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Thomas Morus Utopia (Utopia)
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Thomas Morus

Utopia

(Utopia)

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Thomas Morusseinem Petrus Aegidius Gruß!

Fast schäme ich mich, vortrefflicher Peter Aegidi-bus, daß ich Dir das Büchlein über das utopianischeStaatswesen erst beinahe nach einem Jahre schicke,das Du gewiß schon nach einem halben Jahre erwartethast, da Du ja wußtest, daß ich bei diesem Werke derErfindung überhoben war, über die Anordnung desStoffs nicht nachzudenken und einfach nur zu berich-ten brauchte, was ich mit Dir zusammen von Raphaelerzählen gehört hatte. So machte die Diktion mirkeine Mühe, denn seine Sprache konnte, da seineRede eine improvisirte war, nicht durchdacht und ge-feilt sein, und dann ist er, wie Du weißt, mehr imGriechischen als im Lateinischen zu Hause. Und jenäher meine Darstellung seiner unstudirten schlichtenSprache kam, desto näher kam sie der Wahrheit, derich hierbei allein obzuliegen habe. Ich gestehe,Freund Peter, daß mir, da Alles so gegeben vorlag,die Arbeit so erleichtert war, daß mir fast nichts ausEigenem zu thun übrig geblieben ist. Sonst würde Er-findung und Komposition des Ganzen Zeit und Studi-um eines nicht unbedeutenden und kenntnißreichenGeistes erfordert haben. Wäre verlangt worden, daßdie Darstellung nicht nur wahr sondern von

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rednerischer Kunst sei, so hätte ich sie überhauptnicht liefern können. Nachdem aber diese Schwierig-keiten von mir genommen waren, die allein ein Zieldes Schweißes gewesen wären, blieb nur die einfacheNacherzählung des Gehörten übrig und das war keinenennenswerthe Aufgabe. Aber selbst zur Ausführungdieser sehr geringen Arbeit ließen mir andere Ge-schäfte fast keine Zeit übrig. Bald muß ich in gericht-liches Angelegenheiten emsig plädiren, bald solcheanhören, bald als Schiedsrichter schlichten, bald alsRichter Urtheile fällen, bald einen amtlichen, baldeinen privaten Gang machen. Während ich fast denganzen Tag außer Hause Andern widme, bleibt mirfür meine eigenen Angelegenheiten, d.h. für Litteraturund Wissenschaft, keine Zeit übrig. Komme ich heim,so heißt es mit der Gattin plaudern, mit den Kindernschäkern und mit der Dienerschaft verkehren. Dasrechne ich alles zu den Geschäften, die verrichtet wer-den müssen (und es muß geschehen, wenn du nicht imeigenen Hause ein Fremdling sein willst). Man mußdurchaus Sorge tragen, mit denen, die entweder dieNatur, der Zufall oder die eigene Wahl zu unsern Le-bensgefährten gemacht haben, so angenehm als mög-lich zu verkommen, damit sie durch zu große Vertrau-lichkeit nicht verhätschelt, oder durch zu große Nach-sicht aus Dienern zu Herren werden. So rauschenTage, Monate, Jahre dahin. Wann also schreiben?

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Und da habe ich nicht einmal vom Schlafen und vomEssen gesprochen, das bei Vielen nicht weniger Zeitin Anspruch nimmt als der Schlaf selbst, der doch fastdie Hälfte des Menschenlebens für sich in Beschlagnimmt. So erübrigt mir nur die Zeit, die ich mir vomSchlafe und vom Essen abbreche, und so wenig dasist, so ist es doch etwas, und so habe ich endlich dieUtopia zu Stande gebracht, und sende sie Dir jetzt,lieber Peter, zum Durchlesen, damit, wenn mir etwasentgangen ist, Du mich darauf aufmerksam machst,obwohl ich mir nämlich in dieser Beziehung nicht ge-rade mißtraue, - ich wünschte, es fehlte mir ebenso-wenig an Genie und Gelehrsamkeit als an der Gabedes Gedächtnisses - so hege ich doch auch kein über-triebenes Vertrauen zu mir selbst, daß ich etwa glaub-te, es könne mir nichts entfallen sein. Denn auch Jo-hann Clement, mein jugendlicher Aufwärter, der, wieDu weißt, zugegen war, der mir bei keiner Unterre-dung von einigem Belang fehlen darf, ein jungesPflänzchen, das bereits in der griechischen und latei-nischen Litteratur zu grünen beginnt, und von dem ichmir einst ausgezeichnete Frucht verspreche - hat michsehr an mir zweifeln gemacht. So viel ich mich näm-lich erinnere, hat Hythlodäus erzählt, jene Brücke vonAmaurotum über den Fluß Anydrus sei fünfhundertSchritt lang, mein Johannes aber sagt, davon seienzweihundert Schritt in Abrechnung zu bringen, indem

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die Breite des Flusses dort nicht über dreihundertSchritt betrage. Ich bitte Dich, rufe Dir den Sachver-halt ins Gedächtniß zurück. Stimmst Du mit ihmüberein, so trete ich euch bei, und glaube, daß michmein Gedächtniß trügt; kannst Du Dich aber nicht er-innern, so lasse ich stehen, was ich niedergeschriebenund baue auf mein Erinnerungsvermögen. Denn daich aufs äußerste besorgt bin, alles Falsche in meinemBuche zu vermeiden, so will ich, wo die Wahrheitnicht festzustellen ist, lieber eine Unwahrheit sagen,als lügen. Denn lieber ehrlich als pfiffig. DiesemUebelstande wäre leicht abzuhelfen, wenn Du den Ra-phael entweder mündlich oder schriftlich befragenwolltest, was Du ja doch wegen eines anderen Skru-pels, der uns aufstößt, thun mußt, handle es sich nunum ein Versehen, meiner, Deiner oder Raphaels. Istes uns doch nicht eingefallen, ihn zu fragen, noch ihmvon freien Stücken zu sagen, in welcher Gegend desneuen Welttheils Utopia liegt. Lieber möcht' ich esmich eine ziemliche Summe Geldes haben kosten las-sen, als daß uns das widerfahren wäre, theils, weil ichmich wirklich schäme, nicht zu wissen, in welchemWeltmeere die Insel liegt, über die ich so viel schrei-be, theils weil es den Einen oder Andern bei uns gibt,Einen aber vor allen, einen frommen Mann, von BerufGottesgelehrten, der vor Begierde brennt, Utopien zubetreten, nicht aus einem eiteln und neugierigen

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Gelüsten, Neues zu sehen, sondern um unsere Religi-on, die dort einen vielversprechenden Anfang genom-men hat, zu fördern und zu verbreiten. Um dies in re-gelrechtem Gange zu erreichen, will er bewirken, daßer vom Papste dorthin gesendet, dann von den Utopi-ern zum Bischof gewählt wird, indem er keinen Au-genblick bezweifelt, daß er zu dieser Vorsteherwürdedurch Bitten gelangen werde. Er hält dies für einenfrommen Ehrgeiz, nicht den Rücksichten auf weltlicheEhren und Gewinn, sondern religiösen Motiven ent-sprungen. Darum bitte ich Dich, lieber Peter, entwe-der, wenn möglich, mündlich, sonst aber brieflich,dem Hythlodäus anzuliegen, daß in meinem Werkenichts Falsches stehen bleibe, aber auch nichts, waswahr ist, vermißt werde. Ich weiß nicht, ob es darumnicht gut wäre, ihm das Buch selbst zu zeigen. Dennetwas Irrthümliches kann Niemand so verläßlich be-seitigen als er, er selbst kann das aber auch nur, wenner liest, was ich geschrieben habe. Dazu kommt: aufdiese Weise wirst Du merken, ob es ihm recht ist,oder ob er nicht erbaut davon ist, daß ich dieses Werkverfaßt habe. Denn wenn er etwa gesonnen ist, dieGeschichte seiner Mühen und Strapazen selbst inDruck zu geben, so wird es ihm eben nicht angenehmsein und ganz ebenso erginge es desfalls mir, wennich durch meine ihm zuvorkommende Veröffentli-chung des utopianischen Staatswesens seine

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geschichtliche Darstellung des Reizes der Neuheit be-raubte.

Um die Wahrheit zu sagen, so bin ich mit mirselbst noch nicht einig, ob ich die Utopie überhauptherausgeben soll. Der Geschmack der Menschen istso verschieden, die Gemüther Mancher sind so mür-risch, ihre Sinnesart so unerquicklich, ihre Urtheile soabgeschmackt, daß diejenigen besser zu fahren schei-nen, die sich dem Genusse und der Fröhlichkeit hin-geben, als diejenigen, welche sich mit Sorgen ab-äschern, etwas zu veröffentlichen, was Andern zumVergnügen oder zur Belehrung gereichen könne, wäh-rend es eben diese verschmähen oder unfreundlichaufnehmen. Die Meisten wissen nichts von Wissen-schaft und Litteratur, viele verachten sie. Ein barbari-scher Geschmack verwirft Alles, was nicht wiederbarbarisch ist. Die Halbwisser verachten Alles als tri-vial, was nicht von alterthümlichen Ausdrücken wim-melt. Gewissen Leuten gefällt nur das Alte, den mei-sten nur das, was sie selbst gemacht haben! Dieser istso sauertöpfisch, daß er von keinem Scherze etwaswissen will, jener so platt und albern, daß er das Salzdes Witzes nicht verträgt, andere so stumpfnasig, daßsie vor einer kräftigen Nase scheuen, wie ein voneinem wüthenden Hunde Gebissener vor dem Wasser.Wieder Andere sind so wetterwendisch, daß sie Etwasgut heißen, während sie jetzt sitzen, und schon wieder

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etwas Anderes, wenn sie dann aufstehen. Noch Ande-re sitzen in der Kneipe und urtheilen auf der Bierbanküber litterarische Erzeugnisse und verdammen miteiner ungeheuren Autorität alles Beliebige und dieSchriften jedermanns, indem sie alle Welt durchzau-sen, während sie selbst in Sicherheit sind, außerSchußweite, nach dem Sprichworte, denn diese gutenLeute sind um und um so glatt und kahl, daß sie keingutes Haar an sich haben, bei dem man sie fassenkönnte. Ueberdies gibt es so undankbare Gemüther,daß sie, während sie sich im höchsten Grade an einemWerke ergötzen, den Autor doch nicht leiden mögen,nicht unähnlich jenen unwirschen Gästen, die, nach-dem sie an einem opulenten Gastmahl vollauf sich ge-labt haben, nach Hause gehen, ohne dem Gastgeberein Wort des Dankes zu sagen. Nun geh und richte fürLeute so verwöhnten Gaumens, so verschiedenen Ge-schmacks, und obendrein von so dankbarer Gesin-nung, die der Wohltaten so eingedenk sind, auf DeineKosten einen Schmaus her.

Aber trotzdem, lieber Peter, verfahre gegen Hythlo-däus, wie ich oben gesagt: es bleibt mir ja unbenom-men, hinterdrein immer noch zu thun, was ich will.Aber da ich doch einmal die Mühe des Niederschrei-bens gehabt habe, so möge das nicht gegen seinenWillen geschehen sein. In allem Uebrigen, was beider Herausgabe noch in Betracht kommt, werde ich

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den Rath meiner Freunde befolgen, vor allem denDeinigen. Lebe wohl, geliebtester Petrus Aedigius,sammt Deiner lieben Frau, und bleibe mir wie bisherzugethan, wie auch ich Dich immer lieber gewonnenhabe.

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Der Utopia erstes Buch.

Als der unbesiegbare König Heinrich von England,seines Namens der achte, geschmückt mit allen Tu-genden eines ausgezeichneten Fürsten, vor Kurzemeinen nicht geringfügigen Streit mit Karl, dem durch-lauchtigsten Fürsten von Kastilien, hatte, ordnete er,diesen beizulegen, mich als Sprecher nach Flandernab und gab mir den unvergeßlichen Cuthbert Tunstallals Begleiter mit, den er unter dem größten allgemei-nen Beifalle zum Großarchivar ernannt hatte, zu des-sen Lobe von mir nichts gesagt werden soll, nichtweil ich befürchtete, daß das Zeugniß meiner Freund-schaft wenig Glauben verdiente, sondern weil seinCharakter und seine Gelehrsamkeit über mein Lob er-haben sind und seine Berühmtheit so groß ist, daß sieerhöhen wollen, die Sonne mit der Laterne beleuchtenhieße, wie das Sprichwort lautet.

In Brügge trafen wir, der Verabredung gemäß, dieAbgesandten des Fürsten, sämmtlich ausgezeichneteMänner, darunter der Präfekt von Brügge, als Hauptderselben, als ihr Mund und ihre Seele aber derPropst Georg Temsicius von Cassileta, der neben sei-ner natürlichen Beredsamkeit zugleich ein durchgebil-deter Redner war, zugleich ein hochbegabter, wohlbe-schlagener Staatsrechtsgelehrter. Nach zweimaliger

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Zusammenkunft nahmen jene, da wir in einigen Punk-ten nicht übereinstimmten, Abschied von uns, und rei-sten nach Brüssel, das Orakel des Fürsten einzuholen.

Ich begab mich unterdessen nach Antwerpen. Wäh-rend ich mich dort aufhielt, sah ich oft Besuch, dochNiemand lieber als Petrus Aegidius, einen geborenenAntwerpener von großer Biederkeit, in ehrenvollerStellung, der die ehrenvollste verdiente, da es kaumeinen gelehrteren und ehrbareren jungen Mann gab,herzensgut und belesen sondergleichen. Von ehrlicherAufrichtigkeit gegen jedermann, hat er ein so liebe-volles, treues, hingebendes Gemüth gegen seineFreunde, daß kaum Jemand zu finden sein dürfte, deres in erprobter Freundschaft mit ihm aufnähme. Sel-tene Bescheidenheit eignet ihn, jede heuchlerischeVerstellung ist ihm fremd, bei aller Schlichtheit desWesens ist er sehr klug. Seine Rede ist gewandt undzierlich, seine Scherze sind liebenswürdig harmlos, sodaß meine Sehnsucht nach der Heimath und nach demhäuslichen Herde, nach der Gattin und den Kinderngemildert wurde, um die ich bei einer bereits mehr alsviermonatlichen Abwesenheit ängstlich besorgt war.Solches besorgte die liebe Gewöhnung des Beisam-menseins und das höchst angenehme Gespräch mitihm.

Als ich eines Tages dem Gottesdienste in der Lieb-frauenkirche, die ein wunderschönes Kunstwerk ist

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und beim Volke das höchste Ansehen genießt, beige-wohnt hatte, und nach meinem Quartier zurückzukeh-ren im Begriffe war, sah ich ihn mit einem ältlichenFremden sprechen, dessen Sonnenverbranntes Antlitz,herabwallender Bart, nachlässig über die Schulterhängender Reisemantel mir einen Schiffspatron zuverrathen schienen. Sobald mich Peter erblickte, grüß-te er und kam auf mich zu, indem er sich von jenem,der ihm eben eine Antwort zu geben im Begriffe war,ein klein wenig entfernte.

»Siehst du diesen Mann«, sagte er zu mir, indem erauf den wies, mit dem ich ihn sprechen gesehen hatte.»Ich wollte ihn gerade zu Dir führen.«

»Das würde mir um deinetwillen sehr angenehmgewesen sein«, sagte ich.

»Und an sich auch«, versetzte Peter, »wenn du ihnnur erst kenntest. Denn heutigentags lebt wohl Nie-mand, der dir über Menschen und unbekannte Länderso viel zu erzählen vermöchte, wie er, und solche Ge-schichten zu hören, bist du, wie ich weiß, höchst be-gierig.«

»So habe ich,« erwiderte ich, »nicht falsch gera-then, ich habe ihn auf den ersten Blick sofort für einenSeemann gehalten.«

»Du irrst sehr«, gab Peter zur Antwort. »Er hatzwar Seefahrten hinter sich, aber nicht als Palinurus,sondern als ein Ulysses, oder vielmehr als ein Plato.

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Nämlich: Raphael - das ist sein Geschlechtsname -Hythlodäus ist im Lateinischen bewandert, aber hatdas Griechische noch viel gründlicher inne, (das erviel mehr betrieben hat, weil er sich ganz der Philoso-phie gewidmet hat, über die außer Seneka und Ciceroim Lateinischen nichts der Rede Werthes vorliegt). Erstammt aus Lusitanien, trat sein väterliches Erbtheilseinen Brüdern ab, schloß sich, um Land und Leutezu studieren, dem Amerigo Vespucci an und hat vonjenen vier Seereisen, die man heutzutage bereits dortund da gedruckt lesen kann, drei als sein ständigerBegleiter mitgemacht, ist aber von der letzten nichtmit ihm zurückgekehrt. Er erreichte mit bringendenBitten von Amerigo, daß er unter den Vierundzwan-zig war, die bis ans Ende der letzten Fahrt in einemKastell zurückgelassen wurden. So blieb er zurückund konnte seinem Sinn willfahren, der mehr ans Rei-sen als an Sterben und Grab dachte, wie er denn flei-ßig ähnliche Sprüche im Munde zu führen pflegte:›Der Himmel ist der Leichenstein desjenigen, demkeine Aschenurne beschieden worden‹, und: ›der Wegzu den Göttern ist von überallher gleichweit‹. DieserWagemuth hätte ihn, wenn Gott nicht schützend seineHand über ihn gebreitet hätte, theuer zu stehen kom-men können. Nach Abreise des Vespucci hat er mitfünf Castilianern viele Gegenden durchstreift, bis erdurch ein wunderbares Glück nach Taprobane

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gelangte, von dort nach Kalikut, wo er lusitanischeSchiffe vorfand, worauf er gegen alles Erwarten insein Vaterland zurückfuhr.«

Als Peter dies erzählt und ich ihm dafür Dank ge-sagt hatte, daß er so viel Gefälligkeit für mich gehabtund so viel Rücksicht auf mich genommen habe, mireine Unterredung mit diesem Manne zu Theil werdenzu lassen, wandte ich mich zu Raphael und nach ge-genseitiger Begrüßung und Austausch jener Gemein-plätze, die beim Zusammentreffen zweier Fremdenüblich sind, begaben wir uns nach meinem Hause, wowir uns im Garten auf einer Rasenbank niederließenund zu plaudern anfingen. Er erzählte, wie er undseine im Kastell gebliebenen Gefährten, nachdemVespucci abgereist war, durch Entgegenkommen undSchmeichelworte bei jenen Völkerschaften sich be-liebt zu machen begannen und nicht nur unbehelligt,sondern sogar vertraulich mit ihnen verkehrten, daßsie sogar einem Fürsten, dessen Name und Vaterlandmir entfallen, willkommen gewesen, und daß ihmselbst und fünf seiner Begleiter durch dessen Freige-bigkeit reichlich Proviant geliefert worden sei, um dieReise mit einem treuen Führer, der sie zu andern Für-sten, denen sie bestens empfohlen waren, zu Wasserauf Flößen, zu Lande per Wagen fortzusetzen. Nachmehrtägigen Reisen hätten sie kleinere und größereStädte angetroffen, um die es nicht übel bestellt

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gewesen, Staaten mit zahlreichen Völkerschaften.Unter dem Aequator und zu beiden Seiten desselbenhätten weite Wüsteneien im beständigen Sonnenbran-de gelegen. Schmutz und öde aussehende, unbebaute,von wilden Thieren und Schlangen und nicht minderwilden Menschen bewohnte Gegenden überall. Beiweiterer Fahrt habe allmählich Alles ein milderesAussehen angenommen, das Klima habe an Rauhig-keit verloren, die Thiere seien zahmer geworden, end-lich seien Völker und Städte gekommen, die nicht nurunter sich und mit den nächst benachbarten, sondernauch mit entlegenen Völkerschaften emsig Handel zuWasser und zu Lande und Gewerbe trieben. So seiihm Gelegenheit geworden, viele Länder hüben unddrüben zu besichtigen, da er und seine Gefährten injedem Schiffe gern aufgenommen worden, wohin das-selbe auch segelte. Die ersten Schiffe, die sie erblick-ten, hätten flache Kiele gehabt, die Segel seien vonBlättern des Schaftes der Papyrusstaude genäht, odervon Weidenruthen geflochten gewesen, anderwärtsvon Leder; dann trafen sie auf zugespitzte Kiele undhänfene Segel und im Uebrigen den unsrigen ähnlich,die Seeleute waren in der Kenntniß des Himmels undMeeres bewandert. Schönsten Dank aber, erzählte er,hätte er geerntet, als er sie im Gebrauche des Magnetsunterwiesen, der ihnen früher ganz unbekannt gewe-sen; daher hätten sie sich nur mit Zagen dem Meere

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anvertraut und hätten das nur im Sommer gewagt.Jetzt aber, im Vertrauen auf den Magnetstein, spottensie des Winters im Gefühle falscher Sicherheit, so daßdie Gefahr besteht, daß ein Ding, von dem sie glau-ben mußten, daß es ihnen in Zukunft von großemNutzen sein werde, ihnen ob ihrer unklugen Sorglo-sigkeit zur Quelle großer Uebel werde.

Er erzählte dann noch ein Langes und Breitesdavon, was er an jedem Orte gesehen, was zu schil-dern aber nicht der Zweck dieses Werkes ist. Viel-leicht wird dies von mir andern Orts berichtet werden,insbesondere von solchen Dingen, deren Kenntnißvon praktischem Nutzen ist, wie z.B. vor allem seineBeobachtungen über das, was er bei gesitteten Völ-kern für treffliche, besonnene Einrichtungen gefunden.

Nach solchen Dingen waren wir besonders begierigund von ihnen sprachen wir am liebsten. Nach denUngeheuern fragten wir nicht weiter, die nichts Neuesmehr an sich hatten. Denn Schrecknisse wie die Scyl-la, menschenfresserische Lästrygonen und derlei un-glaubliche Monstra findet man fast überall, heilsameund weise Satzungen der Bürger jedoch durchausnicht so.

Uebrigens, wie er bei diesen neuentdeckten Völker-schaften viel Thörichtes fand, so erzählte er auch vonnicht Wenigem, woran sich unsere Städte, Völker-schaften, Nationen und Reiche ein Beispiel nehmen

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könnten, um das, was bei ihnen verfehlt ist, zu korri-giren, was ich, wie gesagt, andern Orts vorbringenwerde.

Für jetzt bin ich gesonnen, nur das zu berichten,was er von den Sitten und Einrichtungen der Utopiererzählt hat, indem ich nur noch jenes Gespräch vor-ausschicke, in dessen Verfolge er ganz ungezwungenauf jenes staatliche Gemeinwesen gekommen ist.Denn als er gar weise die vielerlei Mißgriffe kritischbeleuchtet hatte, die hier und dort in großer Zahl be-gangen werden, dann wieder Dinge, die bald bei uns,bald bei jenen vernünftiger geordnet sind, und alsman sah, daß er die Einrichtungen der verschiedenenVölkerschaften so inne hatte, daß man hätte wähnenkönnen, er habe an jedem Orte, den er besuchsweiseberührt, sein ganzes Leben zugebracht, da sprachPeter seine Bewunderung des Mannes aus.

»Es wundert mich wahrlich, lieber Raphael«, sagteer, »warum du dich nicht irgend einem Könige zurVerfügung stellst, da du ihm doch, ich bin überzeugtdavon, höchst erwünscht sein würdest, indem du ihndurch deine Orts- und Menschenkenntniß nicht nur er-götzen sondern durch Beispiele zu belehren und durchdeinen Rath zu unterstützen im Stande wärest, wie duzugleich auch deine Interessen dadurch ausgezeichnetwahrnehmen würdest und allen den Deinigen vongrößtem Nutzen sein könntest«.

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»Was die Meinigen anbelangt,« antwortete jener,»so habe ich wenig Sorge um sie, da ich glaube,meine Pflichten gegen sie leidlich erfüllt zu haben.Denn von meinem Besitzthum, das Andere erst imAlter und Siechthum, weil sie es nicht länger festhal-ten können, und auch dann noch ungerne abtreten,habe ich mich schon im gesunden und kräftigen Alter,ja schon in der Jugend zu Gunsten von Verwandtenund Freunden getrennt, die ich durch meine Mildthä-tigkeit zufrieden gestellt zu haben glaube, und dienicht überdies von mir verlangen und erwarten dürf-ten, daß ich mich ihres Vortheiles halber in die Skla-verei von Königen begebe.«

»Schön gesagt«, versetzte Peter darauf, »abermeine Meinung ist nicht, daß du den Königen dienen,sondern daß du ihnen Dienste leisten sollst«.

»Das ist bloß eine etwas längere Ausdrucksweisefür dienen,« versetzte Jener.

»Aber ich meine«, erwiderte Peter, »welchenNamen du der Sache auch geben magst, das sei gera-de der Weg, auf dem du nicht nur andere Privatperso-nen, sondern auch das Gemeinwesen fördern unddeine eigene Lage glücklich gestalten kannst«.

»Glücklicher meine Lage durch Mittel und Wegegestalten, von denen sich mein Gemüth zurückgesto-ßen fühlt? Wenn ich jetzt nach meinem freien Willenlebe, so glaube, so vermuthe ich, daß dieses Loos den

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wenigsten Purpurträgern zu Theil wird. Gibt es dochgenug Solcher, die um die Freundschaft der Machtha-ber werben, so daß es für diese jedenfalls keinen gro-ßen Verlust zu bedeuten hat, wenn sie meiner oderdas einen oder andern mit mir Gleichgesinnten ent-behren.«

»Dann, Raphael«, sagte ich, »ist es klar, daß duweder nach Reichthümern noch nach Macht verlangst,und ich verehre einen Menschen von deiner Gesin-nung nicht weniger, als Einen, der die höchste Macht-fülle im Staate in Händen hält. Immerhin scheint esmir eine eines so edlen und wahrhaft philosophischenGeistes würdige Sache zu sein, auch mit theilweiserAufopferung deines persönlichen Wohlseins, deinenGenius und deinen Fleiß zum Besten des Gemein-wohls auszubieten, und das würde dir auf keine voll-kommenere Weise gelingen, als dadurch, daß du alsBeirath mächtigen Fürsten ihm, woran gar nicht zuzweifeln ist, nur Gerechtes und Ehrenhaftes beibräch-test. Denn vom Fürsten gehen gute wie üble Wirkun-gen wie von einer nieversiegenden Quelle aus undströmen ins Volk. Deine Gelehrsamkeit ist eine so un-bedingte, daß du auch ohne Geschäftspraxis einenvorzüglichen Rathgeber für jeden beliebigen Königabgeben würdest.«

»Du befindest dich da in einem doppelten Irr-thum,« sagte jener, »lieber Morus, erstens hinsichtlich

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meiner, sodann hinsichtlich der Sache. Denn ich be-sitze die Begabung nicht, die du mir zuschreibst,wenn ich sie aber auch im höchsten Maße besäße, sowürde ich doch, wenn ich auch meine Ruhe und Mußegänzlich opferte, die Sache des Gemeinwesens nichtfördern. Denn erstens beschäftigen sich die meistenFürsten lieber mit militärischen Studien (worin ichKenntnisse weder besitze, noch zu besitzen wünsche)als mit den heilsamen Wünschen des Friedens. Vielwichtiger ist ihnen das Bestreben, aus rechtem oderunrechtem Wege sich neue Reiche zu erwerben, alsdie erworbenen gut zu regieren.

Uebrigens gibt es keinen Rathgeber der Könige,der nicht entweder selbst so weise ist, oder wenig-stens sich so weise dünkt, daß er den Rath eines ande-ren Mannes billigt, außer daß sie in abgeschmackte-ster Weise denjenigen schmeicheln, die in der höch-sten Gunst des Fürsten stehen, oder durch Zustim-mung sich dieselbe zu verdienen trachten. Und in derThat ist es nur natürlich, daß die Menschen in dieEinfälle ihres eigenen Geistes verliebt sind. DenRaben und den Affen dünken ihre Jungen auch dieschönsten Geschöpfe.

Wenn nun in einer solchen Gesellschaft, in der dieEinen die Gedanken anderer Leute verachten, die An-dern ihre eigene Meinung obenan stellen, irgend je-mand etwas vorbrächte, wovon er gelesen, daß es

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weiland so gehalten worden, oder was er selbst ander-wärts bethätigt gesehen, so thun Jene so, als ob ihreganze Weisheit Gefahr liefe und sie fortan nur fürDummköpfe gelten würden, wenn es ihnen nicht ge-länge, an den Gedanken und Rathschlägen Anderer zukritteln und zu mäkeln. Wenn alles Andere versagt,nehmen sie ihre Zuflucht dazu, daß sie sagen: ›So hates unseren Vorfahren beliebt; wollte Gott, daß wirihnen an Weisheit gleichkämen‹. Und dann (wenn siesich so im Rathe erhoben) setzen sie sich wieder nie-der, als ob die Sache damit gründlich erörtert und ab-gethan sei. Als ob es die größte Gefahr mit sich brin-ge, wenn einmal Einer in irgend etwas klüger erfun-den wird, als seine Vorfahren! Und doch sind wir esvoll Gleichmuth zufrieden, daß ihre weisesten Rath-schlüsse unausgeführt bleiben, und wenn in einer An-gelegenheit eine bessere Maßregel hätte getroffenwerden könen, so ergreifen wir begierig die Gelegen-heit, unsern Tadel anzubringen. So bin ich gar häufigandernorts auf hochmüthige, alberne, grillenhafte Ur-theile gestoßen, einmal auch in England.«

»So warst du, bitte, auch in England?« fragte ich.»Ja,« sagte er, »ich habe mich einige Monate dort

aufgehalten, nicht lange nach der kläglichen Niederla-ge, mit welcher der Bürgerkrieg der Westengländergegen den König unterdrückt worden ist.«

Während der Zeit war ich dem hochehrwürdigen

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Vater Johannes Morton, Kardinal-Erzbischof vonCanterbury, zur Zeit auch Kanzler von England, zugroßem Danke verpflichtet, einem Manne, lieberPeter, [dem Morus sage ich damit nichts Neues] nichtweniger verehrungswürdig durch Weisheit und Tu-gend als durch hohe Stellung. Er war von mittlererStatur, die Last der Jahre beugte ihn nicht, sein Ant-litz ehrwürdig, im Umgange ist er nicht schwierig,doch von ernstem Wesen. Er liebte es zuweilen, Bitt-steller durch einen rauhen Anstrich, aber harmlos, aufdie Probe zu stellen, wie weit ihre Geistesgegenwartund ihr Freimuth gehe, und war darüber, wenn nurkeine Frechheit dabei war, als über etwas seiner NaturVerwandtes entzückt. Einen solchen wählte er gernfür einen Staatsdienstposten. Seine Rede war fein undmarkig, seine Rechtskenntniß groß, seine Geistesan-lage unvergleichlich, sein Gedächtniß fabelhaft. Diesevon Natur hervorragenden Gaben hatte er durch Stu-dium und Praxis noch weiter ausgebildet. Auf dessenRath schien mir der König viel zu geben und sich aufihn zu stützen, denn er war in frühester Jugend vonder Schule weg an den Hof gezogen und durch alleLebensalter in den wichtigsten Staatsgeschäften undin den mannigfaltigsten Brandungen des Schicksalsunaufhörlich hin- und hergeworfen worden und hatteso praktische Weltkunde unter vielen und großen Ge-fahren sich angeeignet, und die so erworbene haftet

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unverlierbar.-Als ich eines Tages bei ihm zu Tische war, war

auch ein eurer Gesetze kundiger Mann aus dem Lai-enstande zugegen, der aus irgend einem mir unbe-kannten Anlasse jene stramme Justiz zu loben be-gann, die damals dort zu Lande eifrigst gegen dieDiebe gehandhabt wurde, die, wie er erzählte, meistzu zwanzig an's Kreuz geheftet wurden. Er sagte, erwundere sich nicht wenig, daß es, obwohl nur Wenigeder Todesstrafe entgingen, doch allerorten von Diebenwimmle.

Da nahm ich das Wort - denn ich durfte beim Kar-dinal frei reden - und sagte: »Du darfst dich mit nich-ten wundern, wenn diese Bestrafung der Diebe über-schreitet die Grenze der Gerechtigkeit und ist für dasGemeinwohl nicht ersprießlich. Zur Sühne des Dieb-stahls ist sie nämlich zu grausam und zu seiner Ver-hinderung doch ungenügend. Der einfache Diebstahlist doch kein so ungeheures Verbrechen, daß er mitdem Kopfe gebüßt werden muß, noch ist andrerseitseine Strafe so schwer, daß sie vom Stehlen Diejenigenabhielte, die sonst keinen Lebensunterhalt haben. Indieser Beziehung scheint nicht nur Ihr, sondern diehalbe Welt jenen schlechten Schullehrern nachzuah-men, die ihre Schüler lieber mit der Ruthe züchtigenals unterrichten. Schwere, schauerliche Strafen sindfür die Diebe festgesetzt worden, während doch eher

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Vorsorge zu treffen gewesen wäre, daß Einer nicht indie harte Nothwendigkeit, zu stehlen, versetzt werdeund dann infolge dessen sterben zu müssen.«

»Dafür,« versetzte Jener, »ist genügend gesorgt, esgibt Handwerke, es gibt den Ackerbau, mittels derendas Leben gefristet werden kann, wenn die Leutenicht vorsätzlich schlecht sein wollten.«

»Damit entschlüpfst du mir nicht«, erwiderte ichdarauf. »Sehen wir vorerst von Jenen ab, die aus aus-wärtigen oder aus Bürgerkriegen verstümmelt heim-kehren, wie neulich bei Euch aus der Schlacht vonCornwall, oder kurz zuvor aus dem gallischen Krieg,die ihre gesunden Gliedmassen für den König oderdas Gemeinwohl in die Schätze schlagen und ihrenfrüheren Beruf wegen Invalidität nicht mehr ausüben,und wegen vorgerückten Alters einen neuen nichtmehr erlernen können - von Diesen also wollen wirabsehen, da Kriege nur nach gewissen Zwischenräu-men eintreten. Fassen wir vielmehr die täglichen Vor-kommnisse ins Auge. Die Zahl der Adeligen ist gargroß, die nicht nur selbst im Müssiggange von derArbeit Anderer wie Drohnen leben, sondern die Land-bebauer ihrer Güter der zu erhöhenden Renten wegenbis auf's Blut schinden. Dies ist die einzige Art vonSparsamkeit, die sie kennen, diese Menschen, die inanderer Hinsicht verschwenderisch bis zum Bettelsta-be sind; auch umgeben sie sich mit einem ungeheuren

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Schwarm müssiger Gefolgschaft, die keine nützlicheKunst, das Leben zu fristen, erlernt hat. Diese Leutewerden, wenn ihr Herr stirbt oder sie selbst erkran-ken, von Haus und Hof getrieben, denn lieber willman Müssiggänger ernähren, als Kranke, und oft istder Erbe des Sterbenden auch nicht im Stande, denväterlichen Haushalt aus gleichem Fuße fortzuführen.Inzwischen hungern sich diese Leute ab, wenn sienicht das Herz haben zu stehlen. Denn was sollen siethun? Wenn sie nämlich durch Umherirren nach eini-ger Zeit Kleider und Gesundheit vernutzt haben, ver-schmähen es die Adeligen, die durch Krankheit Ver-unreinigten in fadenscheinigen Gewändern aufzuneh-men, und die Bauern wagen es nicht, ihnen Arbeit zugeben, da sie recht gut wissen, daß ein reichlich inMuße und im Genusse Aufgewachsener, der nur ge-lohnt ist, mit Schwert und Schild trotzigen Blickeseinherzuschreiten und rings um sich Alle zu verach-ten, nicht geeignet ist, mit Spaten und Haue um elen-den Lohn und dürftige Beköstigung einem Armen treuzu dienen«.

»Gerade diesen Menschenschlag,« versetzte Jener,»müssen wir vor allem pflegen. Denn in ihnen, denenhöherer Geistesschwung und mehr Kühnheit eignet,als den Handwerkern und Ackerbauern, besteht dieKraft des Heeres, wenn es gilt, sich im Kriege zuschlagen.«

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»Fürwahr«, erwiderte ich, »gerade so gut kannst dusagen, die Diebe seien zu hegen, deren ihr zweifellosnie ermangeln werdet, so lange ihr Diese habt. Denndie Diebe sind keine schlaffen Soldaten und die Sol-daten des Stehlens nicht eben unkundig. Die beidenGewerbe stimmen gut zusammen.

Aber so geläufig euch dieser Makel ist, ist er euchdoch nicht eigenthümlich: er ist fast allen Völkern ge-meinsam. Von einer noch verderblicheren Pest istGallien heimgesucht. Das ganze Land ist auch imFrieden - wenn dort Friede ist - von Soldaten ange-füllt und belagert, aus demselben Grund, aus dem ihrglaubtet, diese Dienstmannen ernähren zu müssen,weil es nämlich den verrückten Staatsweisen geschie-nen hat, das Staatswohl bestehe darin, daß immer einestarke verläßliche Besatzung in Bereitschaft sei, ins-besondere von altgedienten Soldaten, da man zu Re-kruten gar kein Vertrauen hat. So daß der Krieg nurentfacht werde, um kriegskundige Soldaten zu haben,im Abschlachten erprobt, damit ihnen nicht (wie Sal-lust treffend sagt) Hand und Sinn in Mußezeiten er-lahme. Wie gefährlich es aber ist, auf diese Weisewilde reißende Thiere aufzuziehen, das hat Frankreichzu seinem eigenen Schaden kennen gelernt, und dieBeispiele der Römer, Karthager, Syrier und vielerVölker bezeugen es deutlich, weil ihre stets schlagfer-tigen Heere nicht nur das Reich im Ganzen, sondern

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auch die Aecker und Städte bei einer Gelegenheit überder andern urplötzlich verwüstet haben.

Wie das durchaus nicht nöthig ist, erhellt daraus,daß nicht einmal die französischen Soldaten, die vonden Kinderschuhen aus in den Waffen höchst geübtsind, sich nicht oft rühmen können, aus dem Zusam-mentreffen mit den rasch improvisirten eurigen alsSieger hervorgegangen zu sein, um nicht mehr zusagen, damit es nicht den Anschein habe, ich wolleden Anwesenden schmeicheln. Aber man nimmt an,daß weder eure städtischen Handwerker, noch die rau-hen ländlichen Feldbebauer die müssiggehenden Ge-folgsmannen der Adeligen besonders fürchten, außeretwa diejenigen, deren Statur und Körperkräfte ihremMuthe nicht gleichkommen, oder deren geistigeSchwungkraft durch häusliche Noth gebrochen ist; soist auch keine Gefahr vorhanden, daß ihre kräftigenund gesunden Körper (denn der Adel hält es nur derMühe werth, auserlesene Gestalten herunterzubrin-gen) durch Muße und Nichtsthun verweichlicht wer-den, wenn sie ein gediegenes Handwerk, das ihnenden Lebensunterhalt verbürgt, erlernen; oder durch zuleichte, nur für Weiber geeignete Arbeit von Kräftenkommen, oder unfähig werden, Strapazen zu ertragen.

Wie sich das nun auch verhalten mag, so scheint esmir nicht einmal für den Fall eines Krieges - den ihrübrigens, wenn ihr nicht wollt, nicht zu haben

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braucht - dem Gemeinwohl zuträglich zu sein, einenunendlichen Schwarm solcher Leute zu ernähren, weiles dem Frieden Abbruch thut, dem man doch so vielmehr Pflege zuwenden sollte, als dem Kriege. - Aberdas ist keineswegs die einzige Ursache der Diebstäh-le; es gibt vielmehr nach meiner Meinung noch eine,die euch eigenthümlich ist«.

»Und diese ist?« fragte der Kardinal.»Eure Schafe«, sagte ich, »die so sanft zu sein und

so wenig zu fressen pflegten, haben angefangen so ge-fräßig und zügellos zu werden, daß sie die Menschenselbst auffressen und die Aecker, Häuser, Familien-heime verwüsten und entvölkern. Denn in jenen Ge-genden des Königreichs, wo feinere, daher theurereWolle gezüchtet wird, sitzen die Adeligen und Präla-ten, jedenfalls sehr fromme Männer, die sich mit denjährlichen Einkommen und Vortheilen nicht begnü-gen, die ihnen von ihren Voreltern aus den Landgü-tern zugefallen sind, nicht zufrieden, in freier Mußeund im Vergnügen leben zu können, ohne dem Ge-meinwohl zu nützen, dem sie sogar schaden; sie las-sen dem Ackerbau keinen Boden übrig, legen überallWeideplätze an, reißen die Häuser nieder, zerstörendie Städte und lassen nur die Kirchen stehen, um dieSchafe darin einzustallen, und als ob euch die Wild-gehege und Parke nicht schon genug Grund undBoden wegnähmen, verwandeln jene braven Männer

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alle Wohnungen und alles Angebaute in Einöden. Soumgibt ein einziger unersättlicher Prasser, ein scheuß-licher Fluch für sein Vaterland, einige tausend zusam-menhängende Aecker mit einem einzigen Zaun, dieBodenbebauer werden hinausgeworfen, entweder ge-waltsam unterdrückt oder mit List umgarnt, oder,durch allerlei Unbilden abgehetzt, zum Verkauf ge-trieben. So oder so wandern die Unglücklichen aus,Männer, Weiber, Kinder, Ehemänner und Gattinnen,Waisen, Wittwen, Mütter mit kleinen Kindern, miteiner zahlreichen dürftigen Familie, da der Ackerbauvieler Hände bedarf - sie wandern aus, sage ich, ausihren altgewohnten Heimstätten, und finden keinschützendes Obdach; ihren ganzen Hausrath, für denohnehin nicht viel zu erzielen ist, müssen sie, da sieausgetrieben werden, für ein Spottgeld hergeben, undwenn sie dann diesen Erlös binnen Kurzem bei ihremHerumschweifen aufgebraucht haben, was bleibtihnen schließlich übrig, als zu stehlen und danach vonRechtswegen gehängt zu werden, oder als Bettler sichherumzutreiben? Dann werden sie als Landstreicherin's Gefängniß geworfen wegen müssigen Herumtrei-bens, während sie doch Niemand in Arbeit nehmenwill, obwohl sie sich höchst begierig anbieten. Dennwo nicht gesäet wird, da ist es mit dem Ackerbaunichts, den sie doch allein erlernt haben. Ein einzigerSchaf- oder Rinderhirt nämlich genügt, das Land von

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den Schafen abweiden zu lassen, das mit Sämereienzu bestellen viele Hände erforderte.

Aus diesem Grunde sind auch die Lebensmittel anvielen Orten bedeutend theurer. Ueberdies ist derPreis der Wolle so gestiegen, daß die ärmeren Tuch-macher sie nicht mehr kaufen können und aus diesemGrunde großentheils zum Müssiggang verurtheiltwerden.

Nach dieser Vermehrung der Weiden raffte eineSeuche zahllose Schafe dahin, als ob Gott für dieHabgier der Herren ein Strafgericht über sie habe ver-hängen wollen und ein großes Sterben über ihreSchafherden gesendet habe, das er gerechter über ihreeigenen Häupter hätte ergehen lassen.

Wie sehr auch die Zahl der Schafe zunimmt, diePreise gehen doch nicht herunter, weil, wenn manauch nicht von einem Monopol reden kann, der Han-del (mit Wolle) doch nur in den Händen weniger Rei-chen concentrirt ist, die keine Nothwendigket früherzu verkaufen zwingt, als es ihnen beliebt, und es be-liebt ihnen nicht, bevor sie nicht nach Belieben ver-kaufen können.

Aus demselben Grunde sind die Thiere der übrigenGattungen gleichmäßig theuer, und zwar um so mehr,weil es nach der Zerstörung der Dörfer und dem Ver-fall der Landwirthschaft keine Leute gibt, die sich mitder Aufzucht des Viehes beschäftigen. Denn für

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junges Rindvieh sorgen die Reichen nicht in gleicherWeise wie für Nachwuchs an Schafen. In der Fernekaufen sie solches spottbillig auf und wenn sie es aufihren Weiden gemästet haben, verkaufen sie es theuer.Ich vermuthe daher, daß das ganze hieraus fließendeUngemach noch nicht zum Bewußtsein gekommen ist.Denn zunächst erzeugen sie blos an jenen OrtenTheuerung, wo sie verkaufen; da sie aber das Viehdort, wo sie es kaufen, schneller wegführen, als essich durch Nachwuchs vermehren kann, so nimmt esdaselbst allmählich ab und es muß auch dort drücken-der Mangel entstehen.

So wird gerade der Umstand, der das Hauptglückeurer Insel zu bilden schien, durch die unverantwortli-che Habgier Weniger in sein Gegentheil verkehrt.Denn die Theuerung der Lebensmittel ist die Ursachedavon, daß jeder so viele Leute als möglich aus sei-nem Haushalte entläßt. Wohin aber muß das führen,wenn nicht zum Bettel, oder, bei herzhafteren Natu-ren, zum Diebstahl?

Zu solcher Armuth und Noth gesellt sich anderer-seits aufdringlicher Luxus. Nicht nur die Dienerschaftder Adeligen und die Handwerker, sogar schon dieBauern und alle übrigen Stände treiben unverschäm-ten Aufwand in der Kleidung und huldigen der Uep-pigkeit in den Lebensmitteln. Wenn durch Kneipenle-ben, Bordelle, liederliche Wein- und Bierhäuser, so

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und so viele wenig ehrenhafte Spiele, wie Würfel-und Karten-, Ball-, Kugel- und Wurfscheibenspielihre Geldmittel nur zu schnell erschöpft sind - wohinsoll das die solchen Passionen Fröhnenden andersführen, als zum Diebstahl?

Diese Pestbeulen entfernt von eurem Leibe; machtein Gesetz, daß die Dörfer und ackerbautreibendenStädte von Jenen wieder hergestellt werden müssen,die sie zerstört haben, oder daß sie sie Solchen abtre-ten, die sie wieder herstellen und aufbauen wollen.Dämmt diese Aufkäufe der Reichen ein, die ihnen dieMöglichkeit gewähren, ein Monopol auszuüben. Essollen sich weniger und immer weniger Leute vomMüssiggange ernähren können; der Ackerbau werdewieder eingeführt, die Wollindustrie wieder blühendgemacht, man schaffe ehrlichen Erwerb, der jener ar-beitslosen Menge nützliche Beschäftigung bietet, diedie Noth bisher zu Dieben machte, und jenen umher-schweifenden, stellenlosen Dienern, die bald zu Die-ben werden müssen.

Wofern ihr nicht diesen Uebeln steuert, rühmt ihrvergeblich eure zur Sühne des Diebstahls gehandhab-te Rechtspflege, die mehr scheinprächtig als gerechtund heilsam ist. Wenn ihr eine schlechte Erziehunggeben und die Sitten von den zartesten Jahren an all-mählich verderben lasset, dann, wenn sie endlichMänner geworden sind, jene Verbrechen bestraft, die

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zu begeben sie von Kindheit auf in Aussicht gestellthaben - was thut ihr da anders, frage ich, als Diebeheranbilden und sie dann mit der Schärfe des Geset-zes treffen?«

Während ich so sprach, hatte sich jener Rechtsge-lehrte zur Antwort fertig gemacht und bei sich be-schlossen, sich jener feierlichen Weise der Disputiren-den zu bedienen, die wackerer wiederholen als ant-worten, indem sie ein gutes Gedächtniß für besonderspreiswürdig ansehen. »Wahrlich, du hast gut gespro-chen,« sagte er, »da du nämlich ein Fremder bist, dervon diesen Dingen eher etwas hören als gründlichverstehen kann, was ich sofort mit wenigen Wortenklar legen werde. Zuerst werde ich noch einmal durch-nehmen, was du vorgebracht hast, sodann werde ichzeigen, wie dich die Unkenntniß unserer Verhältnisseirregeführt hat, zuletzt werde ich nacheinander alledeine Gründe widerlegen und zunichte machen.

Also ich gehe von dem ersten Theile meines Ver-sprechens aus; du scheinst mir vier -«

»Halt«, sagte der Kardinal; »es dünkt mich, derje-nige werde nicht eine kurze Antwort geben, der so an-fängt. Daher überheben wir dich für jetzt einer Beant-wortung, die wir aber gleichwohl für eure nächste Zu-sammenkunft aufsparen wollen, die ich gern (wenn duoder Raphael nicht verhindert ist) für morgen anset-zen möchte. Inzwischen aber möchte ich von dir,

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lieber Raphael, gar gerne hören, warum der Diebstahlnach deiner Meinung nicht mit dem Tode zu bestrafensei und was für eine andere Strafe du statuirst, diesich dem Gemeinwohl zuträglicher erweist, denn daßer zu dulden sei, das meinst auch du nicht. Wenn aberjetzt nicht einmal der Tod vom Stehlen abhalten kann,welches Schreckmittel vermochte sich, ist die Sicher-heit des Lebens erst einmal gewährleistet, gegen dieVerbrecher noch wirksam erweisen, die die Auffas-sung bekunden würden, die Milderung der Strafe seieine Art Ermunterung zum Verbrechen?«

»Sicherlich, ehrwürdigster Vater,« erwiderte ich,»halte ich die Entziehung des Lebens für die Entzie-hung von Geld für geradezu ungerecht. Es ist meineMeinung, daß sämmtliche Glücksgüter das menschli-che Leben nicht aufwiegen können. Wenn man abersagte, daß die verleite Gerechtigkeit, die übertretenenGesetze durch diese Strafe gesühnt werden sollen, undnicht die Entwendung des Geldes, - warum sollte die-ses höchste Recht nicht mit Fug höchstes Unrecht ge-nannt werden? Denn weder ist jene Manlische Strengeder Gesetze zu billigen, daß in den leichtesten Fällendas Schwert ohne Nachsicht zu ziehen sei, noch jenestoïsche Unbeugsamkeit daß alle Vergehen gleich ge-achtet werden, als ob es keinen Unterschied mache,ob Einer Einen todtschlage, oder ihm blos Geld ent-wende, Vergehen, die, wenn die Billigkeit mehr als

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leerer Schall ist, nicht die geringste Aehnlichkeit undVerwandtschaft mit einander haben. Gott hat verbo-ten, irgend einen Menschen zu tödten, und wir tödtenso mir nichts dir nichts wegen einer erbärmlichenSumme entwendeten Geldes?

Wenn Einer etwa die Auslegung anwenden wollte,durch jenes Gebot Gottes sei das Tödten verboten, in-soferne nicht das irdische Gesetz das Tödten erlaubt -was hindert dann, daß die Menschen unter einanderfestsetzen, in wie weit Nothzucht, Ehebruch, Meineidzu erlauben sei? Wenn nun, da Gott verboten hat,nicht nur fremdes, sondern auch das eigene Leben zunehmen, die Menschen durch Uebereinkunft untersich mittels gewisser gesetzlicher Abmachungen fest-setzten, sich gegenseitig umzubringen, so müßte dasdie Geltung haben, daß diese sich untereinander mor-denden Spießgesellen von dem göttlichen Verboteausgenommen sind, weil ein menschliches Gesetzihrer Tödtung die Sanction ertheilt, und müßte dasgöttliche Recht einem solchen Pakte zufolge nichtblos so viel Geltung haben, als ihm das menschlicheRecht zu haben verstattet? Und so würde es nachAnalogie dieses Falles sich begeben, daß die Men-schen in allen Angelegenheiten statuiren, in wie weitman es passend finde, die göttlichen Gebote zu beob-achten. Kurz und gut: sogar das Mosaische Gesetz,obwohl rauh und unbarmherzig, gegen Sklaven und

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Verstockte erlassen, hat den Diebstahl nur mit Geld,nicht mit dem Tode bestraft. Glauben wir doch nicht,daß Gott unter dem neuen Gesetze der Milde, mit demer uns, seine Kinder, regiert, eine größere Freiheit ge-währt habe, gegen einander zu wüthen.

Aber, daß es nichtsdestoweniger unsinnig und fürdas Staatswesen verderblich sei, einen Dieb und einenMörder gleichmäßig zu bestrafen, das, glaube ich,weiß ausnahmslos jedermann. Denn, wenn dem über-füllten Diebe nicht geringere Strafe droht, als wenn erüberdies des Mordes angeklagt wäre, so wird er jadurch diese eine Erwägung schon zum Morde dessenangereizt, den er sonst blos beraubt haben würde, daer ja, außer dem, daß ihm bei seiner Ergreifung keinegrößere Gefahr droht, sogar im Falle der Ermordungdes Bestohlenen sicherer geht, indem die Hoffnungauf Verheimlichung der Missethat wächst, wenn der-jenige, der als der Betroffene den Hauptzeugen hätteabgeben können, beseitigt ist. Während wir die Diebealso durch allzustrenge Maßregeln einzuschüchterntrachten, verlocken wir sie, sich am Leben braverMenschen zu vergreifen. Nun ist aber meiner Mei-nung nach die Fragen welche Bestrafung ist besser?viel leichter zu lösen, als die, welche schlechter sei.Denn warum bezweifeln wir, daß derWeg zur Be-strafung von Verbrechen der praktischeste sei, deneinst, wie wir wissen, die Römer so lange beliebt

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haben, die doch in der Staatsverwaltung die meisteErfahrung hatten? Sie verurtheilten nämlich schwereVerbrecher in die Steinbrüche und Erzgruben, wo sienach Metallen schürfen mußten, woselbst sie zeitle-bens Ketten zu tragen hatten.

Uebrigens billige ich in dieser Beziehung keineEinrichtung eines Volkes mehr, als jene, die ich wäh-rend meiner Reisen in Persien bei den Polyleriten, wiesie gewöhnlich genannt werden, getroffen habe, einernicht kleinen Völkerschaft mit vernünftigen Einrich-tungen, die außer einem jährlich dem Perserkönig ge-zahlten Tribut sonst frei ist, und unter eigenen Geset-zen steht. Da sie aber weit von der See abliegen, fastringsum von hohen Bergen eingeschlossen sind, undmit den Erzeugnissen ihres Landes in jeder Beziehungsich begnügen, mit anderen Völkern nicht oft in Be-rührung kommen, sei's, daß sie zu diesen, sei's, daßdiese zu ihnen kämen, da sie nach alter Volkssittenicht danach trachten, ihre Grenzen zu erweitern, undihre natürliche vor jedem Angriffe durch Gebirgeleicht geschützt wird, der Tribut, den sie dem Mächti-gen entrichten, sie von jedem Kriegsdienste befreit, soleben sie behaglich in guten Verhältnissen, mehrglücklich als ritterlich oder berühmt, denn ich ver-muthe, sie sind, außer bei ihren nächsten Grenznach-barn, kaum dem Namen nach bekannt.

Bei ihnen nun müssen die überführten Diebe das

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Gestohlene dem Eigenthümer zurückgeben, nicht, wiein andern Ländern, dem Könige, der, wie sie meinen,gerade so viel Unrecht auf die gestohlene Sache hat,als der Dieb selber. Ist aber die Sache zu Grunde ge-gangen, so wird der Werth derselben aus dem Besitz-thum der Diebe dem Bestohlenen bezahlt, alles Uebri-ge läßt man der Frau und den Kindern des Diebes, sieselbst aber werden zu öffentlichen Arbeiten verur-theilt, und wenn der Diebstahl nicht unter Anwendungvon Gewalt beruht worden ist, wirft man sie weder insGefängniß noch in Ketten, sondern sie gehen bei denArbeiten durchaus frei einher. Die Widerspenstigenund träge sich Gehabenden werden weniger durchFesseln gehindert, als durch Schläge angetrieben.Wenn sie die Arbeit wacker fördern, erfahren siekeine Schelt- oder Tadelworte, nur zur Nachtzeit wer-den sie unter Namensaufruf kontrollirt und in ihrenSchlafräumen eingeschlossen. Außer der unausgesetz-ten Arbeit erleiden sie keinerlei Ungemach. Ihre guteErnährung erfolgt, da sie in öffentlichen Diensten Ar-beit verrichten, von Staatswegen, anderswo anders.Hier und da wird nämlich durch Almosen für sie ge-sammelt, und obwohl diese Art und Weise einigerma-ßen unsicher ist, fällt die Beköstigung der Sträflingeimmer noch reichlicher als sonst irgendwo aus, dadieses Volk sehr mildthätig ist. Es gibt auch Gegen-den, wo männiglich einen Beitrag zu diesem Zwecke

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abgibt. An einigen Orten verrichten sie auch keine öf-fentliche Arbeit, sondern, wenn ein Privatmann Ar-beitskräfte braucht, so geht er auf das Forum und mie-thet sich Leute für den Tag, für einen um ein Wenigesgeringeren Lohn, als ein freier Mann bekäme. Es isterlaubt, die Trägheit eines solchen Mannes mit Strafezu züchtigen. So fehlt es diesen Leuten nie an Arbeit,und außer daß sie ihren Lebensunterhalt verdienen,können sie noch täglich eine Kleinigkeit an denStaatsschatz abgeben. Sie sind alle gleichmäßig indieselbe Farbe gekleidet; das Haupthaar wird ihnennicht geschoren, außer ein klein wenig über denOhren, deren eines ein bischen gestutzt wird. Speiseund Trank darf Jeder von seinen Freunden annehmenund ein Kleid seiner Farbe; auf der Annahme wie aufder Schenkung von Geld steht für beide Theile Todes-strafe; nicht minder gefährlich ist es auch für einenFreien aus irgend einem Grunde von einem Ver-urtheilten Geld anzunehmen, sowie für die Sklaven -so werden die Verurtheilten genannt - Waffen anzu-rühren. In jedem Landstrich werden sie durch ein ei-genes Zeichen unterschieden, das abzulegen ein todes-würdiges Verbrechen ist, ebenso, wenn Einer außer-halb der Grenzen seines Landstriches erblickt odermit einem Sklaven eines andern Landstriches spre-chen gesehen wird. Geplante Flucht wird der wirkli-chen gleichgerechnet. Mitwisser eines solchen Plans

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zu sein, bedeutet für einen Sklaven den Tod, für denFreien Sklaverei. Für die Angeber sind Prämien aus-gesetzt, Geld für einen Freien, die Freiheit für einenSklaven und Vergebung und Straffreiheit für beide, sodaß die Verfolgung eines bösen Planet nie mehr Si-cherheit bringt als Reue über denselben.

Diese Institutionen und Gesetze bestehen hinsicht-lich des Diebstahls; wie human und von wie prakti-schem Nutzen sie sind, ist leicht zu sehen. Die Schär-fe des Gesetzes bezweckt nur die Vernichtung derVerbrechen, aber die Schonung der Menschen, die sobehandelt werden, daß sie sich bessern müssen undden Schaden, den sie einst angestiftet haben, ihr gan-zes Leben lang gut zu machen gehalten sind. Und sowenig Furcht besteht, daß sie in ihren früheren Le-benswandel zurückfallen, daß die Wanderer, die eineReise irgendwohin vorhaben, sich gar keine sichere-ren Führer nehmen zu können vermeinen, als dieseSklaven, die sie von einem Landstrich zum andernwechseln. Sie sind nämlich einen Diebstahl zu bege-hen gerade am wenigsten in der Lage. Waffen dürfenihre Hände nicht führen, bei ihnen gefundenes Geldwürde sofort zum Verräther ihres Verbrechens wer-den, des Ertappten wartet die sichere Strafe und jedeHoffnung auf Flucht in irgend einer Richtung istrundweg abgeschnitten. Wie sollte er seine Flucht be-mänteln, er, der in jedem Kleidungsstücke vom

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ganzen Volke sich unterscheidet, wenn er nicht gera-dezu nackt davonliefe? Dann wird ihn aber immernoch das abgestutzte Ohr verrathen. Auch ist keineGefahr vorhanden, daß sie eine Verschwörung gegenden Staat verabreden, denn es wäre aussichtslos, aufeine solche zu hoffen, da dazu die Sklaven vielerLandstriche in Bewegung gesetzt und angeworbenwerden müßten, die von der Möglichst einer Ver-schwörung so weit entfernt sind, daß sie ja nicht ein-mal zusammenkommen, mit einander reden oder sichgegenseitig begrüßen dürfen. Und wie sollten sieglauben, sich einander anvertrauen zu dürfen, da siewissen, daß das Verschweigen einer Heimlichkeit ge-fahrdrohend, das Verrathen derselben ihnen von größ-tem Nutzen ist? Andererseits ist keiner von ihnen derHoffnung gänzlich bar, durch Gehorsam, geduldigesAusharren und dadurch, daß sie für die Zukunft einegebesserte Lebensführung erwarten lassen, sich dieMöglichkeit offen zu halten, dereinst die Freiheit wie-der zu erlangen. Da kein Jahr vergeht, daß nicht Die-ser und Jener in den vorigen Stand eingesetzt wird,indem ihr geduldiges Abwarten ihnen zur vortheilhaf-ten Empfehlung gereichte. -

Als ich so gesprochen und hinzugesetzt hatte, ichsähe keinen Grund ein, warum es nicht auch in Eng-land so gehalten werden könne, und zwar mit vielbesserem Erfolge, als jene Art der Justizpflege, die

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jener Rechtsgelehrte so hoch gepriesen hatte, versetztedieser, der Rechtsgelehrte nämlich, ein derartiges Ver-fahren könne in England nie eingeführt werden, ohneden Staat an den Rand des Verderbens zu bringen.Und dazu bewegte er das Haupt hin und her, rümpftedie Lippen und dann schwieg er.

Und Alle, die zugegen waren, traten in seine Fuß-stapfen, d.h. seiner Meinung bei.«

Da sagte der Kardinal: »Es wäre wohl schwer zusagen, ob dieses System bei uns eingefüllt werdenkönnte, oder nicht, ohne einen Versuch damit gemachtzu haben. Wenn aber ein Todesurtheil gesprochen ist,könnte der Fürst Aufschub desselben gebieten unddiese Sitte könnte erprobt werden, nachdem die Privi-legien der Asyle aufgehoben worden, dann aber, wennsich die Sache durch den Erfolg als vortheilhaft her-ausstellt, wäre es richtig, sie einzuführen, im andernFalle möge die Todesstrafe an denen, die vorher zuihr verurtheilt worden, vollzogen werden; darin liegtnichts, was mehr oder weniger ungerecht wäre, alswenn der Vollzug sofort erfolgt, und daraus erwächstin der Zwischenzeit nicht die geringste Gefahr. Esscheint mir auch, daß gegen die Landstreicher auf die-selbe Weise recht gut vorgegangen werden könnte,gegen die wir bisher so viele Gesetze erlassen haben,ohne doch etwas ausgerichtet zu haben.«

Als der Kardinal das gesagt hatte, was sie, als ich

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Dasselbe vorgebracht hatte, nur geringschätzig ausge-nommen hatten, da überhäuften sie es Alle mit Lob-sprüchen, namentlich aber das von den Landstrei-chern, weil er das aus sich selbst hinzugefügt hatte.

Ich weiß nicht, ob ich das, was folgte, nicht besserverschwiege, es war nämlich lächerliches Zeug;gleichwohl will ich's erzählen; es war nämlich so übelnicht und gehörte einigermaßen zur Sache.

Es war ein schmarotzender Spaßmacher zugegen,der den Narren spielen wollte. Aber er spielte ihn so,daß er eher ein solcher im Ernste zu sein schien, undsuchte mit so frostigen Witzen Lachen zu erregen,daß öfter über ihn als über seine Witze gelacht wurde.Hier und da aber entschlüpfte ihm doch etwas nichtganz Albernes, so daß er das Sprichwort wahr mach-te: auch eine blinde Henne findet manchmal ein Gold-korn.

Als nun einer der Gäste sagte, ich hätte schon eingutes Mittel gegen die Diebe gefunden, und der Kar-dinal desgleichen eines gegen die Landstreicher, es er-übrige nur noch, daß für Diejenigen von der Allge-meinheit gesorgt werde, die durch Krankheit oderAlter unfähig geworden seien, ihren Lebensunterhaltzu erwerben und daher verarmt wären - da sagteJener: »Ueberlaß das nur mir, ich werde schon auchdarin nach dem Rechten sehen, denn ich wünschesehnlichst, daß diese Menschenklasse mir aus den

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Augen entschwinde, so haben diese Leute mich garoft mit ihren Wehklagen gepeinigt, wenn sie mich umGeld anbettelten, obwohl sie mir mit allen ihren Kla-gemelodien nie einen Heller entlocken konnten. Denneines von beiden war immer der Fall: entweder ichwollte nichts geben, oder es war mir nicht möglich,weil nichts zum geben da war. Jetzt sind sie dennauch klug geworden. Sobald sie meiner ansichtig wer-den, gehen sie stillschweigend an mir vorüber, umnicht Zeit und Mühe zu verlieren, da sie von mir nichtmehr zu hoffen haben, als von einem Priester. Ich ver-ordne, daß ein Gesetz entlassen werde, alle dieseBettler in die Benediktinerklöster zu vertheilen und zuLaienbrüdern zu machen. Die Weiber aber sollenNonnen werden.«

Der Kardinal lächelte und hieß den Scherz gut, dieAndern aber hielten ihn für Ernst.

Durch diesen Witz gegen die Priester und Mönche,wurde ein Frater, der Gottesgelehrter war, so aufge-heitert, daß er selbst zu scherzen anfing, obwohl ersonst ein Mann von einem fast düsteren Ernste war.»Selbst so«, sagte er, »wirst du von den Bettlern nochnicht loskommen, wenn du nicht zugleich für uns Fra-tres ein Auskommen schaffst.«

»Dafür ist schon gesorgt,« sagte der Schmarotzer,»denn der Kardinal hat die ausgezeichnete Verord-nung vorgeschlagen, daß die Strolche eingeschlossen

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und mit Arbeit versehen werden sollen, ihr aber seiddie größten Strolche.«

Auch diesen Witz nahm die Tafel, als man sah, daßder Kardinal keine Mißbilligung ausdrückte, beifälligauf, mit Ausnahme des Mönches. Denn dieser wurde,was kein Wunder, von solchem Essig beträufelt, un-willig und erglühte so in Zorn, daß er sich desSchimpfens nicht enthalten konnte, nannte den Men-schen einen Halunken, Verläumder, Ohrenbläser, einKind der Verdammniß, indem er zugleich fürchterli-che Drohungen aus der heiligen Schrift citirte.

Jetzt fing der Spaßmacher - im Ernste zu spassenan, und da war er in seinem Elemente. »Wolle dichnicht erzürnen, guter Bruder denn es steht geschrie-ben, ›In der Geduld liegt das Heil eurer Seelen‹«.

Darauf der Frater - ich führe seine eigenen Wortean - »Ich erzürne mich nicht, du Galgenstrick, oderwenigstens ich sündige nicht. Denn der Psalmist sagt:›Erzürnt euch und wollet nicht sündigen‹«.

Der Bruder Mönch wurde sodann vom Kardinalsanft ermahnt, seine Leidenschaft zu zähmen. »Nein,hochwürdiger Herr«, erwiderte jener, »ich spreche nurim berechtigtsten Eifer, wie ich muß; auch die heili-gen Männer hatten einen berechtigten Eifer, daherheißt es: ›Der Eifer deines Hauses verzehrt mich‹.Und in den Kirchen wird gesungen: ›Als Elisa schrittzum Haus Gottes, hörend hinter sich des Spottes

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Lachen, traf Kahlkopfs Zorn die Spötter‹, wie ihnvielleicht auch dieser Spötter, Hanswurst, Schuft nochfühlen wird«.

»Du handelst vielleicht im löblichen Eifer,« sagteder Kardinal, »aber mir will scheinen, du würdest,wenn nicht frömmer, so doch ganz gewiß klüger han-deln, wenn du dich nicht mit einem Narren messenund in einen lächerlichen Streit mit ihm einlassenwolltest.«

»O nein, hochwürdiger Herr, da thäte ich nicht klü-ger daran. Denn selbst der höchstweise Salomo sagt:›Antworte einem Thoren nach seiner Thorheit‹ wie ichjetzt thue und ihm die Grube zeige, in die er fallenwird, wenn er sich nicht wohl in Acht nimmt. Dennwenn die vielen Verspotter des Elisäus, der nur einKahlkopf war, den Zorn desselben zu fühlen beka-men, um wie viel mehr wird ein Spötter den Zorn vie-ler Mönche fühlen müssen, worunter viele Kahlköpfesind? Es gibt auch eine päpstliche Bulle, der zufolgeAlle, die uns verspotten, excommunicirt werden.«

Als der Kardinal merkte, daß kein Ende abzusehenwar, gab er dem Narren einen Wink, sich zu entfer-nen, lenkte das Gespräch auf ein anderes Thema undStand bald darauf vom Tische auf, seinen Schützlin-gen Audienz zu ertheilen, und entließ uns so. - -

Lieber Morus, ich habe dich mit einer gar langenErzählung behelligt, und ich hätte mich wahrhaftig

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geschämt, es zu thun, wenn du mich nicht dazu aufge-muntert und wirklich begierig geschienen hättest,jenes Gespräch bis auf die kleinsten Umstände zu er-fahren. Ich mußte das, wenn auch gedrängter, Alleserzählen, um das Urtheil derjenigen zu beleuchten,die, was ich vorbrachte, geringschätzig behandelten,dann aber, als unmittelbar darauf der Kardinal es bil-ligte, beifälligst beistimmten, so sehr beistimmten,daß sie sogar die Witze jenes Schmarotzers, die derKardinal Scherzes halber passiren ließ, mit Schmei-cheleien bedachten, und beinahe als trockenen Ernstnahmen. Daraus kannst du abnehmen, wie viel meineRathschläge bei den Hofleuten gelten würden.

»In der That, lieber Raphael,« erwiderte ich, »duhast mir einen großen Genuß bereitet, denn du hastdurchweg weise und zugleich in gefälliger Form ge-sprochen. Ich habe mich nicht nur ins Vaterland, son-dern durch die wohlthuende Erinnerung an jenen Kar-dinal, in dessen Palaste ich erzogen bin, gewisserma-ßen sogar in meine Knabenzeit zurückversetzt ge-fühlt, und du glaubst nicht, guter Raphael, wie vieltheurer du mir durch die Auffrischung der Erinnerungan jenen Mann, den du hoch hältst, geworden bist,obwohl ich dich bis jetzt schon so sehr werthschätzte.

Im Uebrigen kann ich keineswegs von meiner Mei-nung abgehen, daß du, wenn du dich nur selbst dazubringen könntest, vor den Fürstenhöfen nicht

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zurückzuscheuen, dem Gemeinwohle durch deinenRath und deine Stimme ungemein viel nützen könn-test. Das ist sogar deine höchste Pflicht, die Pflichteines trefflichen Mannes. Denn wenn nun dein Platodie Ansicht hegt, daß die Staaten dann erst vollkom-men glücklich sein werden, wenn entweder die Philo-sophen regieren oder die Könige Philosophie treiben,wie weit muß da das Glück noch im weiten Felde ste-hen, wenn die Philosophen es verschmähen, den Kö-nigen ihren guten Rath zu Theil werden zu lassen.«

»Sie sind nicht so schnöde«, versetzte Jener drauf,»daß sie das nicht ganz gerne thun würden - es habenes ja auch schon viele durch herausgegebene Büchergethan - wenn nur die Mächtigen und Regierendensich bereit finden ließen, die Rathschläge zu befolgen.Aber das hat Plato ohne Zweifel vorausgesehen, daß,wenn die Könige nicht selbst philosophischen Geisteswerden, es nie kommen wird, daß sie, von Kindheitauf mit verkehrten Anschauungen getränkt und ange-steckt, den Rathschlägen philosophischer Geistervollständig Gehör schenken werden, was er in eigenerPerson beim Dionysius erfahren hat. Glaubst du wirk-lich nicht, daß, wenn ich bei irgend einem Königeheilsame Maßregeln in Vorschlag bringen und dieverderblichen Keime böser Uebel bei ihm ausrottenzu wollen wagen würde - , daß ich nicht alsbald ver-jagt, oder zum Gegenstande des Gelächters würde?

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Nehmen wir einmal an, ich wäre beim König vonFrankreich und säße in dessem Rathe, während derKönig selbst in geheimer Sitzung den Vorsitz führt,wo sehr eifrig darüber gegrübelt wird, mit welchenKünsten und Machinationen er Mailand behalte, dasewig flüchtige Neapel wieder an sich reißen, wie ersodann die Herrschaft Venedigs stürzen und ganz Ita-lien sich unterwerfen könne, dann Flandern, Brabant,zuletzt ganz Burgund und überdies andere Völker-schaften unter seine Botmäßigkeit bringen könne,deren Reiche er längst im Geiste angegriffen hat.

Hier räth nun der Eine, mit den Venetianern einBündniß zu schließen, das so lange dauern solle, alses sich bequem erweist, die man auch ins Vertrauenziehen, und denen man auch einen Theil der Beuteüberlassen könne, welche man ja, wenn Alles nachWunsch gegangen sei, ihnen wieder abfordern könne.

Ein Anderer räth, deutsche Söldner zu dingen, einAnderer, die Schweizer durch Geld zu gewinnen.

Wieder ein Anderer, man möge sich die Gottheitder kaiserlichen Majestät durch Gold, wie durch einWeihgeschenk versöhnen.

Der räth mit dem Könige von Arragonien Friedenzu schließen und ihm als Friedensbürgschaft Navarraabzutreten, das aber einem andern Könige gehört.

Wieder ein Anderer meint, der König von Kastiliensolle durch die Vorspiegelung einer Verschwägerung

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eingefangen werden und durch eine an einige seinerHofleute zu zahlende Pension seien diese auf ihreSeite herüberzuziehen.

Nun kommt aber die Hauptschwierigkeit, nämlichwas mit England anzufangen sei. Es sei jedenfallsüber den Frieden zu verhandeln und die stets lockereFreundschaft mit den festesten Banden zu kräftigen.Die Engländer sollen Freunde genannt, aber als Fein-de beargwohnt werden. Man müsse daher die Schot-ten, gleichsam auf Posten, schlagfertig haben, beijeder Gelegenheit, wenn sich die Engländer rühren,bereit, sofort einzumarschiren. Dazu sei ein verbann-ter hoher Adeliger heimlich - offen gehe es wegen derBündnisse nicht an - zu protegiren, der als Prätendentdes Reiches auftritt, um mittels dieser Handhabe denLandesfürsten im Zaume zu halten, dem sie sonstwenig trauten.

Und da, sage ich, wo es sich um so wichtige Dingehandelt, wo so viel ausgezeichnete Männer zum Krie-ge rathen, wenn nun ich armseliges Menschlein michda erheben würde und Kehrt machen hieße, meinVotum abgäbe, Italien sei in Ruhe zu lassen, er solltezu Hause bleiben, Frankreich sei fast schon zu groß,um von einem Einzigen gut regiert zu werden, derKönig solle daher an keinen Landzuwachs denkenund ihnen die Beschlüsse des Volkes der Achoriervortrüge, die der Insel Utopia im Südosten gegenüber

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liegen, die, als sie einst Krieg geführt hatten, um einanderes Reich für ihren König zu erobern, auf das erErbschaftsansprüche aus einem alten Bündnisse zuhaben behauptete; sahen, als sie es endlich erlangthatten, daß sie nicht weniger Last von der Behaup-tung des Landes als von der Eroberung desselben hät-ten, daß darauf beständig der Same entweder einhei-mischen Aufruhrs oder auswärtiger Einfälle gegen dieUnterworfenen aufgehe, daß sie also beständig entwe-der für sie oder gegen sie zu kämpfen genöthigtwären, niemals die Möglichkeit abzurüsten gegebensei; sahen, daß sie mittlerweile geplündert werden,und das Geld aus dem Lande fließe, daß ihr Blut fürfremden erbärmlichen Ruhm vergossen werde, derFriede nicht um ein Haar sicherer sei, die heimischenSitten durch den Krieg korrumpirt worden waren, dieBegierde zu rauben und zu stehlen erwacht und dieverwegene Rauflust durch die Metzeleien gestiegensei, die Gesetze der Verachtung verfielen - da merktensie, daß der König, in seiner Sorge für sein Reichdurch ein zweites abgelenkt, beiden nur mit vermin-derter Sorgfalt vorstehen konnte.

Da sie nun sahen, daß aller dieser Uebel kein Endesei, hielten sie Rath und stellten ihrem Könige sehrloyal die Wahl frei, das eine oder andere Reich zu be-halten, denn beide zu regieren stehe nicht in seinerMacht, und daß ihrer doch zu viele seien, um von

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einem halbirten Könige regiert zu werden, indem Nie-mand auch nur einen Mauleseltreiber gern mit einemAndern theile. So ist denn der gute Fürst genöthigtworden, das neue Reich einem seiner Freunde zuüberlassen (der bald darauf daraus vertrieben wordenist) und sich mit seinem alten zu begnügen.

Wenn ich überdies zeigen wollte, daß alle dieKriegsunternehmungen, durch welche so viele Völkeraufgeregt werden, und, nachdem sie den Staatsschatzerschöpft, die Völker zu Grunde gerichtet hätten,doch vielleicht durch irgend ein Mißgeschick umsonstgewesen wären, er (der König) daher sein angestamm-tes Reich pflegen, es schön ausgestalten und so blü-hend als nur möglich machen, daß er seine Landes-kinder lieben solle, dann werde er von ihnen geliebtwerden, daß er in Einigkeit mit ihnen leben und mildherrschen, andere Länder aber in Ruhe lassen solle,da ja das, was ihm zugefallen, mehr als übergenugsei - - was glaubst Du wohl, theuerster Morus, mitwelchen Gefühlen würde diese meine Rede aufgenom-men werden?!«

»Nicht mit sehr geneigten, wahrlich,« erwiderteich.

»Weiter«, sagte er, »fahren wir fort. Wenn also derKönig mit seinen Räthen darüber rathschlagen würde,mit welchen Kniffen der Staatsschatz bereichert wer-den könnte, und es träte Einer auf und riethe den

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Schätzungswerth des Geldes zu erhöhen, wenn erselbst welches zu zahlen hat, ihn aber über Gebührherunterzudrücken, wenn es gilt, Geld aufzunehmen,so daß er für seine Person mit geringen Summen vielberichtigt und bei geringer Verpflichtung seinerSchuldner trotzdem viel einnimmt - ein Anderer rathe,er solle einen Krieg fingiren, damit er, wenn die Gel-der unter diesem Vorwande aufgetrieben worden, so-bald es ihn gut dünke, unter feierlichen ZeremonienFrieden schließe, womit er Sand in die Augen desarmen dummen Volkes streuen könne, als ob es dengottesfürchtigen König des Blutes und Lebens derLeute erbarme, - wieder ein Anderer bringe ihm ge-wisse alte, mottenzerfressene Gesetze in den Sinn, dielängst außer Gebrauch gekommen, die, da sich garNiemand entsinnen kann, daß sie überhaupt gegebenworden, jedermann übertreten hat; dafür solle derKönig Geldstrafen erheben lassen; es könne ihmkeine einträglichere Quelle fließen, und keine ehrba-rere, da ja solche Einkünfte den Stempel der Gerech-tigkeit an der Stirn tragen, - noch ein Anderer liegeihm in den Ohren, es solle vieles verboten und mitGeldstrafen belegt werden, am meisten solche Dinge,deren Untersagung zum Nutzen des Volkes gereicht;dann möge er für Geld jene Personen dispensiren,deren Vortheile ein Verbot entgegensteht; so gewinneer die Volksgunst und eröffne sich eine doppelte

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Einnahme, einmal, indem er Geldbußen von Jenen er-hebt, welche die Gier nach Erwerb in die Falle getrie-ben hat; und dann, weil er den Andern Privilegienverkauft, und zwar um so theurer, ein je bessererFürst er ist, da ein solcher nur ungern einem Einzel-nen etwas gegen das Volkswohl Gehendes gestattet,und das dann natürlich nur um einen hohen Preis.

Wieder ein Anderer redet ihm auf, er müsse sichdie Richter verbinden, damit sie in jeder Sache für daskönigliche Recht entscheiden; ja, er soll sie überdiesin seinen Palast berufen, damit sie in seiner Gegen-wart über seine Angelegenheiten verhandeln; so un-haltbar faul werde kein betreffender Fall sein, daßnicht irgend ein Richter entweder aus Widerspruchs-geist, oder weil er sich schämt, schon Gesagtes zuwiederholen, oder um sich das Wohlwollen des Kö-nigs zu gewinnen, irgend eine schmale Spalte ent-deckt, in die der Samen der Verläumdung gesäet wer-den kann. Wenn dann die Richter verschiedener Mei-nung sind, und eine an sich sonnenklare Sache bestrit-ten und die Wahrheit in Zweifel gezogen wird, sowerde dem Könige eine bequeme Handhabe geboten,das Recht zu seinen Gunsten auszulegen; die Uebri-gen werden, entweder weil sie sich schämen, oder inFurcht beistimmen, wenn das Urtheil vom Gerichtenur kühn gesprochen wird. Dem zu Gunsten des Für-sten Urtheile Fällenden kann es auch an plausiblen

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Vorwänden nicht fehlen. Denn es genügt ihm, wenndie Billigkeit für ihn spricht, oder der Wortlaut desGesetzes, oder eine gezwungene Auslegung des ge-schriebenen Rechtes, oder endlich, was bei gewissen-haften Richtern über alle Gesetze den Ausschlag gibt,das unzweifelhafte Vorrecht des Fürsten.

Alle stimmen in dem Ausspruche des Crassusüberein, daß kein Fürst zu viel Geld besitze, der einHeer zu ernähren habe; sie sind überdies auch darinalle einig, daß ein König, wenn er auch noch so sehrwollte, nichts Ungerechtes begehen könne, dennAlles, was die Menschen besitzen, gehöre ihm, wiedie Menschen selbst auch, und dem Einzelnen sei nurdas zu eigen, was ihm der König nicht genommenhabe, und daß dieser dem Individuum verbleibendeBesitz so gering als möglich sei, liege ja sehr im Inte-resse des Fürsten, denn dessen Sicherheit bestehedarin, daß das Volk nicht durch Reichthum und Frei-heit übermüthig werde, da man unter solchen Umstän-den nicht eben gutmüthig harte und ungerechte Befeh-le ertrage, während Armuth und Noth die Geister ab-stumpfe, geduldig mache und den Bedrängten denkühnen Muth sich zu empören benehme.

Wenn ich mich nun da wieder erheben und behaup-ten wollte, alle diese Rathschläge seien für den Königwenig ehrbar, ja verderblich, dessen Ehre, aber auchdessen Sicherheit mehr in den Mitteln und

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Reichthümern des Volkes bestehe, als in seinen eige-nen, wenn ich bewiese, das Volk wähle sich einenKönig in seinem eigenen Interesse und nicht um desKönigs willen, damit sie Alle nämlich durch dieseseinen Mannes Bemühung und Obsorge ein behagli-ches, vor Unbilden geschütztes Leben führen, und daßes daher mehr Sache des Fürsten sei, für das Wohlseines Volkes zu sorgen, als für sein eigenes, geradeso wie es Pflicht des Hirten sei, seine Schafe gut zunähren und nicht sich selbst, wofern er ein braver Hirtist!

Denn daß diejenigen ganz auf dem Holzwege sind,die da meinen, die Armuth des Volkes sei die besteSchutzwehr des Friedens und der Ruhe, liegt auf derHand. Wo gibt es mehr Gezänk und Gebalge als unterden Bettlern? Wer sinnt eifriger auf eine Umwälzungder Verhältnisse, als derjenige, dem sein gegenwärti-ges Leben nicht im mindesten gefällt? Wer geht toll-kühner daran, einen Zustand herbeizuführen, wo Allesdrunter und drüber geht, indem er dabei im Trüben zufischen hofft, als derjenige, der nichts mehr zu verlie-ren hat?

Wenn ein König in solcher Verachtung stände,oder seinen Unterthanen so verhaßt wäre, daß er sichnur durch Mißhandlungen, Beraubungen und Con-fiscationen in Amt und Würde erhalten kann, und da-durch, daß er die Leute an den Bettelstab bringt, so

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sollte er wahrlich lieber abdanken, als sein Reich mitsolchen Künsten behaupten, da er dadurch vielleichteine Scheinherrschaft führt, aber der wahren Majestätverlustig geht. Denn es ist unter der königlichenWürde, über Bettler zu herrschen, sie soll sich viel-mehr über Wohlhabende und Glückliche erstrecken.

So war der erhabene, und mannhafte Geist einesFabricius gesonnen, als er sagte, er wolle lieber überReiche herrschen, als selbst reich sein. Thatsächlichheißt, als Einzelner in Genüssen und Wollüstenschwimmen, während ringsherum Alle seufzen undjammern, nicht regieren, sondern ein Kerkermeistersein.

So wie Der ein ganz unbewanderter Arzt ist, dereine Krankheit wieder nur durch eine andere Krank-heit zu heilen weiß, so möge der, welcher das Lebender Bürger auf keine andere Weise zu reguliren ver-steht, als dadurch, daß er sie aller Annehmlichkeitendes Lebens beraubt, nur gestehen, daß er es nicht ver-steht, über Freie zu herrschen, wenn er nicht seineTrägheit oder seinen Hochmuth aufgibt, denn dieseLaster sind es, die ihm entweder die Verachtung oderden Haß des Volkes zuziehen. Er möge harmlos nurvon dem Seinigen leben, die Ausgaben den Einnah-men anpassen, die Verbrechen einschränken und lie-ber durch treffliche Einrichtungen ihnen zuvorkom-men, anstatt sie anwachsen zu lassen und dann zu

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bestrafen.Gewohnheitsmäßig außer Gebrauch gekommene

Gesetze erneuere er nicht vermessen, namentlich wennsie längst verschollen sind und keinerlei Bedürfnißnach ihnen sich geltend macht! Auch nehme er keinesolche Buße für ein Vergehen, wie sie der Richter kei-nen Privatmann als etwas Unbilliges und Schädlichesnehmen lassen würde. Wenn ich nun hier das Gesetzder Makarier, die nicht weit von Utopia ihren Wohn-sitz haben, vorbringen wollte, deren König, vom Tageseiner Thronbesteigung an, unter feierlichen Opferndurch einen Eid gebunden wird, zu keiner Zeit mehrals tausend Pfund in seinem Schatz zu haben, odereine gleichwerthige Summe Silbers! Dieses Gesetzhat, wie es heißt, ein ausgezeichneter König gegeben,dem das Wohl des Vaterlands mehr am Herzen lag,als seine persönlichen Reichthümer, gleichsam alseinen Riegel gegen die Anhäufung so großer Geld-summen, daß dadurch das Volk verarmen muß. Denner sah voraus, daß dieser Schatz genügen werde, so-wohl im Falle einer Rebellion gegen den König, alseiner feindlichen Invasion in das Reich, denselben vorBedrängniß zu bewahren. Im Uebrigen aber sei dieserSchatz zu gering, als daß er in ihm die Lust erweckensollte, fremdes Eigenthum an sich zu reißen, washauptsächlich der Grund zur Erlassung dieses Geset-zes war. Der nächste Grund aber war der, weil er so

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den Fall vorgesehen glaubte, daß im täglichen bürger-lichen Verkehre das Geld nicht mangle, und da derKönig auszugeben genöthigt war, was dem Schatzeüber das gesetzliche Maß zuwuchs, so glaubte er sichkeine Veranlassung gegeben dem Volke Unrecht zu-zufügen. Ein solcher König werde der Schrecken allerBösen sein und von den Guten geliebt werden.

Wenn ich nun dieses und Aehnliches bei Menschenvorbringen und einführen wollte, deren Sinnesart ganzentschieden zum Gegentheile neigt, was würde ichAnderes thun, als Tauben eine Fabel erzählen?«

»Stocktauben, ohne Zweifel«, gab ich zur Antwort.»Aber mich wundert das durchaus nicht, und, um dieWahrheit zu sagen, Reden und Rathschläge, vondenen man gewiß ist, daß sie kein Gehör finden, sollman sich enthalten vorzubringen. Denn was kann eineso Unerhörtes bietende Rede für Nutzen stiften, oderwie kann sie auf Gemüther Einfluß haben, die vorein-genommen sind und in denen sich eine entgegenge-setzte Ueberzeugung tiefstens festgesetzt hat? Im ver-traulichen Verkehre unter lieben Freunden ist solcheSchulphilosophie ganz gefällig, aber im Rathe derKönige, wo große Angelegenheiten mit großer Auto-rität verhandelt werden, ist für solche Dinge keinPlatz«.

»Das ist also das, was ich gesagt habe«, versetzteRaphael, »daß die Philosophie bei den Fürsten keine

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Stätte hat.«»Die Schulphilosophie allerdings nicht«, gab ich

zur Antwort, »die allerorten und allezeit wohlange-bracht zu sein glaubt; aber es gibt eine mehr verfei-nerte Philosophie, die die örtlichen Verhältnisse,unter denen sie auftritt, wohl kennt, sich ihnen anbe-quemt und ihre Rolle in dem Stücke, das gerade ge-spielt wird, bündig und wohlanständig durchführt.Deren mußt Du dich bedienen. Oder wenn irgend eineKomödie des Plautus gespielt wird, wo die Hausskla-ven unter sich Possen treiben, und du würdest im phi-losophischen Gewande die Bühne betreten und eineStelle aus der Octavia recitiren, wo Seneca mit Nerodisputirt - wäre es da nicht besser gewesen, du hättesteinen stummen Zuschauer abgegeben, als durch dieRecitation von Dingen, die auf die Situation keinenBezug haben, eine Tragikomödie aufzuführen? Duwürdest nämlich den Stoff, um den es sich handelt,gänzlich verfälschen und verderben, wenn du Fremd-artiges hineinmischest, wenn auch deine Beiträge bes-ser sind als die ursprüngliche Hauptsache. In jedemTheaterstücke spiele nach deiner Rolle aufs bestmög-liche und störe nicht das Ganze, weil dir etwas Ande-res in den Sinn kommt, was hübscher lautet. So ver-hält es sich im Staate, so im Rathe der Fürsten.

Wenn Du schlechte Gesinnungen und durch diePraxis erworbene Laster auch nicht mit der Wurzel

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ausrotten kannst, so darf man deswegen das Gemein-wohl doch nicht im Stiche lassen, so wenig man dasSchiff verlassen darf, weil man den widrigen Windennicht Einhalt thun kann. Ungewohnte Meinungen sindden Menschen nicht einzupfropfen, solche haben beivom Gegentheil Ueberzeugten keinerlei Gewicht; dumußt es auf einem Umwege versuchen und, so viel andir liegt, in der Sache gemach verfahren, auch, wasman nicht zum Guten wenden kann, wenigstens so an-fassen, daß es so wenig schlecht als möglich bleibe.Denn daß alle Verhältnisse sich gut gestalten, istnicht möglich, wenn nicht die Menschen alle gut sind.Und das, meine ich, wird noch eine gar hübscheWeile auf sich warten lassen.«

»Auf diese Weise«, versetzte Jener, »würde nichtsAnderes erfolgen, als daß ich, während ich die Thor-heit Anderer zu heilen unternehme, mich selbst mitsammt ihnen närrisch gebärde. Denn wenn ich dieWahrheit reden will, so muß ich Solcherlei mit ihnenreden. Was das Reden von Unwahrheit anbelangt, soweiß ich nicht, ob das eine Sache der Philosophen ist,jedenfalls aber ist es die meine nicht. Obwohl diesemeine Rede Jenen vielleicht nicht zu Danke gespro-chen und lästig ist, so sehe ich aber doch nicht ein,warum sie ihnen bis zum Läppischen ungewohnt er-scheinen sollte.

Wenn ich die Fiktionen eines Plato vorbringen

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würde oder die Vorgänge im Staate der Utopier, somöchte das, obwohl diese Verhältnisse an sich besserwären - wie sie es thatsächlich sind - doch ganz undgar unangebracht erscheinen, denn wir haben hier jaPrivateigenthum aller Einzelnen, dort gibt es nur ge-meinschaftliches Eigenthum. Mit Ausnahme Derer,denen meine Rede nicht angenehm sein kann, weil siebei sich beschlossen haben, auf dem entgegengesetz-ten Wege drauf loszustürmen, und jene ihnen die Ge-fahr, die sie dabei laufen, ins Gedächtniß ruft und vor-hält, - was gäbe es sonst darin, das überall zu sagennicht erlaubt wäre, oder noth thäte?

Wenn wir Alles als unverschämt oder absurd über-gehen müßten, was die verkehrten Sitten der Men-schen als ungehörig erscheinen lassen könnten, somüßten wir bei den Christen das Meiste geheim hal-ten, was Christus gelehrt hat, was er doch zu verheim-lichen so entschieden verboten hat, daß er umgekehrtsogar befohlen hat, das, was er (gleichsam) nur in dieOhren seiner Jünger flüsterte, laut von den Dächernzu verkünden. Der größte Theil dessen aber weichtvon den herrschenden Gebräuchen, Sitten und An-schauungen mehr ab, als jene meine Rede.

Die Prediger, schlaue Menschen, haben, meine ich,jenen deinen Rath befolgt, als sie sahen, daß die Men-schen nur widerwillig ihre Sitten der RichtschnurChristi anpaßten, und bogen seine Lehre und

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schmiegten sie den Sitten der Menschen an, damit we-nigstens eine gewisse Uebereinstimmung zwischenbeiden hergestellt werde, woraus ich aber keinen an-dern Vortheil für sie entspringen sehe, als daß sie umso sicherer böse sein können; und so würde ich imRathe der Fürsten wohl ebensowenig erreichen. Dennentweder, ich muß von der bisherigen Meinung Ab-weichendes vorbringen, und da wäre es eben so gutnichts zu sagen, oder ich muß dasselbe wie sie sagen,und so der Unterstützer, wieMitio bei Terenz sagt,ihrer Thorheit sein.

Denn ich weiß nicht, wozu dein indirektes Verfah-ren führen soll, wonach du meinst, man müsse, wennman nicht alle Verhältnisse gut gestalten könne, sie soleidlich einzurichten bestrebt sein, daß sie möglichstwenig schlecht seien. Denn hier ist nicht der Ort zurVerstellung oder zum Augenzudrücken: die schlechte-sten Rathschläge müssen offen und unverhohlen ge-billigt und Beschlüssen, so verderblich wie die Pest,muß unweigerlich beigetreten werden. Einem Spion,ja fast einem Verräther gleich zu achten ist, wer un-ehrlich gegebene Rathschläge heimtückischer Weiselobt.

Ferner ist dir keine Gelegenheit gegeben, dich nütz-lich zu erweisen, wenn du unter solche Kollegen ver-setzt wirst, die eher den besten Mann korrumpiren, alsdaß sie selbst gebessert werden; oder, wenn du selbst

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gut und unverdorben bleibst, wirst du fremder Bosheitund Dummheit zum Deckmantel dienen - weit gefehltalso, daß du mit deiner indirekten Weise etwas zumBessern wandeln kannst!

Ebendarum erklärt Plato in einem wunderschönenGleichnisse, warum die Weisen sich mit vollem Rech-te der Befassung mit dem Staate enthalten sollen.Denn wenn sie das Volk bei endlosen Regengüssensich in Schaaren auf der Straße herumtreiben und bisauf die Haut durchnäßt werden sehen, und es dochnicht dazu bringen können, aus dem Regen zu gehenund sich nach Hause zu begeben, so bleiben sie selbstwohlweislich in ihren eigenen Häusern, da sie wissen,es würde ihnen doch nichts nützen, wenn sie auchhinausgingen und selber mit angeregnet würden,indem sie froh sind, wenn sie schon der fremdenThorheit nicht steuern können, doch wenigstens selbsttrocken zu bleiben.

Ueberhaupt, mein lieber Morus, - um dir ganz un-umwunden meine wahre Gesinnung zu enthüllen -dünkt mich, daß, wo aller Besitz Privatbesitz ist, woAlles am Maßstabe des Geldes gemessen wird, dakann es wohl kaum je geschehen, daß der Staat ge-recht und gedeihlich verwaltet wird, wofern du nichtmeinst, das sei die gerechte Verwaltung, daß dasKostbarste in die Hände der Schlechtesten kommt,oder unter glücklicher Regierung befinde man sich

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dort, wo alle Habe unter einige Wenige vertheilt wird,die auch nicht einmal besonders behaglich leben,während alle Uebrigen ganz unleugbar elend daransind.

Wenn ich daher bei mir selbst die höchst weisenund edelmenschlichen Einrichtungen der Utopier be-trachte, wo so wenig Gesetze bestehen und die Staats-einrichtungen doch so trefflich verwaltet werden, daßdie Tugend ihren Lohn empfängt, und bei gemein-schaftlichem Besitz doch Alle Alles in Ueberflußhaben, und dann mit diesen ihren Sitten und Gebräu-chen so und so viel Völker vergleiche, die immer neueGesetze verordnen und wie doch kein einziges vonihnen wohlgeordnet und gedeihlich bestellt ist, beidenen Jeder das, was er gerade erlangt hat, sein Pri-vateigenthum nennt, und wo so viele von Tag zu Taggegebene Gesetze unzulänglich sind, auf daß Jederentweder einen Besitz erlange, oder in seinem Besitzegeschützt werde, oder das Seinige vom fremden Besit-ze, von alledem was Jeder wieder seinen Privatbesitznennt, unterscheide und auseinanderhalte, wie das dievielen endlos aufs Neue entstehenden und nie aufhö-renden Rechtsstreitigkeiten beweisen - - wenn ich dasAlles so bei mir bedenke, sage ich, so muß ich demPlato vollauf Gerechtigkeit widerfahren lassen undwundere mich nicht mehr, daß er es verschmäht habe,Jenen Gesetze zu geben, die solche Gesetze

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zurückwiesen, denen zufolge Allen alle Güter undVortheile nach Billigkeit gleichmäßig zugetheilt seinsollten.

Denn das hatte die hohe Weisheit dieses Mannesleicht vorausgesehen, daß nur dieser eine und einzig-ste Weg zum Heile des Gemeinwesens führe, wennGleichheit des Besitzes herrsche; diese kann aber dortnicht bestehen, wo die einzelnen Dinge im Privatbe-sitz sind. Denn wo Jeder unter gewissen Rechtstitelnso viel er nur immer kann, an sich zieht, und, so großauch die Fülle der Dinge sein mag, nur einige WenigeAlles unter sich auftheilen, da bleibt den Uebrigen nurNoth und Entbehrung hinterlassen; und häufig trifft essich, daß diese gerade das Loos Jener verdienen, dennJene sind räuberisch, unehrlich, zu nichts nütze, diesedagegen bescheidene, schlichte Männer, und durchihren täglichen Gewerbfleiß fördern sie das Gemein-wesen mehr, als ihre eigenen Interessen.

So habe ich die sichere Ueberzeugung gewonnen,daß die Habe der Menschen einigermaßen nachGleichheit und Billigkeit nicht vertheilt, noch die irdi-schen Angelegenheiten glücklich gestaltet werdenkönnen, wenn nicht alsbald das Privateigenthum auf-gehoben wird. Bleibt dieses aber bestehen, so wirdauch immer bei dem größten und weitaus besten Thei-le der Menschen ein unvermeidliches Bündel vonDürftigkeit und peinlicher Drangsal bestehen bleiben.

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Wie ich gestehe, daß dieselbe ein klein wenig ge-hoben und erleichtert werden könne, ebensogut be-haupte ich, daß sie vollständig nicht aufgehoben wer-den könne. Denn wenn gesetzlich bestimmt würde,daß Keiner über ein gewisses Maß Ackerland besit-zen dürfe, daß für Jeden ein gesetzlicher Census vor-handen sei, wie viel Geld er sein nennen dürfe; wenndurch gewisse Gesetze vorgesehen wäre, daß derFürst nicht zu mächtig werde und das Volk nicht zuübermütig, daß Aemter nicht durch Werbung oderkäuflich erlangt werden, daß Repräsentationsaufwandin ihnen nicht nöthig sei, weil sonst Gelegenheit gege-ben werde, durch Trug und Raub Geld zusammenzu-schlagen, und damit man nicht genöthigt werde, dieseAemter mit Reichen zu besetzen, während sie viel-mehr von geistig Begabten verwaltet werden sollen: -durch solche Gesetze also, sage ich, lassen sich, wiesieche Körper in beklagenswerthem Gesundheitszu-stande durch beständige Linderungsmittel hingehaltenzu werden pflegen, auch diese Uebel abschwächenund mildern, daß sie aber von Grund aus geheilt wer-den und ein gedeihlicher Zustand der Dinge herbeige-führt werde, dazu ist keine Hoffnung vorhanden, solange Jeder sein Privateigenthum für sich hat. Dennwährend du auf der einen Seite Heilung schaffst, ver-schlimmerst du die Wunden auf vielen andern Seiten,und so entsteht aus der Heilung des Einen die

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Krankheit eines Andern, weil dem Einen nicht zuge-legt werden kann, ohne daß es einem Andern wegge-nommen wird.«

»Gerade im Gegentheil,« erwiderte ich, »scheint esmir, daß dort kein behagliches Leben möglich ist, woGütergemeinschaft herrscht. Denn auf welche Weisesoll die erforderliche Menge Güter geschafft werden,wenn sich Jeder der Arbeit entzieht? Denn wer nichteinen persönlichen Grund zum Erwerb hat, der ihnanspornt, der wird, indem er sich auf fremden Fleißverläßt, träge. Wenn sie aber auch durch die eigeneArmuth angestachelt würden, müßten nicht beständigMord und Aufruhr drohen, wenn Niemand durch einGesetz in Stand gesetzt wäre, das, was er einmal er-worben hat, sich erhalten zu können?

Woher unter Menschen, bei denen die Autorität derObrigkeit und die Ehrfurcht vor derselben aufgehobenist, und unter denen keinerlei Unterschied besteht,Autorität und Ehrfurcht vor irgend etwas überhauptherkommen soll, vermag ich nicht einmal zu ahnen.«

»Es wundert mich mit nichten«, versetzte er darauf,»weil du dir kein Bild, oder nur ein falsches davon zumachen im Stande bist. Wenn du aber mit mir in Uto-pien gewesen wärest und die dortigen Sitten und Ein-richtungen mit eigenen Augen gesehen hättest, wieich, der über fünf Jahre dort zugebracht hat, und garnicht von dort hätte scheiden wollen, wenn es nicht

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deswegen geschehen wäre, um diesen neuen Erdkreishier kund zu thun - so würdest du unumwunden ein-gestehen ein besser organisirtes Volk als das dortigesei dir nirgends begegnet.«

»Nun wahrhaftig«, sagte da Petrus Aegidius, »essoll dir schwer fallen, mich zu überreden, daß man injener neuen Welt ein besser organisirtes Volk findenkönne, als in dieser unserer alten wohlbekannten; un-sere Staaten sind, meine ich, die älteren und an eben-bürtigen Geistern fehlt es uns nicht; auch sind hiervon altersher eine große Zahl Kulturgüter im Gebrau-che, ganz zu geschweigen, daß bei uns allerlei durchZufall entdeckt worden, was kein Genie hätte erfindenkönnen.«

»Was das höhere Alter der Staaten anbelangt«,sagte Jener darauf, »so würdest du richtiger zu urthei-len vermögen, wenn du die Geschichten jenes Welt-theils durchgelesen hättest, wonach es, wenn manihnen Glauben schenken darf, dort früher Städte gege-ben hat, als bei uns Menschen; und was Verstandoder Zufall bis jetzt erfunden hat, das mag es dort so-wohl wie hier gegeben haben.

Meine Meinung ist demnach die, daß wir sie anGeist übertreffen, an Lern- und Arbeitsfleiß aber sieuns bei weitem überlegen sind. Denn laut ihren Jahr-büchern war vor unserer Landung dort von uns (diesie ›Ultraequinoctiale‹ nennen) nicht weiter die Rede,

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als daß vor zwölfhundert Jahren ein Schiff, das vomSturme dahin verschlagen worden, einmal an jenenKüsten Schiffbruch gelitten hat. Da sind Römer undAegypter aus Gestade geworfen worden, die nachmalsvon dort nicht mehr geschieden sind.

Wolle bemerken, wie sehr ihre Industrie diese eineGelegenheit verwerthet hat. Es gab keine Kunstfertig-keit im Römerreiche, die irgendwie hätte von Nutzensein können, die die Utopier entweder nicht von jenengestrandeten Fremdlingen erlernt hätten, oder zu dersie nicht durch Ausforschung derselben gelangtwären - von solchem Nutzen war es ihnen, daß jeneeinmal dorthin verschlagen worden.

Und wenn ein ähnlicher glücklicher Zufall irgendeinmal Jemand dorthin getragen hat, so ist das sogründlich vergessen worden, als es vielleicht einmaldem Gedächnisse der Nachwelt entschwinden wird,daß ich dereinst dort gewesen bin. Sowie sie aber so-fort in Folge jener einmaligen Zusammenkunft allesbei uns Erfundene sich zu eigen machten, so wird,glaube ich, es gar lange dauern, bevor wir etwas an-nehmen, was bei ihnen so viel besser organisirt ist.

Und dies scheint mir auch die Hauptursache zusein, warum, obwohl wir ihnen an Erfindungsgeistund Mitteln keineswegs nachstehen, ihr Gemeinwesendoch vernünftiger verwaltet wird und gedeihlicherblüht.«

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»Nun denn, lieber Raphael«, sagte ich, »ich bittedich recht sehr, gib uns eine Beschreibung der Inselund sei nicht kurz in deiner Schilderung. Beschreibuns der Reihe nach die Felder, Flüsse, Städte, dieLeute, ihre Sitten und Gebräuche, Einrichtungen, Ge-setze und alles Uebrige, wovon du glaubst, daß wir eskennen lernen wollen, und du wirst glauben, daß wirAlles kennen lernen wollen, was wir bis jetzt nochnicht wissen.«

»Nichts thue ich lieber,« gab er zur Antwort, »dennich habe Alles frisch im Gedächtnisse, aber die Sacheerfordert reichlich Muße.«

»Gehen wir also vorher hinein zu Tische«, sagteich, »dann können wir uns Zeit nehmen, so viel wirwollen.«

»So sei's«, sagte er.So gingen wir zum Essen hinein, kehrten, nachdem

wir gespeist hatten, eben dahin zurück, und nahmenauf derselben Bank wieder Platz. Und nachdem ichder Dienerschaft aufgetragen hatte, dafür Sorge zu tra-gen, daß wir nicht gestört würden, erinnerten PetrusAegidius und ich den Raphael an sein Versprechen,das er nun auch halten möge.

Als er uns nun gespannt und begierig sah, etwas zuhören, saß er eine Weile schweigsam und nachsin-nend da und fing sodann folgendermaßen an.

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Der Utopia zweites Buch.

Die Insel Utopia erstreckt sich in der Mitte - wo sieam breitesten ist, - zweihunderttausend Schritte weit,eine Breite, die durch die ganze Insel nur wenigschmäler wird, und nimmt gegen die beiden Enden zuallmählich ab. Das ergibt einen Umfang von fünfhun-dert Meilen, bei der Gestalt des aufnehmenden Mon-des, den die ganze Insel hat.

Zwischen dessen Hörnern bildet das Meer eineetwa zehn- bis elftausend Schritte breite Seebucht,die, da die Umgebung rings Land ist, die Winde ab-hält und wie ein nicht heftig bewegter, sondern mehrstagnirender See erscheint, wodurch der ganze Rauminnerhalb dieses Beckens als eine Art Hafen sich dar-stellt, in dem zum großen Nutzen der BewohnerSchiffe nach allen Richtungen verkehren.

Die Einfahrt ist von der einen Seite durch Untiefen,von der andern durch Riffe zu fürchten. Ungefähr inder Mitte zwischen diesen beiden Spitzen ragt einFelsen empor, der eben deswegen ungefährlich ist, aufden ein Thurm gebaut ist, den eine Besatzung innehat;die andern Klippen sind nicht sichtbar und bergentückische Gefahren. Die Fahrstraßen sind nur ihnenallein bekannt, daher es nicht leicht vorkommt, daßein Ausländer in diesen Meerbusen eindringt, wenn

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nicht ein Utopier den Lootsen macht. Für sie selbstsogar wäre das Einlaufen unsicher, wenn nicht ge-wisse Landkennungen vom Gestade aus den Fahrwegbezeichneten. Wenn diese an andre Plätze versetztwürden, so könnten sie einer beliebig großen feindli-chen Flotte leicht Vernichtung bereiten.

Auf der andern Seite (der Insel) sind lebhaft be-suchte Häfen. Aber die Landungsplätze sind überalldurch Natur oder Kunst so geschützt, daß riesigeTruppenmassen von einer geringen Anzahl Vertheidi-ger abgewehrt werden können.

Wie übrigens berichtet wird, und wie die Gestaltdes Landes selbst erkennen läßt, war dieses nichtimmer rings von Wasser umgeben. Aber Utopus, des-sen Name als Siegers nämlich, die Insel führt - dennfrüher hieß sie Abraxa - der den ländlich rauhen undrohen Stamm dahin gebracht hat, daß er an Kulturund Humanität fast allen übrigen Völkern voranleuch-tet, hat, alsbald nach seinem ersten Betreten des Lan-des und erfolgtem Siege, auf der Seite, wo das Landmit dem Festlande zusammenhing, einen Landaus-stich von fünfzehntausend Schritt Breite herstellenund so das Meer ringsherum fließen lassen. Da er zurAusführung dieses Werkes nicht nur die Eingebore-nen verhalten hatte, sondern, damit diese die Arbeitnicht für einen Schimpf ansahen, überdies alle seineSoldaten daran theilnehmen ließ, so wurde das Werk,

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auf eine so große Menge Menschen vertheilt, in un-glaublich kurzer Zeit fertig gestellt. Die Nachbarvöl-ker (die anfangs über das Eitle dieses Unternehmensgelacht hatten) durchdrang Bewunderung über den Er-folg und Schrecken.

Die Insel hat vierundfünfzig geräumige und präch-tige Städte, in Sprache, Sitten, Einrichtungen und Ge-setzen übereinstimmend; sie haben alle denselben Si-tuationsplan, soweit die besondere Oertlichkeit es zu-läßt. Die einander nächsten sind vierundzwanzig Mei-len von einander entfernt. Keine ist von der andern soabgelegen, daß man aus ihr nicht in einer Tagereisezu Fuß nach der andern gelangen könnte. Aus jederStadt kommen jährlich drei greise erfahrene Bürger inAmaurotum zusammen, um über die gemeinsamenAngelegenheiten der Insel zu verhandeln. Denn dieseStadt (gleichsam der Nabel des Landes und für dievon allen Seiten kommenden Abgesandten am gün-stigsten gelegen) ist die erste, die Hauptstadt derInsel.

Die Aecker sind den Städten so passend zugewie-sen, daß keine von keiner Seite weniger als zwanzig-tausend Schritte hat, von der einen oder andern auchbei weitem mehr, nämlich auf der Seite, wo die Städteam weitesten von einander abliegen.

Keine Stadt hat das Verlangen, ihre Grenzen vor-zurücken, zu erweitern. Denn sie halten sich mehr für

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die bloßen Besteller der Ländereien, als für derenHerren.

Sie haben auf dem Lande auf allen Feldern bequemgelegene Häuser, die mit landwirthschaftlichen Gerä-then wohl versehen sind. Diese werden von den Bür-gern, die sich abwechselnd hinausbegeben, bewohnt.Keine ländliche Familie hat an Männern und Frauenweniger als vierzig Köpfe, außerdem zwei auf derScholle haftende Knechte, denen allen der Hausvaterund die Hausmutter vorstehen, gesetzte und gereiftePersonen; je dreißig einzelnen Familien ist ein Phy-larch vorgesetzt.

Aus jeder Familie kehren jährlich zwanzig Perso-nen in die Stadt zurück, nachdem sie zwei Jahre aufdem Lande zugebracht haben. An deren Stelle rückenebenso viele aus der Stadt nach, die von denen imLandbau unterrichtet werden, die ein Jahr auf demLande gewesen sind und daher in der Landwirthschaftschon ziemlich Kenntnisse erworben haben. Im näch-sten Jahre müssen diese neuen Ankömmlinge wiederAndern Unterricht geben, damit nicht Alle zugleichNeulinge und unerfahren im Ackerbauwesen sind undso aus sachlicher Unkunde in der Lebensmittelversor-gung Mißgriffe vorkommen. Diese Sitte, die Landbe-bauer fortwährend wechseln zu lassen, besteht deßwe-gen, damit nicht Jemand wider Willen längere Zeit ineiner harten Beschäftigung auszuharren gezwungen

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werde; aber so Manche, denen die Erlernung desAckerbaues der Sache selbst wegen gefällt, erwirkenfür sich, daß sie mehrere Jahre dabei bleiben können.

Die Ackerbauer bestellen den Grund und Boden,züchten das Vieh, machen Holz und fahren es in dieStadt, zu Wasser oder zu Lande, wo sich die besteGelegenheit bietet. Hühner ziehen sie in großerMenge auf und zwar auf sehr sinnreiche Weise. Danndie Hennen brüten ihre Eier nicht selbst aus, sondernman bringt diese dadurch zum Leben, daß eine großeMenge derselben einer gewissen gleichmäßigenWärme ausgesetzt werden; sobald nun die Küchleinaus der Schale schlüpfen, laufen sie den Menschenwie ihren Müttern nach, die sie dafür halten.

Pferde ziehen sie sehr wenig auf, und das nurwilde, und zwar bloß zu dem Zwecke, um ihre Jugendin den Reitkünsten zu üben. Denn alle Arbeit desPflügens und Fahrens verrichten die Ochsen, die, wiesie zugeben, weniger feurigen Ungestüm haben, aberan Ausdauer den Pferden überlegen, nach ihrer Mei-nung nicht so vielen Krankheiten unterworfen, undmit weniger Unkosten und Mühe zu unterhalten sind,und endlich, nachdem sie ausgedient haben, noch alsNahrung sich verwenden lassen.

Saatgetreide verwenden sie nur zum Brodbacken.Denn entweder trinken sie Traubenwein, oder Apfel-und Birnmost, oder zu Zeiten auch nur lauteres

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Wasser, manchmal auch ein mit Honig und Süßholz,das in großer Menge dort vorkommt, gebrautes Ge-tränk.

Obwohl sie genau ermittelt haben, wie viel Korndie Stadt und die dazu gehörige Umgebung zum Le-bensunterhalte bedarf, und sie wissen es in der Thatganz genau, so säen sie doch bei weitem mehr, ziehenauch mehr Vieh auf, als zu ihrem Bedarfe erforderlichist, indem sie den Ueberschuß an ihre Grenznachbarnablassen.

Was sie an Sachen brauchen, die auf dem Landenicht zu haben sind, das lassen sie sich aus der Stadtgeben, aus der sie es ohne allen Entgelt von der Ob-rigkeit geliefert erhalten. In jedem Monat gibt eseinen Feiertag, an dem die Meisten von ihnen in derStadt zusammenkommen. Sobald die Erntezeit heran-naht, zeigen die Phylarchen der Ackerbauer der städti-schen Obrigkeit an, wie viel Bürger ihnen als be-nöthigt zugeschickt werden sollen; diese AnzahlSchnitter und Erntemacher trifft am bestimmten Tagepünktlich ein und so wird bei schönem Wetter soziemlich an einem einzigen Tage die gesammte Ernteeingeheimst.

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Von den Städten, insbesondere von Amaurotum.

Wer eine Stadt kennt, kennt die andern alle, so ähn-lich sind sie untereinander, sofern nicht der Charakterder Oertlichkeit eine Aenderung bedingt.

Ich werde daher eine beliebige schildern, es kommtwirklich nicht besonders darauf an, welche. Aber wel-che lieber als Amaurotum? Denn sie ist die angese-henste, so daß ihr die andern den Vorrang des Senats-sitzes überlassen; auch ist mir keine besser bekannt,insofern ich fünf Jahre ununterbrochen dort gelebthabe.

Amaurotum liegt also an einer sanften Berglehneund ist von Gestalt beinahe viereckig. Ihre Breite be-ginnt etwas unterhalb des Gipfels des Hügels und er-streckt sich zweitausend Schritt am Flusse Anydrushin; den Fluß entlang beträgt die Länge etwas mehr.

Der Anydrus entspringt achtzig Meilen oberhalbAmaurotums aus einer mäßigen Quelle, aber durchden Zufluß anderer Flüsse, darunter zweier ziemlichgroßen, verstärkt, wird er vor der Stadt fünfhundertSchritt breit, und nach einem weiteren Laufe vonsechzig Meilen fällt er ins Weltmeer. Wenn bei derFluth das Meer gegen dreißig Meilen weit eindringt,so erfüllt es das ganze Bett des Anydrus mit seinenWellen und drängt das Flußwasser zurück. Da wird

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sein Wasser eine ziemliche Strecke mit Salzge-schmack verdorben, sodann wird der Fluß allmählichwieder süß, und durchfließt klar die Stadt; wenn danndie Ebbe eintritt, dringt umgekehrt sein unvermischtesreines Wasser fast bis zur Mündung vor. Die Stadt istmit dem gegenüberliegenden Ufer durch eine herrlichgewölbte Brücke von Steinwerk, nicht etwa bloß vonhölzernen Pfeilern oder Pflöcken verbunden in jenemStadttheile, der am weitesten vom Meere entfernt ist,damit die Schiffe dort ganz ungehindert vorüberfahrenkönnen.

Es gibt übrigens noch einen zweiten Fluß, nichtsehr groß, aber von sanftem und anmuthigem Lauf. Erentspringt demselben Berge, auf dem die Stadt liegt,fließt mitten durch diese und fällt in den Anydrus.Quelle und Ursprung dieses Flusses haben die Amau-rotaner, weil sie etwas außerhalb der Stadt liegen, mitBefestigungen eingefaßt und so mit der Stadt verbun-den, damit, wenn eine feindliche Macht eindränge, siedas Wasser in derselben weder auffangen, noch ablei-ten, noch verderben könne. Von da wird das Wasserin aus Backsteinen gemauerten Kanälen in verschie-denen Richtungen in die unteren Theile der Stadt ge-leitet, und wo das der örtlichen Beschaffenheit nachnicht möglich ist, wird das Regenwasser in geräumi-gen Cisternen gesammelt und leistet denselbenDienst.

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Eine hohe und breite Mauer mit zahlreichen Thür-men, Basteien und Bollwerken umgibt die Stadt;trockene aber tiefe und breite Gräben, mit Zäunen vonDorngestrüpp umwegsam gemacht, ziehen sich vondrei Seiten um die Stadtmauern, auf der vierten ver-sieht der Fluß die Stelle des Grabens.

Die Straßen sind nicht allein zum Fahren, sondernauch die Winde abzuhalten geeignet; die Gebäudesind schmuck und bilden mit der Vorderfront eine zu-sammenhängende Reihe in einer Straßenbreite vonfünfzehn Fuß.

An der Hinterseite der Häuser liegen große Gärten,die ganze Länge der Straße entlang, an die wieder dieRückseite anderer Straßen stößt. Kein Haus, dasnicht, wie vorneheraus die Straßenthür, so nach hintenein Pförtchen in den Garten hätte. Diese Thüren sindzweiflügelig, mit einem leichten Druck der Hand zuöffnen, und gehen dann auch von selber wieder zuund lassen Jedermann ein, denn Privateigenthum gibtes ja nicht. Denn selbst die Häuser vertauschen siealle zehn Jahre durchs Loos.

Diese Gärten halten sie hoch. Darin haben sieWeinberge, Früchte, Kräuter, Blumen, von solcherPracht und Pflege, daß ich nirgends mehr Ueppigkeitund Zier gesehen habe. Ihr Eifer in dieser Art Gärtne-rei entspringt nicht nur bloß dem Vergnügen, sondernauch einem Wettstreite der Straßen untereinander in

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Bezug auf die Pflege der einzelnen Gärten und sicher-lich ist in der ganzen Stadt nichts Nützlicheres undAngenehmeres für die Bürger zu finden. Der Gründerder Stadt scheint denn auch auf nichts mehr Sorgfaltverwendet zu haben, als auf diese Gärten. Und richtigheißt es, Utopus selbst habe von allem Anfang dieseGestalt und Anlage der Stadt vorgesehen. Aber dieAusschmückung und den weiteren Ausbau, wozu, wieer voraussah, ein Menschengeschlecht nicht genügenwürde, hat er den Nachkommen überlassen.

Und so steht in ihren Annalen geschrieben, die sievon der ersten Besitzergreifung der Insel an, die Ge-schichte von siebzehnhundertundsechzig Jahren um-fassend, fleißig und gewissenhaft zusammengestelltaufbewahren, daß die Häuser im Anfang niedrig, wieBaracken und Schäferhütten, waren, aus beliebigemHolze errichtet, die Wände mit Lehm verschmiert, dieDächer spitz zulaufend und mit Stroh gedeckt.

Heutzutage ist jedes Haus elegant mit drei Stock-werken gebaut, die Außenseite der Mauer entwedervon Kieselstein, Cement oder gebrannten Steinen, aufder Innenseite mit Bruchstein ausgekleidet. Die Dä-cher sind flach und werden mit einer Kalkmasse be-legt, der das Feuer nichts anhaben kann und die gegendie Unbilden des Wetters sich widerstandsfähiger alsBlei erweist. Den Wind halten sie durch Glas ab (des-sen Gebrauch ihnen ganz geläufig ist). Doch gibt es

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auch Fenster von sehr dünner, mit klarem Oel oderBernstein getränkter Leinwand, was den doppeltenVortheil hat, daß mehr Licht und weniger Winddurchgelassen wird.

Von den Obrigkeiten.

Je dreißig Familien erwählen sich jährlich eine Ob-rigkeit, die sie in ihrer alten Sprache Syphogrant, inder neuen Phylarch nennen. Zehn Syphogranten mitihren Familien steht ein, wie es früher hieß, Trani-borus, jetzt Protophylarch genannt, vor.

Endlich schwören alle Syphogranten, deren zwei-hundert sind, daß sie den zum Fürsten erwählen wol-len, welchen sie für den tauglichsten halten, wozu siein geheimer Abstimmung Einen von den Vieren er-nennen, die ihnen das Volk vorgeschlagen hat. Ausjedem Stadtviertel wird Einer erwählt und dem Senateempfohlen. Das Fürstenamt gilt für Lebenszeit, wo-fern dem nicht der Verdacht der vom Fürsten erstreb-ten Tyrannis entgegensteht.

Die Traniboren werden alle Jahre gewählt, aberman wechselt nicht leichtlich mit ihnen. Alle übrigenObrigkeiten sind jährliche. Die Traniboren kommenalle drei Tage und, wenn erforderlich, noch öfter, mitdem Fürsten zusammen, um über

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Staatsangelegenheiten zu berathen; Privatrechtsstrei-tigkeiten (wenn welche vorliegen), welche sehr seltensind, erledigen sie rasch. Syphogranten werden immerzwei in den Senat beigezogen, und zwar jeden Tagandere, indem vorgesehen ist, daß keine Beschlüsseüber Staatsangelegenheiten gefaßt werden über dienicht drei Tage vorher im Senate berathen und ver-handelt worden ist.

Außer dem Senate oder den Volksversammlungenüber öffentliche Handlungen Berathungen zu halten,gilt für ein todeswürdiges Verbrechen. Diese Satzungbesteht, wie es heißt, deswegen, auf daß es durch eineVerschwörung des Fürsten und der Traniboren nichtso leicht möglich sei, das Volk durch eine Tyranniszu unterdrücken und die Staatsverfassung gewaltsamabzuändern. Daher werden wichtige Angelegenheitenin den Versammlungen der Syphogranten vorge-bracht, die ihren Familien davon Mittheilung machen,dann unter sich darüber berathen und das Ergebnißihrer Berathschlagung dem Senate kundgeben.

Manchmal kommt die Sache auch an den großenRath des ganzen Inselreichs. Auch übt der Senat dieGepflogenheit, daß über keine Sache an demselbenTage, an dem sie vorgetragen wird, debattirt, sonderndies bis zur nächsten Senatssitzung verschoben wird,damit Einer nicht mit dem, was ihm gerade auf dieZunge kommt, unbedachtsam herausplatze und dann

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mehr darauf sinne, wie er es vertheidige, als was demStaatswesen zum Heile gereiche und somit lieberwolle, daß dem Staatswohl als der Meinung über seineigenes Ich Abbruch geschehe, indem er aus falscherScham nicht will, daß man merke, er habe von Hausaus so wenig Voraussicht gehabt.

Von Haus gilt es überlegt zu sprechen, nicht raschmit dem Worte fertig zu sein.

Von den Handwerken.

Eine allen Männern und Frauen gemeinsame Kunstist der Ackerbau, dessen Niemand unkundig ist. Inihm werden Alle von Kindheit auf unterrichtet, theilsin der Schule nach überlieferten Lehren, theils, indemsie auf die der Straße nächstgelegenen Felder wie zumSpiel hinausgeführt werden, wo sie den Arbeiten nichtnur zusehen, sondern zugleich Gelegenheit zur Kör-perübung benützend, sie auch wirklich ausüben.

Außer dem Ackerbau (der, wie gesagt, Allen ge-meinsam ist), erlernt Jeder eine beliebige Hantirungals seinen Beruf, wie z.B. die Wollweberei, dieFlachsbereitung, das Maurer-, Schmiede-, Schlosser-und Zimmermannshandwerk. Denn es gibt kein ande-res Handwerk, das dem Betriebe nach einigermaßenerwähnenswerth wäre.

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Der Schnitt der Kleider ist, abgesehen davon, daßdie Geschlechter von einander und der ledige Standvon den verheiratheten unterschieden sind, derselbefür die ganze Insel, und bleibt es für die ganze Le-benszeit, ist für's Auge gefällig und den Leibesbewe-gungen angemessen, auch sowohl für Winter- alsSommerszeit geeignet. Jede Familie verfertigt sichihre Kleider selbst.

Von allen den genannten Handwerken nun erlerntJedermann irgend eins, nicht nur die Männer, sondernauch die Frauen. Uebrigens haben die letzteren, alsdie Schwächeren, nur die leichteren Verrichtungen aufsich, den Männern sind die übrigen mühsamen Hand-werke übertragen. Meistentheils wird jeder im väterli-chen Handwerk erzogen, denn die Meisten neigen vonNatur dahin. Wenn aber Einer eine andere Neigunghat, wird er durch Adoption in jene Familie aufge-nommen, die dieses Gewerbe betreibt, aber nicht nurvom Vater, sondern auch von der Obrigkeit wird Vor-sorge getroffen, daß er einem gesetzten und ehrenhaf-ten Familienvater übergeben werde.

Hat Einer ein Handwerk gründlich erlernt undwünscht noch ein anderes zu erlernen, so wird ihmdas ebenfalls gestattet. Hat er beide inne, so mag erausüben, welches er will, wofern nicht das eine in derStadt mehr benöthigt ist.

Die hauptsächlichste und beinahe einzige

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Beschäftigung der Syphogranten ist, dafür zu sorgenund vorzusehen, daß nicht Jemand dem Müßiggangenachhänge, sondern Jeder seinem Handwerke emsigobliege, doch braucht er deswegen nicht von Morgensfrüh bis spät in die Nacht beständig wie das Vieh biszur Ermattung zu arbeiten, was doch fast allenthalbensonst das harte Arbeitsloos der Dienstbarkeit und desHandwerkerstands ist, ausgenommen bei den Utopi-ern, die, obwohl sie den Tag mit Hinzurechnung derNacht in vierundzwanzig gleiche Stunden theilen,doch nur sechs für die Arbeit bestimmen; drei Stun-den Vormittags, worauf sie zur Mittagsmahlzeitgehen; nach dem Essen zwei Stunden Ruhezeit, dannwieder drei der Arbeit gewidmete, worauf sie mit demAbendmahl Feierabend machen. Da sie die erste Stun-de von Mittag an rechnen, so gehen sie um acht Uhrschlafen und widmen acht Stunden dem Schlafe.

Die Zeit zwischen den Stunden der Arbeit, demSchlafe und dem Essen ist Jedem nach seinem Gut-dünken freigestellt; nicht daß er dieselbe in Ueppig-keit oder in Trägheit verbringen soll, sondern was ihmvon seiner Handwerksthätigkeit freie Zeit bleibt, dasverwendet Jeder nach seiner individuellen Neigungauf die Erlernung einer andern Fertigkeit.

Die Mußezwischenzeit verwenden die Meisten fürdie Wissenschaften. Denn es ist ein sehr schöner Ge-brauch, täglich in den Frühstunden öffentlichen

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Unterricht zu halten, welchem diejenigen beiwohnenmüssen, die speziell für die Wissenschaften bestimmtsind. Uebrigens besuchen diese Unterrichtsstundenzahlreiche Männer und Frauen aus allen Ständen, derEine diese, ein Andrer andere, wie Jeder eben Lustund Geschmack hat. Wenn aber Jemand auch dieseZeit lieber mit seiner Beschäftigung verbringt, wie soMancher thut (dessen Geist nicht zum reinen wissen-schaftlichen Denken angelegt ist), so wird ihm dasnicht verwehrt, sondern er wird dafür noch gelobt,weil er dem Gemeinwohl sich so nützlich erweist.

Nach dem Abendessen verbringen sie eine Stundemit Spielen, im Sommer in den Gärten, im Winter inden gemeinschaftlichen Speisesälen. Dort treiben sieentweder Musik, oder ergötzen sich im Gespräche.

Das Würfelspiel und derartige alberne und verderb-liche Spiele kennen sie nicht. Aber zwei Spiele sindim Schwange, die eine gewisse Aehnlichkeit mit demSchachspiel haben. Das eine ist ein Kampf der Zah-len, worin eine Zahl die andere raubt. In dem andernkämpfen Laster mit Tugenden in aufgestellterSchlachtordnung. In diesem Spiele wird sehr sinn-reich sowohl der Widerstreit der Laster untereinander,wie ihr einmüthiges Zusammenhalten gegen die Tu-genden gezeigt, ebenso, welche Laster das Widerspielder verschiedenen Tugenden sind, mit welchen Kräf-ten sie sich offen gegen diese empören, und mit

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welchen geheimen Ränken sie ihnen auf krummenWegen nachstellen, und mit welchen Hilfsmitteln an-dererseits die Tugenden die Macht der Laster brechenund ihre Lockungen vereiteln und auf welche Art undWeise der Sieg auf der einen oder andern Seite errun-gen wird.

Aber um keine falschen Vorstellungen aufkommenzu lassen, ist hier etwas näher zuzusehen. Denn danur sechs Stunden gearbeitet wird, so könnte manvielleicht der Meinung sein, daß daraus ein Mangelan den nothwendigsten Erzeugnissen entstehenmüsse.

Aber das ist so wenig der Fall, daß besagte Zeit zurHerstellung einer Fülle von Dingen, die zu den Le-bensbedürfnissen und Lebensannehmlichkeiten gehö-ren, nicht nur genügt, sondern mehr als ausreichendist, was ihr leicht einsehen werdet, wenn ihr bedenkt,ein wie großer Theil des Volkes bei andern Nationenmüßig geht. Erstens fast alle Frauen, die Hälfte derganzen Bevölkerung, oder, wo die Frauen thätig sind,faulenzen an ihrer Statt meistens die Männer. Wiegroß ist ferner die müßig gehende Schaar der Priesterund Mönche?! Dazu kommen sodann die Reichen,meist Großgrundbesitzer, gewöhnlich die Junker undAdeligen genannt; dazu rechne ferner die SchaarenDiener und den gesammten Schwarm müßiggängeri-scher Gefolgschaft, endlich die gefunden, kräftigen

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Bettler, die alle möglichen Krankheiten zum Vorwandfür ihre Faulheit nehmen.

Sicherlich würdest du die Anzahl Derer, durchderen Tätigkeit die Produkte zu Stande kommen, diezum täglichen Gebrauche dienen, geringer finden, alsdu wohl wähnen dürftest. Nun überlege bei dir, wieWenige von diesen selbst wieder sich mit praktischnützlichen, nothwendigen Handwerken beschäftigen.

Wo Geld der Maßstab aller Dinge ist, da müssenviel eitle und überflüssige Künste betrieben werden,die nur dem Luxus und den Lüsten dienen. Dennwenn dieselbe Anzahl von Leuten, die heutzutageüberhaupt arbeiten, auf die wenigen Handwerke ver-theilt würde, die der natürlich einfachen Lebensweisenach bloß erforderlich sind, so würden die Preise sosehr sinken, daß die Handwerker von ihrer Arbeitihren Lebensunterhalt nicht mehr zu bestreiten ver-möchten. Aber wenn alle Jene, die jetzt in müßigenKünsten und Gewerken beschäftigt sind, zusammt derganzen Schaar, die sich in Müßiggang und Nichtsthunlangweilt, und deren Jeder von den Erzeugnissen, diedurch wirklich Arbeitende hergestellt werden, doppeltso viel verbraucht, als ein nützlicher Arbeiter, alle inpraktisch nützlichen Berufen untergebracht würden,so würdest du mit Leichtigkeit gewahr werden, wie sosehr wenig Zeit mehr als übergenug ist, um alles daszu liefern, was entweder der unbedingte

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Lebensbedarf, oder die Behaglichkeit und selbst dasVergnügen - doch nur das wahre und natürliche - er-heischt.

Und das erhellt in Utopien aus den Thatsachenselbst. Denn dort sind in einer ganzen Stadt mitsammt ihrer nächsten Umgegend aus der gesammtenZahl der Männer und Frauen, die dem Alter und

den Körperkräften nach zur Arbeit tauglich sind,kaum fünfhundert, die davon befreit sind. Unter die-sen dispensiren sich die Syphogranten (die gesetzlichder Arbeit überhoben sind) nicht einmal selbst vomArbeiten, um die Uebrigen um so leichter durch ihrBeispiel zur Arbeit einzuladen.

Derselben Immunität erfreuen sich diejenigen, wel-chen das Volk zufolge der Empfehlung der Priesterund den geheimen Abstimmungen der Syphograntenzum Studium der Wissenschaften lebenslängliche Be-freiung gewährt. Wenn so einer die auf ihn gesetztenHoffnungen getäuscht hat, so wird er in die Klasse derHandwerker zurückversetzt; und umgekehrt kommt esgar nicht so selten vor, daß ein Handwerksmann seineersparten Mußestunden so emsig den Wissenschaftenzuwendet, daß er ansehnliche Fortschritte macht, und,von seinem Handwerk befreit, in die Klasse der Gelei-erten aufsteigt.

Aus diesem Stande der Gelehrten werden die Ge-sandten, die Priester, die Traniboren, wird endlich der

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Fürst selbst erwählt, den sie in ihrer alten SpracheBarzanes, in der neueren Ademus nennen.

Da die ganze übrige Bevölkerung weder unbe-schäftigt, noch in unfruchtbaren Handwerken beschäf-tigt ist, so ist leicht zu taxiren, in wie wenigen Stun-den so viel nützliche Arbeit in den erwähnten Bezie-hungen vor sich gebracht werden kann; dazu kommtnoch der erleichternde günstige Umstand, daß sie inden meisten unentbehrlichen Gewerken weniger Ar-beitszeit verbrauchen, als andere Völker.

Denn erstens kostet die Aufführung und die Repa-ratur der Gebäude anderwärts überall viele und be-ständige Arbeit, weil, was der Vater gebaut hat, einfahrlässiger Erbe nach und nach verfallen läßt, wäh-rend er es mit geringem Aufwande hätte in Stand hal-ten können; dessen Nachfolger muß die Wiederher-stellung dann von Frischem mit beträchtlichen Kostenbesorgen lassen; nicht selten auch ist einer so zimper-lich, daß er das mit großem Aufwande erbaute Hausals zu simpel verschmäht und es darum vernachläßigt;wenn es dann binnen Kurzem verfällt, läßt er sich an-derswo ein anderes mit nicht geringeren Kosten er-bauen.

Aber bei den Utopiern, wo alle Verhältnisse wohlgeordnet sind, und das Staatswesen bestens konsoli-dirt ist, kommt es nur selten vor, daß ein neues Hausauf einem Bauplatz aufgeführt wird, da vorhandenen

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Schäden nicht nur schleunig abgeholfen, sondern aucherst drohenden flugs begegnet wird.

So kommt es denn, daß die Gebäude mit einem Mi-nimum von Arbeit ungemein lange dauern, so daß dieBauhandwerker zuweilen kaum etwas zu thun haben,außer mittlerweile Zimmerholz zu hobeln und Steinezu behauen, damit, wenn es einen Bau aufzuführengibt, dieser um so rascher entstehen kann.

Nun sollst Du auch an der Kleidung sehen, wiewenig Arbeit die Utopier brauchen. Bei der Arbeitselbst sind sie ganz primitiv in Leder oder Felle ge-kleidet, die sieben Jahre aushalten. Wenn sie dann dieArbeit verlassen und auf die Straße gehen, ziehen sieein Oberkleid über, welches jene gröbere Gewandungverdeckt; dieses hat dieselbe Farbe auf der ganzenInsel, und zwar die natürliche der Wolle. Sie brau-chen daher viel weniger Tuchstoffe als anderswo undauch jenes eine Tuch kommt ihnen billiger.

Die Herstellungsarbeit ist bei Leinen geringer,daher wird es häufiger verwendet, aber bei Leinenwird nur auf die Weiße, bei Wollstoffen auf die Rein-lichkeit gesehen, die größere Feinheit des Gewebeswird nicht bezahlt.

So kommt es, daß, während nirgendswo sonst vieroder fünf Wollkleider von verschiedenen Farbeneinem Manne genügen und den etwas Verwöhnterennicht einmal zehn, dort Jedermann mit einem

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auskommt und das meist noch für zwei Jahre. Es gibtja keinen Grund, warum er sich mehr wünschen soll-te; er wäre mit ihnen weder gegen die Kälte mehr ge-schützt, noch würde er durch seine Kleidung um einHaar schmucker aussehen.

Da sie sich nur mit nützlichen Gewerken und Kün-sten befassen, und in jedem Handwerk nur wenige Ar-beiter benöthigt sind, so geschieht es, daß die Utopierzu Zeiten eine sehr große Anzahl Leute zur Verfü-gung haben, welche die öffentlichen Straßen ausbes-sern können, wenn diese schadhaft geworden sind.Sehr oft aber, wenn auch diese Art Arbeit nicht vonnöthen ist, wird öffentlich bekannt gemacht, daß dieZahl der Arbeitsstunden herabgesetzt ist. Denn dieObrigkeiten plagen die Bürger nicht mit unnützerüberflüssiger Arbeit.

Die Organisation dieses Staatswesens hat vor allemdiesen einen Zweck vor Augen, alle Zeit, so weit esdie Arbeiten für die Bedürfnisse der Gesammtheit er-lauben, den Bürgern zur Abstreifung der Knechtschaftdes Leibes und zur Befreiung und Ausbildung desGeistes zu gute kommen zu lassen.

Denn darin sehen sie das wahre Glück des Lebens.

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Vom gegenseitigen Verkehre.

Jetzt wäre darzulegen, wie sich die Bürger gegen-seitig unter einander verhalten, welcher Art sie Ver-kehr mit einander haben, und in welcher Weise dieVertheilung der produzirten Sachen erfolgt.

Die Stadt besteht aus Familien, die Familien wer-den größtentheils durch Verwandtschaft gebildet. Diemannbaren Weiber werden verheiratet und beziehenmit ihren Ehemännern ihre eigenen Wohnungen. Aberdie männlichen Söhne und die Enkel bleiben in derFamilie und gehorchen dem ältesten Ascendenten, solange dessen geistige Fähigkeiten nicht altersschwachgeworden sind, in welchem Falle der nächstälteste anseine Stelle tritt.

Damit aber die Bevölkerung weder abnehme, nocheine Uebervölkerung eintrete, ist vorgesehen, daß jedeFamilie, deren jede Stadt sechstausend, die Landge-genden des Weichbildes ausgenommen, enthält, nichtweniger als zehn und nicht mehr als sechzehn Er-wachsene zähle. Die Zahl der unmündigen Kinderläßt sich nicht vorschreiben.

Dieser Modus ist leicht innezuhalten, indem dieje-nigen in weniger vollzählige Familien eingethan wer-den, die einer an Köpfen überreichen Familie ent-stammen.

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Wenn eine Stadt im Ganzen überhaupt zu vieleEinwohner hat, so wird der Mangel anderer Städte da-durch ergänzt. Wenn aber vielleicht die ganze Inselüber das rechte Maß hinaus bevölkert wäre, so wer-den aus jeder Stadt eine bestimmte Anzahl ausge-wählt und auf dem nächstgelegenen Festlande, wo dieEingeborenen viel überschüssiges unbebautes Landhaben, wird eine Kolonie angelegt, indem sie sich mitden Eingeborenen vereinigen, wenn diese in Gemein-schaft mit ihnen leben wollen. Die sich mit ihnen zurselben Lebensweise mit denselben Sitten und Gebräu-chen vereinigen wollen, verschmelzen leicht mitihnen, zu beider Völker Bestem. Denn so wird be-wirkt, daß dasselbe Land für beide Ueberfluß bietet,das vorher für ein Volk allein dürftig und unergiebigschien. Solche, die sich weigern, nach ihren (der Uto-pier) Gesetzen zu leben, drängen sie soweit zurück,als sie selbst das Land zu besetzen sich vorgenommenhaben. Widerstrebende werden mit Krieg überzogen.Denn für den gerechtesten Grund zum Kriege haltensie es, wenn ein Volk von dem Lande, das es besitzt,keinen Gebrauch macht, sondern es nur als todten Be-sitz inne hat, Andern aber gleichwohl diesen Besitzund dessen Nutznießung, worauf diese, nach dem Ge-bote der Natur, zu ihrer Ernährung angewiesen wären,vorenthält.

Wenn eine der Städte eine solche Kalamität

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betroffen hat, daß ihre Bevölkerung aus den übrigenStädten, ohne daß die Einwohnerschaft einer dersel-ben unter das vorgeschriebene Maß vermindertwürde, nicht ergänzt werden kann (was bisher bloßzweimal seit Anbeginn der Landesgeschichte der Inselin Folge einer gräulich wüthenden Pest sich zugetra-gen haben soll), so wandern die Bürger aus der Kolo-nie ins Mutterland zurück und füllen die Lücken aus.Denn eher lassen sie die Kolonie eingehen, als einerder Inselstädte Gefahr der Entvölkerung drohen.

Doch ich kehre zum Zusammenleben der Bürgerzurück. Der Aelteste steht (wie ich gesagt habe) derFamilie vor. Die Gattinnen dienen den Ehemännern,die Kinder den Eltern, überhaupt die Jüngeren denAelteren.

Jede Stadt ist in vier gleiche Abtheilungen getheilt.In der Mitte jeder Abtheilung ist ein allgemeinerMarkt. Dorthin werden in gewisse Gebäude die Ar-beitsprodukte aller Familien gebracht, dann werdendie verschiedenen einzelnen Gattungen in Magazinesortirt gelagert. Von dort holt jeder Familienvater,was er und die Seinen nöthig haben, und nimmt esohne Geld und ohne irgendwelche Gegenleistung ansich. Denn warum sollte ihm etwas verweigert wer-den? Da ja alle Dinge in Ueberfluß vorhanden sindund der Befürchtung nicht Raum gegeben wird, daßJemand mehr als er bedarf, verlangen werde. Denn

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warum sollte man annehmen, daß Jemand Ueberflüs-siges fordern werde, wenn er sicher ist, daß er in kei-nem Augenblicke irgend einer Sache ermangelnwerde? Habgierig und raubsüchtig macht alle Lebe-wesen die Furcht vor künftiger Entbehrung, oder, beiden Menschen allein, auch noch der Hochmuth, durchdas Prunken mit überflüssigen Dingen, deren Besitzsie sich zur Ehre anrechnen, sich vor den Andern her-vorzuthun, eine Art des Lasters, dessen Entwickelungdurch die utopischen Einrichtungen von vornhereinabgeschnitten ist.

Den erwähnten Märkten schließen sich Lebensmit-telmärkte an, nach denen nicht nur Gemüse, Baum-früchte und Brod, sondern auch Fische und alles Eß-bare von Säugethieren und Geflügel geschafft wird,die an passenden Orten errichtet sind, wo durch Fluß-wasser aller Schmutz und Unrath weggespült wird.

Dorthin werden die von den Knechten geschlachte-ten und gereinigten Thiere gebracht (denn ihre Bürgersollen sich nicht an das Schlächterhandwerk gewöh-nen, wodurch, wie sie der Ansicht sind, das Mitleid,das menschlichste der Gefühle unserer Natur, allmäh-lich abgestumpft werde und schwinde), auch lassensie nichts Schmutziges und Unreines in die Stadt brin-gen, weil die durch die Fäulniß verdorbene LuftKrankheiten einschleppen könnte.

Außerdem gibt es in jeder Straße einige geräumige

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Hallenbauten, in gewissen Abständen von einander,die alle unter ihrem Namen bekannt sind. Darin woh-nen die Syphogranten und die dreißig Familien einesjeden sind dorthin zugetheilt, wo von aus jeder Seitefünfzehn wohnen, die dort speisen. Die Küchenmei-ster dieser Hallen kommen zu einer gewissen Stundeauf den Markt, wo sie Eßwaaren nach der Kopfzahlder sie angehenden Familien einholen.

Die oberste Rücksicht wird auf die Kranken ge-nommen, die in Spitälern gepflegt werden. Im Um-kreise der Stadt gibt es, etwas außerhalb der Stadt-mauern, vier so geräumige Spitäler, daß man sie fürganze Städtchen halten könnte, theils, damit eine be-liebig große Anzahl Kranker nicht zu eng bei einan-der und daher unbequem logirt werden müssen, theils,damit Solche mit ansteckenden Krankheiten von Ab-theilungen anderer Krankheiten genügend weit abge-bettet werden können.

Diese Spitäler sind so gut eingerichtet, und mitAllem, was der Gesundheit zuträglich ist, ausgestat-tet, es herrscht darin so zarte und gewissenhafte Pfle-ge, die erfahrensten Aerzte sind so fleißig anwesend,daß, wenn auch Niemand wider seinen Willen hinein-gethan wird, es andererseits wohl keine Person in derganzen Stadt gibt, die, wenn sie leidender Gesundheitist, nicht lieber dort als zu Hause sich auf's Kranken-lager legen wollte.

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Wenn der Küchenmeister für die Kranken die vonden Aerzten verordneten Eßwaaren erhalten hat, wirddas Beste gleichmäßig an die Hallen nach ihrem Stär-keverhältniß von Speisegästen vertheilt, nur daß be-sondere Aufmerksamkeit dem Fürsten, dem oberstenPriester und den Traniboren erwiesen wird, wie auchden Gesandten und allen Ausländern (deren immernur wenige anwesend sind, was aber auch nur seltender Fall ist), für die gewisse Gebäude eigens herge-richtet werden.

In diesen Hallen für Mittagsmahl und Abendessenkommt zu bestimmten Stunden, durch den Schalleherner Posaunen zusammengerufen, die gesammteSyphograntie zusammen, außer Jenen, die in Spitälernund zu Hause krank darniederliegen.

Gleichwohl wird Niemand gelindert, nachdem dieHallen versehen sind, sich Eßwaaren nach Hausegeben zu lassen, denn man weiß, daß das Niemandaus Muthwillen thut. Denn, wenn es auch Keinemverboten ist, zu Hause zu speisen, so thut es dochNiemand gern, da es nicht gerade für besonders ehr-bar gilt; auch gilt es für thöricht, sich die Mühe mitder Bereitung eines mittelmäßigen Mahles zu machen,da man es herrlich und trefflich zubereitet ganz in derNähe in der Halle haben kann.

In dieser Halle werden alle schmutzigeren odermühsameren Dienstleistungen von Knechten

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verrichtet. Das Kochen und die ganze Herrichtung derSpeisetische besorgen die Frauen allein und zwar vonallen Familien abwechslungsweise. Man nimmt andrei oder mehr Tischen Platz, je nach der Zahl derGäste. Die Männer haben die Plätze an der Wand, dieFrauen ihnen gegenüber, damit sie, wenn ihnen plötz-lich eine Uebelkeit zustoßen sollte, was bei Schwan-geren zuweilen der Fall zu sein pflegt, ohne die Sitz-ordnung zu stören, sich erheben und zu den Ammenabgehen können; diese sitzen dann mit ihren Säuglin-gen in einem eigenen Speisezimmer, das nie ohneFeuer und reines Wasser ist, wo sich auch die Wiegenbefinden, um die Tragekinder hineinlegen und beimFeuer aus den Windeln wickeln zu können, wo siedann mit ihnen tändeln.

Jede Mutter säugt ihr Kind, woran sie nur der Tododer Krankheit verhindert; in solchem Falle besorgendie Frauen der Syphogranten rasch eine Amme, wasnicht schwer fällt. Denn die zu solcher DienstleistungGeeigneten bieten sich zu keinem Amte lieber an,weil ihnen für diesen Liebesdienst von allen SeitenLob entgegen gebracht wird und der Säugling nach-mals die Amme wie seine Mutter betrachtet.

In der Ammenstube befinden sich alle Knaben; diedas fünfte Jahr noch nicht zurückgelegt haben. DieUnerwachsenen beiderlei Geschlechts, die noch nichtheirathsfähig sind, warten entweder den um die Tafel

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Gelagerten auf, oder stehen wenigstens, wenn sie sichdem Alter nach noch nicht dazu eignen, dabei, verhal-ten sich aber gänzlich schweigsam und still. Sieessen, was ihnen von den Tafelnden gereicht wird, da-selbst, haben auch sonst keine Zeit für das Essen be-stimmt.

In der Mitte des ersten Tisches (dieses ist der ober-ste Platz) sitzt der Syphogrant mit seiner Gattin. Vondieser Stelle aus übersieht man die ganze Tischgesell-schaft, weil dieser Tisch im obersten Theile des Spei-sesaales quer steht. Neben ihnen sitzen zwei der Ael-testen. Denn an allen Tischen sitzt man zu viert.

Wenn aber ein Tempel in der Syphograntie gelegenist, so sitzen der Priester und seine Frau beim Sypho-granten und führen den Vorsitz. Zu beiden Seiten vonihnen sitzen jüngere Leute, dann wieder Greise, undso sind im ganzen Hause sowohl Altersgenossen zu-sammengebracht, als auch andere Altersstufen darun-tergemischt, eine Einrichtung, die deswegen getroffenworden, damit der gesetzte Ernst der Greise und dieEhrfurcht vor ihnen die jüngeren Leute von zügello-sem Gebahren in Wort und Gebärde zurückhalte (danichts am Tische gesprochen oder gethan werdenkann, was der Aufmerksamkeit der ringsum Sitzendenentginge).

Die einzelnen Gänge der Speisen werden nicht inder Reihenfolge vom Ersten aufgetragen, sondern

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zuerst das Beste von jedem Gerichte den Aeltestenvorgesetzt (deren Plätze ausgezeichnet sind), dannwerden alle Uebrigen gleichmäßig bedient. Aber dieGreise theilen von ihren Leckerbissen (die nicht in sogroßer Menge vorhanden sind, daß sie in der ganzenHalle freigebig vertheilt werden können) nach Gut-dünken den Umsitzenden mit. So wird den Alten dieihnen gebührende Ehrung erzeigt, und in Einemkommt diese auch allen Andern zu gute.

Jede Mittags-, ebenso wie die Abendmahlzeit wirdmit einer moralischen Vorlesung eingeleitet, die aberkurz ist, damit sie nicht Ueberdruß erweckt. Hieraufergreifen die Greise die Gelegenheit zu ehrbarenReden, doch nicht düsterer, sondern heiterer Art. Abersie führen nicht während des ganzen Mittagessens al-lein in langen Tiraden das Wort: sie hören auch gerndie Jungen und fordern sie absichtlich zum Reden auf,um sich mittels der beim Mahle herrschenden Unge-zwungenheit von den Charakteranlagen und geistigenFähigkeiten derselben zu überzeugen.

Die Mittagsmahlzeiten sind recht kurz, die Abend-mahle dauern länger, weil auf jene wieder Arbeitszeit,auf diese Schlaf und nächtliche Ruhe folgt, die manfür eine gesunde Verdauung für viel zuträglicher hält.

Keine Abendmahlzeit verläuft ohne Musik. Auchentbehrt der Nachtisch nicht allerlei Leckereien; siezünden wohlriechende Substanzen an, sprengen mit

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duftenden Essenzen und unterlassen nichts, was dieTischgäste zu erheitern geeignet ist.

Denn sie neigen in dieser Beziehung sehr gernezum Vergnügen, so daß sie keinerlei Lustbarkeit, ausder nichts Uebles zu erfolgen im Stande ist, für unter-sagt halten.

So ist das gesellige Zusammenleben in den Städtenbeschaffen; die am Lande entlegen von einanderWohnenden, essen jeder für sich allein zu Hause; esfehlt keiner Familie etwas an ihrem Lebensunterhalte,denn von ihnen kommt ja erst Alles, wovon die Bür-ger in den Städten sich ernähren.

Vom Reisen der Utopier.

Im Falle, daß Jemand einen in einer andern Stadtwohnhaften Freund zu besuchen wünscht, oder es ihnverlangt, einen andern Ort zu sehen, kann er von sei-nen Syphogranten und Traniboren leicht die Erlaub-niß dazu erhalten, wofern man seiner nicht zu einerArbeit bedarf. Er wird mit einer Anzahl Anderer, diezu reisen wünschen, fortgeschickt, mit einem Briefedes Fürsten versehen, der die Erlaubniß zu reisen ent-hält und den Tag der Rückkehr vorschreibt. Man gibtihm einen Wagen und einen Sklaven mit, der die Zu-gochsen zu führen und zu besorgen hat. Wofern sie

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aber nicht Frauen mitnehmen, wird der Wagen alsetwas Lästiges und Hinderliches zurückgewiesen. Aufder ganzen Reise führen sie nichts mit sich, aber esgeht Ihnen gleichwohl nichts ab, denn sie sind jaüberall wie zu Hause.

Wenn Einer an einem Orte sich länger als einenTag aufhält, so nimmt er die Arbeit in seinem Hand-werk auf und wird von seinen Zunftgenossen auf's zu-vorkommendste behandelt.

Wenn einer eigenmächtig sich außerhalb seines Be-zirkes herumtreibt, und ohne den fürstlichen Erlaub-nißschein ergriffen wird, so gereicht ihm das zumSchimpf, er wird wie ein Flüchtling zurückgewiesen,scharf gezüchtigt, und geräth im Wiederholungsfallein die Sklaverei.

Wenn Einen die Lust anwandelt, die Fluren seinesStadtgebiets zu durchschweifen, so ist ihm das nichtverwehrt, wofern er die Erlaubniß seines Vaters unddie Zustimmung seiner Ehefrau dazu hat. Aber injedem Landstrich, wohin er kommt, erhält er nichtfrüher Nahrung, bevor er so viel Arbeit geleistet hat,entweder Vormittags oder vor dem Abendessen, als esdort Brauch ist. Unter dieser Bedingung darf Jedersich innerhalb des Gebietes der Stadt, in der er wohnt,frei bewegen. Denn er wird ihr so nicht minder nütz-lich sein, als wenn er in der Stadt selbst weilte.

Ihr seht daher schon, wie es gar keine Gelegenheit

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zum Müßiggang, keinen Vorwand zum Faulenzengibt. Keine Weinkneipe, keine Bierkneipe, kein Bor-dell, keine Gelegenheit zur Sittenverderbniß, keineSchlupfwinkel, keine heimliche Versammlung, son-dern die Augen Aller, die stets auf ihn gerichtet sind,zwingen ihn zu seiner gewohnten Arbeit oder zu ehr-barer Muße.

Bei solcher Lebensführung muß Ueberfluß in allenDingen im Volke vorhanden sein, und durch diegleichmäßige Vertheilung kommt es, daß es keineArmen und keine Bettler gibt.

Sobald im Senate von Amaurotum (wohin, wieschon bemerkt, jährlich drei Abgeordnete aus jederStadt entsendet werden) festgestellt ist, was etwa aneinem Orte in Ueberfluß vorhanden ist und woran esandernorts mangelt, so wird der Mangel alsbald aus-geglichen durch die Ueberfülle des ersten Orts unddas geschieht ohne Entgelt, indem die in dieser WeiseBeschenkten nichts dafür zu entrichten brauchen. Waseine Stadt der andern schenkweise überläßt, stellt siedieser nicht in Rechnung: andererseits erhält sie selbstwieder von einer anderen Stadt geliefert, was ihr fehlt,wofür sie ebenfalls keine Entschädigung leistet.

So bildet die ganze Insel gleichsam eine Familie.Wenn sie sich selbst genügend versehen haben

(was sie aber nicht für geschehen erachten, wenn sienicht für zwei Jahre, wegen des ungewissen Ausfalles

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der Ernte des nächsten Jahres, vorgesorgt haben) ex-portiren sie den Ueberschuß in großen Mengen, als daist Getreide, Honig, Wolle, Flachs, Holz, Färberwaidund Purpurschnecken, Felle, Wachs, Talg, Leder undauch Thiere, in die Fremde, von welchen Dingen allensie den siebenten Theil den Armen jener Gegendenschenken, das Uebrige zu mäßigem Preise verkaufen.

In Folge dieses Handels führen sie auch jene Waa-ren bei sich ein, deren sie in der Heimat entbehren(obwohl es Derartiges außer Eisen fast nicht gibt),insbesondere eine große Menge Gold und Silber.

Da sie dies schon lange so halten, haben sie an sol-chen Sachen einen so bedeutenden Ueberfluß aufge-häuft, daß man es kaum glauben möchte. Darum ist esihnen ziemlich gleichgültig, ob sie gegen baar Geldverkaufen, oder auf Kredit, daher sie auch das Meisteauf Schuldscheine ausstehen haben; dabei gelten sol-che von Privatleuten nichts: es müssen rechtsgültigausgestellte Dokumente sein, mittels derer eine ganzeStadt sich offiziell verbürgt.

Sobald der Zahlungstag gekommen ist, fordert dieStadt die Schulden von den Privatschuldnern ein undbehält deren Betrag im Aerar und hat von diesemGelde den Nutzgenuß solange, bis es die Utopier zu-rückfordern. Sie thun dies aber mit dem größten Thei-le desselben nicht. Denn einem Anderen das zu neh-men, was für sie keinen Werth hat, diesem aber zum

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Nutzen gereicht, würden sie nicht für billig halten.Uebrigens, wenn es gerade einmal erforderlich ist

und sie jenes Geld theilweise einem anderen Volkeleihen wollen, oder im Kriegsfalle, fordern sie es dochvoll zurück; zu diesem einen Zweck behalten sie ihrenganzen Schatz zu Hause zurück, damit er ihnen inäußersten oder plötzlichen Gefahren zum Schutzediene; hauptsächlich um fremde Soldaten (welche sielieber der Gefahr preisgeben als die eigenen Bürger)durch hohen Sold zu werben, indem sie wohl wissen,daß für hohe Geldsummen auch die Feinde gar häufigkäuflich sind, sei's nun durch Verrath, sei's, daß siesich untereinander selbst wieder feindlich entzweien.

Aus diesem Grunde bewahren sie stets einen uner-meßlichen Schatz auf, doch nicht eigentlich als sol-chen, sondern sie halten es so damit, daß ich michwahrhaftig schäme, es zu erzählen, indem ich befürch-ten muß, daß meine Rede keinen Glauben findenwerde, was ich um so ernstlicher besorge, als ich nurzu wohl weiß, daß, wenn ich es nicht mit eigenenAugen gesehen hätte, ich nur überaus schwer hätte be-wogen werden können, es einem Andern zu glauben,der es mir erzählt hätte.

Denn es ist durchaus natürlich und nothwendig,daß, je fremder und unerhörter etwas den Sitten undGebräuchen der Zuhörer ist, es auch um so wenigerGlauben bei ihnen findet, obwohl ein vernünftiger

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Beurtheiler sich eigentlich nicht eben so sehr darüberwundern dürfte, da ja auch ihre sämmtlichen übrigenEinrichtungen so bedeutend von den unsrigen abwei-chen - wenn daher auch der Gebrauch, den sie vonGold und Silber machen, mehr ein ihren als unsernSitten entsprechender ist.

Sie bedienen sich nämlich unter sich keines Geldes,das sie vielmehr für solche Fälle aufheben, wo esihnen von Nutzen werden kann, wenn es auch mög-lich ist, daß solche niemals eintreten.

Mit dem Golde und Silber, woraus Geld hergestelltwird, hat es bei ihnen nämlich diese Bewandtniß, daßes kein Mensch höher schätzt, als ihm seinem natürli-chen Werthe nach zukommt, und wer würde da nichteinsehen, daß diese beiden Metalle weit unter demEisen stehen? Denn ohne dieses können die Menschendoch wahrhaftig ebensowenig leben, wie ohne Feuerund Wasser, während die Natur dem Gold und Silberkeinen Gebrauch verliehen hat, dessen wir nicht leichtentrathen könnten, und es nur die Thorheit der Men-schen ist, die der Seltenheit einen so hohen Werth bei-gelegt hat. Und als eine höchst liebevolle Mutter hatdie Natur die nützlichsten Dinge uns ohne alleSchwierigkeiten zugänglich gemacht, wie Luft, Was-ser und die Erde selbst, die nichtigen, eitlen, unnützenaber weit entrückt.

Wenn nun diese Metalle bei ihnen irgendwo in

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einen Thurm verschlossen würden, so könnte derFürst sowohl als der Senat in den Verdacht kommen(wie das Volk dummpfiffger Weise denkt), als ob siedas Volk hinterlistig betrügen und für sich selbstVortheil daraus ziehen wollten.

Sie sehen ferner sehr wohl ein, daß, wenn sie dar-aus Schalen oder andere Gegenstände der Schmiede-kunst verfertigen wollten, und diese dann bei vorkom-mender Gelegenheit wieder einschmelzen müßten, umden Soldaten den Sold auszuzahlen, die Leute sichnur sehr ungern von Dingen trennen würden, an denensie erst einmal Wohlgefallen zu empfinden angefan-gen hätten.

Um allen Diesem zu begegnen, haben sie ein Mittelerdacht, das zwar mit ihren übrigen Einrichtungensehr wohl übereinstimmt, aber mit den unsrigen ganzund gar unvereinbar wäre, da bei uns das Gold sohoch gehalten und so sorgsam bewahrt wird, eineMaßregel, die daher nur Jenen glaublich erscheint, diesich aus der Erfahrung von ihrem wirklichen Bestehenüberzeugt haben.

Denn da sie aus zwar sehr zierlichen, aber billigenthönernen und irdenen Gefäßen essen und trinken, soverfertigen sie aus Gold und Silber Nachtgeschirreund andere zu niedrigstem Gebrauche bestimmte Ge-fäße für die gemeinschaftlichen Hallen sowohl als fürPrivathäuser. Ueberdies werden Ketten und dicke

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Fesseln für die Sklaven aus diesen Metallen gefertigt.Endlich werden allen Denen, die durch ein Verbre-chen ehrlos geworden sind, goldene Ringe in dieOhren gehenkt, goldene Fingerringe angesteckt, einegoldene Kette um den Hals gethan und um den Kopfwird ihnen eine goldene Schnur gebunden.

So sorgen sie auf alle Weise dafür, daß Gold undSilber bei ihnen eine schimpfliche Rolle spielen, undso kommt es, daß diese Metalle, die sich andere Völ-ker nur unter Schmerzen, als ob es ihre eigenen Ein-geweide wären, entreissen lassen, für nichts geachtetwerden und, wenn die Utopier einmal alles Gold undSilber, das im Lande ist, hergeben müßten, kein Ein-ziger erachten würde, er habe deswegen auch nur einAs verloren.

Ueberdies sammeln sie Perlen am Meeresufer undDiamanten und Granaten in gewissen Felsen, ohne sieeigentlich zu suchen, aber die ihnen zufällig sich dar-bietenden schleifen sie. Damit schmücken sie ihrekleinen Kinder, die zwar in den ersten Jahren derKindheit sich damit brüsten und sehr stolz daraufsind, im etwas vorgerückteren Alter jedoch sie frei-willig, ohne daß es einer Mahnung seitens der Elternbedürfte, ablegen, so bald sie sehen, daß derlei Kin-dertand eben nur die Knaben benutzen, dessen siesich alsbald von selbst schämen. Gerade so werfenunsere Knaben, sobald sie heranwachsen, ihre Nüsse,

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Knöpfe und Puppen von sich.Wie sehr aber diese von denen anderer Völker ganz

und gar abweichenden Gebräuche und Einrichtungenauch ganz verschiedene Anschauungen und Gesinnun-gen erzeugt haben, ist mir nie so klar geworden, alsim Falle der Anemolischen Gesandten.

Diese waren nach Amaurotum gekommen (zur Zeit,als ich mich gerade dort aufhielt), und weil es überwichtige Dinge zu verhandeln galt, so waren noch vorihnen jene drei Bürger aus der Stadt dort zusammen-gekommen. Nun kannten aber die Gesandten aller be-nachbarten Völkerschaften, die einmal auf der Inselgelandet hatten, bereits die Sitten der Utopier,wußten, daß diese auf prunkvollen Staat und Aufputznichts gaben, Seide verachtet werde, Gold aber gar inschimpflichem Verrufe sei, und waren daher stets inso bescheidenem Aufzuge als nur möglich in Utopienerschienen. Aber die Anemolier, deren Wohnsitzeziemlich weit abgelegen waren, und kaum Verkehrmit den Utopiern gehabt hatten, hatten vernommen,daß diese alle dieselbe grobe Tracht trügen, und derMeinung waren, sie hätten Mangel an dem, was sienicht zur Schau trugen, beschlossen, mehr hoffärtigals weise, sich an Pracht wie die Götter herauszustaf-firen und durch den Glanz ihres Ornats die Augen derarmseligen Utopier zu blenden. So hielten denn diedrei Gesandten ihren Einzug mit einem Gefolge von

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hundert Personen, alle in bunten Farben, die meistenin Seide gekleidet, die Gesandten selbst aber, die inihrem Lande Edelmannsrang hatten, in golddurch-wirkten Gewändern, mit großen goldenen Ketten, mitgoldenen Ohr- und Fingerringen, obendrein mit anden Hüten, die von Perlen und Edelsteinen funkelten,besetzten Kleinodien, kurz mit allen jenen Dingen ge-schmückt, die bei den Utopiern entweder von denSklaven zur Strafe getragen werden müssen, oderschimpfliche Abzeichen de Ehrlosen, oder Knaben-spielzeuge sind.

Es war wahrhaft der Mühe werth, zu sehen, wie sieden Kopf hoch trugen, als sie ihren festlichen Putz mitder Kleidung der Utopier verglichen (denn das Volkwar in hellen Haufen auf alle Straßen geströmt).

Dagegen aber war es nicht minder lustig, zu beob-achten, wie sehr die Gesandten ihre Erwartung ge-täuscht sahen und wie weit sie davon entfernt waren,der Hochschätzung theilhaft zu werden, die sie zu er-zielen gehofft hatten.

Denn in den Augen aller Utopier, mit Ausnahmeeiniger Weniger, die aus irgend einem ernsten Grundebei fremden Völkerschaften gewesen waren, erschienall dieser glänzende Staat schandbar und sie grüßtengerade die Niedrigsten ehrerbietig, weil sie sie für dasEhrenpersonal hielten, die Gesandten selbst aber hiel-ten sie deswegen, weil sie goldene Kelten trugen,

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113Morus: Utopia

umgekehrt für Sklaven und ließen sie daher ohne alleEhrenbezeugung vorüberziehen.

Und die Knaben hättest du sehen sollen, wie sieihre Edelsteine und Perlen schleunigst fortwarfen, alssie sahen, daß solche an die Hüte der Gesandten ange-heftet waren, und wie sie ihre Mütter zupften undstupften:

›Schau, Mutter, was für ein großer Schlingel danoch Perlen und Edelsteine trägt, als ob er noch einkleiner Knirps wäre.‹

Aber die Mutter heißt ihn ganz ernsthaft schweigenund sagt: »Vielleicht ist das einer der Possenreißerder Gesandten.«

Und Andere sagten beim Anblicke der goldenenKetten, daß sie ja nicht zu brauchen seien, weil sieviel zu zierlich wären, so daß sie der Sklave leichtzerbrechen könne, und andererseits hingen sie soschlaff herunter, daß derjenige, der sie um habe, sieabwerfen könne, sobald er wolle, und ungehindertentfliehen.

Als die Gesandten zwei Tage dagewesen waren,entdeckten sie eine große Menge Gold in ganz niedri-ger Verwendung und in nicht geringerer Unehre ge-halten, als sie es hoch in Ehren hielten, und als sienun gewahrten, daß ein einziger flüchtig gewordenerSklave an Ketten und Fesseln mehr Gold und Silberan sich trug, als sie alle drei zusammen, da zogen sie

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bescheidenere Saiten auf, schämten sich des Pomps,womit sie sich so sehr gebläht hatten, und legten ihnbeiseite, namentlich nachdem sie mit den Utopierneine vertraulichere Unterredung angeknüpft und derenAnschauungen und Sitten kennen gelernt hatten.

Sie wundern sich gar sehr, wenn sich Jemand andem zweifelhaften Glanze eines Edelsteinchens odereines falschen Steines ergötzt, während er doch nureinen beliebigen Stern oder den Glanz der Sonneselbst als etwas viel Schöneres zu betrachten braucht,oder wie Jemand so unvernünftig sein könne, daß ersich selbst etwas Besseres dünkt, weil er einen Rockvon feinerem Gewebe anhat, denn sei die Wolle auchnoch so sein, so hat sie doch immer zuerst ein Schafgetragen, und dieses ist mittlerweile nichts Anderesgeworden, sondern ist immer ein Schaf geblieben.

Ebenso wundern sie sich, wie das seiner Naturnach ganz unnütze Gold jetzt in der Werthschätzungaller Völker so hoch stehe, daß der Mensch selbst,durch den und dessen Gebrauch es erst jenen Wertherhalten hat, viel niedriger geschätzt wird. Und dasgeht so weit, daß irgend ein Dummkopf, der nichtmehr Verstand hat als ein Holzklotz, und ebensoschlecht als dumm ist, viel weise und brave Männerin seiner Dienstbarkeit hat, und das nur deswegen,weil er zufällig einen größeren Haufen gemünztenGoldes besitzt. Wenn dieses durch einen

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Glücksumschwung oder einen Gesetzeskniff (dernicht minder als das Gesetz selbst das Unterste zuoberst kehren kann) von jenem Herrn und Besitzer aufden erbärmlichsten Taugenichts seines Hausgesindesübertragen würde, so würde der Herr alsbald in dieKnechtschaft seines Dieners kommen, als ob er nurein Anhängsel und eine Zugabe zum Gelde sei.

Noch viel mehr wundern sie sich über die Unver-nunft Derjenigen, und lassen ihr die gebührende Ver-achtung angedeihen, die den Reichen, deren Schuld-ner sie weder, noch denen sie sonst irgendwie ver-pflichtet sind, fast göttliche Ehren erweisen, aus kei-nem anderen Grunde, als weil sie reich sind, undtrotzdem, daß sie sie als so filzig und habsüchtig ken-nen, um zu wissen, daß ihnen bei Lebzeiten dieserReichen nie auch nur ein einziger Denar von densel-ben zukommen wird.

Diese und ähnliche Ansichten haben sie theilweiseaus ihrer Erziehung geschöpft, indem sie in einemStaate aufgezogen sind, dessen Einrichtungen vonähnlichen Thorheiten weit entfernt sind, theilweiseaus der Litteratur und aus den Wissenschaften.

Denn wenn auch nur Wenige in jeder Stadt sind,die, von den anderen Arbeiten befreit, ausschließlichfür die Wissenschaften bestimmt sind, diejenigennämlich, bei denen von Kindheit auf eine ausgezeich-nete Begabung, ein glänzender Verstand und ein

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116Morus: Utopia

wissenschaftlich veranlagter Geist bemerkt wordenist, so wird doch allen Knaben eine wissenschaftlicheGrundlage gegeben und der größere Theil des Volkes,sowohl Männer als Frauen, widmen ihr ganzes Lebenlang alle arbeitsfreien Stunden, wie schon gesagt wor-den, den Wissenschaften.

Die einzelnen Wissenschaften, lernen sie in ihrerSprache. Diese ist wortreich genug, dem Ohr von an-genehmem Klang und zum klaren Ausdrucke der Ge-danken vortrefflich geeignet. Sie ist über einen großenTheil jenes Erdkreises verbreitet, nur daß sie hier rei-ner, dort verderbter gesprochen wird.

Von allen den Philosophen, deren Namen in unse-ren bekannten Erdtheilen berühmt sind, hat sie vorunserer Ankunft nicht einmal ein ruhmvolles Gerüchterreicht gehabt, und doch haben sie in Musik, Dialek-tik, Arithmetik und Geometrie dieselben Erfindungengemacht, wie wir in alten Zeiten.

Wenn sie aber den Alten fast in allen Dingengleichkommen, so stehen sie in der Dialektik den Er-findungen der Neueren weit nach. Denn sie habenkeine jener Regeln erfunden, die über Einschränkun-gen, Erweiterungen und Unterschiebungen in den An-fangsgründen der Logik höchst scharfsinnig ausge-dacht worden sind und die schon unsere Knaben ler-nen.

Sodann waren sie weit davon entfernt, die zweiten

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117Morus: Utopia

Begriffe aufgestellt zu haben, so daß sie nicht imStande waren, den »Menschen im Allgemeinen«, wiees heißt, zu entdecken, der, wie bekannt, ein wahrerRiese, ja im Grunde größer als jeder Riese ist, aufden, als etwas ganz Bekanntes, wir nur so mit denFingern zeigen.

Dagegen sind sie in der Lehre vom Lauf der Gestir-ne und von der Bewegung der Himmelskörper sehrbewandert. Scharfsinnig haben sie auch Instrumentemit verschiedenen Figuren ausgedacht, wodurch Be-wegung und Stellung von Sonne, Mond und verschie-denen anderen Gestirnen, die innerhalb ihres Horizon-tes fallen, auf's allergenaueste dargestellt sind.

Aber von freundlicher und feindlicher Stellung derWandelsterne (Planeten) und jenem ganzen Schwindeldes Wahrsagens aus den Sternen lassen sie sich nichtsträumen. Regen, Winde und die übrigen Wechselfälleder Witterung wissen sie durch gewisse Anzeichenlange vorherzusagen.

Ueber die Ursachen aller dieser Dinge, über die Be-wegung und Salzigkeit des Meeres und endlich überNatur und Ursprung des Himmels und der Welt neh-men sie zum Theil dasselbe an wie unsere alten Philo-sophen, theilweise weichen sie, wie unsere Philoso-phen unter einander, von ihnen allen ab, wenn sieneue Erklärungsarten beibringen, aber unter sichselbst sind sie doch keineswegs einig.

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In jenem Theil der Philosophie, welcher von derTugend und den Sitten handelt, stimmen ihre Ansich-ten und Vernunftgründe mit den unseren überein.Streitig ist ihnen die Frage über die Güter der Seeleund des Leibes und die Glücksgüter, ob allen diesen,oder nur den seelischen Gaben der Name »Gut« zu-komme. Sie erörtern das Wesen der Jugend und desVergnügens, aber die erste und Hauptfrage ist, worin,ob in einem Dinge oder in mehreren, die Glückselig-keit der Menschen bestehe.

In dieser Beziehung schlagen sie sich wohl allzu-sehr auf Seiten derjenigen Partei, welche das mensch-liche Glück entweder überhaupt oder doch den we-sentlichsten Theil desselben im Vergnügen sieht.

Und worüber Du Dich noch mehr wundern wirst - -die Bekräftigung dieser ihrer etwas epikuräischen,weichlichen Ansicht suchen sie in ihrer doch ernstenund strengen, beinahe düstern, überstrengen Religion!

Denn sie disputiren nie über die Glückseligkeit,ohne daß sie einige aus der Religion genommeneGrundsätze mit der Philosophie, die sich der Gründebedient, verbinden, denn die Vernunft an sich haltensie, ohne diese Grundsätze für unzureichend und zublöde, das Wesen der wahren Glückseligkeit zu er-gründen.

Diese Axiome sind folgende:Die Seele ist unsterblich und durch Gottes

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119Morus: Utopia

unendliche Güte zur Glückseligkeit geschaffen; unse-rer Tugenden und guten Thaten harren Belohnungennach diesem Leben, der Missethaten aber Strafen.

Wenn diese Axiome auch der Religion angehören,so glauben die Utopier doch, daß die Vernunft alleindazu führe, sie zu glauben und zu billigen. Wenn aberdiese Axiome aufgehoben würden, so nimmt keinUtopier den geringsten Anstand, zu erklären, daßwohl Niemand so dumm sei, das Vergnügen nicht umjeden Preis zu erstreben, und daß man sich nur inAcht nehmen müsse, daß ein geringeres Vergnügennicht einem größeren hindernd im Wege stehe, oderdaß man keinem Vergnügen nachhänge, welches denSchmerz im Gefolge hat. Denn den schwierigen undsteilen Pfad der Tugend zu erklimmen, und nicht nurden Annehmlichkeiten des Lebens zu entsagen, son-dern freiwillig Schmerzen auf sich zu nehmen, wovonman nicht den geringsten Vortheil zu erwarten hat(denn welches sollte der Vortheil sein, wenn nachdem Tode nichts zu erlangen ist und man sein Lebenhiernieden in Mühsal und Elend zugebracht hat?) -das halten sie allerdings für den Gipfelpunkt derThorheit.

Nun meinen sie freilich nicht, daß die Glückselig-keit in jeder Art von Vergnügen bestehe, sondern nurim ehrbaren. Zu diesem, als dem höchsten Gute,werde unsere Natur von der Tugend selbst gezogen, in

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welche die entgegengesetzte Partei von Philosophendie Glückseligkeit verlegt.

Als Tugend definiren sie nämlich ein der Natur ge-mäßes Leben, dazu wären wir von Gott bestimmt.Derjenige folge dem Zuge der Natur, der in Demjeni-gen, was er begehrt und was er meidet, sich von derVernunft leiten läßt. Die Vernunft entzünde ferner vorallen Dingen Liebe zur und anbetende Verehrung vorder göttlichen Majestät in den Herzen der Menschen,der wir alles verdanken, was wir sind, und alles Das,dessen wir an Glückseligkeit theilhaftig werden kön-nen; sodann ermahnt sie uns beständig und treibt unsdazu an, für's erste ein möglichst sorgenfreies und fro-hes Leben selbst zu führen und allen Mitmenschen,dem triebe der natürlichen Geselligkeit zufolge, zugleichem Zwecke behilflich zu sein.

Denn es gibt wohl kaum einen so finstern und un-beugsam starren Anhänger der Tugend und Hasserdes Vergnügens, der die auch noch so sehr harte Ar-beit, Nachtwachen und schmutzige Kasteiung emp-föhle, das er dir nicht zugleich auch auftrüge, denMangel und das Ungemach deiner Mitmenschen zulindern, so viel das in Deiner Macht steht, sowie daßer eine solche Handlungsweise nicht für etwas imNamen der Menschheit zu Preisendes hielte, nämlich,daß der Mensch dem Menschen Gesundheit verschaf-fe und Trost spende, weil er es für die menschlichste

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aller Tugenden ansieht, die Beschwerden Anderer soviel nur immer möglich zu erleichtern, den Kummerzu tilgen und das Leben der Freude, das heißt alsodem Vergnügen wiederzugeben.

Warum sollte er, wozu die Natur ihn gegen Andereanspornt, nicht auch sich selbst vergönnen? Denn ent-weder ist ein angenehmes Leben, d.h. ein vergnü-gungsvolles ein moralisch schlechtes, und wenn esdas ist, darfst du Keinem dazu verhelfen wollen, son-dern man muß sogar soviel als möglich dafür sorgen,daß es, als etwas Schädliches und Verderbliches, denLeuten entzogen werde, oder es ist etwas Gutes unddas darf man nicht nur Andern, sondern soll es ihnensogar verschaffen - - warum also nicht auch in ersterLinie sich selbst?

Es ist doch nicht gesagt, daß du dein eigenes Wohlweniger im Auge haben sollst, als das der Andern.Denn wenn die Natur selbst uns auch mahnt unddrängt, gegen Andere gut zu sein, so befiehlt sie dirandererseits doch auch nicht, gegen dich selbst rauhund barbarisch streng zu verfahren.

Ein angenehmes, fröhliches Leben, d.h. also Ver-gnügen, hat uns, nach ihrer Behauptung, die Natursomit selbst, gleichsam als den Endzweck aller Hand-lungen, vorgezeichnet, und nach den Vorschriften derNatur leben, nennen sie Tugend. Wie aber die Naturalle Menschen zur gegenseitigen Unterstützung und

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Hilfeleistung im Genusse eines heiteren Lebens einla-det (und das thut sie sehr mit Recht, denn so hochsteht Keiner über dem allgemeinen Menschenloose,daß sie nur für ihn allein sorgte, sie, die Alle gleich-mäßig wärmt und durch das gemeinsame Band dersel-ben Gestalt umfaßt), so befiehlt sie dir doch nicht,deinen Vortheil und eigenen Nutzen in einer Weise zusuchen, daß du Andern Schaden und Ungemach berei-test.

Darum sind sie der Ansicht, daß man nicht nur dieunter Privatpersonen eingegangenen Verträge, son-dern auch die öffentlichen Staatsgestze halten und be-obachten müsse, die entweder ein guter Fürst gerech-ter Weise erlassen hat, oder die durch die allgemeineBeistimmung des Volkes sanktionirt worden, dasweder durch Tyrannei unterdrückt, noch durch Hinter-list umgarnt wird, Gesetze, die die gleiche Theilungder Lebensgüter, also des Vergnügens, zum Zweckehaben.

Für dein Wohl sorgen, ohne die Gesetze zu verlet-zen, das ist Weisheit; überdies das allgemeine Wohlfördern, das ist fromme Menschenliebe; Andern je-doch ihr Vergnügen entreißen und dem eigenen fröh-nen, das ist Unrecht; hingegen dir selbst etwas abzu-brechen, um es den Anderen zuzulegen, das heißt imSinne der Humanität und edler Güte thätig sein, undberaubt dich nie so vielen Vortheils, als es dir

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123Morus: Utopia

andererseits wieder einbringt.Denn materiell wird es durch die Wiedervergeltung

der Wolthaten aufgewogen und zugleich gewährt daswohltuende Bewußtsein der guten That und die Erin-nerung an die dankbare Liebe Derer, denen du Wohl-taten erwiesen hast, ein so viel größeres seelischerVergnügen, als das körperliche gewesen wäre, das dudir versagt hast.

Endlich (welche Ueberzeugung einem religiösengläubigen Gemüthe leicht beizubringen ist) vergiltGott ein gewährtes kurzes unbedeutendes Vergnügenmit überschwänglicher, unvergänglicher Freude.

Und so ist es denn ihre Meinung, wenn man derSache gründlich nachdenkt, daß alle unsere Handlun-gen und damit die Tugenden selber, ausschließlichdas Vergnügen und die Glückseligkeit zum Endzielhaben.

Vergnügen nennen die Utopier jede Bewegung undjeden Zustand des Körpers und der Seele, wobei derMensch ein natürliches Wohlbehagen empfindet.Nicht ohne Grund fügen sie hinzu, ein Wohlbehagen,wonach die Natur verlangt. Denn sowie nicht nur dieSinne etwas erstreben, sondern auch die normale Ver-nunft nach dem trachtet, was von Natur angenehm ist,wonach weder durch ein zu begehendes Unrecht ge-strebt wird, noch wodurch etwas Angenehmeres ver-loren geht, worauf auch keine Mühe und Arbeit folgt,

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so halten sie jene Dinge zur Erlangung der Glückse-ligkeit für unnütz, welche die Menschen gegen dieOrdnung der Natur, einer eitlen Uebereinkunft zufol-ge, für höchst liebliche gelten lassen (als ob sie es inihrer Macht hätten, nur so ohne Weiterers die Dingedadurch, daß sie andere Worte dafür wählen zu etwasAnderem zu machen, als sie wirklich sind), ja sie hal-ten sie sogar für schädlich, weil, wenn sie sich einmalin ihren Begriffen einwurzeln, für die wahren und un-verfälscht natürlichen Ergötzungen kein Platz in derSeele übrig bleibt, dies vielmehr von einer falschenVorstellung vom Wesen des Vergnügens voreinge-nommen wird.

Es gibt nämlich eine Menge von Dingen, die anund für sich durchaus nichts von Annehmlichkeit ent-halten, wohl aber einen guten Theil von bitterem Bei-geschmack, die aber vermöge der grundverkehrtenLockungen schmählicher Begierden nicht nur geradefür die höchsten ergötzenden Genüsse gehalten, son-dern auch zu den wichtigsten Angelegenheiten des Le-bens gezählt werden.

In die Reihe der von solchen falschen Vergnügun-gen Eingenommenen stellen sie Diejenigen, deren ichfrüher Erwähnung gethan habe, die sich nämlichselbst für um so besser halten, je besser der Rock istden sie tragen. Da befinden sie sich nämlich in einemdoppelten Irrthum, denn sie täuschen sich, wenn sie

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ihren Rock für besser halten, wie sie sich nicht mindertäuschen, wenn sie deswegen sich selbst für etwasBesseres halten. Denn was der Vorzug einer Wollevon feinerem Gewebe vor einer mit gröberer Textur,sofern es sich um den praktischen Gebrauch des Klei-des handelt?

Denn als ob sie sich von Natur und nicht durchihren falschen Wahn vor Anderen hervorthäten, tragensie das Haupt gar hoch und glauben, daß ihr eigenerinnerer Werth durch bessere Kleid erhöht werde, undverlangen Ehrenbezeigungen als von Rechtswegenihnen zukommend, sobald sie mit einem elegantenKleide angethan sind, die sie, geringer gekleidet, fürsich zu hoffen nicht gewagt hätten, und sie nehmen esgar übel, wenn sie trotz ihrer stattlichen Kleidungnicht weiters groß beachtet werden.

Ist es denn nicht die richtige Thorheit, aus eitlenund nichts nützenden Ehrenbezeigungen sich so vielzu machen? Was für ein natürliches und echtes, wah-res Vergnügen bringt es denn ein, den Scheitel einesAndern entblößt, oder dessen Kniee gebeugt zu sehn?Wird dadurch ein Schmerz, den du in deinen Knieenhast, geheilt? Und wenn du phantasirst, wird es wohlin deinem Kopfe klar, wenn ein Anderer seinen Hutvor dir zieht?

Mit diesem Scheinbild eines gefälschten Vergnü-gens gebär den sich wie unsinnig Diejenigen, welche

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sich mit ihrem Adel schmeicheln, und eine wunder-bare Meinung von sich selbst haben, weil sie zufälligvon Vorfahren abstammen, deren lange Reihe fürreich, insbesondere in Grundstücken und Landgüterngilt, denn im Reichthum besteht heutzutage der Adel.Sie würden sich aber um kein Haar weniger adeligdünken, wenn ihnen die Vorfahren nichts hinterlassenhätten, oder sie selbst Alles durchgebracht hätten.

Zu diesen Thoren rechnen sie auch Diejenigen,welche in Edelsteine und Gemmen (wie schon gesagt)vernarrt sind; sie kommen sich vor, als ob sie gerade-zu zu Göttern erholten worden wären, wenn sie ein-mal eines vorzüglichen Exemplars habhaft werten,besonders von jener Gattung, die zu ihrer Zeit sehrhoch geschätzt wird.

Denn jeder stehen dieselben Steine bei Allen ingleich hohem Werthe, noch dieselben Arten zu jederZeit. Man kauft sie nicht anders als nackt, d.h. ohneGoldfassung, und selbst dann nicht einmal noch,wenn der Verkäufer nicht zuvor einen Eid geschworenund Bürgschaft gestellt hat, daß es ein echter Edel-oder Halbedelstein sei; so vorsichtig gehen sie zuWerke, daß ihre Augen nicht durch einen falschenStein an Stelle eines echten getäuscht werden.

Aber wenn du ihn zur Augenweide haben willst,warum sollte dir ein unechter weniger Ergötzen ge-währen, den dein Auge nicht von einem echten zu

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unterscheiden vermag? Beide sollten dir gleichvielwerth sein, gerade so, wie einem Blinden auch.

Und werden Diejenigen, die überflüssige Reichthü-mer aufbewahren, nicht, um von ihrem aufgehäuftenGelde Gebrauch zu machen, sondern blos, um sich andem Anblicke desselben zu weiden, nicht vielmehrvon einem Scheinvergnügen betrogen, als daß sie einwirkliches genössen? Oder Diejenigen, welche, dementgegengesetzten Laster huldigend, ihr Gold, vonwelchem sie nie Gebrauch machen, das sie vielmehrin ihrem ganzen Leben nicht wieder sehen werden,vergraben, und, aus Furcht, daß sie darum kommenkönnten, es wirklich verlieren? Denn was heißt es an-ders, als es diesem eigenen Gebrauche und vielleichtdem der Menschen überhaupt entziehen, wenn sie dasGeld unter der Erde verbergen? Und dennoch freustdu dich ungemein, wenn du nur deinen Schatz verbor-gen hast, als ob er dir jetzt keinerlei Sorgen mehrmachte!

Wenn nun diesen Schatz Einer gestohlen hätte, unddu müßtest nichts von diesem Diebstahl und stürbestzehn Jahre später, nachdem dir das Geld gestohlenworden, so frage ich, was es dir für einen Unterschiedausmacht, ob dir das Geld gestohlen worden, oder obes während dieser Zeit in Sicherheit gewesen sei? Inbeiden Fällen ist der Nutzen des Schatzes für dichderselbe.

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Zu diesen so läppischen Ergötzungen rechnen dieUtopier auch die Beschäftigungen der Würfelspieler(deren Thorheit sie nur vom Hörensagen, nicht ausder selbsterlebten Praxis kennen), außerdem der Jägerund Vogelsteller.

Denn was für ein Vergnügen (so sagen sie) solldabei sein, die Würfel aus ein Brett zu werfen, was sooft wiederholt wird, daß, wenn ja ein gewisses Ver-gnügen damit verbunden wäre, aus dieser zahllosenWiederholung vielmehr Ueberdruß entstehen müßte?

Und was hat es Liebliches und erweckt nicht viel-mehr Widerwillen und Mißfallen, die Hunde bellenund heulen zu hören? Oder ist die Empfindung er-götzlicher, die man hat, wenn ein Hund einen Hasen,als wenn ein Hund einen Hund verfolgt? Um eine unddieselbe Sache handelt sich's nämlich in beiden Fäl-len; denn wenn das Nennen das Vergnügen bildet - -gerannt wird auf die eine und auf die andere Weise.

Und wenn dich die Erwartung auf das Zerreißen derThiere vor deinen Augen fesselt, so sollte ja eher Mit-leid dein Herz bewegen, ein Häslein von einemHunde, das Schwache Thier von dem stärkeren, dasfurchtsame und die Flucht ergreifende von dem wil-den, das harmlose endlich von dem grausamen zerris-sen zu sehen.

Deswegen haben die Utopier die gesammte Aus-übung der Jagd, als eine freier Männer unwürdige

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Sache, auf die Metzger beschränkt (welchem Gewer-be, wie bereits oben gesagt, sie sich Sklaven unterzie-hen lassen), denn sie halten die Jagd für die niedrigsteThätigkeit des Schlächterhandwerks, dessen übrigeVerrichtungen sie für nützlicher und anständiger hal-ten, weil sie die Thiere aus Nothwendigkeitsrücksich-ten vom Leben zum Tode bringen, während dem JägerMord und Niedermetzelung der armen Thiere rein nurzum Vergnügen dienen soll. Dieses lechzende Verlan-gen nach Blut und Mord wohne entweder von Naturden wilden Thieren ein, oder entspringe in grausamenmenschlichen Seelen, oder arte zuletzt, durch beharrli-che Ausübung eines so blutigen Vergnügens, in Grau-samkeit aus.

Dieses und dergleichen (denn es gibt unzähligeVergnügungen ähnlicher Art), obwohl sie das genuineVolk für wirkliche Vergnügen der Menschen hält, er-klären die Utopier rundweg, habe mit dem wahren,echten Vergnügen nichts gemein, da alledem nichtsnatürlich Angenehmes innewohnt.

Denn, wenn solche falsche Vergnügungen auch dieSinne mit angenehmen Empfindungen erfüllen (wasdie Wirkung des Vergnügens zu sein scheint), sogehen sie deswegen doch keineswegs von ihrer Mei-nung ab, weil nicht die Natur der betreffenden denSache, sondern nur die verkehrte Gewohnheit derMenschen die Ursache davon ist, das sie

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unangenehme Dinge für angenehme hinnehmen.Nichts Anderes ist es wenn schwangeren Frauen

ihrem verdorbenen, krankhaften Geschmacke zufolgePech und Talg lieblicher und süßer als Honig dünken.Aber deswegen wird doch das entweder durch Krank-heit oder Gewohnheit verderbte Urtheil die Naturnicht ändern, weder die Natur des Vergnügens, nochdie anderer Dinge.

Die Utopier unterscheiden mehrere Arten wahrenVergnügens, und zwar sowohl körperlicher als geisti-ger Natur. Letzterer Art ist der Verstand und jenestraute Wohlbehagen, welches die Betrachtung derWahrheit erzeugt. Daran reiht sich die süße Erinne-rung an ein musterhaft geführtes Leben und die ge-wisse Hoffnung auf eine glückliche Zukunft.

Die Vergnügen des Körpers theilen sie in zweierleiArten, deren erstere darin besteht, daß die Sinne mitmerkbarem Wohlgefühl durchdrungen werden, wasdurch Erfrischung jener Organe geschieht, welchedurch die innewohnende natürliche Wärme erschöpftworden sind. Sie werden durch Speise und Trankwider hergestellt, andererseits werden die überflüssi-gen Stoffe im Leibe entleert, deren Entfernung vonErleichterung begleitet ist. Dieses Gefühl wird her-vorgerufen durch Verrichtung unserer Nothdurft mit-tels Entleerung der Eingeweide, oder durch den Aktder Kinderzeugung oder durch Reiben oder Kratzen

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einer Stelle, die juckt.Manchmal entsteht ein Vergnügen, ohne daß etwas

dargeboten wird, was den Körpergliedern ein ange-nehmes Verlangen stillt, noch etwas entfernt, wasdem Körper leidendes Unbehagen verursacht, dasaber unsere Sinne doch mit einer gewissen geheimenKraft kitzelt und mit einer herrlichen Bewegungdurchs bebt und ganz und gar an sich zieht, wie esz.B. aus der Musik entsteht.

Die zweite Art des körperlichen Vergnügens, be-haupten sie, besteht in einem ruhigen, gleichmäßigenZustande des Körpers, das ist, in der von keinesUebel unterbrochenen Gesundheit jedes Menschen.Diese nämlich ist, wenn sie von keinerlei sie beein-trächtigendem Schmerz angefochten wird, an sichetwas Erquickendes, wenn auch kein von außen kom-mendes Vergnügen auf den Körper einwirkt und ihnin Bewegung setzt. Denn obwohl sie sich den Sinnenweniger bemerkbar aufdrängt, als die Lustbegierdenach Essen und Trinken, erklären sie Viele nichtsde-stoweniger für die höchste Lust und fast alle Utopiergestehen unumwunden, daß sie ein großes Vergnügenund die Grundlage aller andern Vergnügen ist, inso-fern diese erst auf ihrer Basis entstehen können, alsdurch welche allein das Leben einen wünschenswer-ten und ruhig-gefälligen Verlauf nehme; sei sie ver-schwunden, so könne kein Vergnügen irgendwelcher

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Art mehr statthaben. Denn nicht gesund sein, wennman auch keine Schmerzen habe, das nennen sie nichtreines, erquickendes Vergnügen, sondern bloß stump-fe Unempfindlichkeit.

Haben sie doch auch längst unter sich den Aus-spruch Derjenigen verworfen, die da meinten, die be-ständige und ruhige Gesundheit (denn auch dieseFrage ist bei ihnen sorgfältig erörtert worden) seinicht für ein Vergnügen zu halten, weil sie behaupte-ten, es könne ein solches nicht geben, ohne daß esdurch eine von außen kommende Bewegung empfun-den werde.

Heutzutage aber sind sie wohl so ziemlich Alledarüber einig daß die Gesundheit ein Vergnügen er-sten Ranges sei. Denn, sagen sie, indem die Krankheitden Schmerz einschließt der der unversöhnliche Feinddes Vergnügens ist, gleich wie das die Krank heil fürdie Gesundheit ist, warum soll dann nicht auch einVergnügen in der stetigen, gleichmäßigen Ruhe derGesundheit liegen?

Es sei in dieser Beziehung völlig gleichgültig, obder Schmerz die Krankheit sei, oder ob der Schmerznur der Krankheit innewohne. Denn das laufe derSache nach doch immer auf das selbe hinaus. Dennwenn die Gesundheit entweder das Vergnügen selbstist, oder nothwendigerweise das Vergnügen im Gefol-ge hat, geradeso wie die Wärme durch Feuer erzeugt

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wird, so muß in beiden Fällen die Wirkung hervorge-bracht werden, daß Denjenigen, die im Besitze einerunerschütterten Gesundheit sind, das Vergnügen nichtfehlen kann.

Wenn wir sodann essen, sagen sie, kämpft da dieGesundheit, die abzunehmen begonnen hatte, nichtmit Hilfe der Speise gegen den Hunger, und währendsie allmählich wieder zunimmt kommt der Menschwieder zu seinen gewohnten Kräften und, in dem wirso erquickt werden, tritt auch das Vergnügen ein. Undnun sollte die Gesundheit, welche, als sie zu kämpfenhatte, frohen Muthes war, nicht sich erst freuen, wennsie den Sieg erringt? Warum sollte sie, nachdem sieihre frühere Stärke glücklich wieder erlangt, nach derallein sie doch im Kampfe gestrebt hat, fortan stumpfwerden und, was ihr gut thut, weder erkennen, nochmit liebender Sorgfalt pflegen?

Denn daß man die Gesundheit nicht als etwas Posi-tives empfinde, das leugnen sie als etwas ganz undgar Falsches. Wer empfindet denn im wachen Zustan-de nicht, daß er gesund ist, außer Derjenige, der eseben nicht ist? Gänzliche Unempfindlichkeit oderSchlafsucht mußte Denjenigen befallen haben, dersich nicht selbst zu gestehen im Stande wäre, daß dieGesundheit etwas Angenehmes und Ergötzliches sei.Aber was ist Ergötzung Anderes, als ein anderesWort für Vergnügen?

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Sie pflegen daher in erster Linie die geistigen Ver-gnügungen, die ihnen für die vornehmsten und bedeu-tendsten gelten, die, wie sie dafür halten, in ganzüberwiegendem Maße aus der Uebung der Tugendund aus dem guten Gewissen eines wohl zugebrachtenLebens entspringen.

Von den Vergnügen, die die körperliche Seite desDaseins gewährt erkennen sie der Gesundheit denPreis zu. Denn die Annehmlichkeit des Essens undTrinkens und was immer eine Ergötzlichkeit ähnlicherArt ist, das ist Alles nur der Gesundheit wegen anzu-streben - haben sie als ein Axiom aufgestellt. Das seiAlles nichts an sich Angenehmes, sondern nur inso-fern, als es der sich einschleichenden Krankheit Wi-derstand leistet.

Wie darum ein weiser Mann es als seine Aufgabeerachte, vielmehr den Krankheiten vorzubeugen, alsnach Arzeneien zu verlangen, und die Schmerzen vonvornherein abzuwenden, als Linderungsmittel dage-gen zu suchen, so wäre es auch vorzuzeigen, dieserArt von Vergnügen nicht zu bedürfen, als vom entge-gen gesetzten Schmerz dadurch geheilt werden zumüssen. Wenn jemand glauben sollte, daß ihn derleiVergnügungen glückselig machen, so müßte er noth-wendigerweise dann am allerglücklichsten werdenwenn er ein Leben führte, das unter beständigem Hun-ger, Durst, Jucken, Essen, Trinken, Kratzen und

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Reiben verbracht wird.Der sieht aber nicht, daß ein solches Leben ein

ebenso unfläthiges wie elendes ist? Diese Art vonVergnügen sind die niedrigsten, die am wenigsten rei-nen. Denn sie stellen sich nie ein, ohne die gerade ent-gegengesetzten Schmerzen. So ist mit der Eßluft derHunger verbunden und zwar in einem keineswegsgleichen Verhältnisse denn je heftiger der Schmerz,desto länger dauert er. Denn er beginnt vor dem Ver-gnügen und endet nicht früher, als bis das Vergnügenzugleich mit ihm erlischt.

Aus diesen Grünen halten sie von Vergnügen die-ser Art nicht viel, außer da, wo dieselben durch dieNothdurft erfordert sind.

Indessen sie erfreuen sie auch ihrer und erkennendankbar die Güte der Mutter Natur an, die ihre Kindermit lieblich schmeichelnden Empfindungen zu demanlockt, was sich als eine unausweichliche Nothwen-digkeit darstellt und darum gethan werden muß. Wieviel größer wäre die Widerwärtigkeit, unter der wir zuleben hätten wenn wir, wie die andern Krankheiten,die uns zwar seltener anfechten, auch diese täglichedes Hungers und des Durstes durch Gifte und bittereArzneien zu vertreiben hätten?

Die Gestalt, die Körperkräfte und die Gelenkigkeitpflegen sie gern als die eigentlichen und angenehmenGeschenke der Natur. Aber die Arten Vergnügen, die

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durch Ohren, Augen und Nase aufgenommen werden,die die Natur als dem Menschen eigentümliche, spezi-ell ihm zukommende, bestimmt hat (denn keine ande-re Gattung von Lebewesen faßt Bau und Schönheitder Welt mit dem Blicke auf, es gibt keine Feinheitder Düfte für sie, sie bedienen sich des Geruchsinnesnur zur Unterscheidung der Nahrungsmittel, auchempfinden sie nicht den harmonischen und dissoni-renden Abstand der Töne) - - diese Arten des Vergnü-gens sage ich, lassen sie als angenehme Würze desLebens gelten.

Bei allen diesen Vergnügen aber befolgen sie dieRichtschnur, daß ein geringeres nicht ein größererhindere noch daß ein Vergnügen Schmerz erzeuge,was nothwendigerweise nach ihrer Meinung erfolgenmüßte, wenn das Vergnügen ein unziemliches sei.

Aber die Schönheit der Leibesgestalt verachten, dieKörperkräfte schwächen, die Gelenkigkeit in Trägheitverkehren, den Leib durch Fasten und Kasteiungen er-schöpfen, die Gesundheit schädigen und alle uns vonder Natur erlaubten Annehmlichkeiten zurückweisen,halten sie für das Allerwahnwitzigste, sofern Einerdiese Lebensbequemlichkeiten nicht vernachlässigt,weil er mit Feuereiser für das Wohl seiner Nebenmen-schen oder für das allgemeine Beste thätig ist, wofürer von Gott als Lohn für seine Mühewaltung ein Ver-gnügen höherer Art erwartet, - sondern bloß um eines

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nichtigen Schattens der Tugend willen sich selbstTrübsal zufügen, ohne daß Jemand einen Vortheildavon hat, oder damit man Ungemach leichter ertra-gen könne, das uns vielleicht niemals heimsucht, dassehen sie für das Merkmal eines gegen sich selbstgrausamen und gegen die Natur höchst undankbarenGemüthes an, das, weil es verschmäht, ihr so viel zuverdanken, allen ihren Wohlthaten entsagt.

So lautet das Urtheil der Utopier über die Tugendund das Vergnügen, und sie glauben, daß, wofernnicht eine direkt vom Himmel geoffenbarte Religionetwas Erhabeneres dem Menschengeiste einflößt, diemenschliche Vernunft keine wahrere erfinden könne.

Ob sie darin richtig oder falsch berathen sind, daszu erörtern gebricht es uns hier an Zeit und es ist auchnicht nöthig, denn wir haben ihre Einrichtungen auf-zuzählen unternommen, nicht dieselben zu vertheidi-gen. Ich bin aber fest überzeugt, wie sich das auchimmer verhalte, daß nirgends ein vorzüglicheresVolk, noch ein glücklicherer Staat zu finden sei.

Dem Körper nach sind sie flink, gewandt, ausdau-ernd, und leisten an Körperkraft mehr, als ihre Staturverspricht, obwohl diese durchaus nicht klein ist.

Obwohl der Boden nicht überall der fruchtbarste,das Klima nicht besonders gesund ist, schützen siesich doch durch Mäßigkeit der Lebensweise so gegendie Luft, melioriren das Erdreich so durch fleißige

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Bestellung, daß bei keinem Volke die Produktion vonGetreide und Vieh eine üppigere ist, daß das physi-sche Leben nirgends langlebiger und weniger Krank-heiten unterworfen ist.

Nicht allein, was gewöhnlich die ackerbauende Be-völkerung thut, kannst du da mit gewissenhaftemFleiße betrieben sehen, daß nämlich einem von Naturgeringwerthigeren Boden durch Kunstmittel undfleißige Arbeit nachgeholfen wird, sondern ganzeWälder werden von den Händen des Volks ausgerodetund anderswo angepflanzt, wobei nicht die Fruchtbar-keit, sondern Rücksichten des Transports maßgebendsind, damit das Holz dem Meere oder den Flüssenoder den Städten selbst desto näher wäre, denn Ge-treide wird mit geringerer Mühe als Holz auf demLandwege weite strecken verfahren.

Ein leutseliges, lustiges, kluges, behäbige Mußeliebendes Volk, das aber doch auch körperliche Ar-beit (da es daran gewöhnt ist,) ganz geduldig auf sichnimmt. Sonst reißt es sich nicht gerade besondersdarum, aber in geistigen Studien ist es unermüdlich.

Als sie von mir Einiges über die Litteratur undWissenschaft der Griechen gehört hatten (denn vonder lateinischen Litteratur würden sie, dachte ich,außer den Geschichtschreibern und Dichtern weniggutheißen), da war es wirklich merkwürdig zu sehen,mit welchem Eifer sie bestrebt waren, zum

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Verständniß der griechischen Autoren zu gelangen,indem mir ihnen dieselben erklärten.

Wir singen also zu lesen an, anfangs mehr nur,damit es nicht den Anschein habe, daß wir die Bitteabschlagen wollten, als daß wir praktischen Nutzendavon erhofft hätten.

Als wir aber allmählich ein wenig darin fortschrit-ten, da bewirkte ihr Fleiß, daß wir bald erkannten, un-sere Bemühung würde nicht umsonst aufgewendetwerden. Sie begannen die Gestalt der Buchstaben soleicht nachzuahmen, die Wörter so treffend auszu-sprechen und sich so schnell ins Gedächtniß zu prä-gen und den Text mit solcher Treue zu übersetzen,daß es uns schier ein Wunder hätte dünken müssen,wenn nicht die Meisten darunter, nicht nur von frei-willigem Lerneifer entbrannt, sondern auf Befehl desSenats dieses Studium unternommen hätten und sienicht auserlesene Köpfe aus der Zahl der Gelehrtenund von reifem Alter gewesen wären. Daher dauertees keine drei Jahre, daß sie die guten Autoren in grie-chischer Sprache ohne Anstoß lesen konnten, wofernim Bücherdruck keine Fehler waren.

Sie eigneten sich aber diese Kenntnisse, wie ichvermuthe, deswegen um so leichter an, als sie ihnennicht ganz fremde waren, sondern eine gewisse Ver-wandtschaft vorliegt. Ich nehme nämlich an, daß derUrsprung dieses Volkes von den Griechen hergeleitet

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werden könne, weil seine Sprache, die im Uebrigenziemlich der persischen ähnlich ist, gewisse Spurengriechischer Sprache in den Städtenamen, sowie inden Benennungen ihrer Obrigkeiten aufweist.

Sie besitzen von meiner Hand die meisten WerkePlatos, mehrere von Aristoteles, dann Theophrastüber die Pflanzen, aber an vielen Stellen unvollstän-dig, was ich sehr bedauere. (Denn als ich beschlossenhatte, meine vierte Seereise anzutreten, packte ich anStelle der Waaren ein ziemlich großes Bücherbündelin das Schiff, da ich viel eher entschlossen war, garnicht mehr, als nach kurzer Zeit zurückzukehren.)

Ich hatte während der Fahrt auf das Buch nichtweiter geachtet, da gerieth eine Meerkatze darüber,die mutwillig und spielerisch einige Seiten herausge-rissen und zersetzt hatte.

Von Grammatikern besitzen sie nur den Laskaris,denn den Theodorus hatte ich nicht mitgenommen,und auch kein anderes Wörterbuch als den Hesychiosund Dioskorides. Die Bücher des Plutarch schätzensie sehr hoch und auch von Lucians Schwänken undanmuthiger Darstellung sind sie ganz eingenommen.Von den Dichtern besitzen sie den Aristophanes,Homer, Euripides und den Sophokles in des Alduskleinen Typen. Von den Geschichtschreibern Thuky-dides und Herodot, sowie den Herodianus.

Auch mein Reisegefährte Tricius Apinatus führte

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einige kleine Werke des Hippokrates mit sich, sowieGalens Mikrotechne, Bücher, die sie gar hoch halten.Denn, wenn die Medicin ihnen fast von allen Völkernam wenigsten Noth thut, so steht sie doch nirgendshöher in Ehren, denn sie rechnen ihre Kenntniß zuden schönsten und nützlichsten Theilen der Philoso-phie, durch deren Hilfe sie die Geheimnisse der Naturerforschen, woraus sie nicht nur ein wunderbares Ver-gnügen sich selbst verschaffen, sondern auch dashöchste Wohlgefallen des Weltenschöpfers undWerkmeisters der Natur sich zu erwerben glauben.

Sie sind der Meinung, dieser habe nach Art andererHandwerksmeister den Mechanismus dieser Welt fürden Menschen (den er allein zu solcher Betrachtungfähig geschaffen hat) zur Beschauung hingestellt undhabe Denjenigen lieber, der ein wißbegieriger und eif-riger Betrachter und Bewunderer seines Werkes sei,als Denjenigen, der wie ein vernunftloses Thier einenso großartigen und wunderbaren Anblick in geistigerStumpfheit und unbewegten Busens gar nicht beach-tet.

Daher sind die beständig in den Wissenschaften ge-übten Geister der Utopier ganz vortrefflich geeignet,Fertigkeiten und Künste zu erfinden, die zur behagli-chen Gestaltung des Lebens beitragen. Zwei davonaber verdanken sie gleichwohl uns, nämlich denBuchdruck und die Papierfabrikation, aber

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keineswegs ganz und gar nur uns allein, sondern zumguten Theile auch sich selbst, d.h. ihrer eigenen Bega-bung. Denn als wir ihnen die Drucke des Aldus inBüchern von Papier zeigten, und mit ihnen von denStoffen sprachen, woraus Papier verfertigt wird,sowie von der Möglichkeit mit Buchstaben zudrucken, und ihnen davon mehr nur einige Andeutun-gen gaben (denn keiner der Unsrigen war in den bei-den Künsten wohlbewandert), so erriethen sie alsbaldmit großem Scharfsinn durch Kombiniren das Uebri-ge, und wenn sie früher bloß auf Fellen, Rinden undaus dem Schafte der Papyrusstaude hergestellten Blät-tern schrieben, so machten sie jetzt sofort Besuche,Papier zu verfertigen und mit Lettern zu drucken, undals sie damit Anfangs nicht zum Besten zu Standekamen, stellten sie fortgesetzt neue Versuche an undhatten in beiden Beziehungen bald guten Erfolg, jabrachten es darin so weit, daß, wenn nur die erforder-lichen Exemplare griechischer Autoren vorhanden ge-wesen wären, sie an gedruckten Bänden keinen Man-gel hätten. Nun haben sie aber an gedruckten Büchernnicht mehr, als ich oben schon erwähnt habe, dieseaber haben sie bereits in Tausenden von Exemplarenvervielfältigt.

Wer immer als schaulustiger Reisender nach derInsel kommt und sich durch irgend eine Geistesgabeauszeichnet, oder wem die Erfahrung ausgedehnter

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Reisen mit einer ausgebreiteten Länderkenntniß zurSeite steht (auf Grund dessen war ihnen unsere Lan-dung willkommen), wird aufs Bereitwilligste aufge-nommen. Denn sie hören gar gerne, was dort und dain der Welt vorgeht.

Um Handel zu treiben, schiffen sich dort freilichnicht viele Fremde aus. Denn was sollen sie dort zuLande importiren, wenn nicht etwa Eisen, Gold undSilber, was aber Jeder nur wieder mit sich fort neh-men müßte?

Was den Ausfuhrhandel aber mit Produkten, diedie Utopier zu exportiren haben, anbelangt, so neh-men sie diesen wohlbedachter Weise lieber selbst indie Hand, als daß sie die Fremden danach kommenlassen, erstens um die auswärtigen Volker ringsumkennen zu lernen, und sodann, um als seefahrende Na-tion sich auf der Höhe zu halten.

Von den Sklaven.

Zu Sklaven machen sie nicht die Kriegsgefangenen,es sei denn diejenigen, die es in einem Kriege gewor-den sind, den sie selbst geführt haben, auch die Söhneder Sklaven werden es nicht, noch überhaupt Jemand,der als Sklave bei fremden Völkern gekauft werdenkann, sondern entweder Solche, die bei ihnen selbst

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wegen einer Missethat in Sklaverei verfallen sind,oder Solche (und das ist der bei weitem häufigereFall), die in auswärtigen Städten ein Verbrechen be-gangen haben, woraus bei jenem Volke die Todesstra-fe steht. Solche holen sie sich zahlreich, und diesesind manchmal um billigen Preis zu haben, häufigernoch erhalten sie sie unentgeltlich.

Diese Art von Sklaven werden nicht nur in bestän-diger Arbeit, sondern auch in Fesseln gehalten, ihreLandsleute unter diesen aber behandeln sie härter,weil sie sie für viel verkommener und daher einer ex-emplarischen Strafe für würdig halten, indem sie, dieeine so vorzügliche Erziehung und Anleitung zur Tu-gend erhalten, sich lasterhaften Thuns zu enthaltendoch nicht vermocht hätten.

Eine andere Art Sklaven sind diejenigen, welcheals arme, sich plackende Angehörige eines fremdenVolkes es freiwillig auf sich nehmen, bei den Utopi-ern zu dienen. Diese werden anständig behandelt, nurdaß ihnen etwas mehr Arbeit, da sie ja daran gewöhntsind, auferlegt wird; in der That werden sie kaum we-niger human als wie die ebenen Bürger gehalten; willEiner von dannen ziehen (was nicht häufig der Fallist) so lassen ihn die Utopier gehen und halten ihnkeineswegs wider seinen Willen zurück, wie sie ihnauch nicht mit leeren Händen scheiden lassen.

Die Kranken pflegen sie, wie ich schon gesagt

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habe, mit großer Hingebung und sie unterlassennichts, wodurch sie ihnen wieder zur Gesundheit ver-helfen können, sei's durch Arzneigebrauch, sei's durchBefolgung einer zweckmäßigen Diät.

Die an unheilbaren Krankheiten Daniederliegendenwerden auf alle Weise getröstet: man wartet sie flei-ßig, spricht viel mit ihnen und läßt ihnen alle mögli-chen Linderungsmittel angedeihen.

Wenn aber die Krankheit nicht nur unheilbar ist,sondern auch Schmerzen und Pein ohne Ende verur-sacht, dann ergeht von den Priestern und den obrig-keitlichen Personen die Mahnung an den Betreffen-den: da er allen Obliegenheiten des Lebens nicht mehrgewachsen sei, da er den Andern nur zur Last falle,sich selbst unerträglich sei und seinen eigenen Todüberlebe, so möge er sich entschließen, der verpesten-den Krankheit und Seuche nicht länger ein nährenderHerd zu sein, und, da ihm das Leben doch nur eineeinzige Qual sei, nicht zaudern, getrost zu sterben,sondern vielmehr, froher Hoffnung voll, sich entwederselbst einem so bitterschmerzlichen Leben wie einemKerker oder einer Folter entziehen, oder willig gestat-ten, daß ihn Andere davon befreien. Daran werde erweise handeln, da er ja durch seinen Tod um keineWonnen des Lebens komme, sondern nur seinemJammer entgehe; und wenn er so den Rath der Priesterund der Ausleger des Willens Gottes befolge, so

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begehe er ein frommes, Gott wohlgefälliges Werk.Diejenigen, die sich solchergestalt haben überreden

lassen, enden ihr Leben entweder freiwillig durchNahrungsenthaltung oder erhalten ein Schlafmittelund finden im bewußtlosen Zustande ihre Erlösung.

Gegen seinen Willen wird keinem das Leben entzo-gen, aber man erweist ihm darum um nichts wenigerLiebesdienste; nur wird Denjenigen, die in der so er-langten Ueberzeugung sterben, dieses als besondersehrenvoll angerechnet.

Wenn sich dagegen Einer aus einem von den Prie-stern und vom Senate nicht gebilligten Gründe dasLeben nimmt, so wird er weder eines Begräbnisses,noch der Feuerbestattung gewürdigt, sondern seinLeichnam wird irgendwo in einen Sumpf geworfenund schimpflich unbegraben gelassen.

Das Weib heirathet nicht vor dem achtzehntenJahre; der Mann nicht, bevor er noch vier Jahre ältergeworden. Wird ein Weib vor ihrer Verheirathungverbotenen Umgangs überführt, So wird das sowohlan ihr, als am Manne schwer geahndet. Beiden Thei-len wird die Ehe verboten, wofern nicht die Verzei-hung des Fürsten das Vergehen sühnt: aber auch derFamilienvater oder die Mutter, in deren Hause diesesbegangen worden, unterliegen der Entehrung, weil siedie ihrem Schutze Befohlenen schlecht behütet haben.

Die Utopier bestrafen dieses Vergehen deswegen

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so streng, weil sie voraussehen, daß es sonst kommenwerde, daß nur Wenige in ehelicher Liebe sich verei-nigen würden, worin ein Jeder ein ganzes Leben miteiner Person verbleiben und obendrein alle Unan-nehmlichkeiten geduldig ertragen muß, die der Ehe-stand mit sich bringt, wenn die Leute sich dem zügel-losen Konkubinate hingeben dürften.

Bei der Wahl des Ehegatten beobachten sie einennach unserem Dafürhalten höchst albernen und beson-ders lächerlichen Gebrauch in vollem Ernste und mitaller Strenge.

Eine gesetzte und ehrbare Matrone zeigt die zuVerheirathende, sei diese nun Jungfrau oder Wittwe,völlig nackt dem sich um sie Bewerbenden und einehrenwerther Mann zeigt umgekehrt den völlig nack-ten Werber dem Mädchen.

Während wir aber diese Sitte als eine unschicklicheverlachten und mißbilligten, wundern sich die Utopierhingegen über die hervorragende Thorheit aller übri-gen Völker, die, wenn sie ein erbärmlicher Pferd er-stehen wollen, wo es sich nur um wenige Geldstückehandelt, so ungemein vorsichtig sind, daß sie sichweigern, es zu kaufen, obwohl das Thier von Naturfast nackt ist, wenn nicht auch noch der Sattel abge-hoben wird und die Pferdedecken und Schabrackenentfernt werden, weil unter diesen Bedeckungen ja einGeschwür verborgen sein könne - in der Auswahl der

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Gattin aber, woraus Lust oder Ekel für das ganzeLeben folgt, so fahrlässig verfahren, daß sie die Fraukaum nach einer Spanne Raum (da ja außer dem Ge-sicht nichts zu sehen ist), bei sonst völlig in Kleidereingehülltem Körper beurtheilen und abschätzen undeine Verbindung mit ihr schließen, nicht ohne großeGefahr eines elenden Zusammenlebens, wenn hinter-drein anstößige Gebrechen an ihr entdeckt werden.

Denn alle Männer sind durchaus nicht Weise indem Maße, daß sie bloß auf den sittlichen Werthsehen, und auch in den Ehen der Weisen bilden kör-perliche Vorzüge eine nicht unwillkommene Zugabezu den Tugenden des Geistes und Gemüthes.

Unter allen jenen Hüllen kann ja eine so ab-schreckende Häßlichkeit verborgen sein, daß sie dasGemüth des Mannes seiner Frau ganz und gar zu ent-fremden vermag, wenn schon eine Scheidung vonTisch und Bett nicht möglich ist. Wenn nun dieseHäßlichkeit zufällig erst nach geschlossener Ehe ent-deckt wird, muß Jeder eben sein Loos tragen; es istdaher Sache der Gesetze, Vorsorge zu treffen, daßEiner nicht in eine solche Falle gerathe, und es wardas um so ernstlicher zu berücksichtigen, weil vonallen in jenen Welttheilen gelegenen Völkern sie al-lein sich mit einer Gattin begnügen und die Ehe sel-ten anders als durch den Tod gelöst wird, wofernnicht ein Ehebruch vorliegt, oder der eine Ehepart

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einen unausstehlichen Charakter hat.Wenn nämlich einer von beiden Theilen in dieser

Weise verletzt wird, erhält er vom Senate die Erlaub-niß, den Gatten zu wechseln, der andere Theil mußehrlos in lebenslänglicher Ehelosigkeit leben.

Sonst aber ist es durchaus unerlaubt, daß ein Gatteseine Frau deswegen verstoße weil sie durch einenUnfall körperlichen Schaden nimmt, wenn sie sonstkeinerlei Schuld trifft das hält man für eine Grausam-keit, jemand preiszugeben und zu verlassen, wenn ergerade am meisten des Trostes bedarf und daß demAlter, wo sich Krankheiten einstellen, ja das eineKrankheit selber ist, die gelobte Treue von dem ande-ren Theile gebrochen wird.

Uebrigens kommt es zuweilen vor, daß, wenn dieGatten ihren Charaktereigenschaften nach schlecht zu-sammenpassen, sobald sie Jeder eine andere Partie ge-funden haben, in welcher sie glücklicher leben zukommen hoffen, sich freiwillig trennen und beider-seits neue Ehen eingehen, allerdings nicht ohne dieErmächtigung des Senates dazu, der eine Eheschei-dung nicht zugibt, bevor er nicht selbst und unter Zu-ziehung der Ehefrauen seiner Mitglieder den Fallgründlich ventilirt hat. Doch auch dann wird dieSache nicht leichtlich zugelassen, denn sie wissensehr wohl, daß es nicht zur Befestigung der Gattenlie-be beiträgt, wenn die begründete Aussicht besteht,

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eine neue Ehe schließen zu können.Ehebrecher werden mit der härtesten Sklaverei be-

straft, und wenn keiner von beiden Theilen unverhei-rathet war, können sich die jungen Ehegatten, denendurch den Ehebruch Unrecht geschehen, gegenseitigheirathen, indem sie den schuldigen Theil verstoßen,oder sonst wen sie wollen zum Gatten nehmen.

Wenn aber Mann oder Frau, die in dieser Weiseverletzt worden sind, zu dem betreffenden Gatten, deres so wenig verdient, noch immer Liebe hegt, so trittdas Gesetz dem Fortbestände der Ehe nicht entgegen,wenn er dem zur Arbeit verurtheilten anderen Theilefolgen will; es kommt übrigens zuweilen vor, daß dieReue des einen Theils und das ernstliche Bestrebendes andern das Mitleid des Fürsten erregt und dieFreiheit des Schuldigen erwirkt.

Einen Rückfälligen trifft der Tod.Für die übrigen Verbrechen stellt kein Gesetz be-

stimmte Strafen ein für allemal fest, sondern je nach-dem das Verbrechen häßlicher Art ist oder nicht, ent-scheidet der Senat über die Strafe. Die Ehemännerstrafen die Gattinen und die Eltern die Kinder, wofernsie nicht etwas so Arges begangen haben, daß ein In-teresse vorliegt, öffentliche Bestrafung eintreten zulassen.

Fast alle sehr schweren Verbrechen werden mitSklaverei bestraft und man hält das für die Verbrecher

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selbst für nicht minder schlimm und dem Staate fürvortheilhafter, als die schuldigen abzuschlachten undsie eiligst zu beseitigen. Denn Sie nützen durch ihreArbeit durch mehr, als durch ihren Tod, und das be-ständig vor Augen schwebende Beispiel schreckt dieAndern von einem ähnlichen Verbrechen wirksamerab.

Wenn sie aber in dieser Lage sich widerspenstigzeigen und sich empören, werden sie zuletzt wie un-gezähmte wilde Bestien, die weder Kerker noch Ket-ten im Zaume halten kann, todtgeschlagen Den gedul-dig ihr Loos tragenden wird nicht ganz und gar jedeHoffnung genommen, denn, wenn sie, nachdem siedurch eine lange Reihe erlittener Uebel mürbe gewor-den sind, derartige Reue bezeugen, daß sie dadurch zuerkennen geben, es sei dies mehr ihres Vergehens ansich als der Strafe wegen der Fall, so wird ihre Skla-verei manchmal, sei's durch das Vorrecht des Fürsten,sei's durch Volksbeschluß milder gestaltet oder ganzaufgehoben.

Der Versuch einer unzüchtigen Handlung bringtnicht weniger Gefahr mit sich, als die vollzogene Un-zucht. Bei jeder Uebelthat, stellen sie nämlich denvorsätzlichen Versuch der vollbrachten That gleich,denn, daß es nicht gelungen ist, den Versuch zur Thatzu machen, dürfe dem, meinen sie, nicht zu Gunstenangerechnet werden, an dem es nicht gelegen hat, daß

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ihm seine Absicht auszuführen nicht gelungen ist.Possenreisser und Narren gewähren ihnen viel Er-

götzung und Vergnügen. Wie es Einem aber zur gro-ßen Unehre gereicht, Solche zu beleidigen, so ist esandererseits nicht verboten, an der Thorheit sich zuergötzen. Dies kommt den Narren selbst am meistenzu gute, denken die Utopier, denn wenn Jemand soernst und trübsinnig geartet ist, daß er weder über ihreReden noch Handlungen zu lachen vermag, so werdendie Narren seinem Schutze nicht anvertraut, da manbefürchtet, sie würden von Solchen nicht gut behan-delt, denen sie weder Nutzen noch Ergötzung gewäh-ren können, welche letztere doch die einzige ihnenverliehene Begabung ist.

Einen Häßlichen oder Krüppel zu verspotten, giltnicht für den Verspotteten, sondern für den Verspotterals schimpflich, der da dasjenige, was Jemand nicht inseiner Macht hat, zu vermeiden, diesem thörichter-weise als einen Mangel vorwirft.

Wie sie es für das Gebahren eines lässigen und trä-gen Menschen halten, die natürliche Schönheit nichtzu pflegen, so gilt es ihnen als eine ehrlose Unver-schämtheit, Zuflucht zu der Schminke zu nehmen.Aus Erfahrung wissen die Utopier nämlich, daß keineReize der Schönheit die Frauen ihren Gattin so emp-fehlen, wie Ehrenwerthheit der Sitten und ehrehrbieti-ges Benehmen. Denn sowie gar mancher Mann durch

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die Schönheit allein gewonnen wird, so wird doch einMann durch nichts Anderes als Tugend und Gehor-sam auf die Dauer festgehalten.

Sie schrecken aber von der Begehung von Misse-thaten nicht bloß durch Strafen ab, sondern ermunternauch durch ehrende Belohnungen zu tugendhaftemWandel; daher errichten sie ausgezeichneten und umden Staat rühmlich verdienten Männern Standbilderauf dem Forum, zum Gedächtniß preiswürdiger Tha-ten, sowie zu dem Zwecke, daß der Ruhm ihrer Vor-fahren ihren eigenen Nachkommen Sporn und Anreizzur Tugend sei Wer, vom Ehrgeiz gestachelt, sich umein obrigkeitliches Amt bewirbt, geht der Anwart-schaft auf ein solches überhaupt verlustig. Es herrschtein freundlich wohlwollendes Wesen im Verkehre desVolkes mit den Behörden: keine Obrigkeit ist unver-schämt oder grimmig daher werden sie Väter genanntund gebärden sich wie solche; die schuldigen Ehrenwerden ihnen freiwillig erwiesen, sie brauchen nichtWiderstrebenden abgezwungen zu werden.

Nicht einmal der Fürst zeichnet sich durch seineKleidung oder ein Diadem aus, sondern es wird bloßeine Garbe Getreides vor ihm hergetragen. Ebenso isteine ihm vorgetragene Wachskerze die einzige Aus-zeichnung des Oberpriesters.

Gesetze gibt es nur sehr wenige, aber bei ihren vor-trefflichen Einrichtungen genügen diese auch. Denn

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was sie bei andern Völkern hauptsächlich tadeln, dasist daß sich unzählige Folianten von Gesetzen undKommentaren derselben immer noch als unzulänglicherweisen. Sie betrachten es als die größte Unbillig-keit, daß Gesetze für die Menschen verbindlich sind,deren Anzahl entweder größer ist, als daß die Leutesie durchzulesen vermöchten, oder dunkler und unkla-rer, als daß sie von jemand verstanden werden könn-ten; daher sind die Advokaten, welche einen Rechts-fall arglistig behandeln und über die Gesetze ver-schmitzt disputiren, bei ihnen sämmtlich ausgeschlos-sen, denn sie halten es für rathsamer, daß Jeder seineSache selbst führe und dem Richter direkt mittheile,was er einem Rechtsbeistand sagen würde. So gebe esweniger Weitläufigkeiten und die Wahrheit kommeleichter an den Tag, weil, wenn Einer spreche, demder Advokat keine Kniffe beigebracht habe, der Rich-ter jedes schlichte Wort aus seinem Munde gründli-cher erwägt und naiven Geistern gegen die abgeseim-ten Entstellungen des wahren Sachverhaltes zu Hilfekommt. Dies Verfahren zu beobachten, ist bei andernVölkern mit einem Wuste verworrener Gesetze nurschwer möglich.

Uebrigens ist bei ihnen jeder Einzelne gesetzeskun-dig. Denn wie gesagt, es gibt der Gesetze nur sehrwenige und die simpelste Auslegung derselben haltensie für die am meisten der Billigkeit entsprechende.

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Denn da, wie sie behaupten, alle Gesetze nur zu demZwecke publicirt werden, daß Jeder durch sie ermahntwerde seiner Pflicht eingedenk zu bleiben, so enthälteine feinere Auslegung diese Mahnung nur für sehrWenige, (denn nur Wenige vermögen ihr zu folgen),während eine einfachere Auslegung und ein deutlichzu Tage tretender Sinn der Gesetze für Alle verständ-lich ist, denn was verschlägt es dem gemeinen Volkedessen Kopfzahl die größte ist und das am meistender belehrenden Ermahnung bedarf, ob überhauptkeine Gesetze gegeben würden, oder ob ihnen einesolche Auslegung gegeben wird, daß nur ein glänzen-der Geist und eine langwierige Erörterung ihr auf denGrund kommen kann, die anzustellen der unverfeiner-ten Urtheilskraft des Volkes nicht gut möglich ist undwozu ein ausschließlich nur der Erwerbung des Le-bensunterhaltes gewidmetes Leben keine Gelegenheitbietet?

Diese Tugenden der Utopier haben ihre Grenznach-barn, die in Freiheit leben (denn die Utopier selbsthaben viele derselben dereinst von der Tyrannei be-freit), bestimmt, sich ihre obrigkeitlichen Personen,die einen jährlich, die andern für fünf Jahre, bei denUtopiern zu entnehmen, welche sie nach vollbrachterAmts zeit mit Ehren und Lob überhäuft, in ihr Vater-land zurückgeleiten, um sofort wieder neue von da zusich nach Hause mitzunehmen.

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Das Staatswesen dieser Völker ist in der That aufdiese Weise aufs Beste berathen, denn, da dessen Heiloder Verderben von den Sitten der Obrigkeit abhängt,was für Personen hätten sie klügerer Weise sich zusolchen erwählen können, als solche, die um keinenPreis vom Pfade des Rechtes abgezogen werden kön-nen (da Geld ihnen, die bald wieder in ihre Heimatzurückkehren nichts nützen würde) und die, als Frem-de, keinen einzelnen Bürger kennen, daher wederdurch ungebührliche Gunst, noch desgleichen Gehäs-sigkeit sich verleiten lassen.

Diese beiden Uebel, Privatgunst und Habsucht,zerstören, wo sie sich in den Gerichten einnisten, dieGerechtigkeit, das stärkste Fundament des Staates,ganz und gar.

Die Völker, welche die Personen der Staatsverwal-tung von ihnen entlehnen, nennen die Utopier Bun-desgenossen, jene Andern, denen sie Wohlthaten er-wiesen haben, nennen sie Freunde.

Bündnisse, wie sie andere Völker unter einanderschließen, brechen und wieder erneuern, gehen sie mitkeiner anderen Nation ein. Wozu dient ein solchesBündniß? sagen sie. Als ob die Natur nicht einenMenschen dem andern schon genügend durch freund-liche Bande verbunden hätte? Und man glaube, daß,wenn ein Mensch diese verachtet, er die Worte einesVertrages beachten werde?

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Zu dieser Meinung sind sie hauptsächlich deswe-gen gekommen, weil in den Länderstrichen jenesWelttheils Bündnisse und Verträge der Fürsten mitsehr geringer Treue gehalten zu werden pflegen. Dennin Europa, insbesondere in jenen Theilen desselben,wo christlicher Glaube und Religion herrschen, ist dieMajestät der Bündnißverträge überall heilig und un-verletzlich, theils wegen des Gerechtigkeitssinnes undbraven Charakters der Fürsten, theils aus Ehrerbie-tung gegen und aus Furcht vor dem päpstlichen Stuhl,der, wie seine Regenten selbst nichts begehen, wasder Religion zuwiderläuft, so auch den übrigen Für-sten gebietet, daß sie ihre Versprechungen getreulichhalten, und die sich Weigernden durch oberhirtlicheErmahnungen und Strenge dazu zwingt.

Mit Recht wahrlich halten sie es für eine höchstschändliche Sache, wenn den Bündnissen Derjenigennicht Treu und Glauben beizumessen ist, die miteinem speziellen Namen »die Gläubigen« genanntwerden.

Aber in jenem neuentdeckten Welttheile, der weni-ger noch durch den Aequator von uns geschieden ist,als durch die Lebensverhältnisse, Sitten und Gebräu-che, ist auf Bündnißverträge nicht zu bauen, denn mitje mehr feierlichen Ceremonien einer verknüpft ist,desto schneller wird er gebrochen, indem leicht in sei-nem Wortlaute eine hinterlistige Deutung gefunden

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werden mag, den sie absichtlich so verschmitzt gestal-ten, daß sie nie fest gefaßt werden können, um nichtimmer ein Hinterpförtchen zu finden, durch das sie zuentschlüpfen im Stande sind, und dem Bündniß zu-sammt der geschwornen Treue sich zu entziehen ver-mögen. Wenn sie solche Verschlagenheit, solchenLug und Trug in einem Privatvertrage entdeckten, sowürden sie über ein solches Gebahren als über einverruchtes, das den Galgen verdiene, mit hochgezoge-nen Brauen ein Zetergeschrei erheben, ja, das würdensie, ebendieselben, die sich rühmen, die Urheber sol-cher den Fürsten gegebenen Rathschläge zu sein.

Auf diese Weise erhält es den Anschein, als ob dieGerechtigkeit eine niedrige Tugend des gemeinenVölkes sei, die tief unter der königlichen Erhabenheitstehe, oder, daß es wenigstens eine doppelte Gerech-tigkeit gebe, die eine, die dem gemeinen Volke zu-komme, bescheiden zu Fuße gehend, ja demüthig amBoden hinkriechend, die keine Zäune und Heckenüberspringen kann, von allen Seiten geknebelt undeingeschränkt, die andere als Tugend der regierendenFürsten, viel erhabener als jene volksthümliche, miteinem bei weitem freieren Spielraum, so daß ihr alleszu thun erlaubt ist, was ihr beliebt.

Dieses, wie gesagt treulose Gebahren der Fürsten,die dort ihre Verträge so schlecht halten, ist, glaubeich, die Ursache davon, daß die Utopier überhaupt

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keine eingehen, indem sie ihre Ansicht vielleicht än-dern würden, wenn sie in unserem Erdtheile lebten.Und wenn es ihnen auch dünkte, daß die Bündnissenoch so treu gehalten würden, so halten sie es dochfür eine üble Gewohnheit, überhaupt welche einzuge-hen, die nur zur Folge hat, daß die Menschen sich ge-genseitig als natürliche Gegner zur Feindschaft gebo-ren betrachten (als ob ein Volk mit einem anderenVolke, von dem es nur der schmale Raum eines Hü-gels oder Flusses trennt, durch kein geselliges Bandmehr verknüpft wäre) und mit gegenseitiger Vernich-tung gegen einander wüthen zu müssen glauben, wo-fern sie nicht Bündnisse schlössen, die sie daran ver-hindern sollen; doch selbst, wenn sie ein Bündniß miteinander geschlossen haben, erwächst nicht einmaleine eigentliche Freundschaft daraus, sondern esbleibt immer noch Gelegenheit zu Raub und Erbeu-tung, insofern durch ihre Unklugheit bei Abfassungdes Bündnisses keine vorsichtige Klausel in die Ver-träge aufgenommen worden ist, welche eine solcheMöglichkeit von vornherein ausschließt.

Aber sie sind der entgegengesetzten Meinung, näm-lich, daß Niemand als Feind zu erklären sei, von demuns kein feindliches Unrecht widerfahren ist. DieBande der natürlichen Gemeinschaft ersetzten jedenBündnißvertrag und die Menschen seien sicherer undwirksamer durch den Zug gegenseitigen

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Wohlwollens, als durch Verträge, mehr durch das Ge-müth, als durch leere Worte mit einander verbunden.

Vom Kriegswesen.

Den Krieg verabscheuen die Utopier als etwas ge-radezu Bestialisches, womit sich gleichwohl keineGattung wilder Thiere so häufig zu schaffen macht,wie der Mensch; und entgegen den Sitten fast aller an-dern Völker halten sie nichts für so unrühmlich, alsden im kriege erstrebten Ruhm; nichts destowenigerjedoch üben sie sich sehr eifrig in soldatischer Zucht,und zwar nicht nur die Männer, sondern an bestimm-ten Tagen auch die Frauen, damit im Falle der Nothauch sie zum Kriege nicht untüchtig sind.

Sie beginnen einen solchen aber nicht blindlingssondern entweder um ihre Grenze zu schützen, oderum die das Gebiet ihrer Freunde überschwemmendenFeinde zurückzuschlagen oder um irgend ein von Ty-rannei bedrücktes Volk, dessen sie sich erbarmen,vom Joche eines Tyrannen und von der Sklaverei zubefreien, was sie aus purer Menschenliebe unterneh-men.

Wiewohl sie den Freunden im Punkte der Hilfe zuWillen sind, geschieht dies nicht immer nur zu derenVertheidigung, sondern sie gewähren die Hilfe

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zuweilen auch, damit diese zugefügtes Unrecht ver-gelten oder vergelten können; dieses aber thun sie nurdann, wenn sie gleich von Anfang an um Rath gefragtwerden, die Sache als eine gerechte gebilligt habenund die zurückverlangten Dinge nicht wieder zurück-erstattet worden sind; dann eröffnen die Utopier selbstden Krieg, wozu sie sich nicht bloß dann entscheiden,wenn bei einem feindlichen Einfalle Beute weggeführtworden ist, sondern noch viel energischer, wenn ihreKaufleute bei irgend einem Volke entweder unter demVorwande unbilliger Gesetze oder durch üble Ausle-gung guter Gesetze, unter dem Deckmantel der Ge-rechtigkeit verläumderisch angeklagt werden.

Das und nichts Anderes war die Ursache des Krie-ges, den die Utopier kurz vor unserer Zeit für die Ne-phelogeten gegen die Alaopoliten geführt haben, näm-lich ein den Kaufleuten der Nephelogeten bei denAlaopoliten unter dem Vorwand rechtens zweifelloszugefügtes Unrecht - so erschien es den Utopiern.

Aber ob nun mit Recht oder Unrecht, die Sache istdurch einen so grausamen Krieg gerächt worden,indem zu den Streitkräften der Gegner auf beiden wei-ten sich der Haß und die Hilfskräfte der benachbartenVölker gesellten, daß einige der blühendsten Natio-nen bis ins Mark erschüttert, andere schwer mitge-nommen wurden, immer neue Leiden und Uebel ansden alten entstanden, bis das Ende war, daß die

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Alaopoliten sich unterwarfen und in die Sklaverei derNephelogeten geriethen (denn die Utopier führten denKrieg nicht im eigenen Interesse), deren Verhältnissedoch mit dem blühenden Zustande der Alaopolitennicht zu vergleichen gewesen waren.

So energisch verfolgen die Utopier ein ihren Freun-den, wenn auch nur in Geldangelegenheiten, angetha-nes Unrecht; nicht so streng verfahren sie im Falle ei-genen erlittenen Unrechts; indem, wenn sie überlistetund in Folge dessen an Gütern geschädigt werden, nuraber keine körperliche Gewaltthat erleiden, sie sichnur bis zu dem Grade und nicht weiter erzürnen, daßsie jeden Verkehr mit diesem Volke so lange abbre-chen, bis ihnen Genügthuug gegeben wird. Nicht, daßihnen was Wohl ihrer eigenen Bürger weniger amHerzen läge, als das ihrer Bundesgenossen, aber diepekuniären Verluste dieser sind ihnen viel unliebsa-mer zu ertragen, weil diese persönlich schweren Scha-den an ihrem Privatvermögen erleiden, wenn sie vonVerlusten betroffen werden.

Ihre eigenen Bürger verlieren kein persönliches Ei-genthum, sondern nur staatliches Gemeingut, viel-mehr nur das, was daheim zur Genüge vorhanden, so-zusagen überflüssig ist, weil es im andern Falle garnicht zur Ausfuhr gelangen wurde. Und so kommt es,daß eigentlich Keiner so recht das Gefühl eines Scha-dens hat.

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Darum halten sie es auch für allzu grausam, daßein derartiger Schaden durch den Tod Vieler gerächtwerden soll, ein Schaden, dessen Uebelstand keinEinziger, weder am Leben, noch am Lebensunterhalt,zu fühlen bekommt..

Wenn übrigens einer ihrer Staatsangehörigen ir-gendwo im Auslande am Leibe geschädigt oder ge-tödtet wird, sei's nun durch öffentlichen Beschlußoder in Folge eines Privatvorsatzes, so lassen sie denSachverhalt durch eigene Abgesandte genau untersu-chen und sich nicht besänftigen, wofern ihnen dieSchuldigen nicht aus geliefert werden, sondern erklä-ren dann ohne weiters den Krieg. Die Ausgelieferten,die die Missethat verübt haben, werden entweder mitdem Tode oder mit Sklaverei bestraft.

Ein blutiger Sieg widert sie nicht bloß an, sie schä-men sich desselben sogar, indem sie es für eine großeThorheit halten, eine Waare, und sei sie auch noch sokostbar, zu theuer gekauft zu haben. Den Gegner aberdurch Kriegskunst oder List zu besiegen, und unterihre Botmäßigkeit zu bringen, dessen rühmen sie sichmit Frohlocken, veranstalten auch öffentliche Tri-umphzüge darob und richten Trophäen auf, weil siesich mannhaft gehalten haben; sie rühmen sich abernur dann, sich wahrhafte Männer bewährt und tugend-haft gehandelt zu haben, so oft sie den Sieg in einerWeise errungen haben, wie nur der Mensch, und kein

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164Morus: Utopia

Thier, es im Stande ist, nämlich durch die Kräfte desGeistes.

Denn mit bloß körperlicher Kraft, sagen sie, kämp-fen Bären, Löwen, Eber, Wölfe Hunde und die übri-gen wilden Thiere, die wie sie uns meistentheils anStärke und Wildheit überlegen sind, so an Verstandund Ueberlegung insgesammt uns nachstehen.

Bei einem Kriege haben die Utopier immer dieseneinen Zweck vor Augen, das zu erlangen, was, wennsie es früher erreicht hätten, die Wirkung gehabthätte, daß sie den Krieg nicht erklärt hätten. Ist diesder Natur der Sache nach unmöglich, so nehmen siean denen, welchen sie das Vergehen schuld geben,eine so strenge Rache, daß sie durch ihnen eingeflößteFurcht in alle Zukunft abgeschreckt werden, dasselbeje wieder zu begehen.

Das sind die Ziele, die ihnen bei einem Kriegsvor-haben vor schweben, die sie rasch zu erreichen stre-ben, doch so, daß ihre Sorgfalt zuvörderst mehr dar-aus gerichtet ist, die Gefahren einer Kriegführung zuvermeiden, als Ruhm und Lobeserhebungen einzu-heimsen.

Sofort, nachdem daher der Krieg erklärt ist, sorgensie dafür, daß heimlich und zu gleicher Zeit einegroße Anzahl mit ihrem Staatssiegel versehener Pro-klamationen an den bekanntestes Orten feindlichenLandes angeheftet werden, worin ungeheure Summen

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165Morus: Utopia

als Belohnung für Denjenigen ausgesetzt werden, derden Fürsten des feindlichen Volkes aus dem Lebenschafft, dann geringere, obwohl immer noch sehr be-deutende, für die einzelnen hervorragenden Häupterbeim Feinde, die in jenen Schriftstücken desgleichengeächtet sind, d. i. Diejenigen, die sie neben dem Für-sten selbst für die Urheber der gegen sie gerichtetenfeindlichen Beschlüsse halten.

Was sie für den Mörder ausgeworfen haben, dasverdoppeln sie für Denjenigen, der einen der Geächte-ten ihnen lebendig ausliefert; wozu sie auch die Ge-ächteten gegen ihre eigenen Genossen unter Gewäh-rung derselben Prämie und zugesicherter Straflosig-keit auffordern.

So kommt es gar schnell zu Stande, daß die Feindealle Menschen in Verdacht haben und sich gegenseitignicht mehr trauen können und in höchster Furcht undnicht minderer Gefahr leben.

Denn gar oft schon, wie feststeht, hat es sich ereig-net, daß ein großer Theil der so Bezeichneten und vorAllen der Fürst selbst, von Denjenigen verrathen wür-den sind, auf die sie das größte Vertrauen gesetzt hat-ten.

So leicht verleiten Bestechungen zu jedem beliebi-gen Verbrechen, und in der Höhe solcher Spendengibt es für die Utopier keine grenze. Weil sie sichaber dessen wohl bewußt sind, wie groß die Gefahr

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166Morus: Utopia

ist, in welche sich die so Aufgeforderten begeben, sosind sie beflissen, die Größe dieser Gefahren durcheine reiche Fülle der dafür gewährten Wohlthaten auf-zuwiegen und versprechen nicht nur unermeßlicheSchätze an Gold, sondern auch Grundstücke, die einglänzendes Erträgniß abwerfen und in Freundeslandso sicher als möglich gelegen sind, zu ewigem Besitz,was sie Alles auch mit der denkbar höchsten Treuehalten.

Dieser Gebrauch, den Feind als ein Versteigerungsund Verlaufsobjekt zu behandeln, gilt bei andern Völ-kern als verwerflich, als eine schändliche Handlungs-weise eines entarteten, grausamen Gemüths, sie aberdünken sich deswegen ob ihrer gar hohen Klugheit lo-benswerth, da sie auf diese Weise dem größten Kriegealsbald ohne Schlachtengemetzel ein Ende bereiten, jasie halten sich aus diesem Grunde sogar umgekehrtfür menschlich und mitleidvoll gesinnt, weil sie umden preis des Todes weniger Schuldigen zahlreicheunschuldige Leben vom Untergange loskaufen, diesonst in den Schlachten umgekommen wären. Undzwar theilweise die Leben ihrer eigenen Volksangehö-rigen, theilweise aber auch solche aus den Reihen derFeinde, deren gemeines Volk sie nicht in geringeremMaße bedauern, als ihre eigenen Landsleute, da siewohl wissen, daß dieses den Krieg nicht von freienStücken angefangen hat, sondern durch die rasende

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Leidenschaft seines Fürsten dazu getrieben wird.Kommen sie aus dem angegebenen Wege nicht

zum Ziele, so streuen sie den Samen der Zwietrachtunter den Feinden aus und nähren dieselbe, indem siein dem Bruder des Fürsten oder in einer Persönlich-keit aus dem hohen Adel die Hoffnung erwecken, daßer sich des Reiches bemächtigen könne.

Verspricht auch dieses Verfahren innerer Parteizer-klüftung leinen Erfolg, so stacheln sie die dem Feindebenachbarten Nationen auf und setzen sie gegen ihnBewegung, unter dem Vorwande eines alten ausgegra-benen Rechtstitels, um welche ja Könige nie verlegensind, geben die Zusage ihrer eigenen Streitkräfte imKriege und gewähren im reichsten Maße Hilfsgelder.Unter jenen senden sie von eigenen Bürgern nur sehrwenige ab, von denen das Leben jedes Mannes sohoch gilt und die sie so lieb haben, daß sie wohl deneinfachsten Mann nur ungern gegen den feindlichenFürsten selbst ausliefern würden.

Gold und Silber aber, dessen sie sich ja nur zujenem einzigen Zwecke bedienen, geben sie leichtenHerzens aus; würde doch nicht ein Einziger deswegeneine schlechtere Lebenshaltung zu führen haben, undwenn sie auch ihren ganzen Vorrath an Edelmetallenaufwendeten.

Außer ihren einheimischen Reichthümern aber be-sitzen die Utopier auch noch unermeßliche Schätze im

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Auslande, weil die meisten Volker, wie ich früher ge-sagt habe, ihnen verschuldet sind, weshalb sie vonüberall her Söldner in den Krieg zu schicken in derLage sind, hauptsächlich von den Zapoleten.

Dieses Volk lebt fünfhunderttausend Schritt östlichvon Utopia, ist abstoßend häßlich, barbarisch, wild,und gibt seinen heimischen Gebirgen und Wäldern, indenen es geboren ist, den Vorzug vor jedem andernAufenthalte. Ein abgehärtetes Volk, erträgt es Hitzeund Kälte, sowie Strapazen gut, ist aller und jeder Le-bensgenüsse unkundig, befleißigt sich weder desAckerbaus, noch wohnt es in Gebäuden, kleidet sichsehr primitiv und ist bloß der Schafzucht ergeben.Zum größten Theile leben die Zapoleten von der Jagdund vom Raube.

Ausschließlich zum Kriege geboren, suchen sie aufjegliche Weise nach der Gelegenheit dazu, werfensich begierig auf jede sich ihnen darbietende, marschi-ren in hellen Hausen aus dem Lande und bieten sichjedem Staate, der solcher Hilfe benöthigt ist, um ge-ringen Gold an.

Dies ist das einzige Gewerbe, wovon sie leben unddas sie kennen, und dieses ist eins, durch das der Todbereitet wird; aber für die, in deren Gold sie Diensteleisten, kämpfen sie mit Eifer und mit unerschütterli-cher Treue.

Aber sie binden sich nicht für einen bestimmten

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Tag, sondern ergreifen nur unter der Bedingung Par-tei, daß sie bereits am nächsten Tage zu den Feindenübergehen können, wenn ihnen diese höheren Goldbieten, und den übernächsten Tag wieder zurückkeh-ren, wenn ihnen von der alten Partei eine Kleinigkeitmehr geboten wird.

Selten bricht ein Krieg aus, in dem nicht eine be-trächtliche Menge Zapoleten in beiden Heeren einan-der feindlich gegenüberstehen, und somit ereignet essich tagtäglich, daß durch Bande des Blutes Verbun-dene, die heute noch auf derselben Seite zusammen-treffend, in innigster Kameradschaft lebten, kurz dar-auf von einander gerissen, indem sie zu entgegenge-setzten Truppenkörpern kommen, als Feinde gegeneinander losgehen müssen, und mit verhetzten Ge-müthern, ihrer Geschlechtsabstammung vergessend,der Freundschaft, die sie früher umschlungen, unein-gedenk, einander durchbohren, aus keinem anderenGrunde zu gegenseitiger Vernichtung angetrieben, alsweil sie von verschiedenen Fürsten um eine elendeHandvoll leidigen Geldes gemiethet worden sind,welches sie so außerordentlich werthschätzen, daß einAs mehr, zu dem täglichen Solde zugelegt, sie mitgrößter Leichtigkeit dazu treibt, die Partei zu wech-seln.

So schnell ist es gegangen, daß die Habsucht sichihrer bemächtigt hat, von der sie doch ganz und gar

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keinen Vortheil haben. Denn was sie mit ihrem Bluteerwerben, das vergeuden sie sofort wieder in Schwel-gerei und zwar in solcher elendester Art.

Dieses Volk leistet den Utopiern Kriegsdienstegegen alle Volker, gegen die sie Krieg führen, weilseine Hilfe von diesen um einen so hohen Preis ge-miethet wird, wie das Niemand sonst thut.

Und wie die Utopier gute Menschen aufsuchen,deren Dienstleistungen sie gebrauchen, so bedienensie sich auch dieser werthlosen Menschen, die siemißbrauchen, die sich unter dem Antriebe hoher Ver-sprechungen den größten Gefahren entgegenwerfen,daher der größte Theil derselben meistens nie zurück-kehrt, um in Empfang zu nehmen, was ihnen verspro-chen worden; den Ueberlebenden aber bezahlen sieaufs Gewissenhafteste aus, was sie zu fordern haben,damit die Zapoleten auch in Zukunft zu ähnlichen tol-len Wagnissen angefeuert werden.

Denn darum kümmern sie sich wenig, wie Viele sievon solchen Bundesgenossen verlieren; sind sie dochder Meinung, sich den größten Dank her Menschheitzu verdienen, wenn sie von dem gesammten Ab-schaum dieses trotzigen und ruchlosen Volkes denErdkreis reinigen könnten.

Nach diesen verwenden sie auch die TruppenDerjenigen, zu deren Schule sie zu den Waffen grei-fen, sodann auch die Hilfstruppen ihrer sonstigen

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Freundnachbarn. Endlich bilden sie ein Korps ihrereigenen Mitbürger, aus deren Reihen sie einen Mannvon erprobter Tugend an die Spitze des gesammtenHeeres stellen. Diesem werden zwei andere Befehls-haber in der Art unterstellt, daß sie, so lange derOberfeldherr am Leben und gesund bleibt, nur als Pri-vatpersonen gelten, wenn Jener aber gefangen odergetödtet wird, folgt einer von den beiden in gleichsamerblicher Weise in seiner Stelle nach. Wird auch demZweiten dasselbe Geschick zu Teil, so kommt einDritter daran, damit nicht, da die Wechselfälle desKrieges gar mannichfache sind, die Gefahren, die demHauptanführer drohen, auch das ganze Heer in Gefahrbringen.

In jeder Stadt wird eine Aushebung aus der SchaarDerjenigen vorgenommen, die sich freiwillig stellen,denn zum Kriege nach auswärts wird Keiner widerseinen Willen zum Militär genommen, weil sie sehrwohl wissen, daß ein Furchtsamer nicht nur selbstnichts Tüchtiges leistet, sondern auch Furcht in dieReihen seiner Kameraden trägt und unter ihnen fort-pflanzt.

Wenn übrigens der Krieg seitens des Feindes insVaterland getragen wird, so werden solche Feiglinge,wenn sie anderes körperlich leistungsfähig sind, ent-weder auf die Schiffe unter kriegstüchtigeres Materialgesteckt, oder sie werden innerhalb der

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Festungsmauern in kleinen Abtheilungen vertheilt, wosich ihnen keine Gelegenheit bietet, auszureißen.

So drängen die Scham vor den Ihrigen, der Feindvor den Thoren und die ihnen gänzlich benommeneHoffnung auf Flucht die Furcht in den Hintergrundund gar oft wird aus der äußersten Noth eine Tugendgemacht.

Wenn sie aber Keinen der Ihrigen wider seinenWillen in einen auswärtigen Krieg hineinzwingen, sowerden andererseits die Ehefrauen, die ihre Männerins Feld begleiten wollen, daran so wenig verhindert,daß man sie vielmehr durch Ermahnungen und ihnengespendetes Lob dazu aneifert; Frauen, die mit ihrenMännern in die Schlacht gezogen sind, werden in derSchlachtordnung neben diese gestellt, auch die Kin-der, Verschwägerten und Verwandten stehen mitihnen zusammen, damit Diejenigen sich gegenseitigdie erste Hilfe leisten, die von Natur den stärkstenAntrieb haben, einander helfend beizustehen.

Zur größten Schmach gereicht es dem Gatten, wenner ohne die Gattin heimkehrt, sowie dem Sohne, derden Vater in der Schlacht verliert und selbst zurück-kehrt, daher, wenn die Feinde Stand halten, und eszum Handgemenge kommt, die Schlacht sich langehinzieht und einen traurigen Ausgang nimmt, indembis zur Vernichtung fortgekämpft wird.

Denn wie sie auf alle Weise trachten, nicht selbst

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in den Kampf eingreifen zu müssen, und den Kriegnur durch die stellvertretende Hand der Miethstruppengeführt wissen wollen, so gehen sie, wenn ihre per-sönliche Betheiligung an der Schlacht einmal unver-meidlich geworden, ebenso unerschrocken ins Zeug,wie sie, so lange es ihnen frei stand, den Kampf klüg-lich vermieden haben; und zwar entwickeln sie beimersten Anprall keineswegs ein heftiges Ungestüm;ihre Tapferkeit steigert sich vielmehr allmählich, jelänger der Kampf dauert, und ihr Muth wird so er-höht, daß sie leichter niedergemetzelt, als zum Wei-chen gebracht würden können.

Der Lebensunterhalt ist einem Jeden zu Hausesicher, die bange Sorge um die Zukunft der Nachkom-menschaft ist von ihnen genommen - denn diese Be-kümmerniß ist es, die überall die Schwungkraft derhochherzigen Geister bricht - und so steigert sich ihrMuth zu solcher Erhabenheit, daß sie es nicht ertrü-gen, besiegt zu werden.

Zudem erhöht ihre Erfahrenheit in militärischenDingen ihre Zuversicht und endlich befeuern die ge-diegenen Anschauungen, die sie theils durch den Un-terricht, theils zufolge der vortrefflichen Einrichtun-gen ihres Staatswesens von Kindheit auf eingesogenhaben, ihre Tapferkeit, wenn auch nicht in dem Maße,daß sie ihr Leben gering schätzten und leichtsinnig indie Schanze schlügen, aber andererseits doch so, daß

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sie nicht schimpflich feige daran hängen, um sich,wenn die Ehre räth, es aufs Spiel zu setzen schändlichdaran zu klammern.

Wenn der Kampf auf dem ganzen Schlachtfelde amheftigsten tobt, setzen sich auserlesene verschworeneJünglinge, die sich dem Tode geweiht haben, denFeldherrn zum Ziel und greifen ihn bald offen an, baldstellen sie ihm hinterlistig nach; ihm gilt es von naheund ferne; der Angriff auf ihn wird in Form eines lan-gen, immer wieder neugebildeten Keiles unternom-men, in den rastlos frische Kämpfer an Stelle der er-müdeten einspringen.

Nur selten ist es der Fall, daß er nicht umkommt,oder lebendig in die Gewalt seiner Feinde fällt, wo-fern er nicht sein Heil in der Flucht sucht.

Wenn der Sieg von ihnen erfochten wird, schwel-gen sie nicht in der Niedermetzelung der Feinde; sienehmen die Fliehenden lieber gefangen, als daß sie sieumbringen; auch verfolgen sie die Geschlagenen nichtso blindlings, als daß sie nicht immer noch eine inSchlachtordnung aufgestellte Heeresabtheilung unterihren Fahnen bereit hielten. So zwar, daß sie, wofernnicht die übrigen Heereskörper besiegt sind, und sieerst mit ihrer letzten Schlachtlinie den Sieg errungenhaben, lieber die gesammten Feinde entrinnen ließen,als daß sie den Fliehenden nachsetzen und ihre eige-nen Reihen zu verwirren sich angewöhnen.

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Sie sind sehr wohl dessen eingedenk, wie es sichmehr als einmal zugetragen hat, daß, wenn das ge-sammte Gros ihres Heeres besiegt und in die Fluchtgeschlagen war, und die Feinde, über ihren Sieg froh-lockend, hierhin und dorthin zur Verfolgung ausein-ander stoben, ihrer nur Wenige, die in einem Hinter-halt gelegt waren und auf die passende Gelegenheitwarteten, die Zerstreuten und aus der SchlachtordnungSchwärmenden, die aus dem Gefühl allzu großer Si-cherheit alle Vorsicht vernachlässigt hatten, plötzlichhervorbrachen und dem Ausgang des Gesammttref-fens eine andere Wendung gaben, den unbezweifeltenund zweifellosen Sieg Jenen aus den Händen wandenund aus Besiegten zu Siegern wurden.

Es ist nicht leicht zu sagen, ob sie schlauer darinsind, Hinterhalte zu stellen, oder gewitzter, solchen zuentgehen. Du würdest glauben, daß sie sich zur Fluchtanschicken, während sie das gerade Gegentheil imSinne haben, und wenn sie zu fliehen vorhaben, sowürdest du dir das vorher nicht vorzustellen im Stan-de sein.

Denn sobald sie merken, daß sie in numerischerBeziehung die Schwächeren sind oder den Nachtheilder Stellung haben, so brechen sie entweder zurNachtzeit das Lager ab und setzen ihre Kolonnen ge-räuschlos in Bewegung, oder sie täuschen durch ir-gend eine andere Kriegslist den Feind, ziehen sich

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auch wohl am hellen Tage ganz allmählich zurück, je-doch in so guter Ordnung, daß es nicht minder gefähr-lich ist, sie anzugreifen, als wenn sie selbst zum An-griffe heranstürmen.

Ihr Lager befestigen sie auf das sorgfältigste miteinem ziemlich tiefen und breiten Graben, die aufge-schaufelte Erde wird nach innen geworfen; zu dieserArbeit bedienen sie sich aber keiner Taglöhner, son-dern sie wird durchweg von ihren Soldaten verrichtet,und das ganze Heer ist dabei thätig, mit Ausnahmederjenigen, die vor der Umwallung in Wehr und Waf-fen lagern, um gegen plötzliche Ueberfälle auf Vorpo-sten zu stehen.

Und da so viele Hände helfen und zusammenarbei-ten, so wird ein großer Lagerraum mit Befestigungenumspannt, und das geht schneller von statten, als manes für möglich halten sollte.

Sie führen derbe Schutzwaffen, die gleichwohl injeder Art leicht zu handhaben und zu tragen sind, sodaß sie nicht einmal beim Schwimmen störend belä-stigen. Denn unter den Anfangsgründen der militäri-schen Erziehung sind sie auch an das Schwimmen inWaffen gewöhnt worden.

Als Geschosse in die Ferne führen sie Pfeile, wel-che sie mit großer Kraft und ausgezeichneter Treffsi-cherheit abschießen, und zwar nicht nur das Fußvolk,sondern auch die Reiterei; im Nahekampfe verwenden

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sie nicht nur Schwerter, sondern auch Aexte, diedurch ihre scharfgeschliffene Schneide sowohl alsdurch ihr Gewicht tödtliche Wunden beibringen, sei'sdurch Hieb oder Stich.

Im Ersinnen von Kriegsmaschinen bekunden sieeinen ganz bedeutenden Scharfsinn; sie halten jedochdie fertiggestellten so lange geheim, bis Gebrauch vonihnen gemacht wird, weil sie besorgen, das vorzeitigeVerrathen derselben nütze zu sonst nichts, als die In-strumente dem Gespött preiszugeben.

Bei der Anfertigung solcher Maschinen sehen sievor allen Dingen darauf, daß sie leicht zu transporti-ren, zu wenden und zu schieben sind.

Mit den Feinden geschlossene Waffenstillständehalten sie so unverbrüchlich heilig, daß sie dieselbennicht einmal dann brechen, wenn sie schwer gereiztworden sind.

Sie verwüsten das feindliche Land nicht, brennenauch nicht die Saatbestände nieder, und treffen sogarVorsorge, daß sie so wenig als möglich vom Fußvolkund von der Reiterei zerstampft werden, indem sie derAnsicht sind, daß dieses Getreide ja auch zu ihremNutzen wachse.

Einem Wehrlosen thun sie nichts zu leide, woferner nicht ein Spion ist. Die Städte, welche sich erge-ben, nehmen sie in ihren Schutz; auch die erobertenzerstören sie nicht, nur todten sie Diejenigen, die

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Schuld an der Hinausschiebung der Uebergabe sind,und allen Uebrigen, die die Stadt vertheidigen gehol-fen haben, wird die Sklaverei auferlegt. Die Civilbe-völkerung aber lassen sie ungeschoren.

Wenn sie in Erfahrung bringen, daß Einige zurUebergabe gerathen haben so wird diesen ein gewis-ser Theil der Güter der Verurtheilten übermittelt, mitdem Reste derselben werden die Hilfstruppen be-schenkt. Für sich selbst nimmt keiner etwas von derBeute.

Im Uebrigen legen sie nach beendigtem Kriegenicht den Freunden, zu deren Gunsten er geführt wor-den, sondern den Besiegten die Lasten auf, und ver-langen von ihnen theils Geld, das sie zu ähnlichenKriegszwecken zurücklegen, theilweise Abtretungvon Grundbesitz, der fortlaufende, nicht geringe Ein-künfte trägt. Einkünfte dieser Art haben die Utopierjetzt bei gar vielen Völkern, die allmählich aus man-nigfachen Ursachen aus über siebenhunderttausendDukaten im Jahre herangewachsen sind.

Nach diesen Ländereien schicken sie einige Bürgerunter dem Namen Quästoren, die auf glänzendemFuße leben und als Personen von Rang und Machtauftreten, während immer noch genug übrig bleibt,was dem ärarischen Fiskus zufließt, wenn sie dasGeld nicht lieber einem Volke kreditiren wollen, wassie häufig so lange thun, bis sie desselben selbst

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bedürfen; sonst kommt es selten vor, daß sie es voll-zählig zurückfordern.

Von diesen Ländereien weisen sie gewisse Gebiets-theile Denjenigen an, die auf ihre Veranlassung sichsolchen Gefahren unterziehen, wie ich sie früher be-zeichnet habe.

Wenn ein Fürst die Waffen gegen sie ergriffen hatund in ihr Land einzufallen sich den Anschein gibt, sobegegnen sie ihm mit großer Macht außerhalb ihrergrenzen, denn sie führen nicht leichtfertig im eigenenLande Krieg, ebensowenig aber ist je die dringendeNothwendigkeit vorhanden, die sie zwänge, Hilfstrup-pen den Eintritt in ihr Inselreich zu gestatten.

Von den Religionen der Utopier.

Die Religionen sind nicht nur in allen Theilen derInsel, sondern auch in den einzelnen Städten verschie-den, indem in der einen die Sonne, in einer andern derMond und in wieder einer andern überall ein andererPlanet göttlich verehrt wird.

Es gibt Leute, die irgend einen Menschen, der einstdurch Tugend oder Ruhm glänzend her vorgeragt hat,nicht nur für einen Gott, sondern für den höchstenGott überhaupt halten.

Aber der weitaus größte und vernünftigste Theil

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nimmt nichts von all dem, sondern ein göttliches, un-bekanntes, ewiges, unendliches, unbegreiflichesWesen an, das über die Fassungskraft des menschli-chen Geistes geht und durch das ganze Weltall ergos-sen ist, nicht durch materielle Größe und Masse, son-dern durch seine innewohnende Kraft. Dieses nennensie Vater, ihm allein schreiben sie den Beginn, dasWachsthum, den Fortschritt, die Verwandlungen unddas Ende aller Dinge zu und keinem sonst erweisensie göttliche Ehren.

Aber darin kommen doch alle überein, so Verschie-denerlei sie auch glauben mögen, daß sie nämlich einhöchstes Wesen annehmen, das zugleich als Schöpferund Vorsehung des Ganzen anzusprechen sei; diesesnennen sie alle gemeinschaftlich in ihrer vaterländi-schen Sprache Mythras, nur darin gehen sie in ihrenAnsichten auseinander, daß Jeder etwas Anderes für»Mythras« hält.

Aber doch meint Jeder, Dasjenige, es sei, was eswolle, was er für das höchste Sein hält, sei dieselbeNatur, deren göttliche Urkraft und Majestät nach derUebereinstimmung aller Völker die oberste Leitungalles Geschehens zugeschrieben wird.

Uebrigens schwindet die Verschiedenartigkeit aber-gläubischer Religionsformen unter ihnen mehr undmehr, und jene eine Religion schlingt ein sie zusam-menschweißendes Band um sie, die alle übrigen an

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Vernunft zu übertreffen scheint. Kein Zweifel, daß dieübrigen Religionen schon früher verschwundenwären, wenn nicht jedes unheilvolle Ereigniß, dasEinem widerfahren, während er sich mit dem Gedan-ken getragen, seine Religion zu ändern, anstatt demZufalle zugeschrieben zu werden, von der Furcht alseine vom Himmel gesandte Strafe einer Gottheit auf-gefaßt worden wäre, womit sie das frevle Beginnen,daß ihr Kultus aufgegeben worden, rächen wolle.

Als sie aber nachmals von uns den Namen Christi,seine Lehre, seine Sitten, Wunder vernahmen, sowiedie nicht minder bewundernswerthe Standhaftigkeit sovieler Märtyrer, wie deren freiwillig vergossenes Blutso zahlreiche Volker weit und breit zu seinem Be-kenntniß übergeführt habe - da war es schier nicht zuglauben, mit wie willigem Gemüthe auch sie zumChristenthum übertraten, es sei Solches nun gesche-hen durch Götter heimliche Eingebung, oder aberdarum, weil dieser Glaube ihnen am meisten Aehn-lichkeit mit jenem heidnischen Glauben zu habendünkte, der bei ihnen die tiefsten Wurzeln geschlagenhat.

Obwohl ich glaube, daß auch der Umstand vonnicht geringem Gewichte war, daß sie erfahren hatten,Christus habe das gemeinsame Leben seiner jüngergern gesehen, und daß dieses in den Zusammenkünf-ten der echtesten Christen noch heutzutage

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gebräuchlich sei.Aus welchem Grunde dies nun erfolgte, auf alle

Fälle sind ihrer nicht wenige zu unserem Glaubenübergetreten, und mit heiligem Taufwasser benetztworden.

Weil aber unter uns Vieren (so Viele waren unsernur noch übrig, da zwei dem Schicksale erlegenwaren) leider kein Priester war, so mußten sie, ob-wohl in allen Punkten unseres Glaubens wohl unter-richtet, gleichwohl auf die Sakramente verzichten, diebei uns nur die Priester auszuspenden pflegen. Abersie begreifen die Natur derselben, und wünschen sosehr in deren Besitz zu kommen, daß sie über nichtseifriger unter sich Besprechungen halten, als darüber,ob nicht auch ohne das Geheiß des christlichen Pap-stes Einer von ihnen zum Priester gewählt werden undso diese Würde erlangen könne. Sie scheinen auchdiesen Schritt vornehmen zu wollen, doch hatten sie,als ich von ihnen schied, zu diesem Amte noch Nie-mand erwählt gehabt.

Auch Diejenigen, die nicht der christlichen Religi-on anhängen, schrecken wenigstens Keinen davon zu-rück und bereiten Keinem eine Anfechtung, der sieangenommen hat. Nur ein Einziger aus unserer Ge-sellschaft wurde während meiner Anwesenheit aufUtopia verhaftet. Dieser nämlich, ein Neugetaufter,disputirte, obwohl wir es ihm widerriethen, öffentlich

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mit mehr Eifer als Klugheit über das christliche Glau-bensbekenntniß, bis er so in Hitze gerathen war, daßer es nicht nur über alle andern erhob, sondern die üb-rigen auch alle als profan verdammte und ihre Beken-ner als Gottlose und Verruchte verlästerte, denen dashöllische Feuer ins Gebein fahren solle.

Da er zum Volke dergestalt redete, ergriffen sie ihnund klagten ihn, nicht der Verächtlichmachung ande-rer Glaubensbekenntnisse, sondern der Erregung vonAufruhr im Volke schuldig, an, verurtheilten und be-straften ihn sodann mit Verbannung. Denn es ist eineihrer ältesten gesetzlichen Einrichtungen, daß seineReligion Keinem zum Nachtheile gereichen dürfe.

Denn Utopus hatte von Anfang an vernommen, daßdie Ureinwohner schon vor seiner Ankunft beständigReligionsstreitigkeiten unter einander geführt hatten,und da er bemerkt hatte, daß dies zu einer allgemei-nen Spaltung Veranlassung gab, indem sie sich nurals einzelne Sekten an der Vertheidigung ihres Vater-landes betheiligen, und daß ihm dadurch die Gelegen-heit sehr erleichtert worden war, sie alle der Reihenach zu besiegen, so setzte er, nachdem dies erreichtwar, vor allen Dingen fest, daß Jeder einer beliebigenReligion solle anhängen dürfen, daß es ihm aber auchfreigestellt sei, Andere für seinen Glauben zu werden,doch nur mit dem Beding, daß er andere Religionennicht rauh und bitter angreife, wenn es ihm nicht

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gelingt, durch Zureden etwas auszurichten, und daß erkeine Gewaltmittel anwende und alle Schmähungenunterdrücke. Einer, der in diesem Punkte allzu unleid-lich vorgeht wird mit Verbannung oder Sklaverei be-straft.

Dieses Gesetz hat Utopus nicht nur der Erhaltungdes Friedens wegen gegeben, den er unter persönli-chem Streit und unversöhnlichem Haß von Grund auszerstört werden sah, sondern, weil er auch der Mei-nung war, daß eine solche Entscheidung im Interesseder Religion selbst gelegen sei, über welche er sichkeine vermessenen Aufstellungen erlauben wollte, alsob er nicht wisse, ob nicht Gott selbst verschiedenar-tige und vielfache Cultusformen wünsche, und demEinen diese, dem Andern jene Religion eingebe.

Aber mit Gewalt und Drohungen erzwingen, daßdas, was du für wahr hältst, auch alle Andern wahrbedünken solle, das hielt er für unverschämt und ab-geschmackt. Wenn nun höchstens eine Religion diewahre ist, und die andern nichtig und eitel sind, so hater doch unschwer vorausgesehen (wenn die Sache nurmit Vernunft und Mäßigung behandelt wird), daß dieinnere Kraft der Wahrheit sich glänzend Bahn bre-chen werde.

Wenn aber mit den Waffen in der Hand und imAufruhr gestritten wird, so würde, da die schlechte-sten Menschen die hartnäckigsten sind, die beste und

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heiligste Religion, wie die Saat unter Dörnern undSträuchern, unter einem Wust abergläubischer Wahn-vorstellungen erstickt werden.

So hat er diese ganze Frage offen gelassen undeinem Jeden es völlig freigestellt, was er glaubenwolle und was nicht. Nur das Eine hat er hoch undtheuer verboten, daß jemand so tief unter die Würdeder menschlichen Natur sinke, daß er des Glaubenssei, die Seele sterbe zugleich mit dem Leibe, oder dieWelt werde nur so von ungefähr, ohne höhere Vorse-hung, im Getriebe erhalten.

Und so glauben sie denn, daß die Laster nach die-sem Leben bestraft werden, für die Tugend aber Be-lohnungen ausgesetzt sind; den, der das Gegentheilglaubt, erachten sie gar nicht für ein menschlichesWesen, als Einen, der die erhabene Natur seiner Seelebis zur Stufe eines bloß thierischen Körpers erniedrigthat, und sie versagen ihm noch mehr Rang und Stel-lung eines Bürgers unter ihnen, deren Einrichtungenund Gebräuche er (wenn ihm die Furcht darin nichtSchranken setzte) nur »wie Luft« behandeln würde.Denn wem kann ein Zweifel darüber bleiben, daß einSolcher die öffentlichen vaterländischen Gesetze ent-weder hinterlistig heimlich umgehen, oder sie gewalt-sam übertreten wird, da er nur seinen persönlichenLüsten dient, wenn er über die Gesetze hinaus nichtsfürchtet und keine Hoffnung weiter hegt, als für

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seinen Körper.Einem so Gesinnten wird daher keinerlei Ehre er-

wiesen, kein obrigkeitlicher Posten übertragen, erkann keinem öffentlichen Amte vorstehen. Er wirdüberall, wegen seiner trägen, unnützen Natur verach-tet. Gleichwohl belegen sie ihn nicht mit Strafe, weilsie der Ueberzeugung sind, daß Keiner es in seinerMacht und Willkür habe, einen beliebigen glauben zubekennen; aber ebensowenig zwingen sie ihn, seineGesinnung zu verstellen und zu heucheln, denn vonLüge und Verstellung wollen sie nichts wissen, diesesind vielmehr, als dem Betruge schon sehr nahe kom-mend, bei ihnen streng verpönt. Doch ist ihm verbo-ten, sich in Erörterungen über seine abweichendenAnsichten einzulassen, wenigstens vor dem gemeinenVolke. Aber vor den Priestern und ernsten gesetztenMännern das zu thun, dazu werden sie im Gegentheilsogar ermahnt, indem man sich dem Vertrauen hin-gibt, ihr Wahnwitz werde doch endlich der Vernunftweichen.

Es gibt auch Solche, und deren gar nicht wenige,die man ungehindert gewähren läßt, die nicht gänzlichder Vernunft entbehren und die nicht schlecht sind,die vielmehr in den entgegengesetzten Fehler verfallenund auch die Seele der Thiere für ewig halten. Abersie seien doch mit den unsrigen an Würde nicht zuvergleichen und nicht zu dem gleichen Grade von

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Glück geboren, denn sie glauben fast insgesammt mitvollendeter Sicherheit, das Glück der Menschen injenem Leben werde ein so überschwängliches sein,daß sie zwar Jedermanns Krankheit, aber NiemandsTod beweinen, außer den Derjenigen, die sie ungernund angsterfüllt aus dem Leben scheiden sehen. Denndas halten sie für ein höchst übles Anzeichen, als obdessen Seele aller Hoffnung bar sei und ein schlechtesGewissen habe und als ob sie in dunkler Ahnung vorder bevorstehenden Strafe sich fürchte, das Leben zuverlassen. Ueberdies werde der, meinen sie, Gott kei-neswegs willkommen sein, der, wenn er gerufen wird,sich nicht freudig zu ihm drängt, sondern nur unwilligund widerstrebend in seine Nähe gezogen wird.

Ein derartiger Tod hat für die Zuschauer etwasGrauenhaftes; trauernd und schweigend tragen sieeinen so Gestorbenen hinaus und, nachdem sie gebe-tet, daß Gott seiner abgeschiedenen Seele gnädig seinund ihr ihre Sünden verzeihen möge, verscharren sieden Leichnam unter die Erde. Diejenigen dagegen, diefrohgemuth und hoffnungsvoll dahingegangen sind,betrauert Niemand; mit Gesang begleiten sie sie aufihrem letzten Wege, empfehlen deren Seele liebevollin Gottes Hut, verbrennen die Leiber ehrfurchtsvoll,doch nicht schmerzlich bewegt, und errichten demTodten eine Gedenksäule an Ort und Stelle, auf dieseine Titel eingemeißelt worden sind. Und wenn sie

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nach der Bestattung heimgekehrt sind, so bildenLeben und Charakter des Verewigten den Gegenstandihres Gesprächs, wobei sie keinen Abschnitt seinesLebens lieber und öfter behandeln, als seinen schö-nen, seligen Tod.

Diese Feier zum Gedächtniß ihrer Rechtschaffen-heit halten sie für einen höchst wirksamen Anreiz zurTugend bei den Lebenden, sowie für eine den Todtenhöchst angenehme Huldigung, von denen man an-nimmt, daß sie den Besprächen über sie beiwohnen,wenn auch (für das blöde Gesicht der Sterblichen) un-sichtbar.

Denn es wäre ja etwas dem Loose der Seligen Un-angemessenes, wenn es ihnen nicht frei stände, über-allhin zu wandern, wohin sie wollen, und es wäre un-dankbar von ihnen, wenn sie mit dem Leben zugleichder Sehnsucht ledig geworden wären, ihre Freundewieder zu sehen, mit denen sie bei Lebzeiten durchgegenseitige Liebe und Sympathie verbunden waren,welche doch nach ihrer Auffassung, wie alle übrigenguten Eigenschaften guter Menschen, nach dem Todenur zunehmen können, anstatt abzunehmen. Darumglauben sie, daß die Todten noch unter den Lebendenumwandeln, und als Zuhörer und Zuschauer von denReden und Handlungen der Lebenden zugegen sind.Sie gehen mit um so viel mehr Zuversicht an ihre Un-ternehmungen und Geschäfte, im Vertrauen auf solche

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Schirmherren, und auch von jeder heimlichen Schand-that hält sie die geglaubte Gegenwart der Vorfahrenzurück.

Vogelflug-Wahrsagungen und alle die anderenabergläubischen Wahrsagereien, wie sie bei anderenVölkern hoch im Schwange sind, betreiben sie ganzund gar nicht und verlachen sie nur.

Wunder dagegen, die gegen den Lauf der Natur er-folgen und ihn durchkreuzen, halten sie als Beweiseund Zeugen der wirkenden Macht der Gottheit inEhren. Solche sollen dort zu Lande häufig vorkom-men und in wichtigen und zweifelhaften Angelegen-heiten flehen sie mit großer Zuversicht durch öffentli-che Fürbitte um solche und erlangen sie auch.

Sie halten die Betrachtung der Natur und Lob undPreis derselben, die sich daraus ergeben, für einenGott wohlgefälligen Kult; doch gibt es auch Solche,und ihrer gar nicht Wenige, die sich so ganz in derReligion leiten lassen, daß sie die Wissenschaftenvernachlässigen und die Erkenntniß der Dinge hintan-setzen; doch dem Müssiggange sind sie nicht ergeben,sondern sie glauben die Seligkeit im Jenseits nurdurch rege Tätigkeit und gute Werke zu verdienen.

Daher pflegen die Einen die Kranken, die Andernbessern Wege und Straßen aus, Jene säubern Gräben,repariren Brücken, stechen Rasen, graben und schau-feln Sand und Steine aus, fällen, spalten und zersägen

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Bäume, transportiren auf Karren Holtz Getreide undAnderes nach den Städten, und nicht blos für Zweckedes Gemeinwesens, sondern sie geben sich auch fürPrivatleute zu Dienern her, ja sind unterwürfiger alsdie Sklaven, denn alle harte, schwierige und schmut-zige Arbeit, wovon die Andern durch Arbeitsscheu,Ekel, Verzagtheit zurückgeschreckt werden, überneh-men sie freiwillig und heitern Sinnes, wodurch sieAndern behagliche Muße ermöglichen, während sieselbst nichts als Arbeit und Plage haben, die sie nichtin Rechnung Stellen; sie haben auch kein schmähen-des Wort für die Andern wegen ihrer anders geartetenLebensführung und überheben sich selber nicht.

Aber je mehr sie sich wie Sklaven gehaben, destohöher stehen sie nur bei Allen in Ansehen und Ehren.

Es sind ihrer aber zwei Secten. Die eine ist die derUnverheiratheten, die sich nicht nur des fleischlichenUmgangs mit dem andern Geschlechte völlig enthält,sondern auch des Genusses von Fleischspeisen undEinige sogar des Fleisches aller Thiergattungen. Sieverwesen alle Vergnügungen des irdischen Lebens alsschädliche Dinge, und trachten nur nach den Freudendes künftigen die sie durch Nachtwachen und vergos-senen Schweiß zu verdienen hoffen; sie sind alle dieZeit über wohlgemuth und rüstig.

Die zweite Secte greift nicht weniger bei der Arbeitzu, zieht es aber vor, in den Ehestand zu treten,

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dessen trostgewährende Natur sie nicht verschmähen;zudem meinen sie, sie schuldeten der Natur den Zollund dem Vaterlande Kinder. Sie wenden sich von kei-nem Vergnügen ab, welches sie nicht von der Arbeitabzieht. Das Fleisch der Vierfüßer ist ihnen aus demGrunde willkommen, weil sie sich durch dessenGenuß zu Arbeiten mannigfachster Art tauglicher er-achten.

Diese halten die Utopier für die klügeren, Jene fürdie Frömmeren. Wenn Diejenigen, welche die Ehelo-sigkeit vorziehen und ein rauheres, hartes Lebeneinem gemächlichen, sich auf Vernunftgründe stützenwollten, so würden die Utopier sie auslachen ; soaber, da Jene selbst bekennen, von religiösen Motivengeleitet zu werden, achten sie sie hoch und verehrensie, denn in keinem Punkte nehmen sie sich so inAcht, wie darin, daß sie über Religion nicht etwasUnbedachtes verlauten lassen.

So also sind Diejenigen beschaffen, die sie miteinem eigenes Worte in ihrer Landessprache Buthres-ken nennen, welches Wort mit »gottesfürchtig« über-setzt werden darf.

Sie haben Priester von außerordentlicher Frömmig-keit, und deshalb sind deren nur sehr wenige, denn essind ihrer nicht mehr als dreizehn in den einzelnenStädten für die gleiche Anzahl von Gotteshäusern,außer zu Kriegszeiten, wo sieben von diesen zum

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Heere abgehen, an deren Stelle inzwischen ebensoviele nachernannt werden müssen; wenn jene aber zu-rückkehren, nehmen sie ihre Amtsstellen wieder ein;die überzähligen sind einstweilen, d.h. bis sie in diedurch Todesfall erledigt werdenden Plätze einrücken,Amtsgehilfen des Oberpriesters. Einer ist nämlich derVorgesetzte aller übrigen Priester.

Sie werden vom Volke gewählt und zwar nachMaßgabe der anderen Obrigkeiten, in geheimer Ab-stimmung, um Gunst und Gehässigkeit zu vermeiden;die Gewählten werden vom Priestercollegium einge-weiht. Sie haben Alles in geistlichen Angelegenheitenanzuordnen, überwachen die religiösen Gebräuche,und sind gleichsam Sittenrichter.

Es wird für eine große Schande gehalten, von ihnenwegen eines unehrenhaften Handels vorgefordert undgerügt zu werden. Wie aber Ermahnen und Warnenihres Amtes ist, so ist es Sache des Fürsten oder dersonstigen Obrigkeiten, die Missethäter zu maßregelnund zu strafen, ausgenommen, daß die Priester Jenenden antritt zum Heiligthum untersagen, die sie als fre-velhafte Uebelthäter erkannt haben; und es gibt wohlkeine Strafe, vor der sich diese mehr fürchten. Dennes trifft sie dadurch höchlich Schande und Unehre undsie werden von geheimer religiöser Furcht gefoltert, jasie fürchten sogar für ihre körperliche Sicherheit,weil, wenn sie nicht schleunige Furcht den Priestern

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kundgeben, sie ergriffen und vom Senate mit der Stra-fe für Gottlosigkeit belegt werden.

Kindheit und heranwachsende Tugend werden vonden Priestern unterrichtet; für eine Grundlage in denWissenschaften wird nicht früher gesorgt, bis ein sitt-liches Fundament gelegt ist, denn sie lassen es sichaufs höchste angelegen sein, gute und für den Bestanddes Staatswesens heilsame Gesinnungen und Grund-sätze in die noch zarten und fügsamen Gemüther derKinder einzupflanzen. Wenn solche Lehren bei denKindern in Fleisch und Blut übergegangen sind, blei-ben ihnen auch die Männer getreu und bilden einemächtige nützliche Schutzwehr des Staatswesens, dasnur dadurch zerfällt, daß die Laster, die aus nichtsnut-zigen Gesinnungen entspringen, um sich greifen.

Die Priester (sofern sie nicht Frauen sind, dennauch das weibliche Geschlecht ist von diesem Standenicht ausgeschlossen, wenn die Wahl auch selten aufsie fällt, wie denn auch nur Wittwen und alte Frauengewählt werden) haben die auserwähltesten Frauender Volksgenossen zu Gattinnen.

Keiner Obrigkeit wird bei den Utopiern mehr Ehr-erbietung gezollt, und diese geht so weit, daß, wennein Priester ein Verbrechen begangen hat, er keinemweltlichen Gerichte unterliegt; er wird Gott und sichselbst überlassen. Die Utopier halten es nämlich nichtfür erlaubt. Denjenigen, ein so großer Frevler er auch

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sei, mit sterblicher Hand zu berühren, der Gott aufeine so eigenartige Weise, gleichsam wie ein Weihge-schenk, geweiht ist.

Diese Sitte ist um so leichter inne zu halten, als nurso wenige Priester, und diese mit solcher Sorgfalt er-wählt werden. Somit ereignet es sich kaum einmal,daß, da aus den Guten nur der Beste zu so hoherWürde lediglich seiner Tugend wegen erhoben wird,er zu Lastern und Verderbtheit entartet; und, wenn esimmerhin einmal geschieht, wie denn die menschlicheNatur wandelbar ist, so ist doch, da es sich ja nur umso sehr Wenige handelt und diese außer den Ehrenmit keiner Macht bekleidet sind, von ihnen in Bezugauf öffentliche Schädigung des Gemeinwesens nichtszu fürchten.

Sie haben deswegen so wenig Priester, damit nichtdie Würde des Standes, dem sie jetzt eine so hoheVerehrung entgegenbringen, dadurch, daß Vielederselben theilhaft werden können, herabsinke; dochinsbesondere deswegen, weil sie es für sehr schwerhalten, Viele zu finden, die so sittlich gut sind, daßdie dieser Würde würdig sind, die zu bekleiden mehrals gewöhnliche Tugenden erforderlich sind.

Ihre Werthschätzung ist zu Hause nicht großer, alsbei den auswärtigen Völkern, und es ist leicht ersicht-lich, woher dies, wie ich glaube, rührt.

Während die Truppen um Entscheidung in der

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Schlacht ringen, lassen sich Jene nicht weit davon aufdie Kniee nieder, mit ihren geweihten Geländern an-gethan, und flehen mit zum Hummel emporgestreck-ten Händen vor allen Dingen um Frieden, dann umSieg für die Ihrigen und um einen möglichst unbluti-gen Ausgang für beide Theile. Wenn die Ihrigen sie-gen, eilen sie in das Schlachtgewühl und thun demWüthen gegen die geschlagenen Einhalt; wer sie nursieht und ihnen zuruft, dem ist sein Leben gesichert.Die Berührung ihrer wallenden Gewänder sodann ret-tet all ihr Besitzthum vor allen weiteren Unbilden desKrieges.

Daher genießen sie bei allen Völkern rings umhereine so große Verehrung und sind von so viel wahrerMajestät umgeben, daß ihre Anwesenheit in derSchlacht für ihre eigenen Bürger einen nicht minderenSchutz gegen die Feinde bedeutet, als sie ein solcherfür die Feinde gegen die Utopier sind. Es ist wenig-stens manchmal vorgekommen, daß, wenn ihreSchlachtordnung geworfen worden war und sie sich inverzweifelter Lage zur Flucht wandten, und die Fein-de zur Plünderung und Niedermetzelung heranstürm-ten, durch die Dazwischenkunft der Priester die völli-ge Niederlage aufgehalten, die gegenseitigen Truppengetrennt worden und der Friede unter billigen Bedin-gungen zu Stande gekommen und abgeschlossen wor-den ist.

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Und noch niemals hat es ein so wildes, grausamesund barbarisches Volk gegeben, daß Leib und Lebendieser Priester ihm nicht als hochheilig und unverletz-lich gegolten hätte.

Feste feiern sie am ersten und am letzten Tagejedes Monats und des Jahres, das sie in Monate ein-theilen, die nach dem Mondumlaufe gegliedert sind,während der Umlauf der Sonne das Jahr begrenzt. Dieersten Tage heißen in ihrer Landessprache Eynemer-nen, die letzten Trapemernen, welche Wörter als »An-fangsfest« und »Endfest« gedeutet werden mögen.

Man findet bei ihnen prachtvolle Tempel, nicht nurtrefflich gebaute, sondern, was bei der geringen An-zahl derselben nöthig war, sehr geräumige, die großeVolksmassen fassen können, Trotzdem aber sind siehalbdunkel, was nicht aus Unverstand der Baumei-ster, sondern auf den Rath der Priester so eingerichtetworden sein soll, weil übermäßig helles Licht die Ge-danken ablenke und zerstreue, während durch matte-res und gleichsam zweifelhaftes die Gemüther gesam-melt würden und das Gefühl der Andacht sich erholte.

Denn wenn auch nicht eine und dieselbe Religionauf der Insel herrscht, so stimmen doch die Glaubens-bekenntnisse, so verschiedentlich und vielfach sieauch sind, darin überein, daß sie auf verschiedenenWegen in der Verehrung der göttlichen Natur die ineinem Endziel zusammenkommen; daher sieht und

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hört man in den Tempeln nichts, was nicht für alleKulte gemeinsam zu passen schiene.

Der besondere Gottesdienst einer Sekte wird inihren Privathäusern abgehalten. Der allgemeine öf-fentliche Gottesdienst ist so beschaffen, daß keinerPrivateigenheit eines Kultus zu nahe getreten wird.Daher ist kein Götterbild im Tempel zu erblicken,damit es Jedem unbenommen bleibe, unter welcherGestalt er sich Gott nach seiner besonderen Religionvorstellen will, sie rufen Gott nicht unter einem be-stimmten Namen, sondern nur unter dem des Mythrasan, mit welchem Worte sie alle einmüthig die Naturher göttlichen Majestät bezeichnen, was diese auchsei; und es werden keine Gebete gesprochen, die nichtein Jeder vorbringen könnte, ohne sich gegen seineSekte zu verfehlen.

An den Endfesttagen kommen sie Abends nochnüchtern zusammen, um Gott für das glücklich voll-brachte Jahr oder desgleichen Monat, dessen letzerTag dieser Festtag ist, Dank zu sagen; am nächstenTag, das ist am Anfangsfesttage, strömen sie früh indie Tempeln zusammen, um für das folgende Jahroder den folgenden Monat, das oder der durch diesenFesttag eingeweiht wird, Glück und Heil zu erbitten.

Bevor sie sich an den Endfesttagen nach dem Tem-pel begeben, bekennen zu Hause die Frauen, indemsie ihren Männern, die Kinder, indem sie den Eltern

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zu Fußen fallen, daß sie gesündigt haben, sei's durchBegehung eines direkten Vergehens, sei's durch fahr-lässige Erfüllung einer Pflicht, und bitten für ihrenFehler um Verzeihung; und so wird jede leichteVolke, die etwa aufgestiegen war und den Frieden amhäuslichen Himmel verdunkelt hatte, zu voller Genug-thuung verflüchtigt, so daß sie sie (Utopier) mit rei-nem und heiterem Gemüthe dem Gottesdienste bei-wohnen können, denn mit getrübtem anwesend zusein, verbietet ihnen ihr Gewissen, und wenn sie sichdaher eines gegen jemand gehegten Grolles oder Zor-nes bewußt sind, so drängen sie sich nicht in das Got-teshaus, so lange sie sich nicht versöhnt und ihre Her-zen von unlauteren Leidenschaften gereinigt haben,aus Furcht, daß die Rache des Himmels sie treffe.

Sobald sie eintreten, begeben sich die Männer aufdie rechte Seite des Tempels, die Frauen auf die linke,dann ordnen sie sich so, daß die männlichen Mitglie-der jeder Familie vor dem Familienvater Platz nehmenund die Hausfrau die Reihe der weiblichen Mitgliederschließt.

Das ist deswegen so vorgesehen, damit die Geber-den und das Gebahren Aller von Denjenigen genaubeobachtet werden können, die die häusliche Gewaltüber die andern Alle haben; wie sie denn auch sorg-sam daraus sehen, daß ein Jüngerer an diesem Ortemit einem Aelteren zusammengesetzt werde, damit

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nicht die Kinder, sich unter einander überlassen, dieseZeit mit kindischen Läppereien verbringen, währendwelcher sie gerade hauptsächlich fromme Furcht vordem Himmlischen empfinden sollten, welche derstärkste und fast einzige Anreiz zur Tugend ist.

Bei ihren Opfern schlachten sie keine Thiere undwähnen nicht, daß sich die göttliche Güte an Blut undMord freue, die Allem, was da lebt, das Leben nur ge-geben hat, damit es sich froh auslebe.

Sie zünden Weihrauch an und andere Wohlgerücheund tragen zahlreiche Wachskerzen vor sich her,nicht, als ob sie nicht müßten, daß das Alles der gött-lichen Natur in keiner Weise fördersam ist, wie esauch die Gebete der Menschen nicht sind, aber eineharmlose Art der Verehrung gefällt ihnen, und durchdiese Düfte, Lichter und die anderen Ceremonien füh-len sich die Menschen, ich weiß nicht wie, gehobenund erheben sich mit um so viel fröhlicherem Ge-müthe zur Anbetung Gottes.

Das Volk hat im Tempel weiße Kleider an, derPriester ist in bunte Farben gekleidet, eine Gewan-dung, die durch Arbeit und Schnitt und Mache be-wundernswerth, doch von wenig kostbarem Stoffe ist,denn sie ist weder mit Gold durchwirkt, noch mitwerthvollen, seltenen Steinen bestickt, sondern mitverschiedenen Vogelfedern so sinnreich und kunstvollgearbeitet, daß der kostbarste Stoff den Werth der

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Arbeit nicht aufwiegen würde. Ueberdies, heißt es,sind in diesen Schwingen und Federn und in gewissenAnordnungen derselben, welche auf dem priesterli-chen Gewande wahrzunehmen sind, gewisse verbor-gene Geheimnisse enthalten, durch deren bekannteAuslegung (die von den Priestern sorgfältig überlie-fert wird) sie an die ihnen zu Theil gewordenen Wohl-thaten Gottes und umgekehrt auch an die Gott schul-dige Pietät, sowie an die Pflichten, die sie gegenseitigunter einander zu erfüllen haben, erinnert werden.

Sobald sich der Priester in diesem Ornate auf derSchwelle des Heiligthums zeigt, werfen sie sich insge-sammt verehrungsvoll zu Boden, unter so allgemei-nem tiefen Schweigen, daß dieser Anblick alleinschon einen gewissen überirdischen Schauer einflößt,als ob eine Gottheit anwesend sei.

Nachdem sie eine Weile am Boden verweilt, erhe-ben sie sich auf ein vom Priester gegebenes Zeichenwieder und lobsingen Gott, wozu zwischendurch In-strumentalmusik ertönt; die betreffenden Instrumentesind großentheils von anderer Gestalt als die in unse-rem Erdkreise bekannten. Die meisten übertreffen diebei uns üblichen bedeutend an Sanftheit des Tons,manche sind mit den unsrigen nicht einmal zu verglei-chen.

In einem Punkte aber sind uns die Utopier zweifel-los bei weitem voraus, nämlich darin, daß ihre Musik,

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sei es Instrumental-, sei es Vokalmusik, so vorzüglichdie natürlichen Gemüthsbewegungen nachahmt undzum Ausdrucke bringt, und die Töne durchweg sofachgemäß gehalten sind, daß, ob es sich um flehen-des Gebet, oder um fröhliche, sanfte, stürmische, trau-rige, zornige Rede handelt, die Form der Melodie sichso treffend dem Sinne anschmiegt, daß die Gemütherder Zuhörer wunderbar ergriffen, durchdrungen, ent-flammt werden.

Zuletzt sprechen Priester und Volk feierliche Gebe-te zusammen in Worten, die so gefaßt sind, daß, wasAlle hersagen, Jeder auch auf sich selbst beziehenkann. In diesen Gebeten erkennen sie Gott als den Al-lesregierer an, und sagen für zahllose empfangeneWohlthaten Dank, insbesondere aber dafür, daß siedurch die Gunst Gottes in dem glücklichsten Staats-wesen, das es gibt, das Licht der Welt erblickt haben,und jener Religion theilhaft geworden sind, die sie fürdie wahrste halten.

Wäre das ein Irrthum, oder gäbe es in beiden Be-ziehungen ein Besseres, das mehr Gottes Billigunghabe, so bitten sie ihn, daß er sie erleuchte und daßsie bereit seien, ihm in Allem zu folgen, welche Wegeer sie auch weise; wenn aber diese Staatsform diebeste ist und ihre Religion die richtigste, dann mögeihnen selbst Gott Standhaftigkeit verleihen und dieGesammtheit der Sterblichen zur Einführung

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derselben Lebenseinrichtungen und zum selben Got-tesglauben bewegen, wenn es nicht sein unerforschli-cher Wille sei, daß diese Verschiedenheit der Religio-nen bestehe, weil er daran Gefallen findet.

Schließlich bitten sie um einen leichten seligen Todund um Aufnahme zu Gott; wie bald oder wie spätdas geschehen solle, darum wagen sie nicht zu bitten.Und wenn es, ohne Gottes Majestät zu verletzen, ge-schehen könne, so liege es ihnen vielmehr am Herzen,selbst den schwersten Tod zu erleiden und zu Gott zugehen, als ihm sogar um den preis des glücklichstenLebenslaufes so viel länger fern zu bleiben.

Wenn sie dieses Gebet gesprochen haben, werfensie sich abermals zu Boden und stehen bald daraufwieder auf und gehen sodann zum Mittagessen.

Den übrigen Theil des Tages verbringen sie mitSpielen und militärischen Uebungen. - - -

Nun habe ich nach bestem Vermögen wahrheitsge-mäß die Form dieser Republik beschrieben, die ich si-cherlich nicht nur für die hefte, sondern auch für dieeinzige halte, die mit vollem Rechte den Namen Re-publik, »Gemeinwesen«, verdient. Denn irgendwo an-ders ist, während sie Alle vom Allgemeinen Wohlsprechen, doch Jeder nur auf seinen eigenen Nutzenbedacht. Aber da, wo es kein Privateigenthum gibt,wird das öffentliche Interesse ernstlich wahrgenom-men, und zwar auf beiden Seiten mit vollem Rechte.

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Denn wer würde anderwärts wohl nicht wissen, daß erHungers sterben müßte, wenn er, selbst bei dem blü-hendsten Stande des Staates nicht selbst für sichwacker sorgt?

Und so wird er durch die unausweichliche Noth-wendigkeit gedrängt, mehr seinen Vortheil, als dendes Volkes, d. i. der Andern, im Auge zu haben.

In Utopien dagegen, wo Alles Allen gehört, zwei-felt Niemand daran (wenn nur dafür gesorgt ist, daßdie öffentlichen Speicher gefüllt sind) daß ihm jeetwas für seine Privatbedürfnisse fehlen werde. Denndort gibt es keine knickerig-hämische Vertheilung derGüter, keine Armen und keine Bettler, und obwohlKeiner etwas besitzt, sind doch Alle reich.

Denn gibt es einen herrlicheren Reichthum, alsohne jede Sorge, frohen und ruhigen Gemüthes zuleben? ohne für seinen Lebensunterhalt sorgen zumüssen, ohne von den beharrlich jammernden Klagender Gattin gequält zu werden, ohne fürchten zu müs-sen, daß der Sohn in Noth gerathen werde, und wegender Mitgift der Tochter unbesorgt sein zu dürfen, son-dern für ihren und aller der Ihrigen Lebensunterhalt,der Gattin, der Söhne, der Enkel, Urenkel und Ururen-kel und für die ganze Reihe der Nachkommen, so langsie auch immer sei, gesorgt und deren Glück verbürgtzu wissen? Es wird nicht weniger für Diejenigen ge-sorgt, die jetzt arbeitsunfähig sind, aber einst

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gearbeitet haben, wie für die Diejenigen, die zur Zeitnoch arbeiten.

Da möchte ich doch sehen, ob sich Einer erdreistet,mit diesem hohen Billigkeitssinne die Gerechtigkeitanderer Völker zu vergleichen, und ich will gleich desTodes sein, wenn bei ihnen überhaupt eine Spur vonGerechtigkeit oder Billigkeit zu finden ist.

Denn was ist das für eine Gerechtigkeit, daß irgendein Adeliger oder Goldschmied oder ein Wuchereroder ein beliebiger Anderer, die rein nichts thun undleisten, oder, wenn sie etwas thun, nur Derartiges,was für das Gemeinwohl nicht erforderlich ist, einglänzendes, üppiges Leben führt, das ihm der Mü-ssiggang oder ein ganz überflüssiges Geschäft ermög-licht, während hingegen ein Tagelöhner, ein Fuhr-mann, ein Schmied, ein Landmann, die so viel und sohart und emsig arbeiten müssen, wie es kaum dieZugthiere auszuhalten im Stande sind, deren Arbeitenüberwies so unentbehrlich sind, daß kein Staatswesenauch nur ein Jahr ohne dieselben bestehen könnte,einen so erbärmlichen Lebensunterhalt erwerben, einso elendes Leben führen, daß die Lebensbedingungender Zug- und Lastthiere als bei weitem günstiger er-scheinen könnten, denn sie werden nicht so zu endlo-ser Arbeit angehalten, und ihre Kost ist kaum eineschlechtere, aber ihr Leben ist dadurch angenehmerdaß sie für die Zukunft nicht zu fürchten brauchen.

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Die genannten Personen hingegen hetzt unfrucht-bare, öde Arbeit in der Gegenwart ab, und der Gedan-ke an ein hilfeentblößtes Alter martert sie zu Tode,denn ihr täglicher Lohn ist so gering, daß er unmög-lich für den Tag ausreichen kann, geschweige denn,daß auch nur das Geringste davon erübrigte, was zurVerwendung im Alter zurückgelegt werden könnte.

Ist das nicht ein ungerechter und undankbarerStaat, der den Adeligen, wie sie heißen, und denGoldschmieden, und den übrigen Leuten ähnlichenSchlages, oder Müßiggängern oder bloßen schmarot-zenden Fuchsschwänzern, oder denen, die nur fürHerstellung nichtiger Vergnügungen thätig sind, dasbeste Wohlleben verschafft, den Bauern, Köhlern, Ta-gelöhnern, Fuhrleuten und Schmieden dagegen, ohnewelche ein Staat überhaupt nicht existiren konnte, garnichts Gutes zu Theil wird?

Aber nachdem ein solcher Staat die Arbeitskräfteim blühendsten Lebensalter mißbraucht hat, belohnter die von der Last der Jahre und Krankheit Gebeug-ten, von allen Hilfsmitteln Entblößten, so vielerdurchwachter Nächte, so vieler und so großer Diensteuneingedenk in schnödester Undankbarkeit mit einemjammervollen Tode, dem man die Leute überläßt.

Und an diesem spärlich zugemessenen Lohne derArmen knappsen die Reichen täglich noch ein kleinwenig ab, nicht nur durch private List und Trug der

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Einzelnen, sondern auch durch öffentliche Gesetze, sodaß, was früher Unrecht schien, den um den Staat sowohlverdienten Arbeitern mit Undank zu lohnen, siejetzt aus dem Wege der Gesetzgebung sogar zu einemrechtlichen Zustande gemacht haben.

Wenn ich daher alle die Staaten, welche heutzutagein Blüthe stehen, durchnehme und betrachte, so seheich, so wahr mir Gott helfe, in ihnen nichts Anderes,als eine Art Verschwörung der Reichen, die unter demDeckmantel und Vorwande des Staatsinteresses ledig-lich für ihren eigenen Vortheil sorgen, und sie denkenalle möglichen Arten und Weisen und Kniffe aus, wiesie das, was sie mit üblen Künsten zusammen geraffthaben, erstens ohne Furcht es zu verlieren, behalten,sodann wie sie die Arbeit aller Armen um so wenigEntgelt als möglich sich verschaffen mögen, um sieauszunutzen.

Diese Anschläge, welche die Reichen im Namender Gesammtheit, also auch der Armen aufgestellt unddurchzuführen beschlossen haben, wurden dann zuGesetzen erhoben. Aber wenn diese grundschlechtenMenschen alle Besitzthümer, die für Alle hingereichthätten, unter sich getheilt haben - wie weit sind siedann noch von dem Glückseligkeitszustande des uto-pischen Staatswesens entfernt !

Aus diesem ist zugleich mit dem gebrauche desGeldes aller Geiz und alle Gier verbannt, eine Last -

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und welcher - von Verdrießlichkeiten abgeschnittenund welche üppige Saat aller Laster mit der Wurzelausgereutet! Denn, wer weiß nicht, daß Betrug, Dieb-stahl, Raub, Aufruhr, Zank und Streit, Aufstände,Mord, Verrath, Giftmischerei, die durch tägliche Stra-fen mehr geahndet als verhindert werden, mit der Be-seitigung des Geldes verschwinden und dazu Furcht,Angst, Sorgen, Plagen, Nachtwachen, die alle mitdem Gelbe zugleich aus der Welt gehen; ja, die Ar-muth selbst die man doch allein für des Geldes be-dürftig hält, würde von Stund' an, wo das Geld hin-weggenommen wäre, ebenfalls abnehmen.

Am dir das ganz klar zu machen, so stelle dir ein-mal ein unfruchtbares Jahr, ein Jahr des Mißwachsesvor, in dem eine Hungersnoth kaufende von Men-schen dahingerafft hätte, - da behaupte ich nun gera-dezu, daß zu Ende dieser Hungersnoth so viel Getrei-de in den Kornspeichern der Reichen, wenn sie ausge-leert würden, gefunden werden könne, daß es, unterdie Nothleidenden vertheilt, welche Auszehrung undschleichender Fieber weggerafft haben, überhauptkein Gefühl von der Ungunst des Himmels und desBodens hätte aufkommen lassen; so leicht wäre derLebensunterhalt zu beschaffen, wenn nicht das geseg-nete Geld, welches insbesondere dazu erfunden ist,daß es uns ja eben die Pforten zu den Hallen des Le-bensgenusses öffne, dieselben umgekehrt gerade

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verschlösse.Das fühlen, wie ich nicht zweifle, auch die Rei-

chen, und sie wissen auch sehr wohl wie viel besserdie Verhältnisse wären, in denen man keine notwendi-ge Sache entbehrte, als daß man Ueberfluß an vielenüberflüssigen Dingen hat, Verhältnisse, in denen manlieber zahlreichen Uebeln entrückt wäre, statt vonBergen von Reichthürmern gleichsam belagert zusein.

Ich lasse mir auch nicht beifallen, einen Zweifel zuhegen, daß entweder die vernünftige Erwägung des ei-genen Vortheils, oder die Autorität unseres HeilandsChristus (der bei seiner holten Weisheit wohl wissenmußte, was das Beste ist, und bei seiner unendlichenGüte das anrathen, was er als das Beste erkannte) un-seren ganzen Welttheil schon längst zu der Gesetzge-bung dieses (des utopischen) Staatswesens geführthaben würde wenn nicht ein gräuliches Unthier, Ur-sprung und Zeugerin alles Fluches und Verderbens,die Hoffart, aus aller Macht widerstrebte, die dasWohlsein nicht nach dem eigenen Vortheil, sondernnach dem Schaden der Andern bemißt.

Sie würde sogar auf den Rang einer Göttin verzich-ten, wenn es keine Armen gäbe, über die sie herr-schen, und die sie hochfahrend behandeln könnte.Durch Kontrast mit dem Elend strahlt erst recht dasGlück der Reichen, das seine Schätze auskramt und

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die entbehrende Noth peinigt und aufreizt.Diese höllische Schlange kriecht und wühlt in den

Herzen der Menschen und hält sie davon ab, einenbesseren Lebensweg einzuschlagen, wie der Fisch,Schiffshalter genannt, das Schiff zurückhält. Sie nistetso tief in der Menschen Brust, daß sie nicht leicht her-ausgerissen werden kann.

Ich freue mich, daß diese Form des Staatswesens,die ich allen Menschen wünschen würde, wenigstensden Utopiern zu Theil geworden ist, die solche Ein-richtungen für ihr Leben getroffen haben, mit denensie das glücklichste Fundament zu ihrem Staate gelegthaben, aber nicht nur das, sondern, so viel menschli-che Voraussicht zu weissagen im Stande ist, zu einemStaate, der von ewiger Dauer sein wird.

Denn, nachdem die Wurzeln des Ehrgeizes und derParteiungen mit den übrigen Lastern im Innern ausge-rottet sind, droht keine Gefahr mehr, daß ein Bürger-zwist ausbreche, welcher den ausgezeichnet fundirtenWohlstand vieler Gemeinden und Städte dem Ruinentgegenführen könne.

Und da die innere Eintracht nicht zu zerstören ist,und die Staatlichen Einrichtungen das Heil Utopiensverbürgen, so ist der Neid aller benachbarten Fürsten(der es Schon gar oft versucht hat, dessen Versucheaber stets zurückgeschlagen worden sind) ohnmäch-tig, dieses Reich zu erschüttern oder in Aufruhr zu

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versetzen.

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Als Raphael so nun erzählt hatte, kam mir Allerleizu Sinne, was in den Sitten und Gesetzen dieses Vol-kes geradezu ungereimt erschien, nicht nur bei Be-gründung ihrer Kriegsführung, ihrer gottesdienstli-chen Einrichtungen, ihrer Religion und obendreinnoch anderer Einrichtungen, sondern vor allem auchdas, was das eigentliche Hauptfundament ihres gan-zen Bestandes ist, ihr Leben nämlich, ihre gemeinsa-me Lebensweise ohne allen Geldverkehr, wodurch al-lein der ganze Adel, die Pracht, der Glanz der wahrenMajestät, wie es so die allgemeine Ansicht ist, dieZierde und der Schmuck des Staates, von Grund ausaufgehoben wird.

Gleichwohl machte ich keine Einwendung, da ichwußte, daß er vom langen Erzählen ermüdet war, undda ich durchaus nicht die Gewißheit hatte, daß er esgut aufgenommen haben würde, wenn ich ihm wider-sprochen hätte, namentlich, da ich mich erinnerte, daßer Einige aus diesem Anlasse getadelt hatte, als ob siefürchteten nicht für gescheidt genug gehalten zu wer-den, wenn sie nicht etwas ausfindig machten, was siegegen eine gegenteilige Meinung vorbringen konnten.

So lobte ich denn jene Einrichtungen und seine

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Rede, nahm ihn sodann bei der Hand und führte ihnin das Speisezimmer, indem ich bemerkte, wir würdenwohl noch später Zeit finden, über dieses Themanachzudenken und des Langen und Breiten darüber zuSprechen.

Möchte es dazu doch noch einmal kommen!Indessen, wenn ich auch nicht Allem, was er zum

Besten gegeben, beistimmen kann, obwohl er ohneWiderspruch ein höchst gelehrter, in den Weltangele-genheiten gründlich unterrichteter Mann war, so mußich doch ohne weiteres gestehen, daß es im utopi-schen Staatswesen eine Menge Dinge gibt, die ich inanderen Staaten verwirklicht zu sehen wünsche.

Freilich wünsche ich das mehr, als ich es hoffe.

Ende des zweiten Buches.


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