer geneigt gewesen, dieses Schlichte und Einfache ein wenig zu tiberhohen, so dafi auf der einen Seite Wtit:de, auf der anderen Anmut als das Charakteristische

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des von den Griechen Geschaffenen erschien. Muster fiir die Wtirde war dann in den spateren Zeiten Vergils Aneis. Wir konnen hier nicht verfolgen, wie diese Wiirde aus der Arkadien-V orstellung des jungen Vergil hervorwachst. Muster fi.ir die Arunut waren Ovids Metamorphosen, von denen wir morgen sprechen werden. Und dal3 an dieser Anmut die Boheme Catulls nicht unbeteiligt war, wird sich dabei zeigen .

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Heute soil uns ein Stiick a us dem 1. Buch von Ovids Metamorphosen beschaftigen, die beriihmte und oft in Malerei und Plastik dargestellte Geschichte, wie Daphne, von Apollo in Liebe verfolgt, ihren Vater, den Flufigott Peneios, bittet, sie in einen Lorbeerbaum zu verwandeln. Ovid kntipft seine Erzahlung an die Sage von dem Drachen Python, der einst in Delphi hauste, und den Apollo mit Pfeil und Bogen totete, urn dort sein Heilig­tum und seine Orakelstitte zu griinden. Um die heiden Geschichten zu verbinden, erfindet Ovid, daB Apollo den Gott der Liebe, Amor oder Cupido, da­durch beleidigt, dafi er sich verachtlich tiber das Bogen­schiefien dieses mutwilligen Knaben aufiert. Wenn ich Ihnen nun neben dem lateinischen Text eine Obersetzung von etwas mehr als too Ovidversen mitteile, so erinnem Sie sich bitte an das, was wit neulich schon gesehen haben, dafi das Obersetzen nie aufgeht, daJ3 es immer ein spielerischer Notbehelf bleibt. Ich gebe die Obersetzung our deswegen, weil ich annehme, dafi die Verstindigung tiber das Stofflich-Sachliche doch Ieichter ist, wenn ich Ihnen den Ovid auch auf Deutsch ser­viere und nicht our auf Lateinisch, - (aber an dem Urtext konnen Sie sich leicht tiberzeugen, dafi die Form ebenso elegant und grazios ist wie die bezaubemde Ge­schichte) :

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Primus amor Phoebi Daphne Peneia, quem non fors ignara dedit, sed saeva Cupidinis ira. De/ius hunc, nuper victa serpente superbus, viderat adducto jlectenten1 cornua nervo 'quid' que 'tibi, lascive puer, cum fortibus armis?' dixerat, 'ista decent umeros gestamina nostros, qui dare certa ferae, dare vulnera possumus hosti, qtli mode pestifero tot iugera ventre prementem stravimr1s innumeris tt1midum Pythona sagittis. tu fafe nescio quos esto contentus amores inri"tzre tua, nee laudes adsere nostras.'

Filius huic Veneris 'jigat tuus omnia, Phoebe, te meus arcus' ait: 'quantoque animalia cedunt cuncta deo, tanto m inor est tua gloria nostra.'

Dixit et, e!iso percussis aere pennis, inpiger umbrosa Pamasi constitil arce eque sagittifera prompsit duo tela pharetra diversorutn operum: fttgat hoc, facit illud amoretn. quod facit, auratum est et cuspide fulget acuta; quod fugat, obtusum est et habet sub harundine plumbum. hoc deus in '!Ympha Peneide ftxit, at illo laesit Apollineas traiecta per ossa medullas. protinus alter amat, fugit altera notnen amantis, silvarutn latebris captivarumque ferarum exuviis gaudens innuptaeque aemula Phoebes: vitta coercebat positos sine lege capillos. multi illatn petiere, ilia aversata petentes inpatiens expersque viri nemora avia lustral, nee quid Hymen, quid Amor, quid sint conubia, curat.

(

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Erste Liebe Apolls war Daphne, das Kind des Peneius, Liebe, die torichter Zufall nicht gab, nein, der Zorn des Cupido. Phoebus hatte, noch stolz auf den eben-getoteten Drachen, Ihn seinen Bogen, die Sehne zu festigen, biegen gesehen Und ihm gesagt: ,Was scheren denn dich, du lockerer Knabe, Machtige Waffen? LaB solcherlei Last fiir unsere Schultem, Die wir das Wild mit sicherem Schu.fi und den Gegner

verwunden! Just hab ich ihn, der mit giftigem Leib viele Hufen von Land

deckt, Mit unzlihligen Pfeilen erlegt, den gedunsenen Pytho. Du aber sei es zufrieden, mit deiner Fackel etwelche Lieben zu ziinden, doch strebe du nicht nach unseren Taten."

Venus' Sohn erwidert darauf: ,Treff dein Bogen, Phoebus, Alles, - tneiner trifft dich I Wie die siimtlichen Tiere dem Gotte Nachstehn, um soviel geringer ist dein Ruhm neb en dem meinen."

Sprach's undzerteiltedieLuftmitschnellgeruderten Schwingen. Hurtig bezog er die Wacht auf der schattigen Burg

des Parnassus Und aus dem Kocher, dem pfeilebergenden, nahm er zwei

Schafte Von unterschiedenem Werk : einer scheucht, einer stiftet

die Liebe. Der sie stiftet, ist golden und glanzt mit spitziger Schiirfe, Der sie scheucht, ist stump£ und hat Blei am Ende des Rohres. Diesen richtet der Gott auf Daphne, aber der andre Orang tief ein ins Gebein dem Apoll und verletzte das Matk

ibm. Stracks ist der eine verliebt, - verliebt will die andre

nicht heillen, Hat an den Lagern des Wildes im Wald, an der Beute erjagter Tiere our Lust und client der jungfraulichen Schwester Apollos. Nur ein Band hielt fest die nicht artig geordneten Locken. Viele warben um sie, - sie wies zuri.ick ihre Werber. Oboe der Manner zu achten, durchstreift sie entlegene Walder. Aber was Hochzeit, was Liebe, was Ehe sci, kiimmert sie

gar nicht.

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saepe pater dixit 'generum mihi, jilia, debes', 1

saepe pater dixit 'debes mihi, nata, nepotes'.

ilia, velut crimen taedas exosa iugales,

pulchra verecundo sujfuderat ora rubore,

inque patris blandis haerens cervice lacertis

'da mihi perpetua, genitor carissime', dixit

'virginitate frui: dedit hoc pater ante Dianae.'

ille qrridef!J obsequitur, sed te decor iste qt�od optas

esse velat, votoque tuo tua forma repugnat:

Phoebus amat visaeqtte cupit conubia Daphnes,

quodque ctpit, sperat, suaque ilium oracula fallunt.

utque /eves stipulae demptis adolenttlr aristis,

ut facibus saepes ardent, quas forte viator

vel nimis admovit vel iam sub luce reliquit,

sic det1s itt flanJnJas abiit, sic pectore toto

uritur et sterilem sperando 1tutrit amorem.

spectat inornatos collo pendere capillos,

et 'quid, si comantur?' ait. videt igne micantes

sideribus similes oculos, videt oscula, quae non

est vidisse satis,· laudat digitosqr1e manusque

bracchiaque et nudos media plus parte lacertos.

siqua latent, meliora putat. ft�git ocior aura

ilia levi neque ad haec revocantis verba resistit:

'Nympha, precor, Penei, mane! non insequor hostis:

nympha, mane! sic agna lupum, sic cerva leonem,

sic aquilam pem1a fugiunt trepidante columbae,

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Oft hat der Vater gesagt: ,Fur den Scbwiegersohn> Tocbter­cben, sorg mir",

Oft hat der Vater gesagt: ,Sorge mir, mein Kind, fiir die Enkel."

.Aber wie Sunde verhaBt war ibr die Fackel der Hochzeit, Und, iibergossen das scbone Gesicht von schamhafter Rote, Hangte sie sicb mit schmeichelndem Arm an den Hals

ihres Vaters. ,Gib mir, o teurer Erzeuger, daB icb meiner Jungfernschaft

Micb erfreue. Der Vater gab dies dereinst der Diana." Jener gewa.brte das wohl. Doch dir versagt deice Schonheit Das zu sein, was du wiinschst, und dein Reiz widerstreitet

der Bitte. Phoebus liebt; da er Daphne gesehn, begebrt er ibr Lager. Was er begehrt, hofft er; doch er, der Prophet, mu13 sicb irren. Und wie die lichten Stoppeln in Rauch aufgehn each der Ernte, Wie eine Heeke verbrennt von der Fackel, die etwa ein Wandrer Allzu nahe ihr trug oder wegwarf beim Grauen des Tages, So ging Phoebus in Flammen auf, so stand ibm sein Busen Ganz in Brand und mit Ho.ffnung speist er vergebliche Liebe; Blickt auf das Haar, das locker und wild im Nacken ibr Battert, Und ,liegt das erst in Flechten I" sagt er; sieht funkeln

vor Feuer Stemen gleicb ihre Augen, sieht, - ach, ibm genugt nicht

das Sehen ­Ihren Mund. Und er ist entziickt von den Fingern, den Handen, Von den Armen und ihren zum Teil nocb sicbtbaren Scbultern, Und was verhullt ist, dunkt ibm noch reizender. Fluchtig,

ein Windhaucb Eilt sie von hinnen und halt auch nicht ein, als Apollo ihr

zuruft :

,Ma.dchen, ich bitte, Peneis, verweil' I nicbt verfolg icb als Feind dich,

Ma.dcben, verweil ! So fliebt vor dem Wolf ein Lamm, so die Hindin

Vor dem Leun, vor dem Adler so mit zittemdem Fli.igel die Taube,

33

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hostes quaeque suos: amor est mihi causa sequendi.

me miserum I ne prona cadas indignave laedi

crura notent sentes et sitn tibi causa do/oris I

a.spera, qua properas, /()ca sunt. moderatius, oro,

curre fugamque inhibe; moderatius insequar ipse.

cui placeas, inquire tamen. non incola monlis,

non ego sutn pastor, nO!J hie armenia gregesque

hoffidus obseroo. nescis, temeraria, nescis,

quem fug ia.s, ideoque ft'!}s. mihi Delphica tel/us

el Ciaros et Tenedos Patareaque regia seroit,

luppiter est genitor, per me quod eritque jt1itque

estque patet, per me concordant carmina nerois.

ceria quidem nostra est, nostra tamen una sagitta

certior, in vacuo quae vulnera pectora fecit.

inventt1m medicina meum est, opiferque per orbem

dicor, et herbarunJ subiecta potentia nobis:

ei mihi, quod nul/is amor est sanabilis herbis,

nee prosunt domino, quae prosunt omnibus, artesl'

Plura locutorum timido Peneia cursu

fugit cumque ipso verba illperfecta reliquit,

tum quoque visa decens. nudabant corpora venli,

obviaque adversa.s vibrabant flamina vestes,

et levis inpulsos retro dabat aura capillos,

auctaque forma fuga est. sed enim non suslinet ultra

perdere blanditias iuvenis deus, utque monebat

ipse Amor, admisso sequitur vestigia pam1.

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Jegliches vor sei.oem Feind l DaB ich dich verfolge, ist Liebel Blender icb I Gib acbt, du rallst I Emporend, die Dornen Ritzen die Schenkel dirt Meine Schuld ist's, daB du dir

web tustl Raub ist, wo du dahineilst, der Grund. Oh, langsamer, bitte, Lauf und bemme die Flucbt. I.angsamer will ich dich ver-

folgen. Frage doch nur, wer dich liebt I Ich bin kein Bauer vom Berge, Bin kein Hirt, bin keiner, der bier in Lumpen die Kiihe Oder die Schafe bewacht. Du weillt nicht, o Torichte,

weillt nicbt, Wem du enteilst, - darum nur enteilst du mir: Mein ist ja

Delphi; Clarus dient mir, Tenedus auch und Pataras Burgfels. Jupiter 1st mein EtZeuger; was war, was ist und was sein wird, 1st durcb mich offenbar, durcb mich stimmt das Lied zu

der Leier. Sieber trifft mein Pfeil, doch trifft ein anderer Pfeil nocb Sicbrer, der eben das Herz mir, das unerprobte, verwundet. lcb bin Erfinder der Heilkunst, der Retter werd' auf dem

Erdrund Rings icb genannt, und der Krauter Kraft stebt mir zu Gebote. Web mir, daB our die Liebe durch keinerlei Krauter zu heilen, DaB die fur aile so niitzliche Kunst our dem Herren nicht

niitzlich I"

Mehr nocb wollte er sprechen. Doch angstlichen Laufes entfloh ihm

Daphne und lieB ihn zuriick mit der unvolleodeten Rede. So sdbst schien sie ibm schon. Den Korper entbloBteo

die Winde, Das begegnende Wehn lieB B.attem die leichte Gewanduog, Uod der luftige Hauch schlug zuriick die gettoffenen Locken. Reizender noch in der Flucht ist ihr Leib. Doch der gottliche

Jiingling Tragt es nicbt laager, sein Flehn zu vertun, und wie Amor

ihn aotteibt, Folgt er bescbleunigten Schritts der Spur des fliichtigen

Madchens.

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ut canis in vacuo leporem cum Gallicus arvo

vidit, el hie praedam pedibus petit, ille salutem

(alter inhaesuro simi/is iam iamqr1e tenere

sperat et extento stringit vestigia rostro,

alter in ambiguo est, an sit conprensus, et ipsis

morsibus eri pitrtr tangentiaque ora relinquit) :

sic der1s et virgo est hie spe celer, ilia timore.

qHi tametJ insequitur, pennis adiutus An1oris

ocior est requiemque negat tergoque fugacis

inminel et crinem sparsum cervicibtts adflat.

viribtts absumptis expalluit ilia, citaeque

victa Iabore fugae, spectans Peneidas rmdas,

'fer, pater' inq11it <opetn, si jlumina m1men habetis I

qua nimium placui, mutando perde figuram !'

Vix prece finila torpor gravis occtpat artus:

mollia cinguntttr tenui praecordia libro,

in frondettl crines, in ramos bracchia crescunt,

pes, tnodo tam velox, pigris radicibus haeret,

ora cacumen habet; remanet nitor unus in ilia.

hanc quoque Phoebus amat, positaque in stipite dextra

smtit adhuc trepidare novo sub cortice pectus,

conplexusque suis ramos, til tnembra, lacertis

oscula dat ligno: refugit /amen oscula ligpum.

Cui deus 'at quoniam coniunx mea non potes esse,

arbor eris eerie' dixit 'mea. semper habebunt

te coma, te citharae, te nostrae, Iaure, pharetrae'.

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Wie wenn ein gallischer Hund auf offenem Feld einen Hasen Sieht und ihn hurtig hetzt - und der Hase lauft um

sein Leben ­(Schoo sieht es aus, als hatt' er ihn fest, schon meint er,

er packt iho; Vorwirts gestreckt seinen Kopf liegt er ibm hart auf der Fahrte. Schoo ist der Hase in Angst, ob er nicht erwischt sei, eotrei.Bt

skh Grad' noch den Zahoeo und lost sich von der ihn schoo

streifendeo Schnauze), So auch der Gott und das Mad chen : e r schnell durch Hoffoung,

durch Furcht sie. Der Verfolger jedoch, uoterstiitzt durch die Fittiche Amors, 1st geschwinder und gibt keine Ruh, - an der Fliehenden

Riickeo Trifft er schon mit dem Hauch die im Nacken ihr Batteroden

Haare. Ihr entschwindet die Kraft, sie erbleicht, von all ihrer Miihsal Eiligen Flieheos erschopft erblickt sie die Flut des Peneius, -,Vater", so ruft sie, ,hilfl Und wenn denn ihr Fliisse die Kraft

habt, Wandie, durch den zu sehr ich gefiel, zerstor meinen Korper !"

Kaum ist die Bitte gesagt, faBt schwere Lahmung die Glieder. Rings umschniirt ihr ein feiner Bast den Busen, den weichen, Und zu Laub wachst ihr Haar, zu Zweigen wachseo die Arme, Und ihre Fiille, noch eben so fiink, verhaften in Wurzelo. Ihr Gesicht wird zum Wipfel; das Einz'ge, das bleibt, ist

die Schonheit. So noch liebt sie Apoll ; er legt an den Stamm seine Rechte, Fiihlt noch zittem die Brust durch die eben gewordeoe Rinde, Und er umfa.Bt mit dem Arm das Gezweig, als waren es Glieder, Kiisse gibt er dem Holz, doch das Holz eotzieht sich denKiissen.

Spricht zu ihr dean der Gott: ,Da du meine Gemahlin nicht sein kannst,

Wirst du mein Baum und als Eigentum immer will ich dich trag en

In meinem Haar, an der Leier, an diesem Kocher, mein Lor beer."

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Die leichte Anmut dieser Geschichte ist das Erbe des griechischen Mythos. Aber doch ist bier manches anders als bei den Griecheo, und das bangt zunachst einmal an den gesellschaftlicheo Verhaltoisseo Roms, von denen wir schon bei Catull uod V ergil gesprochen haben. Da dem Dichter kein natiirlicher Platz im taglichen Leben Roms oder auch bei festlichen Gelegenheiten zur Ver­fUgung stand, war Catull in die Boheme gegangen und Vergil hatte sich sein eigenes Land der Dichtung, Arkadien, geschaffen. In Ovids Metamorphosen wird die Welt der griechischen Gotter so etwas wie eine Boheme und ein Arkadien zu gleicher Zeit : ein Land des freien Spiels und der poetischen Schooheit. Gewill haben auch die hellenistischen Dichter, zumal der Gro.Bte unter ihnen, Kallimachos, mit den alten Gottern und Sagengestalten ihr geistreiches Spiel getrieben, aber erst bei Ovid bekommt der Mythos den sentimeotalischen Olarakter, daB er sich als eine idealische Welt tiber den sinnlos gewordeneo Alltag erhebt. Die Idealisierung der mythischeo Figuren vollzieht er nun freilich nach dem Geschmack eioer gro.Bstadtischeo Gesellschaft, die sich nicht mehr in irgendwelchen emsten Ioteressen engagiert. Wie in eioe Erlosung, aber in eine sehr weltliche Er­losung, und wie in einen jenseitigeo Trost, wobei aber das Jenseits sehr mondan ist, flieht Ovid in diese alte vollkommene Welt. So sind die olympischen Gotter in den Metamorphosen schon durchaus heidoisch in dem Sinn, da13 ihre Freiheit und Vitalitat sich nicht mehr un­befangen und harmlosen Herzens gibt. An Stelle des Sinnenkraftigen uod Burlesken tritt bei Ovid das An­ztigliche und Frivole, die Schonheit wird zur Eleganz, die Weisheit zum Witz. Wie Apoll, immer im Lauf­schritt, der sproden Daphne seine schmachtende Liebe vortragt, wie er ihre Hande, ihre Arme, ihre Schultern bewundert - und das Weitere ahnt, wie er die Paradoxie,

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daB er als Seher und Bogen-Schutze seine gottliche Macht nicht erfolgreich anwenden kann, in Antithesen formu­liert, - vollends, wie er beim Anblick der wild fiattemden Haare sagt: ,wenn die nun erst noch frisiert waren", -all das ist auf das geistrcichste und wirkungsvollste durch­gefiihrt, aber von einem bewuBten Raf6nernent. Ich will noch eine Geschichte aus den Metamorphosen erwahnen, urn zu zeigen, auf was man bei Ovid gefaBt sein rnuB. Er hat von Orpheus erzihlt, der so traurig die Euryclike im Hades hat zuruck.lassen mussen. Daraufhin, so berichtet er weiter, erfand Orpheus die Knabenliebe, sei es nun deswegen, well er so schlechte Erfahrungen mit den Frauen gemacht hatte, - oder aber, well er seiner Frau die Treue halten wollte. Aber ttotz solcher schnoden Frivolitaten schHigt bei Ovid doch immer wieder eine zarte Empfindsamkeit durch. Die SchluB-Szene der Daphne-Geschichte, wie Apoll das zum Lorbeer verwandelte Madchen liebkost, ist nur ein Beispiel fur das Gefiihl, das sich in der rornischen Literatur seit Catull und V ergil durchgesetzt hat. Die Renaissance hat vornehmlich an Ovid die strahlende Welt der griechischen Gotter und Heiden kennengelernt, und es ist verstandlich, daB die Mischung von Frivolem, Geistreichem und Sentimentalem vor der Folie des welt­fiuchtigen Olristentums besonders stark wirken muBte, als eine neue sta.dtische Gesellschaft sich wieder auf die Schonheit und GroBe der diesseitigen Welt besann, und als man an der Antike diese Weltfreudigkeit zu Iemen begann. Freilich hat es auch zwischen dem ausgehenden Altertum

und der Humanisten-Zeit eine groBe lateinische Literatur gegeben, die allerdings ganz andere Zuge aufweist. Dar­tiber wollen wir uns das nachste Mal unterhalten .

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VI

Bin unvoreingenommener Philologe wie Wilamowitz hat gesagt : ,,Die lateinische Dichtung erreicht erst dann ihr Hochstes, als sie in den neuen rhythmischen Formen einen Reichtum erringt, den die Romer nie besessen haben." Wir brauchen nur an das gewaltige: Dies irae, dies ilia zu denken, dessen Orgeltone Goethe schon im Urfaust in die Szene zwischen Gretchen und dem Bosen Geist ein­gefiihrt hat:

Dies irae, dies ilia So/vet saetlu!lJ in favilla. Judex ergo cr1m sedebit, Quidquid latet adparebit, Nil inultutn remanebit. Quid Stlm miser tu11C dicturus? Qr1en; patronum rogaturus? Cr1m vix }tiS/us sit securus.

Das heillt in platter Prosa etwa : ,,Tag des Zomes, jener Tag, wird die Zeit zu Asche losen. Dann wird, wenn der Richter dasitzt, was ver­borgen ist, offenbar sein; nichts bleibt unvergolten. Was soil ich Armer dann sagen, wen als Fi.irsprecher anflehen, da kaum der Gerechte sicher ist." Goethe hat diese Verse mit ihrem schweren Klang und ihrem dunklen Vokalreichtum zur groBten Wirk'Ullg ge­bracht, indem er sie zwischen die harnischen, person­lichen Worte des Bosen Geistes und die Notscht:eie des gequalten Gretchens gestellt hat .

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Da klingen sie hinein als gottlich-unverhriichliche Stimme; das, was das Latein im Kultus der Ki.rche war und his auf den heutigen Tag ist, kommt dadurch grofiartig zur Geltung: das Heilige ist dem Profanen so fem, daB es seine eigene Sprache spricht, und diesen hieratischen Klang hahen die mittelalterlichen H ymnen wie kaum eine andere religiose Dichtung des Ahendlandes. Goethe hat diese mittelalterlichen lateinischen Rhythmen mit den oft dreifachen oder noch haufigeren Reimen auch sonst im Faust verwandt, wenn er das Dbermenschlich­Gilltige zu Worte kommen lassen wollte. So im Chor der Engel, die, als Faust den Gift-Trank an die Lippen setzen will, den Ostersonntag hegriiBen.

Christ ist erstanden: Freude dem Sterhlichen, den die verderhlichen, schleichenden, erhlichen Mangel umwanden.

Das k1ingt geradezu, als oh es die Obersetzung eines mittelalterlichen Hymnus ware, - ist es aher nicht. Und vollends durch die letzte Szene des 2. Tells klingen diese feierlichen Weisen, von dem Anfang :

.

Waldung, sie schwankt heran, Felsen, sie lasten dran, Wurzeln, sie klammem an, Stamm dicht an Stamm hinan,

his zu dem Chorus Mysticus:

Alles V ergangliche Ist nur ein Gleichnis, Das Unzulangliche, Hier wird's Ereignis . . .

Neben dieser erhahenen kirchlichen Poesie hat es aber auch eine reiche weltliche Dichtung im Mittelalter ge-

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geben, deren bekanntestes Lied, das Gamleamus igitur, in seinen altesten Teilen his ins 13 . Jahrhundert zuriick­reicht, - also in die Zeit, aus der auch das Dies irae stammt. Das Lied hat allerdings mancherlei Wandlungen durchgemacht: Aus dem 1 8 . Jahrhundert ist z.B. eine halb lateinische, halb deutsche Fassung bekannt, die recht obszon ist, - und erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts hat es die etwas triviale Gestalt gefunden, die in die Kommersbi.icher eingegangen ist. Dies Gamleamus gehort zu der reichen Vaganten- oder Goliarden-Poesie des Mittelalters, zu den Liedem der fa.hrenden Scholaren, von denen uns einige durch eine Handschrift vom Ende des 1 3 . J ahrhunderts a us dem Kloster Benediktbeuren, die sogenannten Carmina B��rana, erhalten sind. Es ist zwar mehr a1s zweifelhaft, ob diese Gedichte wirklich aile aus der mittelalterlichen Boheme der gescheiterten Studenten stammen, - selbst bei den derbsten Fref3-, Sauf- und Venusliedem bleibt die Mog­lichkeit offen, daJ3 sie von sonst ganz ehrbaren Leuten stammen. Die groBe Mehrzahl ist anonym, und wir kennen nur ganz wenige Verfasser, wie den Archipoeta, den Erzdichter, der der Schi.itzling Rainalds von Dassel, des Erzbischofs von Koln, um die Mitte des u. Jahr­hunderts war. In seinen Gedichten gibt er sich als Trinker, Spieler und lockerer VogeL Es ist kurios, daJ3 das Lateinische eine volksti.imliche Poesie erst hervorgebracht hat, als es nicht mehr V olks­sprache, sondem nur noch Sprache der Gebildeten war. Dena die alte romische Poesie, jedenfalls soweit sie auf uns gekommen ist, hat viel mehr literarisch-gebildeten Charakter a1s das, was wir aus dem Mittelalter an latei­nischen Gedichten besitzen, also aus einer Zeit, als das Latein eine Sondersprache der Schriftkundigen war. Freilich sind diese Verse nicht mehr im antiken Versmaf3 gehalten, sondem es wird der Reim verwandt, wie er uns auch vertraut ist. Auch die Sprache entspricht nicht mehr

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den Regeln der klassischen Grammatik, und so ist denn die groBe Fiille bedeutender Gedichte aus vielen Jahr­hunderten von den Humanisten nicht meh.r ernst ge­nommen und auch in unseren Schulen baben sie keinen recbten Eingang gewonnen, obwohl man die klassizisti­schen Vorurteile in der Theorie langst abgetan hat und obwohl man keine Angst mehr zu haben braucht, daB das Kuchenlatein den guten Stil lateinischer Haus­arbeiten verdirbt. lch sollte meinen., daB es unserem Latein-Unterricht auf der Schule nur zugute kame, wenn man diese mittel­alterliche Poesie mehr hera.nzoge, nicht nur, weil sich Latein daran so leicht lemen la.Bt, sondem auch deswegen, well schon wenige Proben den Blick fur eine Welt offnen, die uns auf der Schule unbekannt geblieben ist. In den Carmina Burana .6nden sich so bezaubemde Stiicke wie das Friihlingslied, das mit zu denen gehort, die Orff vertont hat:

E��e gratum et optatum ver reducit gaur.'ia. Purp11rat11m floret pratum, sol serena/ omnia. iamiam �edant lristia I aestas redit, nmtt re�edit hiemis saevitia.

Auf, zu griillen Lenz, den sUBen! Freude hat er wiederbracht. Blumen sprieBen auf den Wiesen und die liebe Sonne lacht. Nimmer sei des Leids gedacht I Von dem jungen Lenz bezwungen weicht des Winters grimme Macht.

(Obertragen von L. Laistner)

Klingt uns das nicht wie ein V olkslied? A her so volks­tiimlich es wirklich ist, - schon das Lateinische schlof3 es aus, daB das V olk es wirklich sang oder daB es gar aus einem Milieu, das wir heute volkstiimlich nennen wiirden, stammt. Wir miissen da zweifellos die V orstellung,

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die die Romantik von V olksliedem hatte, griindlich revi­dieren. Wer so auf lateinisch dichten konnte, muB ein Gebildeter, ja, ein Gelehrter gewesen sein, - nur durfte er sich durch sein Bucherstudium nicht den gesunden und frischen Sinn fur das verdorben haben, was die von ihm gdemten Vokabeln bedeuteten. Ja, es zeigt sich, wenn man sich diese Vaganten-Poesie genauer ansieht, daB sie uberall auf die romischen Dichter, zumal auf Vergil und Ovid anspielt, und daB die Dichter, die zu singen scheinen, wie der Vogel singt, zu ihrer unbefangenen Narurlichkeit gerade dadurch gekommen sind, daB sie gepragte Formen, tiber die Liebe, uber die Freundschaft, tiber die Natur zu sprechen, bei den klassischen Autoren vorfanden, was aber selbstverstandlich niche ausschlo.B, da13 ein durchaus unantikes und modemes Empfinden in sie einBoB. Das mag ein scherzhaftes Gedicht auf den armen Hasen zeigen, das zwar erst aus dem Jahr 1 5 74 stammt, aber im Motiv zuruckgeht auf ein mittelalterliches Gedicht vom ge­bratenen Schwan. Wenn hler, obwohl ironisch, das Mit­leid mit dem jammervollen Los des fiir die Kuche be­stimmten Geschopfes spricht, so ist das vollig unantik, ­das setzt christliches Fi.ihlen voraus.

Auf deutsch wiirde das Hasen-Gedicht etwa lauren :

Kleiner Hase weinte sehr, Hub an, laut zu klagen: ,Was tat ich den Menschen nur, DaB sie mich mit Hun den jagen? Hab im Garten nicht gesessen, Hab den Kohl nicht aufgefressen. Lange Ohren babe ich, Kurzes Schwanzchen trage ich. Hurtige Beine habe ich, Lange Sprtinge wage ich. Schmackhaft 1st mein Fleisch, Und mein Fell ist warm und weich.

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Wenn die Knechte mich entdecken, ,,Hase" schrein sie, mich zu schrecken. Wohne tief im duoklen Wald Und mein Bett ist hart und kalt. Steige ich den Berg hinan, Keine Hunde fiircht ich dann. Komm ich an den Hof zum Konig, Freut sich der, - doch i c h mich wenig. Konige, die mich verspeist, Trinken Wein auf mich zumeist. Bin ich aufgespeist von ihnen, Tun sie mich in die Latrinen."

Dasheillt aufLateinisch, - und dies Lateinisch mutet uns so reimatlich an, daB auch die unter Ihnen, die ihr Schul­Latcin nicht mehr recht zur Hand haben, ibm leicht werden folg.m konoen, zumal da ich Ihnen das Grob-Inhaltliche schm durch die Dbersetzung vor Augen geriickt babe:

Flevit lepus parvulus clamans a/tis vocibus: Quid feci hon;inibus, Quod me sequuntur canibus? Neque in horto fui,

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Neque holus comedt. Longas aures habeo, Brevem caudam teneo; Leves pedes habeo, Magnum sa/tum facio. Caro mea dulcis est, Pel/is mea mol/is est. Quando servi vident me, ,Rase, Hase", vocant 1/le. Domus mea silva est, Lectus meus durus est. Dum montes ascendero, Canes nihil timeo.

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Dum in au/am venio Gaudet rex - et non ego. Quando reges con;edunt me, Vinum bibmtt super me. Quando comederunt me, Ad latrinam portant me.

In solchen Gedichten ist von der Fremdbeit des alten Lateins nichts rnehr zu spi.iren. Hier schmi.ickt keine Tochter des Landrnanns rnehr einen Altar und hier kleidet sich die Sprache auch nicht rnehr in die wi.irdevollen Falten cicero�scher Perioden oder vergilischer Hexa­meter. Aber es ist ein wirklich lebendiges Latein. Sicher ist viel Provinzielles, Schi.ilerhaftes in diesen mittelalter­lichen Gedichten, und das Meiste steht nicht i.iber dem, was etwa in unseren Kommersbi.ichem steht. Aber die besten Sti.icke, - und nach denen soli man nicht nur die einzelnen Dichter, sondem auch die Epochen beurteilen, - sind gro.Be Literatur, wie z. B. die Beichte des Archipoeta:

Ae.rtuans intrinsecus ira vehementi in amarit11dine loquor meae menti : jactt1s de materia levis elementi folio sum sin;i/is, de quo ludunt venti.

Cum sit enim proprium • • •

111ro saptenlt supra petram ponere sedem j1111damenti, st11ltus ego comparor f/11Vio labenti sub eodem tramite 111111tjllam permanenti.

Heiller Scham und Reue voll, wildem Grimm zum Raube schlag ich voller Bitterkeit an mein Herz, das tau be: windgeschaffen, federleicht, locker wie von Staube, gleich ich loser Liifte Spiel, gleich ich einem Laube I

Denn indes ein kluger Mann sorglich pflegt zu schaueo, daB er mog auf Felsengrund seine Wohnuog baueo: bin ich Narr dem Flusse gleich, den kein Wehr darf stauen, der sicb immer neu sein Bett hinwi.ihlt durch die Auen.

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feror ego vel11ti sine na11ta navis, 111 per vias airis vaga ferlllr avis, non me tenent vincula, non 1111 tenet davis, tp��Jero mei similes et adilmgor pravis.

Mihi cordis gravitas res videt11r gravis,· io&NS est amabilis dllkiorqt�t favis. qllidqllid Vem11 imperat, labor est suavis; q��ae nllntjiiiJm in cordibm habitat ignavis.

Via lata gradior more i11Venl11tis, implico me vitiis immemor virtutis, voluptatis avidus magis quam salutis, mortuus in anima c11ram gero cutis.

Praesul dist:relissime, veniam te precor : morte bona morior, d11ki nece necor ; meum pectus sautiat p111llarum decor, et tJIIIZS tac/11 nequeo, saltem corde moechor.

Res est ardllissima vincere naf11ram,

. ill aspec111 virginis menlem esse p��ram;

Wie ein meisterloses Schiff fahr- ich fem dem Strande, wie der Vogel durch die Luft streif' ich durch die Lande. Hiiten mag kein Schliissel mich, halten keine Bande. mit Gesellen geh' ich um -oh, 's ist cine Schandel

Traurigkeit - ein traurig Ding, das mich mag verschonen ; Scherz geht iiber Honigseim, der will sich verlohnen. Mir ist in Frau Venus' Dienst eine Lust zu fronen, die in eines Tropfen Herz nie hat mogen wohnen.

Auf dem breiten Wege geh' ich nach Art der Jugend, lasse mich mit Siinden ein ungedenk der Tugend: mehr nach irdischer Begier als gen Himmel lugend, geistlich tot, zu jeder Lust meinen Leib befugend.

Herr Pralat, laB deine Huld mich drum nicht verscherzen -aber siill ist solcher T od, wonnig seine Schmerzen; Magdelein sind gar so hold und mein Sinn nicht erzen; brech ich sonst die Ehe nicht, brech ich sie im Herzen.

Zwingen HU3t sich die Natur nimmermehr mit Barmen, und an einer J ungfrau Bild muB der Sinn entbrennen;

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iiiVenes non possumus

legem sequi ®ram leviumque corporum non habere curam . . .

wie soli auch der Jugendmut Regel halten konnen und dem leicht erregten Blut seinen Wunsch miBgonnen? . . .

(Obertrageo von L. Laistner)

Dies Geclicbt ist von einer g:roBartigen Schonungslosigkeit und zugleich souveranen Ironie. Zum SchluB will ich noch auf eine Art von Gedichten hlnwcisen, die zeigen, wie sehr das Latcin cine lebenclige Sprache war und wie nah sie den aufkommenden V olks­sprachen stand. Das ist die sogenannte Maccaronische Poesie, cine lustige Spatbliite der lateinischen Dichtung, die die lateinischen Worter mit deutschen, italienischen, franzosischen oder englischen, je nach der Muttersprache des Dichters, mischt. Seinen Nameo hat cliese Gattuog nach dem Epos Macarooea eines Italieners aus dem Ende des 15. Jahr­hunderts, das oach den italienischen Nudeln benaoot war und diese komische Poesie, der sogar Moliere in einem Zwischenspiel zum ,Malade Imaginaire" gehulcligt hat, in Mode brachte.

In Deutschland ist wohl am bekanntesten der Vers :

Lep11s, ein Hase, sedebat, er saB in via, auf der StraBe, edebat, und fraB,

der aber mehr eine Obersetzungs-Obung als eine echte Maccaronische Poesie ist. Es gab ganze Gedichtbaode, in denen auf greuliche Weise die Sprachen gemischt waren; das :llteste deutsche war das Floh-Epos, das im Jahr I 593 unter dern Titel erschien: Floia. Cortum versicale de Flois, swartibus illis tiericulis,

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quae Minschos fere omnes, Mannos, Weibras, Jungfras etc. behi.ippere et spitzibus suis snafflis steckere et bitere solent, Auctore Griphaldo Knickknackio ex Flolandia. Aber wir wollen schlieBen. Es ist schon spat und, wie es in einem Maccaronischen Hexameter heillt: ,Nachtwachteri veniunt cum spiessibus atque latemis."

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VII

Wir haben clie letzten Male allerlei lateinische Verse be­sprochen, anti.ke und mittelalterliche, und dabei sprang unmittelbar ein wesentlicher Unterschied zwischen den alten und den neuen Dichtungen in die Augen : sic sind in ganz verschiedenen Versma13en geschrieben. Dies irae, dies ilia, - Gaudeamus igit11r, - die Carmi11a Burana und das Lied des armen Hasen gehen uns un­mittelbar ins Ohr, wahrend wlr Catull, Vergil und Ovid auf der Schule zunachst miihsam skandieren lemen miissen. Die romischen Schuljungen batten es darin aber nicht besser als wir, denn fiir die Romer waren He..xameter und Pentameter, Jam ben und Trochaen auch keine natiirlichen, einheirnischen Metten; die lateinischen Dichter haben sic von den Griechen i.ibernommen, - und was das Schlimm­ste war, cliese Versma13e pa..Bten eigentlich gar nicht fiir das Lateinische, und sic passen noch weniger zum Deut­schen. Fur das Englische und Fraozosische passen sie sogar noch viel schlechter, so daB sie sich dort auch noch weniger haben einbiirgern konnen als bei uns. Das liegt tief in den verschiedenen Sprachen begri.indet. Denn es gibt so groBe Unterschiede der Sprach-Intonation, daB clie poetische Rhythmisierung der Sprache sich nur auf sehr unterschiedliche Weise erreichen J.a.Bt. 1m Deut­schen schaffen wir einen Sprachrhythmus dadurch, daB wir den Wechsel von betonten und unbetonten Silben regeln. Das konnen wir, well im Deutschen der Unter­schied von laut und leise gesprochenen Silben so ins Ohr fallt, daB wir ibn fiir clieRhythmisierung ausnutzen konnen. Beim Franzosischen ist der Unterschied von betonten und unbetonten Silben lange nicht so stark ausgebildet; des-

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halb scbeint uns das Fraozosiscbe wie ein gleichartige.r Strom ohne recbten Rhythm us dahinzuB.ieBen : ,C' est bien Ia pire peine - de ne savoir potiT'quoi . . . " und im Griechiscben war das nocb viel starker der Fall. Die griechische Sprache hat namlich eine ganz andere Art der Betonung, worauf schon das Wort Akzent, der accanlus, hinweist, - das ist eigentlich das Hinzugesungene und ist Ubersetzuog des griechischen Wortes Prosodia: die Betonuog im Gr:iechischen war eber durch die Ton­hohe als durch die Lautstarke bestimmt; die betonten Silben wurden urn eine Quint hober gesprochen als die unbetonten, und dem gegeniiber fiel ein Stirkeunter­schied der gesprochenen Silben nicht auf. Deswegen lieB sich der exspiratorische Akzent, wie wir diesen Starketon nennen, fUr die Rhythmisierung der dichterischen Sprache nicht verwerten. Der musikaJische Akzent aber, das heiBt, die unterschiedliche Tonhohe, lieB sich nicht fiir den poetischen Rhythmus auswerten. Nun unterscheidet das Griechische aber sehr deutlich zwischen langen und lrurzen Silben, und das bot eine bequeme Handhabe zur Rhytbmisierung. Ja, der Unterschied zwischen langen und k.urzen Silben ist im Griechischen viel klarer ausgepragt als der Unterschied zwischen laut und leise gesprochenen Silben im Deutschen, denn die Betonung einer Silbe kaon bei uns sehr stark wechseln je nach Sinn und Zusammen­hang, wahrend es im Griechischen gewoholich objektiv fest­steht, ob eine Silbe lang oder knrz ist. So konnte denn das Griechische zu einer sehr klar und fest entwickelten Metrik kornmen, und diese Metrik war so kunstvoll ausgestaltet und enthidt so hohen asthetischen Reiz, daB die Romer diese Formen iibemabmen und daB diese von dort aus auch auf die abendlandische Poesie stark eingewirkt haben. Fiir groBe poetische Form ist das Griechische so immer die Schule des Geschmacks geblieben. Vielleicht lohnt es sich, ein so kostbares Stiick von Gold­scbmiedearbeit, wie es ein wohlgebauter Hexameter ist,

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etwas von Nahem zu betrachten, wean wir es auch heute nicht mehr Ieicht fertigbringen, uns besinnlich in etwas Schones zu vertiefen. Hoffentlich schwindet bei dieser kleinen Mi.ihe bald die V orstellung, daB dieses von den Griechen entwickelte VersmaB etwas Steifes und Sta.rres an sich hatte. Tatsachlich Ieben die Hexameter ja auch bei uns his in die Gegenwart hinein, his zu Gerhart Hauptmanns ,Till Eulenspiegel' und Thomas Manns ,Gesang vom Kindchen', - von vielen weiteren ganz zu schweigen. Der Hexameter besteht, wie Sie wissen, aus sechs Dak­tylen, wobei jeder Daktylus eine betonte und zwei un­betonte Silben hat, oder bel den Griechen cine Lange und zwei Kiirzen hatte. Der letzte Daktylus ist gekarzt urn die letzte Silbe; und statt der zwei unbetonten Silben kann in jedem der ersten ftinf Daktylen auch eine un­betonte eintreten, - oder bei den Griechen statt der zwei Kiirzen eine Lange -, so daB der Daktylus nicht drei­silbig, sondem zwei-silbig wird. Wobei die guten Dichter im Deutschen nur darauf achten, daB cine unbetonte Silbe, die fiir zwei unbetonte steht, nicht gar zu unbetont ist, etwa nur aus einem kurzen SchluB-e besteht. Goethe und Schiller haben sich tiber diese Schwierigkeit des deut­schen Hexameters ausfiihrlich besprochen. Die erste Moglichkeit, den Hexameter lebendig zu ge­stalten ist nun, diese Variationen von zweisilbigen und dreisilbigen Daktylen auszunutzen. Drelsilblge Daktylen haben im allgemeinen einen schnelleren Gang als zwei­silbige, und Joh. Heinr. Vo.B iibersetzt dementsprechend den Ilias-Vers, der das Herabstiirzen des Sisyphos­Felsens malt, in dreisilblgen Daktylen:

Hurtig mit Donnergepolter entrollte der tiic::kische Felsblock . . •

.Ahnlich wirken die schon neulich zitierten Verse:

At tuba terribili sonitu taratantara dixit, QIIIUirupedante putrem sonitu quatit ungula campum.

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Zweisilbige Daktylen dagegen wirken ruhig, sanft, Iang­sam, feierlich. Das kann nun zu sehr kunstvoller Wirkung gebracht werden. Bei Vergil z. B. beginnt Aeneas seine Erzahlung vor Dido mit den Worten:

infandum regina iubes renovare dokJrem:

unsaglichen Schmerz befiehlst du, Konigin, zu emeuem.

Der Vers beginnt mit zweisilbigen Daktylen: lnfan -dum re - und dann kommen dreisilbige : gina iu - bes reno - vare do - lorem. Darin ma1t sich schon, wie Aeneas nur Iangsam zum Sprechen zu bringen ist und erst allmahlich in den FluB der Rede kommt. Dergleichen liefie sich noch viel, zumal bei V ergil und Ovid, auf-

wetsen. Aber ich mochte mit Thnen ein zweites Mittel, den Hexa­meter lebendig zu gestalten, besprechen, - das sind die Zasuren, die Wortenden, durch die ein guter Hexameter gegliedert ist. Sowohl im Lateinischen wie im Griechischen mu13 der Hexameter so durch Wortende geteilt sein, daB er in zwei oder drei Teile zerfillt, die rhythmisch verschieden sein miissen. Eine schlechte Teilung z. B. ware, wenn man in dem angefiihrten Vers aus der Ilias-Ubersetzung ,rollte" statt ,entrollte" schreiben wiirde, denn dann entstanden zwei gleichwertige Glieder:

Hurtig mit Donnergepolter rollte der tiickische Felsblock.

Das klappert und ist ha.Blich.

Fiir die Teilung der Hexameter durch die Zasuren gilt nun weiterhin, daB sie nach dem sogenannten Gesetz der wachsenden Glieder erfolgen mu13. Wir empfinden merk­wiirdigerweise eine sprachliche Einheit als schon geteilt, wenn der zweite Teil etwas linger ist als der erste. Wir sagen daher Land und Leute und nicht Leute und Land; Wind und Wetter und nicht Wetter und Wind. (- und

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so in zabllosen Wendungen mit einer erstann1ichen Regd­ma.Bigkeit.) Dementsprechend sind die streng-gebauten Sprechverse in der Antike, also vor allem die jambischen Trimeter und die daktylischen Hexameter, in der Regd so durch Zasuren geteilt, daB die Teile innerhalb eines Verses immer langer werden. Die Art der Teilung ist im Lateinischen allerdings oft anders als im Griechischen. Das Lateinische liebt namlich eine Dreiteilung des Hexa­meters, wie wir sie in den V ersen :

odi ef amo f quare id faciam f fortasse requiris f f

und in

infandum f regina, iubes f renovare do�rem f f

kennengelemt haben.

Hier liegt der erste Einschnitt nach t 1/1 Daktylen:

infandllm f. Das zweite Stiick regina iubes besteht aus einem halben Daktylus re, aus einem ganzen Daktylus gina iu -

und wieder aus einem halben - bes, also im Ganzen aus zwei Daktylen. Das letzte Stiick renovare dolorem hat einen halben Daktylus: reno und dana zwei voile Daktylen: - vare dolorem. Die Zasuren zerlegen also die sechs Daktylen in 1 1/a plus 2. plus 2. 1/2, - und ein empfindliches Ohr wird sich der Schonheit dieser Gliederung freuen : infandum f regina, iubes f renovare dolorem f f genau so : Odi et amo, quare id

faciam, forfasse requiris. Im Griechischen ist der Hexameter dagegen gemeinhin in zwei Teile geteilt. Da diese Teilung nicht genau in der Mitte liegen darf, (denn sonst klappert der Vers), und da man gem den zweiten Teil etwas langer hat als den ersten, liegen die Zasuren entweder nach der ersten Kiirze des dritten Daktylus oder nach der Lange des dritten Daktylus. Wir konnen uns das Grobste auch an deutschen Hexametem klarmachen. Eine Zasw: der ersten Art hat der erste Vers aus Hermann und Dorothea :

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tlO J I

Hab ich den Markt und die SttaBe doch nie so einsam gesehen . . . (.AhnJich: Hurtig mit Donnergepolter . . . )

Hier besteht der erste Tell aus 2. 8/, Daktylen und der zweite aus 3 1/,. Sehr baufig ist im Griechischen etwa auch die T eilung, die wir in dem ersten V ers von Schillers Distichon auf das Distich on finden: Im Hexameter steigt I des Springquells fiussige Saule . . . Hier haben wir 2. 1/a plus 3 1/a Daktylen, und diese Teilung ist auch im Latei­nischen a1s schon empfunden. Fur empfindliche grie­chische Ohren ist diese Teilung nu.r gerade in dem Zu­sammenhang, wo der Hexameter hier bei Schiller er­scheint, nicht das Allerfeinste, denn es folgt ein Pennl­meter, bei dem Wortende an eben der Stelle vorgeschrie­ben ist, wo in dem zitierten Hexameter die Zasur liegt, so daB also derselbe Rhythmus in den zwei aufeinander­folgenden Versen wiederkehrt und man womoglich ver­muten konnte, der erste Vers wiirde auch ein Pentameter:

Im Hexameter steigt I des Springquells fiiissige Saule Im Pentameter drauf I fillt sie melodisch herab.

Besser in dieser Hinsicht ist ein anderes beriilimtes Disti­chon Schillers, die Obersetzung des griechischen Epi­gramms auf die in den Thermopylen Gefallenen:

Wanderer, kommst du nach Sparta, verkiindige dorten, du habest

Uns bier liegen gesehn, wle das Gesetz es befahl.

(Fiir den Pentameter gilt iibrigens auch das Gesetz der wachsenden Glieder: in seiner ersten Halfte diirfen zwei­silbige Daktylen erscheinen, aber in der zweiten sind nur dreisilbige erlaubt.) A her wenn wir uns nun das Dlstichon a1s Ganzes ansehen, so gilt von dem Verhaltnis des Hexameters zum Penta­meter genau das Umgekehrte wie fiir die durcb die Za-

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suren entstandenen Teile : denn bier folgt auf das Iangere Stiick jeweils ein kiirzeres. Auch dieses rhythmische Prinzip ist weit verbreitet, wir finden es aber in gaoz anderen Bezirken, und daher ist auch seine Bedeutung ganz anders. Die Zasuren und das Gesetz der steigenden Glieder finden sich nur in der ge­sprochenen Rede und in der rezitierten Poesie, aber nicht in der gesungenen Dichtung. Tatsachlich sind denn auch die Distichen eine Versgattung, die in der gesungenen Poesie, in den Elegien, ausgebildet ist. Wir kennen die Kiiaung des zweiten Kolons, die sogenannte Klausel, auch a us unseren Liedem:

oder:

0 Tannebaum, o Tannebaum, Wie griin sind deine Blatter • . .

Ich batt' einen .Kameraden, einen bessem findst du nit . . .

Ich sagte schon, daB die griechischen Metren kiinstlich aus dem Griecbischen in das Lateinische iibertragen sind. Aber immerbin war das Lateinische eine Sprache, die auch zwischen kurzen und langen Silben unterschied und das durch den geregelten Wechsel von Lang und Kurz einen dichterischen Rhythmus erzielen konnte. Trotzdem scheint das Lateinische ganz andere Akzent­verhaltnisse gehabt zu haben als das Griechische. Das ist aber ein hitzig umstrittenes philologiscbes Problem. Wie immer jedoch die Betonung des klassischen Latein gewesen sein mag, wir wissen sicher, daB sowohl das vor­wie das nacbklassische Latein einen expiratorischen Akzent gehabt hat, und das ist - womit wir unsere heutige Unterhaltung abschlieBen wollen - nicht gleichgiiltig gewesen fiir die friihlateinische und fur die mittelalter­liche Dichtung. Das friihe Latein mu.B, wie sich aus der Entwicklung der V okale auBerbalb der Anfangssilben ergibt, die Wort-

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an!ange Iaut hervorgehoben haben. Darauf geht wohl auch zuriick, daB das Alt-Latein die Alliteration, den Stabreim, sebr liebte. Und mit dem expiratorischen Akzent wird man sich auch den altromischen Vers, den Satumier, rhythmisch geformt vorstellen:

Virum mihi, Camena, insece versutum.

Das ist ein in vielfacben Varianten vorkommender Vers, bei dem immer die 1. Ha.Jft:e als Klausel zur ersten auftritt, - also ein etwas kurzschnaufiger, wohl urspriinglich mit einem musikalischen V ortrag verbundener Vers. (Die Nibelungen-Strophe Iafit sich vergleichen : Uns ist in alten Maren Wunders viel geseit . • . ) Dann haben sich aber die Betonungsverbaltnisse im Latein griindlich vetindert, und zwar in einer Zeit, als die Romer schon mit den Griechen in Verbindung gekommen waren, denn die altesten griechischen Lehnworter haben noch die Folgen der Anfangsbetonung zu spiiren bekommen, - und im Spatlatein finden wir dann einen expiratorischen Ak.zent auf der vorletzten oder drittletzten Silbe. Und das ist der Grund, daB uns die mittelalterlichen Iateinischen Gedichte vor allem so vertraut vorkommen: Die Betonung ist nicht gar so verschieden von der uns

gelaufigen und vor allem taucht bier ein poetisches Binde­mittel auf, das gerade bei dieser Art der Intonation sich einstellt, der Reim. Natiirlich ist der Reim zu uns aus dieser spatlateinischen Poesie gekommen, er ist also genau so bei uns Import aus den klassischen Sprachen wie die kiinstlichen Gebilde des Hexameters oder Trimeters. Aber wir haben ein Recht, ibn als heimatlich zu emp­finden, nicht nur, well er schon sehr viel friiher zu uns

gekommen ist, sondem auch, well er dem deutschen Betonungssystem sehr viel eher entspricht. Damit wollen wir dann von der lateinischen Poesie Ab­schied nehmen. Die nacbsten heiden Male soli es pro­saisch werden.

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VIII

Wir haben bjsher fast nur von der Poesie gesprochen. Die heiden letzten Male soli nun doch auch die latei­nische Prosa noch etwas zu ihrem Recht kommen. Schon bei den Schulerinnerungen unserer ersten Unterhaltung war von dem Glanzstiick der lateinischen Prosa, der Periode Ciceros, die Rede. Wir habcn als Jungens ge­legentlich mit Spa.B solche Riesensatze gebaut, in An­lehnung an die vorhandenen Muster, aus kindlicher Nachahmungsfreude, aber warum Cicero selbst sich auf solche halsbrecherischen Kiinste eingelassen hat, haben wir wohl kaum gefragt. Manches auBere Merkmal war leicht zu fassen. Offenbar war es ein Tic Ciceros, die Verben immer ans Ende zu setzen und, bevor er zu dem Pcidikat kam, eine Fiille von Schachtelsatzen, Panizipial­Konstruktionen und Akkusativen cum .infinitivo einzu­bauen, so daB es auf der Schule ein bequemes, wenn auch nicht unfehlbares Rezept war, urn einen Satz Ciceros zu bewaltigen, mit dem Finger unter den Zeilen herzufahren und sich den nachsten Punkt zu suchen und dort, oft eine halbe Seite oder mehr hinter dem Anfang, ein Ver­bum aufzustobem. Warum hat es Cicero nicht nur nos,

sondem auch sich selbst nicht Ieichter gemacht und nicht jeweils einen Satz so vemiinftig angefangen, wie es etwa die Englander tun, die im Allgemeinen das Subjekt an

den Anfang stellen, dann moglichst bald das Pradikat setzen und dann nach durchsichtigen Regeln das weitere folgen lassen, und, ehe die Geschichte uniibersichtlich wird, einen Punkt setzen und einen neuen Satz beginnen,

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so daB der syataktische Zusammenhang ohne Miihe ein­gangig ist? Neuerdings wird das immer h.au£ger auch bei uns als Stilmuster angepriesen. Zumal Aus.Iander emp­fehlen uns, kurze, klare Satze zu bauen, und schieben das wollcige verschwommene Denken, das bei uns grassiert, zum guten Tell auf die Monstersatze unserer Schrift­sprache. Schon und gut. Zweifellos sind kurze Satze besser als undurchsichtige Perioden. A her undurchsichtige Perioden sind millgliickte Perioden. Jedenfalls haben Ciceros Perioden nichts Verschwommenes an sich. Im Gegenteil� sie zeugen von einem scharfen und klaren Denken. In einer guten Periode kommt alles an den ibm angemessenen Platz, die Hauptsache in den Hauptsatz, die Nebensache in den Nebensatz, und die Relation der Nebensache zur

Hauptsache tritt klar durch die Art des Nebensatzes her­vor, und der Nebensatz wird dort angeh.angt oder ein­gefi.igt, wohin er dem Sinn nach gehort. Das wird aller­dings erst beim lauten V ortrag, bei siongemaBer und kunstgerechter Deklamation offenbar. Gewill laBt sich eine klare Gliederung auch durch kurze Satze erzielen, - und die lateinische Sprache hat, wie jede andere Sprache auch, mit kurzen Satzen angefangen, die den modemen englischen Konstruktionen gar nicht so unahnlich sind. Die Iangen Period en des Latein haben sich sichtlich unter dem EinfluB des Griechischen ent­wickelt. Aber warum haben die Griechen, warum hat Cicero, der doch zweifellos ein Mann von Geschmack war, und der, wie seine Briefe zeigen, sich auch anmutig und klar in kurzen Satzen ausdriicken konnte, diese ge­f.ihrliche Perioden-Akrobatik riskiert? Gerade das, was bei stiimperhaftem 'Obersetzen solche Not macht, ist fur den, der Latein einigerma.Ben ohne Miihe lesen kana, der GenuB : Das Verb, das der Autor so listig furs Ende aufzubewahren bestrebt ist, bringt erst den Satz zum AbschluB. Jeder anstandige Satz braucht

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ein Verb, ja, das Verb zeigt erst eigentlich, worauf er binauswill, denn das Pradikat sagt erst etwas tiber den Gegenstand aus, den man im Auge hat und von dem man

ausgeht. Wenn der Sprechende dem Horer das Verbum vorenthalt und hinauszogert, so bringt man ihn in erwartende Span­nung und zwingt � seine Gedanken wachzuhalten fi.ir einen gro.Beren Komplex und damit weit und groB zu denken. Solche Klarheit und Weite des Denkens, der lange Atem groBer Gedanken ist zunachst offenbar etwas rein For­males; dena ein weitgespannter Gedanke braucht nicht notwendig einen groBen InhaJt zu haben, - es gibt auch leeres Geschwatz, das in groBen Tiraden dahiorauscht. Jmmerhin soil man den Aufrof zu groBen Gedanken, der in der groBen rhetorischen Form steckt, nicht iiberhoren und nicht fur ganz gleichgiiltig halten. Aber etwas anderes ist noch bedeutsamer: Die Rhetorik hat von ihren Anfiiogen bei den griechischen Sophisten an notwendig auch sachliche Probleme ins Auge fassen miissen, uod Grammatik, Jurisprudenz, Logik, um our diese zu nennen, sind dem rhetorischen Unterricht ent­wachsen. Denn die Logik entwickelt sich a us der Dialektik, die sich zunachst bemiiht, dem Diskussions-Partner die Fehler oder Doppeldeutigkeiten seiner Argumentation nachzuweisen. Die juristischen Begriffsbestimmuogen entwickeln sich aus den rhetorischen Anweisungen fur den, der vor Gericht red en will, etwa in der Form : wenn dein Klient des Mordes angeklagt ist, so mu.Bt du sagen, das war kein Mord, sondem nur Totsch1ag oder nur fahr­J.assige Totung, und du muBt auseioandersetzen konnen, welche Unterschiede bier vorliegen; oder du muBt plau­sibel machen konnen, daB der Angeklagte nur seine be­rechtigten Interessen gewahrt hat und so fort. Ebenso sind die grammatischen Studien wesentlich durch die Rhetorik gefordert.

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Denn wenn die Grammatik auch urspriinglich» wie ihr Name sagt, nur die Kunst des Schreibens war, und zwar in dem primitiven Sinn des Buchstaben-Schreibens, so wuchs sie doch schnell hinein in zwei andere Bezirke: das eine war die Philologie, die sie benotigte zur Er­klarung der Dichter, zumal Homers, das andere die Rhetorik, die de.r Kunst des Schreibens einen weiteren und tieferen Sinn gab und die Fah.igkeit, die Sprache korrekt und wirkungsvoll zu handhaben, einbezog, vor allem aber das gesprochene Wort pflegte und sich auf die Sprachregeln und Normen besann, wobei dann nicht auszukommen war ohne das, was wir noch heute Grammatik nennen. Selbst Platon, der erste und grofite Feind der Rhetorik, geht von ihr aus, und gerade daran zeigt sich, daB der Gegensatz zwischen formaler Bildung und sachlicher Unterrichtung, zwischen RhetoriK und Wissenschaft in der Praxis gar nicht so genau festzulegen ist, wie es nach der Theorie aussieht. Uns ist die Rhetorik sehr viel verdachtiger als etwa den romanischen Volkern, und wir pflegen mit etwas be­lustigtem Erstaunen darauf zu reagieren, wenn wir etwa in einer romischen Kirche oder in einem Pariser Horsaal das unmittelbare Nachwirken antiker Redekunst erleben. Aber bei der Bedeutung, die die Rede bei uns in der Politik wieder gewonncn hat, ware cine rhetorische Schulung auf Grund der antiken Lehren, ..._ denn die Antike ist auf diesem Gebiet, wenn man es denn gelten lassen will, genau so klassisch wie etwa in der Dichtung, - vielleicht kein so absurder Gedanke, wie es etwa unseren Vatern und Grofivatem vorgekommen ware; solche rhe­torische Bildung konnte dann vielleicht zudem davor schtitzen, daB man auf blofie Rhetori� auf Mittel und Matzchen hereinfallt. Und wenn jetzt selbst ein Philo loge gelegentlich in V er­suchung kommt, durchs Mikrophon zu sprechen, und sich nicht durch das, was er drucken laBt, sondem durch

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das gesprochene Wort an einen grofieren, wenn ibm auch Ieider unsichtbaren Kreis wendet, da fillt ihm ein, daB die antiken Redner ein ganzes System ihrer Kunst ent­wickdt und auf Grund ihrer weiten Erfahrung die prak­tischsten Ratscblage ausgebildet haben, urn durch die lebendige Rede zu wirken und ihre Horer nicht zu irritieren oder gar zu langweilen. In einem Punkt freilich haben die antiken Rhetoren in modemen Zeiten kaum Nachfolger gefunden, und werden wohl auch nicht viele finden, das ist die Forderung, die Rede his zu einem gewissen Ma.Be zu rhythmisieren. Das ist nun wirklich etwas rein Formales, ein auBerlicher Schmuck. Aber die antike Lehre fordert ibn nur fur die Satz-Schliisse, die Klauseln; und sie verbietet streng, da.G bier V ersteile der Poesie erscheinen: die Klausel-Rhyth­men diirfen nie den Eindruck erwecken, als ob sie Hexa­meter- oder Trimeter-Enden waren. In ihren An.fangen hatte die Rhetorik zwar noch mit poetischen Mitteln zu

wirken gesucht, aber der entwickelte gute Geschmack war sehr empfindlich gegen eine Vermischung der ver­schiedenen Sprach-Stile. Bei uns freilich kommt es vor, daB jemand es offenbar als besondere stilistische Delikatesse empfindet, wean er seine Prosa durchrhythmisiert, so daf3 sie in Versen dahin­schaukdt. Fur die Alten ware das einfach eine Stillosigkeit. Es ist dabei ein besonderer Spaf3, daB offenbar die grim­migsten Entlarver des biirgerlichen Scheinwesens im Gefolge Nietzsches eine besonde.re Schwache fur solche Poetisierung der Prosa haben. Im Ubrigen haben aber schon die alten Reddehrer ge­wuBt, daf3 die Rhetorik mit den lehrbaren Formalien nicht auskommt, und gerade die besten haben als ihrer Weisheit letzten SchluB gelehrt: rem tene, verba sequentur - ,Halte die Sache fest, da werden die Worte folgen", oder, um es mit den Worten Fausts zu sagen, als er mit dem Famu­lus Wagner die Kunst des Deklamie.rens diskutiert:

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,Such Er den redlichen Gewinnt Sei Er kein schellenlauter Tor! Es trigt Verstand und rechter Sinn Mit wenig Kmlst sich seiher vor; Und wenn's euch Ernst ist, was zu sagen, 1st's notig, Worten nachzujagen? Ja, eure Reden, die so blinkend sind, In denen ihr der Menschheit Schnitzel krauselt, Sind unerquicklich wie der Nebelwind, Der he.rbstlich durch die diir.ren Blatter sauselt."

Damit genug fur heute iiber die Kunst de.r Prosa und der Rede. Morgen, bei unserem letzten Gesprach iiber das Lateinische, wollen wi.r uns fragen, ob es nicht doch noch Stellen gibt, wo diese tote Sprache auch heute noch ganz munter fortlebt.

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IX

Die Miihe des Lateinlemens wird, wie wir gesehen haben, nicht dadurch gerechtfertigt, daB man schnell einen zahl­baren Profit i.m tii.glichen Leben daffu eiriheimsen konnte. Wenn wir heute in unserer letzten Unterhaltung schliefilich doch noch darauf zu sprechen kommen, wo Lateinkennt­nisse auch heute noch von praktischem Nutzen sind, so wird das nur den Erfolg haben, daB jeder sagt : ,Daffu lohnt es doch nun wirklich nicht l" Das entspricht auch genau meiner Meinung. Also mehr zum SpaB und zur

Unterhaltung sei einiges angefiihrt, wo einem auch heute noch Latein begegnen kann. Lebendig ist das Latein vor allem natiirlich in der katho­lischen Kirche, und zwar nicht nur i.m Gottesdienst, wo die Messe heute noch wie vor vielen Jahrhunderten lateinisch gelesen wird. Aber wissen Sie z.B., daB Sie tii.glich Lateinisch i.m Radio horen konnen? Der Sender der Vatikan-Stadt in Rom verbreitet seine Nachrichten auf Latein, und durchaus nicht nur kirchliche Neuigkeiten, sondem erzahlt auch von den aktuellen politischen Er­eignissen, auch von Flugzeugunfallen und von explosioni­bus bombarum atomicarum, und das alles i.m gepflegten Ciceronianisch, dem nur die fUr das Modeme notwen­digen V okabeln eingefiigt sind, - das uns Deutschen allerdings etwas ungewohnt kJingt, weil es natiirlich auf italienische Art ausgesprochen wird. ,Cicero hmtC librum legebat" wiirde dort also etwa so klingen:, Tschitschero 1111/u librume ledjebate".

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Das ist iiberhaupt eine Not bei der intemationalen Ver­standigung im Latein, die im gedruckten Buch an vielen Stellen der Wissenschaft noch iiblich ist, daB die Aus­sprache in den verschiedenen V olkem so verschieden ist. Nicht nur, daB die Artikulation und Intonation det Muttersprache ohne weiteres auf das Lateinische iiber­tragen wird, - meistens werden die geschriebenen Buch­staben auch einfach so ausgesprochen, wie manes aus dem eigenen Idiom gewohnt ist. Als Student horte ich in Oxford Vorlesungen tiber romisches Recht. Ich war bald so weit, daB ich das Englische des alten Professor Gowdy einiger­maBen verstehen konnte. Aber mit dem,Lat�in k3;m ich gar nicht zurecht. Was z.B. die ,IndjUriassainicolpedata" ware, war mir schleierhaft, bis ich schlieBlich herausbekam, daB es die Fah.classigkeit war, die iniuria sine culpa data. Inzwischen ist man allerdings in England von diesem Anglo-Latein abgekommen, - aber selbstverstandlich ist es nicht zu erreichen, daB ein Englander das Latein so ausspricht wie ein Deutscher und ein Deutscher wie ein Englander. Und vollends die romanischen Volker werden nie davon abgehen, das Lateinisch so auszusprechen, wie sie es auf Grund einer zooojabrigen Tradition und Ent­wicklung tun, und die Franzosen werden also immer sing en: Godeamiis igitiir . . . Bei uns in Deutschland hort man oft: , Wir sprechen das Latein doch richtig aus, - denn wir sprechen es so, wie es geschrieben ist." DaB das seinen Haken hat, zeigt schon der Streit dariiber, ob man Zizero oder Kikero sagen soil� - ein Streit, der niemals geschlichtet werden kann, well die Verfechter der heiden Meinungen von ganz verschiedenen Voraussetzungen ausgehen. Wer ,Kikero" sagt, will historisch richtig aussprechen. Aber was ist historisch richtig bei einer Sprache, die dauernd im Wandel begriffen ist? Man sagt: wir wollen so aussprechen, wie es Kikero und Kaesar etwa selbst getan haben, als der Name Ciceros ins

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Griechische mit zwei Kas transskribiert wurde, und als Osars Name als Kaiser ins Deutsche kam. Aber dana diirfte man oicht Kasar sagen, sondem Kaesar, und da finge schon eine torichte Zungenakrobatik an. Aber wenn wir das lateinsche C einfach als K aussprechen, und Kisar, Kikero und Komelius sagen, machen wir es sicber auch noch oicht richtig, denn die Palatalisierung des K vor I und E, die im ltalieoischen zu tschi, tsche, im FranzO­sischen zu ssi, sse, im Spanischen zu pi, pe fiihrt, hat sicher nicht erst im Vulgarlateinische� sondem schon in vorklassischer Zeit begonnen, dena das friihe Latein unterscheidet drei K-Laute: vor 0 und U schrieb man Q, vor A K, und vor E und I C, - und das hatte man sicher nicht geta� wenn die drei Laute vollkommen gleich ge­klungen batten. Eine historisch vollkommen richtige Aussprache ist iiberhaupt nicht zu erreichen. Das ist Wasser auf die Miihle derer, die Zizero sagen. Und sie argumentieren weiter: Diese Aussprache hat sich durch die Jahrtausende entwickelt, ist in unsere deutsche Sprache eingegangen, denn wir werden, wenn wir deutsch reden, immer our Zizero und nicht Kikero sagen, und warum sollten wir von unserer Tradition abgehen? Wie Goethe Latein ausgesprochen hat, diirfen wir es wohl auch. Das ist ein Argument, das wir einem Englander, der Ssisar und Wordjil fiir Caesar und Virgil sagt, oicbt Ieicht abnebmen wiirden. Und es zeigt sich, daB sich der Streit nicht losen la.Bt. Beide Seiten haben gute Argumente, beide Seiten ver­treten zugleich aber auch einen Unsion, - und icb weill selbst oicbt ganz geaau, wofiir ich mich ent­scheiden soli. Nur eines weill ich bestimmt, daB man nicht aile paar Jahre mit der Aussprache wechseln soli, denn jetzt ist ein schreckliches Durcheinaader entstanden, - mir seiher gehen die heiden Aussprachen auch durcheinander, und das ist alles andere als schon.

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Selbst wir klassische Philologen schreiben unsere Bucher nicht mehr auf Latein. Davon gibt es nur eine Ausnahme: In den kritischen Ausgaben von griechischen oder latei­nischen Texten sind Vorrede, Anmerkungen, Nachwort und was es sonst so neben dem Text noch gibt, meist auf Lateinisch verfaBt. Auch fiir Gliickwunschadressen zu irg�ndwelchen J ubilaen von Universitaten und der­gleichen babe ich wohl noch lateinisch geschrieben. Wabrend meines Stud.inms sollten wir im lateinischen Seminar noch gelegentlich lateinisch sprechen, - das lief aber immer schnell auf den Satz hinaus : ut vernacula lingua ular, - urn es auf deutscb zu sagen. Mein spaBigstes Erlebnis mit dem Latein hatte ich vor tiber 30 Jahren in Moskau, als ich mit einer Gruppe deutscher Studenten dort war. Kommunistische Studenten, die uns eingeladen batten, sangen uns die lnternationale vor und forderten uns auf, wir sollten auch etwas Internationales singen. Da sangen wir ,Gaudeamus igilur . . . " Aber damit waren sie gar nicht zufrieden. Die Tradition der lateinischen Rede ist in England lebendiger als bei uns. In Oxford gibt es noch den orator publicus, zu dessen Pftichten es gehort, lateinische Adressen abzufassen. Aber eine richtige hauptamtliche Arbeit ist das auch nicht mehr. Der Professor fiir Poetik pflegte eine lateinische Antrittsvorlesung zu halten, - aber der jetzige Inhaber des Lehrstuhls hat sich kiirzlich mit einer englischen Rede eingefiihrt. V erfall, V erfall . . . In unserem All tag lebt das Latein zum mindesten in allerlei Inschriften fort. Jede Sprache kann bestimmte Dinge so gut leisten wie keine andere. Fur Epigramme, - und das heillt eigentlich fiir Inschriften, - die epigrammatische Kiirze fordem, ist das Latein besonders geeignet. Das Lapidare - und das heillt, was man in Stein einmeilleln kann, liegt ihr besonders. Ich schloB meine vorige Sen dung mit dem Satz: rem tene, verba sequentur. Urn diese vier Worter ins Deutsche

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zu iibersetzen, brauchte ich neun, statt acht Silben vier­zehn : Halte die Sache fest, da werden die W orte folgen. Dafiir lie.Ben sich Hunderte von Beispielen anfiihren. Aber es ist zuweilen nicht nur die Kiirze, die fur das Lateinische spricht. Uber unserem J ohanneum in Liineburg stand : Doctrinae, Virlt1ti, Humanitati. Ich habe es, - man verzeihe es mir, -immer als eine Art von Nachahmung empfunden, daB iiber dem Tor unserer Universitat in Hamburg steht : Der Forschung, der Lehre, der Bildung. Und eigentlich gefillt mir das Original sehr viel besser, denn doctrina faBt in schoner Weise Forschung und Lehre zusammen; virtus und hlfmanitas dagegen setzen anstelle des etwas ver­waschenen Begriffs Bildung zwei pragnantere, in Span­nung zueinander stehende Be griffe : die Tugend, das Ab­solute, Rigorose, philosophisch als richtig Erkannte und daneben die Humanitat, das Gesellschaftlich-Politische, das das freie und tolerante Zusammenleben moglich macht. Das Erhabene und das Lacherliche liegen nahe beieinander, und so kann es mit wiirdigen lateinischen Inschriften be­sonders leicht einmal schief gehen. In meiner Geburtsstadt Hildesheim bing iiber dem Tor des Gymnasiums J osephinum an einer Stange der Heilige Geist in Gestalt einer Taube, und darunter stand der schone fromme Spruch : life vos docebit omnia, ,der wird euch alles lehren". Mit der Zeit riB die Kette, an der das Sinnbild des Heiligen Geistes aufgehangt war, die Taube fiel herab und verschwand, und manches Jahr ragte nur noch der Stock tiber dem Eingang der Schule mit den Worten : hie vos omnia docebit. Seiner lapidaren Kiirze wegen lebt das Lateinische fort in Wahlspriichen, Motti und dergleichen: suum cuique, per aspera ad astra, festina lente und so fort. Dergleichen la.Bt sich aber auch neu bilden. Bins der schonsten Beispiele ist durch Schopenhauer beriihmt

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geworden: Der muBte de.r Naherln Karoline Marquet wegen Korperverletzung eine lebenslangliche Rente be­zahlen. Als sie schlie.Blich starb, notierte er zu der be­t.reffenden Akte: Obit anus, abit onus, - ,,Das alte Weib ist tot, - die Last bin ich los." - Obit an11s, a bit Ontl!.

Und darnit verabschiede ich mich denn von Ihnen, meine ve.rehrten Horerinnen und Ho.re.r.

Nachwort

Was hier im Druck vorliegt, ist entstanden auf An.regung des Nordwestdeutschen Rundfunks und ist abends vom 2. 5 . Dezern her I 9 54 his zum 3. J anuar I 9 5 5 im Dritten P.rogramm des Hamburger Senders verbreitet worden. Als der Verleger mir freundlicherweise anbot, diese Sen­dungen in seine ,,Kleine Vandenhoeck-Reihe" aufzu­nehmen, waren wir uns einig dariiber, da13 man cliesen Ausfi.ih.rungen schlecht den Charakter de.r Rundfunk­sendungen wii.rde nehmen konnen, und so erscheinen sie hier in kaum verandertem Wortlaut. Nu.r einiges gar zu speziell auf die Situation Bezogene habe ich getilgt, und einiges, das ich aus Zeitnot .fur das Sprechen hatte fort­lassen miissen, vor allem den lateinischen Text aus Ovids Metamorphosen und das Geclicht des A.rchipoeta, bringe ich hier nach dem urspriinglichen Plan. Der Verlag Eugen ClaaBen in Hamburg hat liebenswii.rclig gestattet, daB ich einige Satze tiber Ve.rgil und Ovid wortlich aus meinem Buch ,,Die Entdeckung des Geistes" hie.r noch einmal abdrucken darf.

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Anmerkungen

S. x6: Zu den Obersetzungen des CatuU-Gedicbts vgl. 0. Weinreich, Die Disticben des Catull, Ttibingen 1926.

S. z z : Uber das von V ergil gepriigte, bis zur Neuzcit nachwitkcnde Bild vom Dichter vgl. jetzt Fr. Klingner, Entretiens de la Pondation Hardt z, 19j6, 135 ff.

S. 40: Goethe hat den 3. V ers : 'Testis David cum Sibylla' ausgelassen, es sei deno, dat3 der 'Orgelton' iho tibertont.

S. 42: Zur Gescbichte des 'Gaudeamus igitur' vgl. Carl Enders, Euphorioo 1904.

S. 43 : Eine neue Ubertragung dieses Gedichtes bei Ernst Buschor, Carmina Butana. lnselbticherei Nr, 6z6 S. 29.

S. 45 : Zu dem Hasen-Gedicht ist cine altere Passung in dem Wieo­bauser Liede.cbucb von 1470 aufgetaucbt, wie mir der Eat­decker und Herausgebe.r Dr. Paul Alpers in CeUe freundlich mitteilt.

S. 46: Neue Ubersetzung: Buscbor a.a.O. S. 69.

S. 68: Uber den Prozel3 Schopenhauers mit Karoline Matquet vgl. Arthur Hubscber, Arthur Scbopeohauer, Leipzig 1938, 71 f. u. 15 f.

S. 69: Schopenbauer kannte das Anagramm aus Sulzer, Tbeorie der Schonen Ktinste s. v. Anagramm, der bericbtet, der ungarische Prediger Tobianus batte nach einer Erbscbaft mit seinen Preunden die folgendcn Aoagramme auf den Namen des Erbeo gemacbt: obit anus, I a bit onus. I tua nobis I sun to; -abi, I ubi sonat I tuba Sion. I ita bonus I (optavit) Tobianus. Vgl. Franz Mockrauer, z. Jahrb. d. Schopenbauer-G�sellscbaft1 1Gel I 9 I 3, I 54 f. - Die Hinweise auf diese Scbopenhaurian.a ver­daoke icb Gtinter Ralfs.

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12/13 FriU &rig Die europiieohe Stadt im llittelalter und die KuJtur dea BUrgertums

14 A.rlllur Slank� Eddinglon Sterne und Atome

16 Viklor wn Weiuiieker Soziale Krankhait und aoziale Geaundung

16 S�tn Kierkegaard Oh.riatliohe Reden

17 Hti�Bortl &llre11 Weltbild und Glaube im 20. Jahrhundert

18 Karl Kerin� Umgang mit Gottlichem

19 EricA Prei$er Die Zukunft unaerer Wi.rtaohaftl· ordnnog

20 Gwlav Radbrodl Der Geist dee englleohen Reohts

21 Johann Nepomuk Da!M Die Jnpiter-Symphonle

22/28 WaUAer Kill!/ W udl1111gen dea lyrieohen Bildea

24/25 Paul Joadttm.rm Vom deuteohen Volk &um deuteohe.n Staat

26 Berberl Sc1Klf1lfr Lioht.enberg

27 Hermann Beimpd Kapitulation vor der Geeohlohte?

28/29 Tluodor W. Adomo DiaiOU&IIlen

30 Karl LMcilll Willen. Glaube und Sbp1ia

31 Eberllanl BldtMid BildUDI durch Phyaik

32 Juli111 SclaniNind Die Freude der Bulle

83 II olger V. Brotnd$/ed Du Atomuitalter und untere biologiJobe Zukunft

34 Johann Nepomuk Da!M Die sweiatimmiieD InventloneD •on Johann Sebutian Bach Sondcrbud Ut OM

S6 FrWIMcll Gogarlm Wu l.st Chri!tentum?

86 Ulncla Ebbecke Wirkliclleit und Tlueohung

38 John 0. McCorwsidc Amerlbnieobe Lyrik der letsten c,o Jahre

40 Ern# Beutler Wiederbolte SpiegeloDReD Drei E88aya Uber Goethe

41 Gwlav Radbrucla Karikaturen der Jua tia Mit 27 Lithographlen von Honore Daumier

42 Carl Fri«lricll 11011 W eiuaclur Die Verantwortung der WiateneobaU im Atom&eitalter

43 C. Fr. 11011 Wri#cJrker J J. Juilf• Pbylik der Gegenwart

u BncA nu, DM Henacbenbild dea jungen Man

•46 Frank E. Adcock Claar ala Sohriftateller

46/47 FnedncA Meirucke Du �italter der deutloben Erhebun'

48 Karl BarlA Weihn..,bt

49 Rudolf SUphan Neue Musik 60 Marlin Doernt

Oott nnd llenaoh in Doetojewakije Werk

61/62 Gtlllav RadbrucJa Der Jleneoh im Recht

63 M4Milian Braun Dtr Kampf um die Wirklicbkeit in der ruasilchen Literatur

64 Wolfgat19 Lange Chrialliche Skaldeodiohtuor

65 Berman Noltl Erziehergeetalten

56 Goethe iibe.r den Faust Heran��gg. von Al}fld DUell

67 Riclaard Akw� Ober Hogo von Hofmann1thal SoadcrMnd 4,11 OM

68 Joadlim � Volk nnd Raum. Zum Stil der nationaliOu•liatilche.n AuJlenpolitik

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