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Nathan und seine Kinder - Beltz Verlagsgruppe · 9 Geschem Ich muss unter dem Maulbeerbaum...

Date post: 16-Sep-2019
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Leseprobe aus: Pressler, Nathan und seine Kinder, ISBN 978-3-407-81186-8 © 2015 Beltz & Gelberg in der Verlagsgruppe Beltz, Weinheim Basel http://www.beltz.de/de/nc/verlagsgruppe-beltz/gesamtprogramm.html?isbn=978-3-407-81186-8
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Leseprobe aus: Pressler, Nathan und seine Kinder, ISBN 978-3-407-81186-8 © 2015 Beltz & Gelberg in der Verlagsgruppe Beltz, Weinheim Basel

http://www.beltz.de/de/nc/verlagsgruppe-beltz/gesamtprogramm.html?isbn=978-3-407-81186-8

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Geschem

Ich muss unter dem Maulbeerbaum eingeschlafen sein, woich mich am späten Nachmittag, als die Hitze unerträglichwurde, zum Ausruhen hingelegt hatte, denn ich wurde vonSchreien geweckt. Es waren hohe, schrille Schreie, und ichhob unwillkürlich die Hände, um meine Ohren zu schützen.Erst verstand ich nicht, dass es ein Mensch war, der da schrie.Doch dann sah ich sie, Daja, die Herrin, wie sie sich drehteund wand und versuchte, sich aus dem Griff der Köchin zubefreien, ich sah ihr verzerrtes Gesicht und den aufgerissenenMund. »Recha!«, schrie sie. »Recha! Recha!« Doch Ziporaund eine Magd hielten sie fest und lockerten den Griff auchnicht, als Daja wie wild um sich schlug und schrie: »Lasstmich los, ich muss zu Recha! Nathan ist nicht da! Gott stehuns bei, wenn Recha etwas passiert.« Ihre Schreie übertöntendas Prasseln der Flammen.

Ich wollte aufspringen, ich wollte mich in die Flammenstürzen, ich wollte der tapfere Held sein, der die Tochter desHerrn rettet, ich, ich, ich! Das war die Gelegenheit, die Gottmir bot, Gott oder Allah, um meinen Mut zu beweisen.Allesollten es erfahren, vor allem er, Nathan, der Herr, dass ichmehr war als nur ein armseliger Krüppel.Aber die Hitze desFeuers drang bis zu meinem Platz unter dem Maulbeerbaum,

Leseprobe aus: : Pressler, Nathan und seine Kinder, ISBN 978-3-407-81186-8 © 2015 Beltz & Gelberg in der Verlagsgruppe Beltz, Weinheim Basel

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und in meinem Körper brach der altbekannte Schmerz auf,ein stechender Schmerz, der mir von der linken Seite durchden ganzen Körper fuhr. Ein Schmerz, den ich eigentlichnicht fühlen durfte, denn längst vernarbte Wunden schmer-zen nicht mehr, warum taten es meine dennoch?

Ich kauerte unter dem Maulbeerbaum und hatte nureinen Gedanken: Ich muss die Herrin herausholen, ihr Vaterist nicht da, es ist meine Pflicht, sie zu retten. Aber als ichaufspringen wollte, gehorchte mir mein Körper nicht, dieNarben brannten, mein linker Arm und mein linkes Beinkrümmten sich, wie sich verkohlende Äste im Feuer krüm-men, sie wurden steif und unbeweglich. Das Hundezahngraszerkratzte meine Haut, als ich anfing zu kriechen, Rauchdrang mir in Nase und Mund, meine Augen brannten undein schrecklicher Husten schüttelte meinen Körper. Mirwurde schwarz vor den Augen.

Doch bevor es mir gelang, in die ersehnte Bewusstlosig-keit zu versinken, tauchte plötzlich eine hohe Gestalt vor demFeuer auf. Scharf hob sich ein breiter, weißer Rücken gegendie Flammen ab, die Arme bewegten sich aufwärts, die Ärmelfielen auseinander, schwangen wie die Flügel eines riesigenweißenVogels auf und ab. Der Fremde zögerte nur kurz, aberlange genug, dass ich das große, rote Kreuz auf seinem Ge-wand erkennen konnte, dann machte er einen Satz, hinein indas Feuer, und wurde von den Flammen verschluckt.

Schlaf senkte sich auf mich, ein hässlicher, bedrohlicherSchlaf mit einem hässlichen, bedrohlichen Traum. Das Erste,was ich sah, war der Rauch, immer sieht man zuerst nur denRauch. Er drang aus der Tür, kletterte als dünner Faden ander Hauswand nach oben, kräuselte sich, verdichtete sich

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zu Schwaden, stieg in den Himmel, sammelte sich zu einerdrohenden Wolke. Ich brauchte nicht zu überlegen, was derRauch bedeutete, ich wusste es, und noch bevor ich michgegen den Schmerz wappnen konnte, züngelten bereits dieersten Flämmchen unter dem Rauch hervor und wurdenschnell zu lodernden Flammen, die sich mit dem Rot der un-tergehenden Sonne mischten, sodass es aussah, als brenne derHimmel. Und dann kam sie endlich, die Bewusstlosigkeit.

Als ich das nächste Mal aufwachte, stand der Mond hochüber der Zitadelle. Erst war ich ganz verwirrt, wusste nicht,wo ich war, ich spürte nur, dass ich nicht auf meinem üb-lichen Fell in der Küche lag, unter demTisch, auf dem ZiporaHühner und anderes Fleisch koscher* macht, schneidet undzum Kochen herrichtet. Der Boden unter mir war uneben,ich spürte Steine, die mich in den Rücken drückten, undmeine Finger ertasteten raues Hundezahngras. Erschrockenriss ich die Augen auf und sah die Krone des Maulbeerbaumsüber mir. Durch das Blätterdach blitzten Sterne, und derMond, der fast voll war, schien hell genug, dass ich drüben,vor dem Haus, eine Gruppe Menschen zusammensitzen sah,Menschen, deren Stimmen mich geweckt hatten. Die Stim-men wurden lauter, über mir im Baum schrie ein Nacht-vogel, in den Olivenhainen hinter der Stadtmauer heultenSchakale, Ameisen krabbelten über meine Hand. Der bittereGeruch von verbranntem Holz stieg mir in die Nase. Aberich brauchte diesen Beweis nicht, um zu wissen, dass ichnicht geträumt hatte. Ein Schauer lief mir über den Rücken,

* Fremde Wörter sind am Ende des Buches in einem Glossar kurz erläutert.

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die Haut in meinem Nacken zog sich zusammen, eine Er-kenntnis stieg in meiner Kehle auf und erfüllte meinen Mundmit Bitterkeit: Es war wirklich passiert. Und mit dieser Er-kenntnis packten mich die Scham und die Reue darüber,dass ich meine Herrin nicht gerettet hatte, dass ich versagthatte. Ich war ein Nichts, nur ein armseliger Schwächling,ein Krüppel, zu nichts zu gebrauchen. Unfähig, eine großeTat zu vollbringen, sogar unfähig, Dankbarkeit zu beweisen.Nicht wert, das Brot zu essen, das ihm gewährt wurde. Rechawar tot, dieTochter des Herrn, sie war ein Opfer der Flammengeworden, während ich untätig und nutzlos unter dem Baumgelegen hatte. Und wie ein Blitz traf es mich, dass dies nureines bedeuten konnte: Ich musste das Haus Nathans verlassen,das mir seit über zwei Jahren zur Heimat geworden war.

Und dann erst drang es mir langsam ins Bewusstsein,dass die Stimmen, die ich von dort drüben hörte, zwar lautund erregt waren, aber niemand schrie, niemand weinte undklagte, niemand zerriss sich die Kleider und rief Gott zumZeugen seines Leides an. Hoffnung stieg in mir auf, einezaghafte Hoffnung, dass der Todesengel an unserem Hausvorbeigeflogen sein könnte. Außerdem fiel mir auf, dass ichMännerstimmen hörte, und vorhin, bevor mir die Sinneschwanden, waren nur Frauen da gewesen, Daja, Zipora, dieMägde. Der einzige Mann war der Fremde gewesen …

Vorsichtig hob ich den Kopf.Drüben, vor dem Haus, hatteman offenbar ein Lager aufgeschlagen, Öllichter brannten,Fackeln, und in ihrem Schein konnte ich erkennen, dass einDiener etwas aus einem Krug in einen Becher goss und ihneinem Mann reichte. Mein Herz begann wie wild zu klopfen.Ich kroch über die trockene Erde ein Stück näher, bis zum

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Rand des gepflasterten Vorplatzes, spürte die vom vergan-genen Tag noch warmen Steine unter meinen Händen undKnien und konnte den Blick nicht von dem Mann wenden,der den Becher an den Mund hob und trank. Er war es wirk-lich, Nathan, der Herr. Er musste nach Hause zurückgekehrtsein, während meine Seele sich vor Angst in einem Mause-loch verkrochen hatte.

Nathan saß auf einer purpurfarbenen Decke und hieltRecha im Arm, Recha, seine Tochter, die ich tot geglaubthatte. Ihr Gesicht konnte ich nicht sehen, sie hatte den Kopfan der Schulter ihresVaters vergraben, aber ihre hellen Haareflimmerten im flackernden Licht der Lampe wie das rötlicheGold der Brokatdecke, in die sie gehüllt war. Nathan hatteden einen Arm um sie gelegt, mit der anderen Hand strei-chelte er immer wieder ihren Kopf. Ihnen gegenüber saßenDaja und al-Hafi, der Derwisch, Nathans Freund. Ich wun-derte mich nicht darüber, ihn zu sehen, er taucht immer auf,wenn unser Herr von einer Reise zurückkommt. Er scheintdie baldige Ankunft der Kamele schon zu spüren, wenn die-se beim Anblick der Stadtmauern ihre Tritte beschleunigen.Er saß da, mit überkreuzten Beinen, die offenen Hände aufden Knien. Mir fiel auf, dass er ein neues Gewand und einenneuen Turban trug, prächtiger, als der alte gewesen war,eigentlich viel zu prächtig für einen Derwisch, und als er denKopf zu Daja drehte, sah ich, dass sich seine vollen Lippenzu einem Lächeln verzogen. Inzwischen war ich auch nahegenug, um zu verstehen, was sie sprachen.

»Beruhige dich, Daja«, sagte Nathan. »Was bedeuten schondiese kleinen Unbequemlichkeiten, was bedeuten schon diepaar verbrannten Möbel? Das Wichtigste ist doch, dass mei-

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ner geliebten Recha nichts passiert ist. Bald haben die Dienerso weit Ordnung geschaffen, dass wir schlafen gehen können.Beruhige dich, Daja, keiner darf heute weinen, wir müssenGott danken, dass er Recha gerettet hat. Sie lebt.Was machtes schon, dass ihre Haare angesengt sind, Haare wachsennach.Was macht es schon, dass ihr Kleid zerrissen und vollerBrandlöcher ist, ich kaufe ihr neue Kleider, schönere undkostbarere als dieses da.Auch die Wunde an ihrem Arm wirdmit Gottes Hilfe heilen, jung und gesund, wie sie ist. Michbedrückt etwas ganz anderes. Hast du den Mann wirklichnicht erkannt, der sie aus dem Feuer gerettet hat?«

Recha hob den Kopf. »Es war ein Engel,Vater«, sagte siemit einer zittrigen Stimme, der die Todesangst noch anzuhö-ren war. »Es war kein Mensch, es war ein Engel des Herrn.«

Nathan strich ihr beruhigend über die Haare und zog dieBrokatdecke höher über ihre Schultern.

Daja beugte sich vor. »Das Mädchen ist nicht bei Sinnen«,rief sie. »Das Feuer hat ihrenVerstand verwirrt. Höre, Nathan,ich habe dir doch gesagt, es war ein Tempelritter.«

Nathan nahm einen Schluck aus dem Becher, der vor ihmauf der Decke stand, stellte ihn wieder ab und wischte sichmit dem Handrücken über den Mund, bevor er nachdenk-lich sagte: »Es gibt keine Tempelritter mehr in Jerusalem. DerSultan hat sie alle töten lassen, manche sagen sogar, er habesie eigenhändig umgebracht.«

Jetzt mischte sich al-Hafi ein. »Du irrst dich, Nathan, meinFreund. Er hat sie umbringen lassen, das stimmt, aber nichtalle. Einen nicht. Ich weiß es, ich war dabei, und ich habegesehen, wie er diesen einen angestarrt hat und ganz blasswurde. Diesen einen hat er am Leben gelassen.«

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Nathan hob den Kopf. »Wirklich?«, fragte er ungläu-big. »Er hat einem Tempelritter das Leben geschenkt? Wa-rum?«

Al-Hafi zuckte mit den Schultern. »Woher soll ich daswissen? Muss der allmächtige Herrscher der Gläubigen je-mandem Rechenschaft über das ablegen, was er beschließt?«

»Es war ein Tempelritter«, sagte Daja laut.Dann brach das Gespräch ab, denn nun wurden die

Kamele herbeigeführt.Vor den Eingängen zu den unterirdi-schen Lagerräumen entstand Gedränge, die Treiber schnalz-ten mit den Zungen und stießen Befehle aus, dieVorderbeineder Kamele knickten ein, ihre Knie berührten den Boden,und bis sie endlich auf dem Bauch lagen, schwankte dieLadung auf ihrem Rücken gefährlich hin und her. Elijahuund Jakob, die Gehilfen des Herrn, die ihn auf seiner Reisebegleitet hatten, lösten die Riemen und Schnüre und mach-ten sich daran, die Ballen und Packen abzuladen. Stück fürStück schleppten sie ihre Last hinunter in die Keller. DieKameltreiber, in schwarze Gewänder gehüllt und mit glän-zenden Krummschwertern bewaffnet, standen bewegungslosund schweigend daneben. Erst wenn alles abgeladen war,würden sie, nach einer kurzen Verneigung vor dem Herrn,ihre Tiere zu den Zelten vor der Stadt führen.

»Was hast du mitgebracht, Nathan?«, fragte al-Hafi. »Wardeine Reise erfolgreich?«

»Gott hat es gewollt, dass mir jeder Handel zum Nutzengeriet«, sagte Nathan. »Mit seiner Hilfe bin ich reicher dennje zuvor. Mit Olivenöl und duftenden Essenzen aus Jerichobin ich nach Damaskus gezogen, mit Damast, Brokat undGold komme ich zurück.«

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»Gott ist groß in seiner Güte«, sagte al-Hafi, »und demGerechten gelingt alles zum Segen.«

Dem Gerechten, dachte ich, ja, ihm schon. Der Gott derJuden liebt den Gerechten. Auch Allah, der Gott der Mus-lime, liebt ihn. Dann fiel mir der Tempelritter ein, und ichdachte, bestimmt liebt auch der Gott der Christen den Ge-rechten. Es kann gar nicht anders sein. Jeder Gott muss ihnlieben, Nathan, den Herrn, der für seine Gerechtigkeit be-kannt ist.

Zwei Diener trugen einen halb verkohlten Sessel aus demHaus und stellten ihn auf einen Haufen Gerümpel, den sie ingebührender Entfernung aufgeschichtet hatten, dann holtensie weitere vom Feuer zerstörte Möbelstücke.Als sie die vomRauch schwarze, an einer Ecke angebrannte Tischplatte he-rausschleppten, war ihr Keuchen bis zu mir zu hören. DiePlatte fiel krachend zu Boden, das Splittern zerberstendenHolzes zerriss die nächtliche Stille. Recha hob die Händeund legte sie schützend auf ihre Ohren. Die beiden Männerrichteten sich auf, dehnten ihre Körper und schauten zu,wie andere immer wieder Krüge anschleppten und Wasserüber die rauchenden Gegenstände kippten, um vielleichtnoch vorhandene verborgene Funken zu löschen und einerneutes Ausbrechen des Feuers zu verhindern. Zipora fegtemit einem groben Besen Asche und Ruß vor die Tür undüber den Vorplatz bis hin zu dem Stück Brachland mit demMaulbeerbaum.

Ich lag noch immer am Rand des Vorplatzes, unschlüssig,was besser wäre, hinüberzugehen und zu bestätigen, dass derFremde wirklich ein Tempelritter gewesen war, oder michunauffällig den Helfern anzuschließen. Während ich noch

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mit mir kämpfte, sah ich, wie Daja sich erhob und ihre Klei-dung glatt strich. »Ich werde Zipora beauftragen, uns nochein leichtes Essen herzurichten, damit wir uns nicht mithungrigen Mägen niederlegen müssen«, sagte sie. »Geduldeteuch noch eine Weile.« Sie verschwand im Haus.

Damit war klar, dass ich Zipora helfen musste. Ich standauf und ging, noch immer mit zittrigen Beinen, auf das Hauszu. Dabei merkte ich, dass ich stärker hinkte als sonst, meinlinkes Bein schmerzte und wollte sich nicht strecken. In derTür blieb ich stehen und betrachtete die von Lampen nurschwach erhellte Eingangshalle. Hier hatte das Feuer gewütet,von den kostbaren Möbeln waren nur verkohlte Trümmerzurückgeblieben, und da, wo dieTür zum Seitenflügel war, indem sich auch Rechas und Dajas Zimmer befinden, gähnteein schwarzes Loch, und der Lichtschein reichte nicht aus,um zu sehen, ob das Feuer auch dort etwas angerichtet hatte.Der Gestank war schrecklich. Daja kam aus der Küche, ichtrat einen Schritt zur Seite, in den Schatten einer Säule, undsie lief an mir vorbei, ohne mich zu bemerken.

»Wo hast du denn die ganze Zeit gesteckt, Junge?«, frag-te Zipora, als ich die Küche betrat. Sie stand am Tisch undzerschnitt Zwiebeln und Knoblauch. »Gut, dass du hier bist.Reinige den Tisch im Innenhof und bring Datteln, Feigen,Nüsse und Käse hinaus. Und vergiss nicht die Krüge mitSauermilch und Wein. Und Becher, hörst du, Junge? Undpflücke etwas Ysop und Minze, Junge, hörst du, sie werdenhelfen, unseren Geist zu reinigen und zu beleben.«

Ich beeilte mich, alles zu tun, was Zipora mir aufgetragenhatte, dann zündete ich noch zwei Öllampen an und stelltesie auf den Tisch. Zipora brachte Brot und eingelegte Oliven

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und mischte die zerrupften Kräuterblätter unter die Sauer-milch. Dann bat sie die Herrschaften zu Tisch.

Wir, das Gesinde, aßen in der Küche, auch Elijahu undJakob, die sonst oft mit der Familie ihre Mahlzeit einnehmen.Es war spät, alle waren ausgehungert und fielen gierig überdas Essen her, besonders Elijahu und Jakob. Ich sah, wie siesich Brot und Zwiebeln in den Mund stopften und ihre Be-cher hoben, hörte, wie sie kauten und schluckten, und bekamselbst keinen Bissen hinunter. Meine Kehle war noch immerwie zugeschnürt.

Zipora warf mir einen prüfenden Blick zu. »Warum isst dunicht, Junge?«, fragte sie. Ich wich ihrem Blick aus.

»Lass ihn in Ruhe, Zipora«, sagte Elijahu und trank einenSchluck Wein. »Dem armen Jungen sitzt noch der Schreck inden Gliedern, das sieht man doch.« Er lächelte mir zu, diesesgutmütige Lächeln, das seine Augen so schmal werden lässtwie die einer schnurrenden Katze, ein Lächeln, bei dem esmir immer ganz warm ums Herz wird. Ich versuchte zurück-zulächeln, spürte aber genau, dass ich nur eine Grimasse zu-stande brachte. Immerhin ließ Zipora mich nun in Frieden.

Ich half ihr noch, denTisch im Innenhof abzuräumen unddie Nahrungsreste in der Speisekammer zu verstauen, danngingen endlich alle zu Bett, und ich blieb allein in der Küchezurück, in der es fast ganz dunkel war, denn Zipora hatte alleLampen gelöscht. Nur das schwache Licht des Mondes drangdurch das Fenster. Ich ertastete mir meinen Weg unter denTisch, breitete mein zusammengerolltes Fell aus und wickeltemich hinein.

Ich war so müde,dass mir alle Muskeln wehtaten, trotzdemkonnte ich nicht einschlafen. Sobald ich die Augen schloss,

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