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Netzwerkanalyse und Netzwerktheorie Volume 24 || Netzwerke und soziale Ungleichheit

Date post: 16-Oct-2016
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Netzwerke und soziale Ungleichheit Jan Fuhse 1 Einleitung 1 Die Sozialstrukturanalyse ist ein Kerngebiet der Soziologie. Mit statistischen Analysen der Daten aus großangelegten Bevölkerungsumfragen werden Parameter der sozialen Un- gleichheit wie ethnische Herkunft, Bildung, Geschlecht, Einkommen und Berufsprestige in Beziehung zueinander gesetzt. Dahinter steht meist implizit die Vorstellung, dass die Kor- relation solcher Parameter nicht nur etwas über die Ausformung sozialer Ungleichheit aus- sagt, sondern auch über deren Ursachen. Im Gegensatz dazu möchte ich mich hier auf eine stärker theoretisch orientierte Fassung von Sozialstruktur konzentrieren. Insbesondere soll die Rolle sozialer Netzwerke bei der Konstitution sozialer Ungleichheit diskutiert werden. Es sollen also Mechanismen diskutiert werden, über die Netzwerke soziale Ungleichheit produzieren oder reproduzieren. Diese Diskussion erfolgt in erster Linie theoretisch, wird aber mit empirischen Befunden unterfüttert. Dafür soll zunächst ein kurzer theoretisch orientierter Überblick über die Entwicklung der Sozialstrukturanalyse mit besonderem Blick auf die Rolle von sozialen Netzwerken er- folgen (2). Anschließend werden verschiede Mechanismen zur Konstitution sozialer Un- gleichheit diskutiert: Opportunitätsstrukturen für persönliche Kontakte wie das Wohnum- feld oder Aktivitätsfoci (3), soziale Schließung (4), die Emergenz von Lebensstilen in Netzwerken (5) und das Sozialkapital-Konzept (6). 2 Sozialstruktur – Attribute und Relationen Allgemein geht es in der Sozialstrukturanalyse um die Erforschung sozialer Ungleichheit. Dabei gibt es eine Divergenz zwischen der Surveyforschungstradition und einer eher theo- retischen relationalen Fassung von sozialer Ungleichheit. Während die erste eher die Attri- bute von Individuen in den Vordergrund stellt, geht es in der zweiten um die Beziehungen zwischen ihnen. In der ersten Vorgehensweise wird Sozialstruktur praktisch zum analyti- schen Abbild der Verteilung von Attributen in Datensätzen aus Survey-Umfragen. Der Vor- teil dieser Vorgehensweise liegt auf der Hand: Soziale Ungleichheit wird einfach messbar und lässt sich etwa an dem Unterschied der durchschnittlichen Berufsprestiges von Män- nern und Frauen ablesen. Dies liest sich dann so, als ob das Geschlecht die Unterschiede im Berufsprestige „verursacht“. Die komplexen konkreten Interaktionsbeziehungen zwischen den Geschlechtern werden dabei aus der Betrachtung ausgespart: „Such analyses lump persons with similar attributes and norms into social categories (“women”, “alienated”) without regard to the structure of relationships among them. Hence they interpret 1 Ich danke Boris Holzer, Joscha Legewie, Sophie Mützel und Christian Stegbauer für wertvolle Hinweise und Kritik.
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Page 1: Netzwerkanalyse und Netzwerktheorie Volume 24 || Netzwerke und soziale Ungleichheit

Netzwerke und soziale Ungleichheit

Jan Fuhse

1 Einleitung1 Die Sozialstrukturanalyse ist ein Kerngebiet der Soziologie. Mit statistischen Analysen der Daten aus großangelegten Bevölkerungsumfragen werden Parameter der sozialen Un-gleichheit wie ethnische Herkunft, Bildung, Geschlecht, Einkommen und Berufsprestige in Beziehung zueinander gesetzt. Dahinter steht meist implizit die Vorstellung, dass die Kor-relation solcher Parameter nicht nur etwas über die Ausformung sozialer Ungleichheit aus-sagt, sondern auch über deren Ursachen. Im Gegensatz dazu möchte ich mich hier auf eine stärker theoretisch orientierte Fassung von Sozialstruktur konzentrieren. Insbesondere soll die Rolle sozialer Netzwerke bei der Konstitution sozialer Ungleichheit diskutiert werden. Es sollen also Mechanismen diskutiert werden, über die Netzwerke soziale Ungleichheit produzieren oder reproduzieren. Diese Diskussion erfolgt in erster Linie theoretisch, wird aber mit empirischen Befunden unterfüttert.

Dafür soll zunächst ein kurzer theoretisch orientierter Überblick über die Entwicklung der Sozialstrukturanalyse mit besonderem Blick auf die Rolle von sozialen Netzwerken er-folgen (2). Anschließend werden verschiede Mechanismen zur Konstitution sozialer Un-gleichheit diskutiert: Opportunitätsstrukturen für persönliche Kontakte wie das Wohnum-feld oder Aktivitätsfoci (3), soziale Schließung (4), die Emergenz von Lebensstilen in Netzwerken (5) und das Sozialkapital-Konzept (6).

2 Sozialstruktur – Attribute und Relationen Allgemein geht es in der Sozialstrukturanalyse um die Erforschung sozialer Ungleichheit. Dabei gibt es eine Divergenz zwischen der Surveyforschungstradition und einer eher theo-retischen relationalen Fassung von sozialer Ungleichheit. Während die erste eher die Attri-bute von Individuen in den Vordergrund stellt, geht es in der zweiten um die Beziehungen zwischen ihnen. In der ersten Vorgehensweise wird Sozialstruktur praktisch zum analyti-schen Abbild der Verteilung von Attributen in Datensätzen aus Survey-Umfragen. Der Vor-teil dieser Vorgehensweise liegt auf der Hand: Soziale Ungleichheit wird einfach messbar und lässt sich etwa an dem Unterschied der durchschnittlichen Berufsprestiges von Män-nern und Frauen ablesen. Dies liest sich dann so, als ob das Geschlecht die Unterschiede im Berufsprestige „verursacht“. Die komplexen konkreten Interaktionsbeziehungen zwischen den Geschlechtern werden dabei aus der Betrachtung ausgespart:

„Such analyses lump persons with similar attributes and norms into social categories (“women”, “alienated”) without regard to the structure of relationships among them. Hence they interpret

1 Ich danke Boris Holzer, Joscha Legewie, Sophie Mützel und Christian Stegbauer für wertvolle Hinweise und Kritik.

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social behavior as the result of individuals’ common possession of attributes and norms rather than as the result of their involvement in structured social relationships” (Wellman 1983: 165).

Grundlage dieser Analysen ist die Vorstellung, dass Unterschiede in individuellen Merkma-len wie beim Geschlecht oder der ethnischen Herkunft Unterschiede in anderen individuel-len Merkmalen wie bei der Bildung, beim Einkommen oder im Beruf erklären. Dies liegt in der Natur von Survey-Studien, die immer individuelle Daten erheben und in der heutigen Form wenig über die Beziehungen zwischen Menschen aussagen. In den ersten Survey-Studien, die etwa von Paul F. Lazarsfeld und Kollegen durchgeführt wurden, spielten Kommunikation und persönlicher Einfluss zwischen den Befragten eine große Rolle (Katz/ Lazarsfeld 1955). Die (auch empirisch unterfütterte) Vorstellung war, dass Einstellungen und Verhalten von Akteuren wesentlich vom zwischenmenschlichen Miteinander beein-flusst wird. In der Folge wurde das soziale Umfeld in Surveys allerdings immer weniger untersucht. Es setzte sich ein „statistischer Kausalitätsbegriff“ durch: Wenn sich ein statis-tisch signifikanter Einfluss zwischen zwei Variablen nachweisen lässt, geht man oft davon aus, dass zwischen diesen eine Kausalbeziehung besteht (Abbott 1997: 1164, 1168). Die Kritik von Wellman und Abbott an der vorherrschenden Tradition der Surveyforschung ist sicher holzschnittartig überzeichnet und wird den sehr unterschiedlichen Arbeiten in der „Variablensoziologie“ nicht gerecht. Entscheidend ist hier, dass sich die Surveyforschungs-tradition auf Einflussbeziehungen von Attributen von Individuen konzentriert – und dass dabei die Rollen von Sozialbeziehungen und Netzwerken selten betrachtet werden.

Im Gegensatz dazu steht eine relationale Tradition, die Sozialstruktur als Beziehungs-muster zwischen Individuen bzw. Kategorien konzipiert. Diese Tradition betont die Veran-kerung von Einstellungen und Handeln in das soziale Umfeld und konzentriert sich auf die „structured social relationships“ im Sinne des oben angeführten Zitats von Barry Wellman. So hat A.R. Radcliffe-Brown Sozialstruktur als Verflechtung von Sozialbeziehungen defi-niert (1940). Siegfried Nadel zufolge geht es dabei um die Beziehungen zwischen Rollen-kategorien – also von Akteuren, die in typisierten Beziehungen zueinander stehen (1957). Die Sozialstrukturanalyse beschäftigt sich nicht – wie oft die Netzwerkanalyse – mit ein-zelnen Individuen, die in konkreten Austauschbeziehungen mit anderen Individuen stehen. Stattdessen geht es um systematische Ungleichheiten zwischen Kategorien von Personen – etwa zwischen Männern und Frauen oder zwischen ethnischen Gruppen.

Das Forschungsprogramm einer relationalen Sozialstrukturanalyse basiert auf drei zentralen Annahmen: Erstens, dass soziale Ungleichheiten (etwa zwischen solchen Katego-rien, aber auch in Einstellungen etc.) als „constraints“ auf intersubjektive Transaktionspro-zesse wirken. Zweitens, dass diese Transaktionsprozesse wiederum Auswirkungen haben auf Dimensionen sozialer Ungleichheit wie Ressourcenverteilung, Einstellungen oder auch die Salienz von Kategorien. Und drittens, dass sich Muster von Transaktionsprozessen sinnvoll als Struktur von sozialen oder persönlichen Netzwerken abbilden lassen. Soziale Netzwerke werden damit zu einer zentralen Vermittlungsinstanz von Ungleichheit – zu ei-ner Dimension sozialer Ungleichheit neben dem sozio-ökonomischen Status, dem Lebens-stil und Kategorien wie ethnische Herkunft und Geschlecht.

Im Folgenden soll diese Vermittlung genauer in den Blick genommen werden. Im Sin-ne von Barbara Reskin soll sich die Ungleichheitsforschung auf Mechanismen der Produk-tion und Reproduktion sozialer Ungleichheit konzentrieren – und nicht auf die Suche nach Motiven von Akteuren (2003). Beispiele für einen solchen Fokus auf Mechanismen der Reproduktion von sozialer Ungleichheit finden sich etwa in Douglas Masseys Überblick

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über „kategoriale Ungleichheit“ in den USA (2007) und in Charles Tillys theoretischer Ar-beit über das Zusammenspiel von sozialen Kategorien und Netzwerkstruktur (1998). So-wohl bei Massey als auch bei Tilly geht es um spezifisch soziale Mechanismen, in denen die Strukturierung von sozialen Netzwerken eine prominente Rolle spielt. Im Folgenden sollen verschiedene solche Mechanismen diskutiert werden – vor allem auch mit Blick auf empirische Forschungsergebnisse.

3 Opportunitätsstrukturen

Die offensichtliche Strukturierung von sozialen Netzwerken entsteht durch die Gelegenheit zum Kontakt. Ein entscheidender Faktor für die Gelegenheit zum Kontakt ist die Gruppen-größe. Je größer eine Gruppe (z.B. eine ethnische Gruppe), desto eher ergibt sich die Chan-ce für den Aufbau einer persönlichen Beziehung zwischen Gruppenmitgliedern. Dieser simple Mechanismus ist die Grundlage für die Subkultur-Theorie von Claude Fischer (1975) wie für die Sozialtheorie von Peter Blau (1977). So vermuten Blau und Fischer, dass Gruppen mit einer höheren Konzentration am Wohnort auch eine stärkere interne Verdich-tung aufweisen und dass umgekehrt relativ kleinere Gruppen mehr Intergruppenkontakt ha-ben. Die Hypothesen von Blau und Fischer bestätigen sich weitgehend in empirischen Stu-dien (Fischer 1982: 193ff; Blum 1984).

Über die reine Gruppengröße hinaus ist wichtig, inwiefern sich zwischen Gruppen tat-sächlich die Gelegenheit zum Kontakt ergibt. So formieren sich persönliche Beziehungen oft am Wohnort, in Schule, Vereinen oder am Arbeitsplatz. Die wichtigste dieser Opportu-nitätsstrukturen ist wohl immer noch der Wohnort – denn persönliche Beziehungen entste-hen immer noch meist im direkten Face-to-Face-Kontakt am Wohnort (Festinger et al. 1950). So nannten die Befragten in Claude Fischers Netzwerkstudie im Schnitt 4,8 ihrer wichtigsten Bezugspersonen im direkten Wohnumfeld, weitere 6,3 Bezugspersonen zwi-schen 5 Minuten und 1 Stunde Fahrtzeit entfernt und mit 5,4 weniger als ein Drittel weiter entfernt (1982: 159). Angesichts der Wichtigkeit des Wohnumfelds verdienen die von Mas-sey identifizierten Mechanismen der Segregation wie die Benachteiligung von Afro-Amerikanern bei der Vermittlung oder dem Verkauf von Wohnungen besondere Beachtung (2007: 76ff). Diese Art der Diskriminierung sorgt dafür, dass ethnische Gruppen tenden-ziell getrennt voneinander leben und dass sie selten in Kontakt kommen.

Neben dem Wohnort bilden sich persönliche Beziehungen natürlich auch am Arbeits-platz und hier oft zwischen Menschen mit dem gleichen Status bzw. dem gleichen Beruf (Pappi 1973: 46ff). Die Annahme, dass Menschen mit dem gleichen Beruf auch Interakti-onsgruppen bilden, steckt etwa in Pierre Bourdieus Kultursoziologie (1979: 176ff; 1985). Bourdieu sieht Berufsgruppen als die konstituierenden Elemente der Sozialstruktur.

Allerdings bringen nicht alle Berufsgruppen ihre Mitglieder tatsächlich in Kontakt miteinander. So beschreibt Karl Marx, dass es den französischen Parzellenbauern des 19. Jahrhunderts an Interaktion miteinander fehlt und dass sie deswegen keine „Klasse“ bilden können (1852: 198). Ähnliches gilt heute für viele typische Frauenberufe wie Sekretärin oder Sprechstundenhilfe (Kreckel 1992: 242, 249). Auch diese bieten ihren Inhabern nicht nur wenige Aufstiegschancen, sondern sie „ketten“ sie auch an eine meist männliche Auto-ritätsperson. Sekretärinnen, Sprechstundenhilfen oder Parzellenbauern zeichnen sich je-

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weils weniger durch eine erhöhte Interaktion untereinander aus, als durch strukturell ähnli-che Beziehungen zu anderen Berufen (Großgrundbesitzer, Ärzte etc.).

Auch Bildungsinstitutionen wie Schule und Universität fungieren als wichtige Orte für den Aufbau von persönlichen Beziehungen (McPherson et al. 2001: 426f). Wie der Ar-beitsplatz sorgen auch Schule und Universität tendenziell dafür, dass Menschen mit ähnli-chem Status aufeinander treffen. Denn die Trennung nach Schulformen und zwischen Stu-diengängen und Ausbildungsberufen ermöglicht den Kontakt zwischen Menschen mit ähn-lichem Bildungshintergrund (und oft aus Familien mit ähnlichem Status). Zugleich bringen sie in erster Linie Menschen mit etwa gleichem Alter zusammen (Feld 1982: 798ff).

Allgemein entstehen persönliche Beziehungen oft an sogenannten „foci of activity“ (Feld 1981). Solche Foci umfassen neben dem Arbeitsplatz, Schule, Universität und dem Wohnumfeld auch freiwillige Assoziationen oder Vereine und informale Treffpunkte wie etwa Kneipen. Arbeitsplatz und Ausbildungsinstitutionen sorgen – wie oben ausgeführt – also für eine gewisse Status-Homogenität von persönlichen Netzwerken. Auch im Wohn-umfeld trifft man vor allem Menschen mit ähnlichem Status und mit ähnlicher Herkunft, weil der Immobilienmarkt meist eine relative Homogenität von Einkommen in der Nach-barschaft bringt. Aber hier spielen natürlich auch makro-ökonomische Faktoren wie die Ansiedlung von Unternehmen eines bestimmten Sektors oder auch stadtplanerische Maß-nahmen eine Rolle. Informale Aktivitätsfoci wie Vereine oder Kneipen entspringen dage-gen eher einem gemeinsamen Lebensstil.

Abbildung 1: Wirkung von Opportunitätsstrukturen auf soziale Netzwerke

Opportunitäts-struktur

SozialeNetzwerke

Sozio-ökonomischer

Status

LebensstilAktivitätsfoci

WohnungsmarktArbeitsplatz

Politik

Stadtplanung

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der sozio-ökonomische Status, der Lebensstil und ökonomische und politische Faktoren über Opportunitätsstrukturen auf die Zusammenset-zung von persönlichen Netzwerken wirken (Abb. 1). Dabei werden aus dem Schema zu-nächst die Zusammenhänge zwischen Politik, Lebensstil und sozio-ökonomischem Status ausgespart. Die Rückwirkungen der Netzwerke auf den sozio-ökonomischen Status und auf den Lebensstil werden unten genauer betrachtet. Der Einfachheit halber wird zudem ange-nommen, dass Opportunitätsstrukturen in erster Linie auf Netzwerke wirken – auch wenn Wohnungen natürlich oft in der Nähe von Freunden und Familie gesucht werden (und oft über persönliche Beziehungen) und Akteure oft über persönliche Beziehungen zu Aktivi-

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tätsfoci gebracht werden. Entscheidend ist hier, dass Opportunitätsstrukturen als vermit-telnder Mechanismus zwischen Politik, Lebensstil und sozio-ökonomischer Status einer-seits und die Zusammensetzung von Netzwerken andererseits fungieren.

4 Kategorien in Netzwerken Der zweite hier zu betrachtende Mechanismus ist das Zusammenspiel von Kategorien und Netzwerken. Soziale Kategorien wie Geschlecht oder ethnische Grenzziehungen bilden ei-nerseits Netzwerkstrukturen ab, andererseits wirken sie aber auch strukturierend auf Netz-werke. Die kognitive Grundlage für dieses Zusammenspiel liegt in der Tendenz, andere Ak-teure in Kategorien einzuordnen und sie gemäß den mit diesen Kategorien verbundenen Verhaltenserwartungen zu behandeln (Tajfel 1982). Allgemein entstehen kollektive Identi-täten im verdichteten Austausch, der etwa in Opportunitätsstrukturen hervorgerufen wird. Dies zeigte sich in Roger Goulds Studie der Proteste im Paris des 19. Jahrhunderts (Gould 1995: 13ff). Aber auch in den von Muzafer Sherif untersuchten Jugendcamps entstanden Konflikte zwischen Gruppen allein aus der verdichteten Interaktion heraus (1966).

Andererseits sorgen solche soziale Grenzziehungen für eine gewisse Ordnung von so-zialen Netzwerken, indem persönliche Beziehungen innerhalb der Kategorien erleichtert und über Kategorien hinweg erschwert werden (Rytina/ Morgan 1982). Dies geschieht etwa durch Interaktionsnormen, die den Aufbau von Intimbeziehungen vor allem zwischen eth-nischen Gruppen sanktionieren. Nach Charles Tilly bildet dieses Wechselspiel zwischen sozialen Grenzziehungen und Netzwerkstrukturen den wesentlichen Mechanismus für die Entstehung und Erhaltung von sozialen Ungleichheiten (1998: 75ff). Die Abgrenzung er-laubt es privilegierten Gruppen, ihre Ressourcen für sich zu behalten (opportunity hoar-ding) und andere auszuschließen.

Dabei ist es durchaus nicht so, dass alle Kategorien immer Gruppen mit erhöhter Bin-nenkommunikation umfassen. Etwa Sklaven oder Klienten (in Patron-Klienten-Strukturen) sind in einer Kategorie zusammen gefasst, haben aber nicht unbedingt viel Kontakt mitein-ander. Sie befinden sich in einer Situation „struktureller Äquivalenz“ mit ähnlichen Bezie-hungen zu anderen Kategorien (White et al. 1976). Dies wurde oben bereits für bestimmte Berufsgruppen (wie Sekretärinnen und Parzellenbauern) angedeutet. Aber die wichtigste Kategorie der Sozialstruktur der Gegenwart, die soziale Netzwerke in strukturell äquivalen-te (oder zumindest ähnliche) Positionen ordnet, ist das Geschlecht. Männer und Frauen stel-len keine getrennten Interaktionsgruppen dar, da sie sehr oft in Intimbeziehungen miteinan-der verbunden sind. Stattdessen zeigen sie jeweils strukturell ähnliche Netzwerke: Frauen und Männer haben vor allem Freunde des gleichen Geschlechts, Frauen haben Netzwerke mit höherer Dichte und Männer dagegen mehr „weak ties“ (Moore 1990; Ridgeway/ Smith-Lovin 1999: 194ff). Die Geschlechterkategorie ordnet soziale Netzwerke also in strukturell ähnliche Positionen. Gleichzeitig kann man davon ausgehen, dass Geschlechterungleichheit vor allem in solchen Netzwerken produziert und reproduziert werden, in denen sich die Po-sitionen von Männern und Frauen am stärksten voneinander unterscheiden (Ridgeway/ Cor-rell 2004). Empirische Forschung dazu fehlt aber bisher.

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5 Lebensstile und Identitäten Es ist eine zentrale Annahme der neueren Ungleichheitsforschung in Deutschland, dass Le-bensstile und Einstellungen in sozialen Netzwerken gründen (Hartmann 1999: 168f). So sieht Gerhard Schulze eine verdichtete Binnenkommunikation als eine „notwendige Bedin-gung“ für die von ihm untersuchten Milieus (1992: 174). Auch die amerikanische Netz-werkanalyse geht davon aus, dass Einstellungen in sozialen Netzwerken emergieren und reproduziert werden (Erickson 1988). So führt vor allem der Druck des sozialen Umfelds dazu, dass Einstellungen, Wertorientierungen und Lebensstile von Anderen übernommen werden. Allerdings scheint die Wirkungsrichtung nicht eindeutig zu sein: Gemäß dem Ho-mophilie-Prinzip baut man eher eine persönliche Beziehung auf zu Menschen mit ähnlichen Werten und Einstellungen (Lazarsfeld/ Merton 1954). In ihrer empirischen Arbeit zu Ein-stellungen und Freundschaftsentwicklung bei Schulkindern schätzt Denise Kandel die Ef-fekte von gegenseitiger Beeinflussung und von homophiler Freundschaftswahl etwa gleich groß (1978). Man kann also davon ausgehen, dass Einstellungen und Netzwerke sich ge-genseitig beeinflussen und tendenziell für eine kulturelle Homogenität von sozialen Netz-werken sorgen. Netzwerke mit ähnlichen Wertorientierungen, Einstellungen und Verhal-tensweisen kann man als „Milieus“ bezeichnen (Rössel 2005: 251f).

Nan Lin zufolge sorgt das Homophilie-Prinzip nicht nur dafür, dass Akteure mit ähnli-chen Einstellungen und Werten verstärkt interagieren. Sondern auch Akteure mit ähnlichen sozio-ökonomischen Ressourcen zeigen eine Homophilie-Neigung, weil diese tendenziell ähnliche Lebensstile aufweisen (2001: 39f, 57). Dabei vermengt Lin aber mehrere Mecha-nismen: Erstens bewirken Bildung und Beruf als Opportunitätsstrukturen tendenziell eine sozio-ökonomische Homogenität von sozialen Netzwerken (s.o.). Zweitens kann der sozio-ökonomische Status Einstellungen und Wertorientierungen beeinflussen, die aber drittens vor allem in sozialen Netzwerken emergieren und reproduziert werden. Diese Mechanis-men sollten getrennt voneinander betrachtet werden, um Unterschiede zwischen Netzwerk-populationen – in denen zum Beispiel der sozio-ökonomische Status eine größere oder ge-ringere Rolle bei der Strukturierung von Netzwerken spielt – in den Blick zu nehmen.

Schließlich soll vor dem Hintergrund der Lebensstil-Homophilie in Netzwerken noch einmal das Zusammenspiel von Netzwerken und Kategorien behandelt werden. Oben wur-de angesprochen, dass kollektive Identitäten in sozialen Netzwerken entstehen können. Dies gilt vor allem für kleinteilige Netzwerke wie in Gangs, sozialen Bewegungen oder den von Muzafer Sherif untersuchten Feriencamps (1966). In der Sozialstruktur relevante Kate-gorien wie Geschlecht oder ethnische Zugehörigkeit können auf diese Weise aber kaum emergieren bzw. höchstens über sehr lange Zeit hinweg. Tamotsu Shibutani und Kian Kwan argumentieren dagegen, dass ethnische Kategorien dadurch entstehen, dass in einer Interaktionsgruppe zunächst ein eigener Lebensstil entsteht (1965: 202ff). Dieser Lebensstil sorgt dann im zweiten Schritt dafür, dass eine ethnische Gruppe von ihrer sozialen Umwelt als solche klassifiziert und behandelt wird. Und dieses „differential treatment“ – oft geht es dabei um Diskriminierung – führt drittens dazu, dass die Mitglieder sich als Ethnie begrei-fen und ein Gruppenbewusstsein entwickeln. In diesem Sinne lässt sich etwa das Wechsel-spiel von Stigmatisierung und Gegenstigmatisierung der Außenseitergruppe in der Studie von Norbert Elias und John Scotson begreifen (1965). Grob liefe also der Einfluss von den sozialen Netzwerken zum Lebensstil und von diesem zur Salienz der Kategorie in Fremd- und Selbstzuschreibung. Dabei sorgt die Salienz der Kategorie wiederum für eine tenden-

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zielle Ordnung von sozialen Netzwerken, etwa über Interaktionsnormen, die den Austausch zwischen Kategorien regeln (s.o.).

Drei Punkte gilt es dabei zu spezifizieren: Erstens werden Kategorien auch politisch definiert, etwa über das Ausländerrecht oder über die früheren Jim Crow-Gesetze zur Ras-sentrennung in den USA. Solche Kategorien haben auch Auswirkungen auf Politik – aller-dings indirekt, indem sie soziale Netzwerke strukturieren, die bestimmte Lebensstile her-vorbringen. Und Teil dieser Lebensstile können dann etwa das Wahlverhalten (in ethnisier-ten Parteiensystemen; Horowitz 1985: 291ff) und der polische Protest sein. Zweitens müs-sen Kategorien ja nicht zwischen Interaktionsgruppen verlaufen. Männer und Frauen etwa entwickeln ihre unterschiedlichen Sichtweisen bzw. „Kulturen“ aus ihren strukturell unter-schiedlichen Positionen in Familie und Arbeitsleben – und diese geschlechtsspezifischen Lebensstile sorgen dann für die Verhärtung der Kategorie und diese wiederum für eine ver-stärkte Geschlechtsstrukturierung von sozialen Netzwerken. Drittens schließlich ist es na-türlich so, dass Menschen etwa innerhalb der dichten Netzwerke in einer ethnischen Gruppe eine höhere Identifikation mit dieser zeigen als solche in stärker vermischten Netzwerken. Auf der Individualebene sorgt also die Zusammensetzung von persönlichen Netzwerken durchaus für eine höhere oder niedrigere Salienz der Kategorie. Dazu muss aber die Kate-gorie auf der Makro-Ebene erst einmal etabliert sein – und dies geschieht vor allem über die Klassifikation von Lebensstilen.

Abbildung 2: Kategorien, Lebensstile und soziale Netzwerke

SozialeNetzwerkeLebensstil

Salienzvon KategorienPolitik

Homophilie

sozialer DruckEmergenz

WahlverhaltenProtest

KlassifikationIdentifi-kation

Struktu-rierung

Definition

Eine Zusammenschau dieser Mechanismen des Zusammenspiels von Kategorien, Lebens-stil, Netzwerken und Politik ist in Abbildung 2 dargestellt. Der gestrichelte Pfeil „Identifi-kation“ von den sozialen Netzwerken hin zur Salienz von Kategorien macht deutlich, dass dies ein eher sekundärer Mechanismus ist. Diesem sind als primäre Mechanismen der Ka-tegorienbildung die Klassifikation von Lebensstilen und die Definition von Kategorien durch die Politik vorgeordnet. Trotzdem macht das Schema die wichtige Vermittlungsrolle der sozialen Netzwerken im Zusammenspiel von Kategorien, Politik und Lebensstilen deut-lich. Ethnische und andere Kategorien bestehen nicht im rein symbolischen-politischen Raum von Lebensstilen und staatlicher Definitionsmacht. Sondern sie müssen vor allem Netzwerke strukturieren, um gesellschaftliche Wirkungskraft zu entfalten.

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6 Sozialkapital Abschließend soll nun der Einfluss von sozialen Netzwerken auf die Erlangung von sozio-ökonomischem Status diskutiert werden. Dies wird typischerweise unter dem Stichwort „soziales Kapital“ gefasst, mit dem kulturelles und ökonomisches Kapital erlangt werden können. Dabei werden unter Sozialkapital oft sehr unterschiedliche Sachverhalte verstan-den, über die Netzwerke und Beziehungen als Ressourcen für Bildung und Status dienen können (Portes 1998). Diese unterschiedlichen Mechanismen sollen im Folgenden etwas entwirrt werden, indem sie in den Kontext der oben diskutierten Zusammenhänge einge-ordnet werden.

Erstens sieht James Coleman dichte soziale Netzwerke als Orte sozialer Kontrolle, über die etwa Kinder zur konstruktiven Mitarbeit in der Schule und damit zur Erlangung von Bildung (Humankapital oder kulturelles Kapital) angehalten werden können (1988). Coleman zufolge bringen dichte soziale Netzwerke eher kooperatives Verhalten hervor und damit den Erwerb von Kollektivgütern erleichtern (1990). Hier wirken soziale Netzwerke also nicht direkt auf den sozio-ökonomischen Status, sondern vermittelt über den sozialen Druck und über Einstellungen und Verhaltensweisen (den Lebensstil). Doch dichte Netz-werke können nicht nur Aufstiegsorientierung hervorbringen, sondern auch am Aufstieg hindern. Dies gilt etwa, wenn Migranten vor allem innerhalb ihrer eigenen ethnischen Gruppe integriert sind. Ein anderes Beispiel ist die von Paul Willis untersuchte Gruppe von englischen Arbeiterjungs, die in ihrer Gruppenkultur schulischen Erfolg ablehnen (1977). Alejandro Portes nennt dies die „dunkle Seite“ von Sozialkapital (1998: 15ff).

Zweitens betont Ronald Burt (im Anschluss an Mark Granovetter) die Rolle von „weak ties“ über „structural holes“ für die Erlangung von Informationen als Sozialkapital (1992: 8ff). Granovetter zufolge bekommt man vor allem über „weak ties“ Informationen über offene Arbeitsstellen, weil diese bessere Zugänge zu anderen Netzwerkkontexten er-möglichen (1973). Diese Idee hat Ronald Burt zu einem allgemeinen Ansatz der Vorteile von „Brücken über strukturelle Löcher“ in Netzwerken ausgearbeitet (1992). Mit solchen Brücken wäre ein Manager besser in der Lage, sich bietende Marktmöglichkeiten zu erken-nen und zu nutzen. Dem Sozialkapital-Konzept von Burt zufolge kann die Netzwerkstruk-tur direkt auf die Erlangung von sozio-ökonomischem Status wirken. Dabei muss aber auch beachtet werden, dass Menschen aus oberen Schichten und mit stärkerem Hochkulturkon-sum (Lebensstil) auch eine ausgeprägte Neigung zu „weak ties“ zeigen, dass also die Netz-werkstruktur eine Folge eines bestimmten Lebensstils sein kann (Lizardo 2006).

Drittens hat Nan Lin die bisher ausgefeilteste Sozialkapitaltheorie vorgelegt (2001). Lin zufolge besteht Sozialkapital weniger in der Struktur der Netzwerke, sondern – wie in der ursprünglichen Formulierung von Pierre Bourdieu (1983) – aus den Ressourcen, die in diesen Netzwerken erreicht werden können. Neben der Kontaktstärke wäre nach Lin vor allem der Status von Netzwerkalteri entscheidend für die Erlangung von eigenem sozio-ökonomischen Status. Dies geschähe in erster Linie darüber, dass Alteri ihre Ressourcen unterstützend zur Verfügung stellen. Ein Akteur mit mehr Bildung, Prestige, Einkommen oder mit besseren Connections wäre dementsprechend besser in der Lage, einem Freund zum Beispiel bei der Stellensuche zu helfen.

Das Argument von Nan Lin lässt sich schwer in die bisher vorgestellte Logik der Me-chanismen einordnen, weil es sozio-ökonomischen Status (von Bezugspersonen) und sozia-le Netzwerke miteinander verknüpft und diese Verknüpfung verantwortlich macht für die

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Status-Erlangung von Ego. Hinzu kommt, dass der sozio-ökonomische Status von Bezugs-personen über die oben diskutierten Opportunitätsstrukturen wesentlich vom Status von Ego abhängt. Daraus ergibt sich die Zusammenschau der Wechselwirkung von Netzwerken und sozio-ökonomischem Status wie in Abbildung 3 dargestellt. Zusätzlich wurde in die Darstellung der Einfluss des sozio-ökonomischen Status auf den Lebensstil aufgenommen, der vor allem über kulturelles Kapital im Sinne von Pierre Bourdieu läuft. So ermöglichen ein höherer Bildungsstand und die Sozialisation in einer höheren Schicht den Aufbau von hochkulturellen Geschmacksschemata (Bourdieu 1979; Schulze 1992). Möglicherweise noch wichtiger ist aber der vermittelte Einfluss der Sozio-Ökonomie über die Opportuni-tätsstruktur und die Zusammensetzung der sozialen Netzwerke auf die dort hervorgebrach-ten und reproduzierten Lebensstile. Und diese Lebensstile wirken vor allem über die mit ihnen verknüpfte Aufstiegsorientierung oder Aufstiegsablehnung auf den Status zurück.

Abbildung 3: Netzwerke und sozio-ökonomischer Status

Opportunitäts-struktur

SozialeNetzwerke

Sozio-ökonomischer

Status Lebensstil

WohnungsmarktHomophilieSelektionSozialkapital

Aktivitätsfoci

Kulturelles Kapital

Aufstiegsorientierung

7 Fazit Aus den bisher vorgestellten Zusammenhängen lässt sich unschwer ein integriertes Modell erstellen (Abbildung 4). Dabei wurde noch ein Effekt hinzugefügt: Die Salienz von Katego-rien wirkt direkt auf den sozio-ökonomischen Status, wenn im Bildungssystem oder auf dem Arbeitsmarkt diskriminiert wird. Der Wert eines solchen zusammenfassenden Sche-mas ist allerdings begrenzt: Als integriertes Modell für die Entstehung und Reproduktion von sozialer Ungleichheit taugt es nicht – vor allem, weil die aufgeführten theoretischen Konstrukte zu unspezifisch sind. So muss man bei den sozialen Netzwerken spezifieren, ob es um deren Zusammensetzung (nach Bildung, Geschlecht oder Herkunft) geht oder um deren Struktur (strong ties / weak ties). Der Lebensstil umfasst Einstellungen, Wertorientie-rungen und Verhalten. Und beim sozio-ökonomischen Status muss genauer zwischen Bil-dung, Beruf und Schichtzugehörigkeit unterschieden werden. Auch der große Bereich der Ökonomie und Arbeitsmärkte wurde nur ansatzweise (mit dem sozio-ökonomischen Status) in das Schema aufgenommen. Ingesamt dient es eher als grobe heuristische Orientierung denn als abgeschlossenes Modell.

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Abbildung 4: Integriertes Modell

Opportunitäts-struktur

SozialeNetzwerke

Sozio-ökonomischer

Status

LebensstilSalienz

von Kategorien

PolitikStadtplanung

Akitivitätsfoci

WohnungsmarktArbeitsplatz

DefinitionWahlverhaltenProtest

Klassifikation

Strukturierung

Homophiliesozialer Druck

Diskriminierung

Kulturelles KapitalAufstiegsorientierung

Entscheidend ist, dass für jeden dieser Zusammenhänge die genauen Mechanismen des Zu-sammenhangs zwischen den verschiedenen Ungleichheitsdimensionen betrachtet werden. Auf diese Weise erlaubt das Schema eine Rekonstruktion von komplexen Wirkungszu-sammenhängen. So sorgt der sozio-ökonomische Status im Sinne der Klassentheorie über die Setzung von Opportunitäten für eine Strukturierung von persönlichen Netzwerken. In diesen entstehe dann ein klassenspezifischer Lebensstil, der zur Emergenz eines Klassen-bewusstseins (auf der Kategorienebene) und auch zu einem klassenspezifischen politischen Handeln führen kann. Natürlich können diese Zusammenhänge nicht einfach theoretisch deduziert werden, sondern müssen empirisch untersucht werden – wie auch in Betracht ge-zogen werden muss, dass im Rahmen derselben Mechanismen möglicherweise auch ganz andere als klassenspezifische Netzwerke und Lebensstile entstehen. Ein anderes Beispiel ist, wie die Politik über die Definition von Kategorien und über die Beeinflussung von Op-portunitätsstrukturen zu einer bestimmten Ausrichtung von Netzwerken führen kann – die dann über den Lebensstil in Wahlen und Protest wieder auf Politik zurückwirken kann.

Die betrachteten Mechanismen entsprechen nicht nur den empirischen Ergebnissen, sondern wurden auch theoretisch begründet – soweit hier möglich. Die Grundlage dieser theoretischen Sichtweise ist ein relationales und symbolisches Verständnis von Sozialstruk-tur, wie sie sich in den letzten Jahren vor allem in der amerikanischen Soziologie durchsetzt (Lamont/ Fournier 1992; Breiger 1995; Erickson 1996; Rössel 2005; Lizardo 2006). Diese

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erschöpft sich nicht in der Verteilung von Attributen zwischen Individuen – und den statis-tischen Zusammenhängen zwischen diesen. Stattdessen wird Sozialstruktur als eine Struk-tur von Symbolbedeutungen und Erwartungen zwischen Individuen gesehen – als sinnhaft strukturierte Netzwerke. Deswegen nehmen in dieser Betrachtung die sozialen Netzwerke (die relationale Dimension), die Kategorien und die Lebensstile (die symbolische Dimensi-on) zentrale Vermittlungsstellen in der Sozialstruktur ein. Der Schwerpunkt der großen Be-völkerungsumfragen liegt aber weiter fast ausschließlich in der Soziodemographie und auf sozio-ökonomischen Variablen. Hier braucht es ein größeres Gewicht für die relationale und die symbolische Dimension mit mehr Netzwerk-, Verhaltens- und Wertorientierungs-fragen für ein tieferes Verständnis der skizzierten Mechanismen.

8 Literatur Abbott, Andrew (1997): Of Time and Space: The Contemporary Relevance of the Chicago School.

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