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Mobilität in der globalisierten Welt _I-203.pdf

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Robertson-von Trotha, Caroline Y. Mobilität in der globalisierten Welt ZAK I Zentrum für Angewandte Kulturwissenschaft und Studium Generale Centre for Cultural and General Studies Mobilität in der globalisierten Welt Problemkreise der Angewandten Kulturwissenschaft Caroline Y. Robertson-von Trotha (Hrsg.) Christoph Becker Johann Günther Robert Hettlage Firoz Kaderali Hermann Lübbe Kurt Möser Norbert Radermacher Sabine Schäfer / Joachim Krebs Angelina Topan Stefanie Wahl Matthias Winzen 11
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Robertson-von Trotha, Caroline Y.Mobilität in der globalisierten Welt

ZAK I Zentrum für Angewandte Kulturwissenschaftund Studium Generale Centre for Cultural and General Studies

Mobilitätin derglobalisierten Welt

Problemkreise der Angewandten Kulturwissenschaft

Caroline Y. Robertson-von Trotha(Hrsg.)Christoph BeckerJohann GüntherRobert HettlageFiroz KaderaliHermann LübbeKurt Möser Norbert RadermacherSabine Schäfer / Joachim KrebsAngelina TopanStefanie WahlMatthias Winzen

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Mobilität in der globalisierten Welt

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Problemkreise der Angewandten Kulturwissenschaft

Heft 11

ZAK | Zentrum für Angewandte Kulturwissenschaft und Studium GeneraleCentre for Cultural and General StudiesUniversität Karlsruhe (TH)

Herausgeberin der Reihe: Caroline Y. Robertson-von TrothaCopyright: Zentrum für Angewandte Kulturwissenschaft und Studium Generale Universität Karlsruhe (TH) 76128 KarlsruheBezug früherer Hefte: über obige Adresse

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Caroline Y. Robertson-von Trotha (Hrsg.)Christoph BeckerJohann GüntherRobert HettlageFiroz KaderaliHermann LübbeKurt Möser Norbert RadermacherSabine Schäfer / Joachim KrebsAngelina TopanStefanie WahlMatthias Winzen

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Universitätsverlag Karlsruhe 2005 Print on Demand

ISBN 3-937300-62-7ISSN 1860-4250

Impressum

Universitätsverlag Karlsruhec/o UniversitätsbibliothekStraße am Forum 2D-76131 Karlsruhewww.uvka.de

Dieses Werk ist unter folgender Creative Commons-Lizenz lizenziert: http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/de/

Herausgeberin Heft 11: Caroline Y. Robertson-von Trotha

Redaktion: Christine Mielke, Jana Lange, Jasmin Halt

Grafik: Asher2xGoldstein

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Inhaltsverzeichnis

Problemkreise der Angewandten KulturwissenschaftVorwort zur Heftreihe 5

Caroline Y. Robertson-von TrothaMobilität in der globalisierten Welt.Eine Einführung 9

Hermann LübbeDer Globus hat kein Zentrum.Über kulturelle und politische Wirkungenverdichteter Netze 13

Arbeit, Freizeit, Mobilität

Kurt MöserTransport und Bewegungslust. Die Funktion der Straßenmobilität heute 29

Christoph BeckerArbeit – Freizeit – Mobilität.Wichtige Trends in Freizeit und Tourismus 45

Stefanie WahlArbeit – Freizeit – Mobilität.Zwischen demographischem undtechnologischem Wandel 51

Technologie und Datenmobilität

Firoz KaderaliDatenmobilität in der Informationsgesellschaft 63

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Johann GüntherTechnologie und Datenmobilität 73

Mobilität und die EU – Erweiterung

Matthias WinzenBilder von Europa.Ohne die Arbeit von Künstlern herrscht visuellerAnalphabetismus zwischen den Nationen 113

Robert HettlageDie EU als Wanderungsraum – zwischen alten und neuen gesellschaftlichen Herausforderungen 119

Norbert RadermacherTheater ohne Grenzen. Von der Qualität des interkulturellen Dialogsin der Kinder- und Jugendkulturarbeit 147

Angelina TopanDer Mythos von der Massenimmigration. Ost-West-Wanderung im Zuge der Osterweiterung 157

Mobilität der Sinne

Sabine Schäfer und Joachim KrebsKlang – Zeit – Raum – Bewegung Die RaumklangInstallationen 175

Die Autorinnen und Autoren 197

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Vorwort

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Problemkreise der Angewandten Kulturwissenschaft

Vorwort zur Heftreihe

Die 'Problemkreise der Angewandten Kulturwissenschaft' sind einetwas anderes Periodikum – anders im Sinne einer Konzeption,die verschiedene Öffentlichkeiten ansprechen möchte, wissen-schaftliche wie allgemein interessierte. 'Public understandig ofScience' wird dieser Anspruch genannt, der sich aus dem Wunschnach einer Vermittlung zwischen den traditionell oft unverbunde-nen Sphären der akademischen Forschung und den Diskursenund Kommunikationsformen der außeruniversitären Gesellschaftentwickelte.

Das Konzept dieser 'Öffentlichen Wissenschaft' wird von der Vor-stellung getragen, dass auch interessierte Laien und nicht nur einFachpublikum an akademischer Forschung partizipieren könnensollten und dass die gesellschaftliche Relevanz von Forschungsin-halten und -ergebnissen nachvollziehbar aufbereitet sowie kri-tisch zur Diskussion gestellt wird.

Konkret umgesetzt wird dieser Anspruch zunächst durch aktuelleFragestellungen oder übergreifende Themenzusammenhänge,die durch eine facettenreiche Darstellung auf wissenschaftlicher,alltagspraktischer und – als wichtiger Bestandteil – auch künstle-risch-ästhetischer Ebene neue Zugangsmöglichkeiten erfahren.Mit diesem Konzept führt das Zentrum für Angewandte Kulturwis-senschaft und Studium Generale (ZAK) der Universität Karlsruhe(TH) seit über einem Jahrzehnt erfolgreich Veranstaltungen aufinner- wie außeruniversitären Plattformen durch; besonders diealljährlichen 'Karlsruher Gespräche' – mit initiiert von ProfessorHermann Glaser, dem das ZAK viel an kreativen Ideen verdankt– sind eine der Veranstaltungssäulen und Verbindungsgliedervon Universität und Öffentlichkeit. Die vorliegende Heftreihe hat

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daher auch die Aufgabe diese 'Live-Erlebnisse' zu dokumentierenund komplettieren. Aus diesem Grund wurden die 'Problemkreiseder Angewandten Kulturwissenschaft' 1996 ins Leben gerufenund stellen als Heftreihe ein breites Themenspektrum im Kontextkultureller Fragestellungen in Theorie und Praxis vor. In diesemRahmen werden über die Dokumentation der 'Karlsruher Ge-spräche' hinaus auch weitere Veranstaltungsergebnisse und The-men des ZAK aufgegriffen und – der bewährten Methodik derHeftreihe verpflichtet – publiziert.

Zusammen mit Hermann Glaser haben wir zum einen diese be-sondere Form der Veranstaltungen und zum anderen, daraufaufbauend, diese Art der Publikationsweise entwickelt. Hierbeigeht es uns um drei Zielsetzungen:

• Mit unserem Bemühen um eine öffentliche Wissenschaft wol-len wir über komplexe Zusammenhänge informieren und dieÖffentlichkeit für wissenschaftliche Fragestellungen gewin-nen. Wir wollen zum Verständnis beitragen aber auch zumDialog zwischen Universität und Gesellschaft.

• Durch die interdisziplinäre, meist auch interkulturelle Zusam-mensetzung der Teilnehmer unserer Publikationen hoffen wirneue Perspektiven innerhalb der Wissenschaften anzustoßen.

• Mit der Einbeziehung von Expertinnen und Experten aus derPraxis wollen wir den Austausch zwischen Theorie und Praxisverstärken.

Dadurch wird auch ein weiterer Anspruch umgesetzt, den sichdas ZAK seit seiner Gründung 1989 als Arbeitsstelle, später als'Institut für Angewandte Kulturwissenschaft' auf die Fahne ge-schrieben hat: ein konstruktiv und produktiv gewendeter Umgangmit dem – wie noch 1996 kritisiert wurde – „Zauber der Unschär-fe“ (Die ZEIT, Nr. 48), der der jungen Disziplin anhaftet. Dennwas unter Kulturwissenschaft genau zu verstehen ist, wie sie sichgegenüber anderen Disziplinen abgrenzt, was ihre ureigensten

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Vorwort

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Inhalte und Aufgaben sind, wird am ZAK als fortdauernde Moti-vation und Chance begriffen. Mit der Methode eines interdiszipli-nären, sich nicht in Fachgrenzen pressenden Forschens undLehrens, eines Arbeitens, das in aller erster Linie problemorien-tiert ist, werden theoretische Ansätze wie praktische Anwendun-gen verschiedenster Wissenschaftsdisziplinen und Gesellschafts-bereiche mit einbezogen. In Verbindung mit dem bis heute ent-wickelten kulturwissenschaftlichen Handwerkszeug entsteht eineAngewandte Kulturwissenschaft mit Raum für neue Erkenntnisseund Lösungen. Kulturwissenschaft als ein Ganzes, das in derSumme seiner Teile – Perspektiven, Ansichten, Traditionen –fruchtbar wird und Erkenntnisfortschritte birgt. Dafür soll die vor-liegende Heftreihe 'Problemkreise der Angewandten Kulturwis-senschaft' Zeugnis und Quelle sein.

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Mobilität in der globalisierten Welt. Eine Einführung

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Mobilität in der globalisierten Welt. Eine Einführung

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Wenn heute von einer globalisierten Welt gesprochen wird, sobedeutet dies die Folge einer ins Vielfache gesteigerten Mobili-tät. Der Eindruck von einer Welt und von Globalisierungsphäno-menen, die statt auf einzelne Erdteile, Staaten oder Regionenbezogene Akteure global agierende Menschen und Institutionenhervorbringen, entsteht vor allem durch den erweiterten geistigenwie räumlichen Horizont. Erst die real räumliche Welterfahrungder Distanzüberwindung oder die virtuell räumliche Erfahrungder Datenströme ermöglichen es, eine Welt als ganze darzustel-len, sich vorzustellen und zu nutzen. Erst die technischen, aberauch politischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Möglichkeiteneiner weltweiten Kommunikation lassen das Szenario einer Welt-gesellschaft greifbarer werden.

Bei den verschiedenen Mobilitätsphänomenen vermischen sichpositive wie negative Aspekte untrennbar miteinander:

Das positive Szenario einer nachhaltigen und friedlichen Weltge-sellschaft setzt noch unendlich vieles an Mobilitätsleistungen gei-stiger sowie physischer Art voraus und stellt uns, was den täg-lichen Umgang damit angeht, vor mehr Fragen als wir derzeitauch nur annähernd beantworten können. Welche Kommunika-tionsstrukturen brauchen wir, wie schützen wir uns vor derenMissbrauch, wie lassen sich verlässliche Rahmenbedingungen,einschließlich leistungsfähiger nationaler und übernationalerVerwaltungsstrukturen, Gerichtsbarkeiten und Strukturen der Po-litik und Diplomatie aufbauen? Welche Verhaltensweisen führenpolitisch zu Irritationen und Aggressionen, wie kann eine konflikt-hafte Mobilisierung ethnischer Identitäten als unterschwellige Re-

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aktion auf dominante globale und benachteiligende Strukturenverhindert werden? Vor allem aber, wie sieht es mit den wirt-schaftlichen Voraussetzungen aus, die entscheidend sind für Fra-gen der sozialen Integration in einer modernen Zivilgesellschaft,und schließlich, welchen Beitrag können Kunst und Kultur theo-retisch und praktisch für die Integration Europas leisten? Kunstwird in diesem Kontext als Vermittlungsinstanz zwischen den Na-tionen und Generationen diskutiert, die zur verbesserten Verstän-digung beiträgt. Einen Schwerpunkt innerhalb dieser Thematikbilden Fragen der Mobilität, die in direktem Zusammenhang mitder EU-Erweiterung und den damit einhergehenden infrastruktu-rellen und sozialpsychologischen Faktoren von Nähe und Distanznach dem Ende der Ost-West-Blockbildung stehen.

Aufgegriffen werden auch wichtige aktuelle Aspekte der Ver-kehrspolitik, die sich unter anderem mit offenen Fragen der Ener-gieversorgung, der Umwelt- und Klimafolgen, aber auch mit deranthropologisch konstatierten Reiselust und deren Auswirkungenbeschäftigen.

Abschließend wird das Thema Mobilität auf ganz andere Weisepräsentiert: als neuer Impuls im Kunstschaffen, als Ansatz fürneue ästhetische Erfahrungen.

Mit einem gewohnt interdisziplinären Spektrum versucht der vor-liegende Band 'Mobilität in der globalisierten Welt' als Band 11der 'Problemkreise der Angewandten Kulturwissenschaft' Ansätzezu Antworten und vertiefendem Nachdenken zu bieten. Es sinddie Beiträge zahlreicher namhafter Expertinnen und Experten, diediese im Februar 2003 bei dem Symposium und dem verkehrs-wissenschaftlichen Workshop der gleichnamigen 7. KarlsruherGespräche des Zentrums für Angewandte Kulturwissenschaft inForm von Vorträgen, Kurzstatements, Performances und Diskus-sionsrunden beisteuerten. Neben den Referentinnen und Refe-renten des Symposiums möchte ich auch ganz herzlich dem

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Mobilität in der globalisierten Welt. Eine Einführung

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Karlsruher 'Forum Ethik in Recht und Technik' und dessen Ge-schäftsführer Dr. Ekkehard Fulda danken sowie unseren weiterenKooperationspartnern, Generalintendant Achim Thorwald undVerwaltungsdirektor Wolfgang Sieber vom Badischen Staatsthea-ter, Prof. Harald Siebenmorgen, Direktor des Badischen Landes-museums sowie dem Leiter der Staatlichen MusikhochschuleProf. Wolfgang Meyer.

Wie immer gehört beim ZAK zu einer erfolgreichen Veranstaltungauch die nachfolgende Arbeit der Publikation. Dafür, dass dasGehörte und Gesehene nicht in Vergessenheit gerät, sonderndurch die schriftliche Form ein Teil einer von Zeit und Raum un-abhängigen Kommunikation wird, danke ich für die sorgfältigenRedigierungsarbeiten und die gesamte Herstellung dieses Ban-des Christine Mielke sowie Jana Lange, Jasmin Halt und Mirjamvon Jarzebowski.

Karlsruhe, im Juli 2005

Caroline Y. Robertson-von Trotha

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Der Globus hat kein Zentrum

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Der Globus hat kein Zentrum. Über kulturelle und politische Wirkungen

verdichteter Netze

Hermann Lübbe

Kulturen lassen sich aufschlussreich unter dem Aspekt ihrer Aus-breitungsdynamik vergleichen – die großen monotheistischen Re-ligionen zum Beispiel, unter denen der Islam von der EroberungMekkas durch den Propheten über die Vernichtung des Christen-tums in Nordafrika hinweg nur gut einhundert Jahre benötigte,um bis nach Tours und Poitiers in die Mitte Frankreichs zu gelan-gen, wo dann Karl Martell diesen Vormarsch stoppte und diechristliche Kultur diesseits der Pyrenäen rettete. Das Christentumseinerseits hatte demgegenüber dreihundertfünfzig Jahre ge-braucht, bis es im römischen Weltreich unter dem Kaiser Theo-dosius den Status einer politisch verbindlichen Kirche erlangte. Essind aufschlussreiche Fragen, die sich an solche Unterschiedeknüpfen lassen, und so auch an den singulären, inzwischen glo-bal gewordenen Ausbreitungserfolg der herkunftsmäßig in Euro-pa entstandenen und dann zunächst im ganzen Westen prägendgewordenen wissenschaftlich-technischen Zivilisation.

Unter dem speziellen Stichwort "Mobilität" soll uns die wissen-schaftlich-technische Zivilisation hier beschäftigen, und entspre-chend sei zunächst die Frage nach den Gründen des singulärenglobalen Ausbreitungserfolgs dieser Zivilisation beantwortet. Ichlasse dabei den Gewaltaspekt der Sache, der historisch auch zudieser Erfolgsgeschichte gehört, beiseite, beschäftige mich alsonicht mit dem Kolonialismus, der ja alsbald nach dem Ende desZweiten Weltkriegs zusammenfiel, und lasse auch die Expansi-onsgeschichte des real existent gewesenen Sozialismus beiseite,nachdem dieser inzwischen nur noch in traurigen Relikten aufCuba oder in Nord-Korea präsent ist. Alsdann lässt sich ohneFahrlässigkeit sagen: Es hat vor allem zwei Gründe, dass diewestliche Zivilisation mit ihrer Wissenschaft und Technik sich glo-

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bal auszubreiten, nachhaltig festzusetzen und fortzuentwickelnvermochte. Der erste Grund ist die bezwingende Evidenz der Le-bensvorzüge, die einzig in Nutzung der modernen Zivilisation zuhaben sind – von den Erfolgen im Kampf gegen Hunger undKrankheit und damit im Sieg über die Armut bis hin zu den Ge-winnen an individueller und kollektiver Selbstbestimmungsfähig-keit über elementare Bildung sowie soziale und räumlicheMobilität. Der zweite Grund der globalen Akzeptanz der wissen-schaftlich-technischen Zivilisation ursprünglich westlicher Her-kunft ist deren Herkunftsneutralität. Anders als noch der ag-gressive Sozialismus mutet die technische Zivilisation den Ange-hörigen außerchristlicher Herkunftswelten keinerlei Bildersturmzu. Die Errichtung von Staumauern zur Verbesserung der Ener-gieversorgung wird nicht durch Erweckungspredigten von Zivili-sationsmissionaren ausgelöst. Der Straßenbau erfolgt nicht ge-mäß Maßgaben Heiliger Schriften, zu denen man bekehrt wor-den wäre. Auch die Mao-Bibel ist ja längst abgetan. Das bedeu-tet mit Blick auf die jeweils eigene Herkunftskultur: Ihre heiligenStätten bleiben unversehrt, und wo sie doch einmal technischenGroßbauten weichen müssen, geschieht das mit konservatorisch-denkmalpflegerischer Professionalität und so mit einem Auf-wand, wie er erst über Modernisierungsvorgänge verfügbar wird.

Wohlfahrtsgewinne sind mit Autarkieverlusten verbunden. Je mo-derner wir leben, umso abhängiger werden wir, zumeist zu unse-rem Vorteil, von den Produkten und Dienstleistungen aus derArbeit sozial und regional weit entfernter anderer, die ihrerseitsan den Resultaten unserer eigenen Tätigkeit partizipieren. Unssoll hier der technische Aspekt der Sache beschäftigen. Stets sindunsere expandierenden wechselseitigen Abhängigkeiten tech-nisch in Netzen realisiert. Netze, die uns verbinden, gibt es viele.Zwei Netze sind die mit Abstand wichtigsten – Verkehrsnetze ei-nerseits und Kommunikationsnetze andererseits. Um nicht zu ver-gessen, dass es andere Netze auch noch gibt, erinnere man sich,zum Beispiel, an jene Netze mit dem Zweck mobilitätsfreien Gü-tertransfers. "Mobilitätsfreier Gütertransfer" – das hört sich änig-matisch an, ist aber ja nichts anderes als die genaue Charakteris-

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tik dessen, was wir "Leitungen" nennen – Energieleitungen alsovor allem, auch Leitungen für Energieträger, Wasser- und Ab-wasserleitungen etc. Experten haben ausgerechnet, dass je nachregionaler Industriestruktur bis zirka zehn Prozent des Gütertrans-ferbedarfs, statt über Verkehrswege, über Leitungen abgewickeltwird. Das bedeutet: Es gäbe das Verkehrssystem nicht, das demVerkehrsbedarf gewachsen wäre, der entstünde, wenn wir unsvorstellten, alle Güter, für die bislang Leitungen verfügbar waren,wären plötzlich über Straßen, Eisenbahnwege oder Kanäle zu be-wegen.

So oder so: Die beiden wichtigsten Netze sind zweifellos Ver-kehrsnetze einerseits und Kommunikationsnetze andererseits.Metonymisch, also in einem signifikanten Detail, lässt sich der Zi-vilisationsprozess als Prozess der Netzverdichtung beschreiben.Das kann man anschaulich machen und im Kontext unserer ausnaheliegenden Gründen überaus museumsfreudig gewordenenZivilisation geschieht das überall in unseren Verkehrsmuseen undspeziell in den Schauhäusern für Straßenbaugeschichte – im pfäl-zischen Germersheim zum Beispiel. Vergleicht man die Straßen-karten verschiedener Jahrhunderte und legt diese Karten trans-parent gemäß dem Ablauf der Zeit hintereinander, so wird die Zi-vilisationsgeschichte als Netzverdichtungsgeschichte optisch prä-sent. Beim flüchtigen Blick über sehr große Zeiträume hinwegglaubt man netzverdichtungshistorisch Kontinuitäten zu erblick-en. Fasst man kleine Zeiträume genauer ins Auge, so erkenntman Schübe. Drei dieser Schübe seien hier exemplarisch erwähnt– in Erinnerung an Schulwissen, das uns in einem guten Ge-schichts- oder auch Geographieunterricht zuteil geworden ist. Ei-nen markanten Schub also brachte die Straßenbaugeschichtedes Hoch- und Spätmittelalters. In Großteilen Europas werden jain unserer Gegenwart in zahllosen Städten und Dörfern Feiernder Erinnerung an die Gründung dieser Plätze vor siebenhundertoder auch neunhundert Jahren ausgerichtet. Die Errichtung sovieler neuer Siedlungen, auch Stadtsiedlungen, wäre natürlichohne eine lange Reihe von Innovationen, die die Technikge-schichte gerade des Mittelalters prägen, nicht möglich gewesen.

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Es bedurfte der Dreifelderwirtschaft, um die Ertragskraft der Bö-den bis zu Überschüssen zu steigern, ohne die der wachsendeStadtbevölkerungsanteil nicht hätte ernährt werden können.Auch das leistungsfähigere Zugtiergeschirr, insbesondere dasbreite Brustband der Ochsen oder Pferde, war ernährungswirt-schaftlich wichtig. Es erlaubte, tiefer zu pflügen und so die Er-tragskraft der Äcker zu steigern. Und innerhalb der Städte selbstwäre die Errichtung von Bauten mit jener Dynamik, die den mit-telalterlichen Städtebau tatsächlich prägt, ohne die Erfindung derSchubkarre kaum möglich gewesen, die ja die Kapazität derBauarbeiter, Steine zu bewegen, um das Vielfache steigerte. Wasdann in den Städten erwirtschaftet wurde, vom Handwerk zumBeispiel, war seinerseits über Land zu bringen. Kurz: Weit überdas sehr dünne Netz von Römerstraßen hinweg, die Europa bishin zum Limes durchzogen, verdichtete sich jetzt das Netz derHandelswege zwischen der großen Zahl neuer Plätze rasch undjede Regionalhistoriographie macht uns auf jene Trassen mittel-alterlicher Herkunft aufmerksam, die ihrer topographischen Vor-teile wegen auch unserem heutigen Straßennetz noch hier undda zu Grunde liegen.

Ein zweiter Schub in der Verkehrswegeverdichtung ereignete sichin der von der Nutzung der Dampfkraft abhängig gewordenenIndustriegesellschaft, nämlich im Eisenbahnbau seit dem 2. Drit-tel des 19. Jahrhunderts. Erst der Eisenbahnbau hat mit seinerdramatischen Steigerung von Transportkapazität und Transport-geschwindigkeit die Entwicklung unserer Städte zu Millionenstäd-ten möglich gemacht. Im Avantgarde-Land der Frühindus-trialisierung, in England also, entwickelte sich damals London zurersten europäischen Millionenmetropole. Auf einen wichtigenUnterschied zwischen Eisenbahnwegen einerseits und Straßenandererseits ist später noch zurückzukommen.

Drittens sei noch exemplarisch ein Netzverdichtungsschub er-wähnt, an den die Alten unter unseren lebenden Zeitgenossensich noch aus ihren eigenen Jugendjahren lebhaft erinnern kön-nen. Die Sache ist die, dass noch über das Ende des ZweitenWeltkriegs hinaus etwa die Hälfte zwar nicht der Dörfer, aber

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doch der Siedlungen, noch nicht an ein ganzjährig störungsfreiLkw-fähiges Straßensystem angeschlossen war. Die Siedlungenwaren an Sandwegen oder an Schotterstraßen gelegen, und esbedarf nur geringer Phantasie, um sich vorzustellen, was das fürdie Präsenz von Gebrauchsgütern des alltäglichen oder auch hö-heren Bedarfs über die Fläche bedeutete und für die Erreichbar-keit von Arbeits- oder Ausbildungsplätzen für pendelnde Berufs-tätige und Schüler desgleichen. Es war ein Zeitraum von zehn bisfünfzehn Jahren, innerhalb dessen dann in Nutzung der hochent-wickelten technischen Instrumentarien, wie sie die moderne Bau-maschinenindustrie zur Verfügung zu stellen vermochte, auch dieVerwandlung fast aller Wege in feste Straßen abgeschlossen wer-den konnte – mit etlichen kulturellen, auch politischen Folgen,von denen noch die Rede sein muss.

Verkehr und Kommunikation interagieren und deswegen mussunter dem Stichwort "Netzverdichtung" nun auch noch speziellvon den Kommunikationsnetzen die Rede sein. In den Jahren derFrühindustrialisierung und weit darüber hinaus waren ja Ver-kehrsnetze und Kommunikationsnetze streckenmäßig identisch.Das bedeutete: Noch zur Goethe-Zeit musste eine jede privateBotschaft, ein Brief, jede kaufmännische Bestellung und jedeRechnung, überdies jede Verwaltungsanordnung und jeder mili-tärische Befehl auf Verkehrswegen transportiert werden – in einsmit dem reisenden Publikum in Kutschen und später dann mit derEisenbahn. Allein das genügt schon fürs Erste, um zu erkennen,dass anfänglich kaum absehbare Folgen mit einer technischenInnovation verbunden waren, die, wenn man sie in ihrer Quint-essenz schlicht beschreibt, uns zunächst kaum aufregend vor-kommen wird. Ich meine den Vorgang der technischen Ablösungder Kommunikationsnetze von den Verkehrsnetzen. Technikhisto-risch begann das bereits in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhun-derts mit der Installation der Überseekabel, die in der Tat eineaußerordentliche Bedeutung für die Entwicklung des Personen-verkehrs und des Warentransports über sehr große ozeanischeDistanzen hinweg hatte, nämlich durch die dramatische Verkür-zung der für den Informationstransfer benötigten Zeiten in Rela-

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tion zu den Zeiten, die man für die Abwicklung des Verkehrsbrauchte. Im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts beganndann bei wenigstens einem Teilnehmer auf hundert Einwohnerdie Installation des Telefonnetzes. Über die Zeit des von mannig-fachen politischen und wirtschaftlichen Katastrophen geprägtenHalbjahrhunderts bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs verviel-fachte sich die Anschlussdichte um das Sechsfache, hier und daauch um das Zehnfache. Die Zeit der informationstechnischenVollintegration der Bewohner hochentwickelter Länder ein-schließlich einer noch immer nicht abgeschlossenen Differenzie-rung der technischen und sozialen Netznutzungsfolgen fiel dannin die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts und setzte sich in dasneue Jahrtausend hinein fort.

Man darf die skizzierte Ablösung der Informationsnetze von denVerkehrsnetzen eine Revolution nennen. Diese Revolution ist dieKonsequenz einer Eigenschaft, die für technisch von den Ver-kehrsnetzen abgelöste Informationsnetze erreichbar ist, nicht hin-gegen für die Verkehrsnetze. Informationsnetze lassen sichschließen, d.h. jeder Netzteilnehmer ist direkt mit jedem anderenNetzteilnehmer umwegfrei verbunden, und Netze genau dieserStruktur sind zentrumslos. Sie wirken entsprechend dezentralisie-rend. Sie verteilen die Zugangsmöglichkeiten zu Informationenund damit deren Austauschmöglichkeiten homogen über die Flä-che. Die ökonomischen, kulturellen, ja sogar die politischen Fol-gen dieses Vorgangs der Gleichverteilung von Partizipations-chancen über die Fläche vergegenwärtige man sich ineins mitden bereits erwähnten, nämlich verkehrsnetzverdichtungsabhän-gig bewirkten Vorgängen der modernen Mobilität von Personensowie der dezentralisierten Zugänglichkeit nicht aller, aber dochfast aller Güter zur Bedienung unserer elementaren und auch ge-hobenen Ansprüche.

Von den kulturellen Konsequenzen dieses Vorgangs möchte icheine einzige, aber signifikante anschaulich machen, nämlich dasaktuelle und sehr rasch ablaufende Verschwinden einer sehr al-ten Differenz, die alle Hochkulturen von ihren Anfängen an überJahrtausende hin bis fast in unsere Gegenwart hinein geprägt

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hat, nämlich die Differenz von Stadt und Land. Bevor ich in dergebotenen Knappheit diese Veranschaulichung versuche, möch-te ich zunächst auch noch die dezentralisierenden Wirkungenvon Netzverdichtungsvorgängen anschaulich machen. "AlleWege führen nach Rom" – so lernten wir in der Schule, und be-absichtigt war damit, die singuläre Stellung, zu der die Stadt Romim antiken mediterranen Weltreich gelangte, einprägsam zu ma-chen. Überdies mochte man dann mit dem zitierten Spruch denuniversellen Anspruch der römischen Kirche bis in die Zeiten deskulturkämpferisch so genannten Ultramontanismus hinein ver-binden. Man kann "Alle Wege führen nach Rom" aber auch ver-kehrswegehistorisch hören. Alsdann meint man das zentrums-orientierte System der Eisenbahnstrecken, die aus allen Himmels-richtungen auf große Zentren und so auch auf Rom zuzulaufenpflegen. Die kleinen Ortschaften Fiumicino oder Civitavecchia,auch Castelgandolfo oder Frascati verhalten sich größenord-nungsmäßig zu Rom wie Satelliten, und die Eisenbahnstrecken,durch die sie mit dem Zentrum verbunden sind, führen wie Ra-dialen in dieses hinein. Analoges gilt für München und Münster,für Wien und Moskau und für Paris oder Warschau.

Zentrumsbildende Kräfte gibt es viele. Aber die Pragmatik desVerkehrs in dünnen Netzen verstärkt diese Kräfte wirksam. Manvergegenwärtige sich das noch einmal am Beispiel Roms. Wersich von Fiumicino aus, wo sich heute der Flugplatz Roms befin-det, mit der Eisenbahn einmal nicht nach Rom selbst begebenmöchte, vielmehr nach Castelgandolfo, was ja immer wieder ein-mal vorkommt, muss alsdann den Umweg über Rom nehmen.Man erkennt: Ein Zentrum ist, verkehrstechnisch gesehen, derPlatz, den man umwegehalber passieren muss, wenn man, stattins Zentrum selbst, in einen wegetechnisch gesehen untergeord-neten Nachbarort reisen möchte. Ort des unvermeidlichen Um-steigens und damit der Ort unvermeidlicher Zwischenaufenthaltezu sein – das macht das Zentrum natürlich für die Anlagerungzahlloser ökonomischer und kultureller Funktionen interessantund optimiert damit zugleich deren Zugänglichkeit. Das also istdie Pragmatik, die, wie schon erwähnt, London als erste europäi-

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sche Metropole im Zeitalter des Eisenbahnbaus zur Millionen-stadt sich hat entwickeln lassen.

Eisenbahnnetze sind nun aber, noch einmal, dünne Netze, näm-lich in Relation zu den inzwischen extrem dicht gewordenen Stra-ßennetzen und eben diese Netzverdichtung ist es, die inKombination mit der Wirkung der ihrerseits sehr viel dichteren,nämlich sogar geschlossenen Kommunikationsnetze für fort-schreitende Gleichverteilung der Chancen des Zugangs zu Gü-tern und Informationen über die Fläche hin sorgen. Eben damitnimmt die relative ökonomische und kulturelle Bedeutung der al-ten Zentren ab. Siedlungstechnisch bedeutet das, dass sich dieRegionen zwischen den alten Zentren mit so genannten Zwi-schenstädten füllen, in denen man nicht nur wohnt, vielmehr vomGymnasium bis zur Fachhochschule auch Ausbildungsmöglich-keiten findet, überdies in zahllosen Gewerbegebieten Arbeitsplät-ze und Märkte für Güter aller Art ohnehin. Diesen verkehrsnetz-verdichtungsabhängigen Vorgang der Dezentralisierung kannman sich sogar anschaulich machen, nämlich durch die Nacht-ansicht unserer Erde aus Raumfahrerdistanz gesehen, wie sie unsheute durch Satellitenfotos vermittelt wird. Gewiss: Die Lichtim-mission des riesigen Moskau ist unzweifelhaft die eines Zentrums.London hingegen oder auch die bevölkerungsreichen Siedlungs-räume der Benelux-Länder, die sich über Rhein und Ruhr undMain und Neckar hinab über einige Alpenpässe hinweg bis nachOberitalien oder weiter östlich auch die Donau hinab erstrecken– überall dort sehen wir die alten Zentren in diffuse Lichtbänderhinein aufgelöst. In dieser diffusen Lichtverteilung spiegelt sichder von sehr dicht gewordenen Verkehrs- und Kommunikations-netzen ausgehende Effekt der Gleichverteilung zivilisatorischerPartizipationschancen über die Fläche.

Das damit verbundene Verschwinden des Unterschieds von Stadtund Land als einer Kulturdifferenz möchte ich noch mit einemVergleich aus der Universitätsgeschichte anschaulich machen.Die großen und erfolgreichen Universitätsneugründungen des19. Jahrhunderts, also im Jahrhundert des Eisenbahnbaus mitseinen dünnen Netzen, waren in der Tat metropolitane Gründun-

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gen – so in Berlin oder dann auch durch die Verlagerung der alt-bayerischen Universität zu Ingolstadt nach München. Auch dieUniversität zu London wurde bekanntlich erst im frühen 19. Jahr-hundert errichtet. Die am Beispiel Roms erläuterte Vorzugsstel-lung der Metropolen in Räumen, die durch relativ dünne Netzezusammengebunden werden, macht das plausibel. Heute lassensich stattdessen Universitäten buchstäblich im Walde gründen,sehr erfolgreiche Universitäten sogar – so im Teutoburger Waldeinerseits und in den Wäldern des Bodanrücks andererseits. Ichhabe damit die Universitäten Bielefeld und Konstanz erwähnt.Das sind doch, so hätte man im 19. Jahrhundert gedacht, Plätzetiefer Provinz, nämlich in Relation zu Berlin oder Wien. Indessen:Das allerwichtigste studienpraktische Arbeitsmaterial, nämlichdie Information, ist ja netzverdichtungsabhängig omnipräsentgeworden, und einzig noch wer die alten Papyri als Paläographim Original studieren müsste, kommt nicht umhin, sich in die alteKulturmetropole, wo sie gelagert und konserviert sind, zu bege-ben. Für Studien hingegen, wie sie heute im Regelfall ablaufen,genügt Pendlermobilität, um rechtzeitig im Hörsaal oder am La-bortisch zur Stelle zu sein. Im Parkraumbedarf moderner so ge-nannter Provinzuniversitäten spiegelt sich das. Stadt und Land –dieser Unterschied ist gewiss auch heute noch Realität, aber ebennicht mehr als ein Unterschied von Siedlungsräumen, zwischendenen sich ein markantes Gefälle von Chancen der Partizipationan Gütern und Informationen zeigt, und damit ein Unterschiedvon Kompetenz- und Kulturniveaus auffällig wäre.

Je höher unser Wohlfahrtsniveau liegt, umso empfindlicher wer-den wir gegenüber allerlei unangenehmen Nebenfolgen dertechnischen Voraussetzungen unserer Wohlfahrt. Im historischenVergleich heißt das: Im Unterschied zu den Zeiten des Smogs derFrühindustrialisierung, als in Großbritannien Dickens schrieb, le-ben heute die Londoner geradezu unter den Bedingungen eineratmosphärischen Sommerfrische. Nichtsdestoweniger hat sichihre Empfindlichkeit gegenüber residualen oder auch neu hinzu-gekommenen Beeinträchtigungen ihrer atmosphärischen Wohl-fahrt bedeutend gesteigert. Das sollte man nicht beklagen. Ganz

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im Gegenteil: Den Fälligkeiten moderner Umweltpolitik kommtdas zustatten und auch das Verkehrsverhalten wird durch diesenEffekt günstig beeinflusst. An unserem Umgang mit den Lästigkei-ten des Staus auf Autobahnen und anderen Straßen lässt sich dasablesen. Dass wir es mit den fraglichen Staus überhaupt zu tunbekommen haben, beruht natürlich auf einem außerordentlichenVorzug, den unter den Verkehrswegen die Autostraßen gegen-über den Eisenbahnen aufzuweisen haben. Welcher Vorzug istgemeint? Es handelt sich um den Unterschied, dass die ver-gleichsweise relativ dünnen Eisenbahnnetze nur gemäß zentralkonzipierten und exekutierten Fahrplänen genutzt werden kön-nen, auf die wir uns als Nutzer einzustellen haben. Pünktlichkeitauf die Minute ist uns abverlangt, und in der Tat hat nichts so sehrwie der Eisenbahnverkehr die zivilisatorische Omnipräsenz derUhr erzwungen. Autoverkehrsstraßen hingegen kennen im Regel-fall zentral konzipierte und veranstaltete Verkehrsbewegungennicht. Millionen Pkw-Eigner entscheiden nach ihren individuellenPräferenzen, ob und wann sie ihr Fahrzeug in Bewegung setzen,ob sie die Vorzüge von Fahrgemeinschaften nutzen möchtenoder ihrer Nachteile wegen lieber auf sie verzichten, ob und beiwelcher Gelegenheit sie das eigene Auto in Anspruch nehmenoder ein Taxi rufen etc. Die Verkehrseffekte, die sich gesamthaftergeben, resultieren nicht aus der Exekution eines Plans. Es han-delt sich vielmehr um Effekte der Kumulation individueller Ent-scheidungen, die sich einzig statistisch erarbeiten lassen, die inindividuellen Reaktionen auf erfahrungsgemäß sich wiederholen-de Lästigkeiten wie die besagten Staus nach Auswegen suchenlassen, deren Kapazität alsbald ihrerseits in Gestalt verstopfterSchleichwege erschöpft zu sein pflegt, was dann schließlich diezumeist öffentlichen Verkehrswegeträger zu prognostisch kalku-lierten Ausbaumaßnahmen veranlasst.

Der besagte Stau, der, noch einmal, ein Phänomen in Verkehrs-netzen ist, auf denen die Verkehrsmittel, anders als bei der Eisen-bahn, gemäß individuellen Entscheidungen der Verkehrswege-nutzer bewegt werden, ist nichts anderes als ein besonders auf-fälliges Detail aus der Fülle lästiger Nebenfolgen, die mit der in-

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dividuellen Pkw-Mobilität verbunden zu sein pflegen. Es erübrigtsich, mit der Aufzählung solcher lästigen Nebenfolgen fortzufah-ren – von den ruhestörenden Fahrgeräuschen, die sich in wohl-restaurierten alten Dorfzentren aus nostalgisch erneuerten Kopf-steinpflasterungen ergeben müssen, bis hin zu den wenigerharmlosen Neigungen Jugendlicher, in schulkinderreichenWohnstraßen zu schnell zu fahren. Die Mittel der Gegensteue-rung beschäftigen unsere Räte und zuständigen Verwaltungsin-stanzen alltäglich – vom Verzicht auf das erwähnte Nostalgie-pflaster zu Gunsten einer neuen Straßendecke aus Flüsterasphaltbis hin zur Verlegung der als Rennstrecke missbrauchten Wohn-straße mit Schwellen, die zum Langsamfahren zwingen, ihrerseitsaber die unangenehmen Motorgeräusche eines stop and go-Ver-kehrs auslösen etc. So oder so: Auf die Vorzüge moderner Pkw-Mobilität möchte und kann fast niemand verzichten, aber dieEmpfindlichkeit gegen die Beeinträchtigungen unserer Wohlfahrtdurch Nebenfolgen moderner Mobilität wächst wohlfahrtsabhän-gig auch. Das sind die Zusammenhänge, die seit langem schondarüber haben nachdenken lassen, ob es denn nicht Sektorenmoderner Lebensverbringung gäbe, in denen wir es uns zu unse-rem eigenen Vorteil leisten könnten, Pkw-Mobilität durch etwasanderes zu substituieren. Wir lebten nicht in einer dynamischenund somit innovationsreichen Zivilisation, wenn auf die gestellteFrage nicht längst zahllose Antworten, produktive wie unproduk-tive, wichtige und marginale, gefunden wären – von der Findig-keit der Studenten, die in etlichen mittelgroßen Universitäts-städten wie Erlangen oder Münster den innerstädtischen alltägli-chen Mobilitätsbedarf mittels Fahrrad bedienen, bis hin zur Ein-richtung großer Pendlerparkplätze in Regionalbahnhofsnähe, dieihrerseits im Taktverkehr von komfortablen, freilich subventions-bedürftigen Vorortbahnen bedient werden.

Als Generalidee einer solchen Automobilverkehrssubstitution be-schäftigt uns inzwischen auch der Gedanke, Verkehr durch Infor-mationstransfer zu ersetzen. Von der kulturrevolutionär wirksamgewordenen technischen Ablösung der Informationsnetze vonden Verkehrsnetzen war ja die Rede, und der Gedanke ist in der

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Tat naheliegend, aus dieser Ablösung partiell eine Ersetzung zumachen. Wozu reisen, wenn ich, was ich einem anderen zu sa-gen hätte, ihm auch statt an Ort und Stelle telefonisch sagenkönnte oder auch mailen? Es genügt, diese Frage zu stellen, umzu erkennen, dass, im Wesentlichen nämlich, die Ersetzung desVerkehrs durch Information, soweit sie tatsächlich möglich ist,längst schon stattgefunden hat. Die fragliche Substitution ist einTeil, ja ist der wesentliche Sinn des Insgesamts der technischenRevolution, die mit der Ablösung der Informationsnetze von denVerkehrsnetzen von Anfang an verbunden war. Lediglich inschmalen oder dann und wann auch einmal etwas breiteren Sek-toren finden zusätzliche Substitutionen von Verkehr durch Infor-mationstransfer statt – in jenen Telefonkonferenzen zum Beispiel,die ja nun auch schon mehr als ein Vierteljahrhundert alt sind. Je-der Talkshowliebhaber kennt das aus der virtuellen Präsenz vonDiskussionsteilnehmern, die als telekommunikativ zugeschalteteSubjekte zu uns sprechen.

Ungleich wichtiger als solche Substitutionen sind die technischenInteraktionen von Verkehr und Kommunikation – zum Beispiel inGestalt der altvertrauten Verkehrsnachrichten, die uns vor Stauswarnen und Ausweichstrecken offerieren, oder auch in jenennoch in Entwicklung befindlichen Systemen elektronisch vermit-telter aktueller Verkehrszählung, auf die mit gleichfalls elektro-nisch gesteuerten Systemen kapazitätsoptimierender Verkehrs-lenkung reagiert werden kann.

Es gibt also Substitution von Verkehr durch Information und Ver-kehrsoptimierung mittels Information gleichfalls. Ungleich wichti-ger bleibt, dass die informationstechnische Integration modernerGesellschaften Verkehr nicht nur substituiert und optimiert, viel-mehr Verkehr zugleich zusätzlich erzeugt. Dafür möchte ich noch,abschließend, zwei Beispiele bringen, die uns diese Zusammen-hänge anschaulich machen und zwar ein Beispiel aus dem priva-ten Lebensbereich und ein weiteres Beispiel öffentlichen politi-schen Charakters.

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Die fraglichen Beispiele sind durchaus marginaler, aber signifi-kanter Natur und in ihrem Kumulationseffekt mit anderen exem-plarischen Vorgängen analoger Art sind sie zu einem prägendenTeil zivilisatorischen Alltags geworden.

Also: Die Aussage, die Großfamilie sei abgestorben, meint resi-duale Kulturkritik. Wahr ist, dass drei Generationen, vier gar,höchst selten noch familiär unter einem Dache wohnen. Aber inunsere modernen Kommunikationsnetze sind wie nie zuvor groß-räumige familiäre Beziehungen eingehängt. Das alles bleibtnicht virtuell, wird vielmehr dann und wann oder sogar regelmä-ßig in Familientreffen umgesetzt, zu denen man einschließlich al-ler noch mobilen Onkel und Tanten, Vettern und Cousinen sogarzweiten und dritten Grades sich an amönen Plätzen versammelt,die mit der Familiengeschichte verbunden sein mögen. Analoggibt es die Klassentreffen, Alumnenversammlungen aller Art undauch das moderne Vereinswesen hat seine mobile Seite.

Und die Politik? Der Informationsbeschaffungsbedarf der öffent-lichen Verwaltung lässt sich ja überwiegend auch über Akten-transfers bedienen und in wachsendem Umfang überdies elektro-nisch. Aber selbst ein schlichter Kreisparteitag ist gerade in unse-rer medial integrierten Gesellschaft auf machtvolle, das heißtzahlreiche leibhaftige Präsenz der Parteifreunde angewiesen. Ein-zig dadurch nämlich wird aus der Veranstaltung schließlich einmedienfähiges Ereignis, von dem auch die Bürger des KreisesKenntnis nehmen.

Und hat man, nämlich in Wahlkampfzeiten, ausnahmsweise ein-mal sogar den Besuch des Bundesparteichefs zu erwarten, so istallein schon aus Gründen der massenmedialen Bedeutung einessolchen Ereignisses ein maximaler Einsatz von Bussen verpflich-tend, der die Parteifreunde kostenlos zur medial relevantenGroßveranstaltung bringt. Für Gewerkschaftstage, Großver-bandsjahrestreffen, auch Staatsbesuche gilt Analoges. Das be-deutet: Das Informationssystem, das in der Tat Verkehr sub-stituiert, evoziert ihn zugleich.

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Im Resümee heißt das: Die Menschheit ist seit ihrem Übergangzur Sesshaftigkeit mobil, und selbst noch die mannigfachen For-men der Substituierung der Mobilität sind im Endeffekt stets nurBeiträge zu ihrer Optimierung.

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Arbeit, Freizeit, Mobilität

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Transport und Bewegungslust. Die Funktionen der Straßenmobilität heute1

Kurt Möser

In meinem Beitrag werde ich mich auf die motorisierte 'Selbstbe-weglichkeit' auf der Straße beschränken. Ich denke, das lässt sichauch legitimieren, denn wenn wir über das System der Straßen-mobilität reden, müssen wir über Superlative reden. Das SystemStraßenverkehr ist das größte großtechnische System, das auf derErde implementiert ist – allein von der Produktionsseite her: jähr-lich über 60 Millionen produzierte Privat-Pkw weltweit, ein der-zeitiger Bestand von etwa 700 Millionen. Die in Privat-Pkw instal-lierte Leistung, über 2000 Gigawatt, liegt etwa beim 20-fachender installierten Leistung aller unserer öffentlichen Kraftwerke.Superlativ ist der motorisierte Straßenverkehr auch in andererHinsicht. Er ist das tödlichste großtechnische System, das auf derErde implementiert worden ist. Die neusten Zahlen gehen voneiner Million Tote pro Jahr weltweit aus.2 Konservativ geschätztforderte das Auto etwa 30 Millionen Tote seit Beginn des moto-risierten Straßenverkehrs vor 120 Jahren.

Das System der Straßenmobilität hat einen unwahrscheinlichenErfolg erlebt, für den die Historiker bis heute kein konsistentesund schlüssiges Erklärungsmuster angeboten haben. Es wäre na-türlich vermessen, es in diesem Rahmen anzubieten. Ich möchteallerdings aus meiner Sicht einige Faktoren nennen, die für dieErklärung dieses Erfolges mitverantwortlich sind, und die bei ei-ner fahrzeug- oder industriezentrierten Interpretation oder beiverkehrswissenschaftlichen Analysen kaum herangezogen wer-

1. Ich danke Frau Marga Höfs für die Abschrift des Beitrags.2. Gietinger, Klaus: Der Tod hat einen Motor. Im Straßenverkehr werden jedesJahr eine Million Menschen getötet – die meisten davon in den Entwicklungs-ländern, in: Die Zeit, 16. 1. 2003, S. 27.

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den. Üblicherweise firmiert das Fach, unter dem das Auto von Hi-storikern interpretiert und verstanden wird, als Transport-geschichte. Ich zweifle jedoch daran, ob die Transportgeschich-te, wie sie üblicherweise verstanden wird, Entscheidendes zumVerstehen und Interpretieren des außerordentlichen Diffusionser-folges des Autos beitragen kann.

Zunächst möchte ich auf eine Grundunterscheidung aufmerksammachen. Wenn wir über das Auto reden, dann trennen wir pri-märe und sekundäre Funktionen. Üblicherweise wird unter derersteren die eigentliche Transportfunktion verstanden, also dieLeistung Menschen und Güter von A nach B zu transportieren.Die Verkehrshistoriker subsumieren normalerweise alle anderenFunktionen des Autos unter sekundären Funktionen, seien es dieRollen des Autos als Statuszeichen, als Maschine zum Vorzeigenund Schmücken, als faszinierende Bewegungsmaschine oder alsrollender Innenraum und mobiler Privat- und Kinderraum. Heuteverstärkt erkannt und interpretiert werden aber auch Faktoren wiepersönliche Maschine, Privatmaschine, Maschine zur Verlänge-rung des Körpers. Sie dienen als eine Maschine, die es uns er-möglicht, uns mit dem Dreißigfachen der Geschwindigkeitunseres körperlichen Potentials zu bewegen, das wir erzielenkönnen, wenn wir uns nicht technischer (oder tierischer)'Hilfsmittel' bedienen. Nicht unterschlagen werden sollten auchdunklere Lüste um das Auto, etwa Aggressionslust oder die Fas-zination, Autos im Straßenraum spielerisch zu bewegen, aus demStraßenverkehr ein Spiel zu machen.

Meine These vorweg: Die sekundären Funktionen müssen längstals die eigentlichen Funktionen des Autos verstanden werden; dieTransportfunktion, der Verkehrsmittelcharakter, steht im Hinter-grund. Dies mag auf den ersten Blick ein Gemeinplatz sein. Dochdie Konsequenzen aus dieser These sind selten gezogen worden.Weder die Verkehrspolitik noch die allermeisten Debatten um'nachhaltige Mobilität' berücksichtigen sie angemessen. In der

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Folge begegnet uns, wenn wir über das Auto lesen, ein charak-teristisches Argumentationsmuster, das etwa so lautet: Das Autobiete im Grunde genommen vernünftige Mobilität; es sei in sei-nem Wesen nach eigentlich ein Transportmittel, aber diesesTransportmittel ist 'entartet', unvernünftig geworden. Je nach po-litischer Position und Haltung zum Auto kann dies entweder fall-weise oder generell passiert sein. Ein solches Abgleiten eineseigentlich vernünftigen Transportmittels ins Unvernünftige, derWeg zum problematischen, gesellschaftlich wie umweltmäßiggefährlichen Gegenstand könne aber wieder aufgehoben wer-den. Durch einen Katalog von Maßnahmen, der je nach Haltungzum Auto sanfter oder radikaler ausfällt, könne man zurückkeh-ren zu einer 'eigentlichen', vernünftigen Individualmotorisierung.Diese Position – zwischen primären und sekundären Funktionenwird ein klares Dominanzverhältnis konstatiert – teilen Verteidigerund Apologeten des Autos ebenso wie Autokritiker in erstaunlichharmonischer Weise. Ich möchte dieses schöne Bild eines Kon-senses aus historischer wie aus aktueller Perspektive relativieren.Denn es ist nicht so, dass das Auto einmal vernünftig war und nurins Unvernünftige entartet ist. Heute gibt es natürlich viele Indika-toren, die die Rolle des Autos als funktionelles Transportmittel rel-ativieren. Ich möchte hier nur die Relevanz der Freizeitmobilitätnennen. Der Prozentanteil an Fahrten für Beruf, Ausbildung, Ge-schäft liegt bei 39,9%; für Einkauf, Freizeit, Urlaub, Vergnügenbei 60,1%. Entsprechend "gewinnen die Einsatzmöglichkeitendes Automobils für Sport und Freizeit immer mehr an Bedeu-tung",3 wie der Verband der Automobilindustrie bemerkt. "DasAuto wird als funktionales Verkehrsmittel gekauft, das nicht nurder Mobilität zu dienen hat, sondern auch eine ganze Reihe vonZusatzeffekten wie etwa als 'Vehikel für Freizeitbetätigungen' zuerfüllen hat."4 Dass Autos 'Überschüsse' verschiedenster Art

3. Verband der Automobilindustrie (Hrsg.): Auto 1998, o.O., o.J., S. 33.4. Haberl, Fritz/Kroemer, Walter (Hrsg.): Grüne Welle ins 3. Jahrtausend, in:Auto 2000, Stuttgart 1986, S. 10.

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schaffen, wird inzwischen anerkannt. Bereiche solcher Über-schüsse sind sicherlich auch die geringe und weiter abnehmendeNutzungsdauer des einzelnen Fahrzeugs pro Tag und pro Jahr.Seit den 50er Jahren benutzen wir unsere Autos pro Tag zuneh-mend weniger. Die Nutzungsdauer eines normalen Privat-Pkw inder Bundesrepublik liegt zur Zeit bei unter 50 Minuten pro Tag.Anders ausgedrückt: 96% der Zeit steht das Auto, egal wo – imStau, auf dem Parkplatz oder in der Garage.

Auch die weiterhin steigende Motorleistung oder der steigendeProduktionsaufwand könnten als Überschussfaktoren ausgeführtwerden. Wesentlich auffälliger ist jedoch der luxuriöse Über-schuss. Von den drei Strukturelementen, aus denen ein Auto be-steht, nämlich Technik, Außengestalt und Innenraum, hatletzterer in den letzten Jahrzehnten die wohl signifikanteste Aufrü-stung erfahren. Das betrifft nicht nur das Design, sondern vor al-lem auch die Bedienung aller Funktionen – der zum Fahrenerforderlichen wie auch der 'Behaglichkeitsfunktionen'. Servoun-terstützungen nahezu aller Verstellfunktionen, von den Spiegelnbis zu den Sitzachsen, haben bei der Autobedienung einen Gradder Mühelosigkeit erzeugt, der noch vor Jahren undenkbar warund als amerikanische 'Verweichlichung' oder 'Feminisierung' dif-famiert worden war. Ein Auto der Oberklasse hat heute DutzendeElektromotoren für Hilfsfunktionen, deren Existenz zu der Formu-lierung führte, Autos seien heute schon Elektromobile mit Benzin-hauptantrieb. Zusammen mit der wählbaren Klimatisierung undBeheizung, selbstgewählter Musikbeschallung, Abschottung vonAußenschall und der Bereitstellung von Informationsmedien istdas Auto zu einem rollenden Privatraum mit perfekter Anpassungan den Nutzer mutiert. Kurz: Wäre das Auto ein Transportmittel,sähe es anders aus, hätte andere Parameter bezüglich Technik,Leistung und Komfort und würde anders gefahren. Es hätte wohlauch andere Kosten.

Dass es verfehlt ist, die Autogeschichte mit einem Modell 'vom

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Transportmittel zur Mobilitätsmaschine' zu interpretieren, kannman mit einem großen Sprung in die Frühzeit demonstrieren.Denn die 120-jährige Erfindungs- und Diffusionsgeschichte desAutos weist eigentlich auf ein ganz andersgeartetes Modell. Inder Frühzeit des Automobils, in den ersten Jahren von der Erfin-dung des Benzinautos durch Daimler-Benz und Maybach 1885/86 bis etwa 1890, waren Automobile in einer prekären Situation.Nur geringe Stückzahlen konnten verkauft werden; ein Misserfolgdrohte. Der Benzinmotorwagen schrammte knapp an der Erfolg-losigkeit vorbei. Nur ex post betrachtet erscheint die Erfindungs-geschichte als große Erfolgsgeschichte. Ursache war, dass diedeutschen Autoerfinder das Auto missverstanden haben. IhreIdee war es eine mobile Maschine anzubieten und zu vermark-ten. Entsprechend 'maschinenartig' wurde sie in der Öffentlichkeitpräsentiert, etwa auf der Industrieausstellung in München 1888.5

Der Erfolg der frühen Diffusion des Automobils kam später, nach1890, und nicht im Mutterland der Erfindung, sondern in Frank-reich, und nicht unter entscheidender Beteiligung der deutschenErfinder bei der Vermarktung. Denn in Frankreich wurde dasAuto anders interpretiert, anders verstanden und anders gesell-schaftlich positioniert, nämlich als kulturell signifikantes Objekt,als Lifestylefahrzeug für die Reichen und Schönen, als Fahrzeug,mit dem man seine Lebensqualität erhöhen konnte, mit dem mansich zeigen konnte, mit dem man soziale Distinktion ausübenoder auch Fortschrittlichkeit demonstrieren konnte. In Frankreich,besonders in Paris, wurde es als Lifestyle-Fahrzeug, gerade auchals Lieblingsobjekt für Frauen und für die reiche Jugend positio-niert, in die florierende Dandykultur integriert. 'Automobilisme'und Autokultur entstanden in diesem Umfeld. Erst diese gesell-schaftliche Umpositionierung des frühen Autos war der Garant

5. Vgl. Möser, Kurt: Benz, Daimler, Maybach und das System Straßenverkehr.Utopien und Realität der automobilen Gesellschaft, Mannheim 1999 (=LTA-Forschung. H. 27).

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des Diffusionserfolgs.

Darin konnte das Auto auch auf eine andere wichtige technisch-kulturelle Innovation zurückgreifen: das Fahrrad. Auch dieseswurde am Anfang nicht als Maschine, als Transportmittel ver-marktet, sondern kulturell positioniert als Fahrzeug für die Freizeitund den Landschaftsgenuss, für genussreiche Mobilität und dieLust am Fahren. Oft organisiert in Clubs, bildeten die Radfahrerdie Pioniergruppe der neuen mechanischen Mobilität. Nicht um-sonst wurden sowohl Fahrräder als auch Automobile in der Früh-zeit von der amerikanischen Frauenbewegung als Emanzi-pationsmaschine eingesetzt. Dabei war das Fahrenlernen, dasUmgehen mit der störrischen Technik, für die frühen Automobili-stinnen ein Mittel ihre Emanzipation nicht nur auszuüben, son-dern auch gesellschaftlich sichtbar zu machen. Mobilitätslust hataber ältere Ahnen:

"Das Vehikel für die schnelle Bewegung, das heißt, die Bewe-gung nach nirgendwo, besitzt zahlreiche Vorgänger auf denJahrmärkten, in den Freizeitparks und in den Schulungszentrender aeronautischen und astronautischen Levitation."6

Solche transportmittelüberbietenden 'Bewegungsmaschinen' ge-hören in die Ahnenreihe des Automobils ebenso wie Reitpferde,Sport-Kutschen, Schlittschuhe oder schnelle Segeljollen. Dieseund andere Mobilitätsmaschinen (manche mit Muskelkraftbe-trieb) erzeugten ein gesellschaftliches 'Surplus', an das die frühenAutomobile anknüpfen konnten.

Dazu kam: Diese Faszination, die mit dem Auto in der Frühge-schichte verbunden war, förderte auch die spätere Breitenmoto-risierung. Denn sie färbte auch auf Fahrzeuge ab, die entschie-den unglamouröser waren, weil sie als Transportmittel und Fahr-zeuge 'für das Existenzminimum' konzipiert waren. So liehen sichdie leichten 'Volks-' oder 'Arbeitermotorräder' der 20er und 30er

6. Virilio, Paul: Rasender Stillstand, München/Wien 1992, S. 58.

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Jahre Prestige und Attraktion von den schweren Maschinen derHerrenfahrer und die 'bürgerlichen' Kleinwagen wie der 'Dixi' pro-fitierten vom Image der Automobile der Reichen. Auch die in vie-lerlei Hinsicht unzulänglichen billigeren Mobilitätsmaschinenwaren ein Teil der neuen technischen Kultur und ihres gesell-schaftlichen Symbolwertes. Auch auf diese färbte die Lust amAuto ab, unterstützte flankierend ihre Diffusion, indem sie sie auf-wertete.

Nun hat man ein weiteres Modell entworfen, das etwa so aus-sieht: Nach der frühen Diffusionsphase, die durch den Charakterdes Autos als Sportgerät und Distinktionsmaschine geprägt war,kam es zu einer 'vernünftigeren', meistens gleichgesetzt mit einertransportmittelspezifischeren Nutzung.7 Dabei wird immer wiederauf die 'Doktorwagen' hingewiesen, eine Fahrzeuggruppe, die esÄrzten ermöglichte, ihre Patienten zu besuchen, denn vor dem Er-sten Weltkrieg kamen Patienten nicht zum Arzt, sondern Ärzte be-suchten in der Regel ihre Patienten zu Hause. Das Automobil botdafür, nachdem es einen gewissen Standard der Zuverlässigkeiterreicht hatte, gegenüber Pferdekutschen eine Reihe vonNutzungs-, möglicherweise auch Kostenvorteilen.

Bei der Beurteilung der Transportmittelfunktion vor 1914 ist nichtzuletzt das Militär zu berücksichtigen. Gerade die Militärs vielereuropäischer Staaten spielten für die Ausbreitung des Benzinfahr-zeugs eine große Rolle.8 Die Armeeverwaltungen in Großbritan-nien, Frankreich und Deutschland subventionierten Anschaffungund Betrieb von Firmen-Lkw, die im Kriegsfall den Armeen zur

7. Vgl. z.B. Kirchberg, Peter: Die Motorisierung des Straßenverkehrs inDeutschland von den Anfängen bis zum Zweiten Weltkrieg, in: Niemann,Harry/Hermann, Armin (Hrsg.): Die Entwicklung der Motorisierung im Deut-schen Reich und den Nachfolgestaaten, Stuttgart 1995, S. 9-22.8. Dazu Möser, Kurt: The First Wold War and the Creation of Desire for Carsin Germany, in: Strasser, Susan/McGovern, Charles/Judt, Matthias (Hrsg.):Getting and Spending European and American Consumer Societies in theTwentieth Century, Washington D.C. 1998, S. 195-222.

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Verfügung gestellt werden mussten. Da hierfür eine ganze Reihetechnischer Parameter vorgegeben waren – Nutzlast, Motorleis-tung, Abmessungen – hatten die Militärs einen bedeutenden An-teil an der Definition der Standards für Nutzfahrzeuge in derFrühphase ihrer Diffusion.

Doch die Opposition von 'funktionalem' Transport einerseits undden 'nichtfunktionalen' Lüsten andererseits, die um das Auto an-gesiedelt sind, scheint mir wenig hilfreich. Denn der luxuriöse,technische, gestalterische wie kulturelle Überschuss steht immerim Austausch mit der Transportfunktion. Ich möchte bezweifeln,ob es überhaupt puren 'funktionalen' Transport geben kann.Denn auch auf dem Weg zur Arbeit und in den Supermarkt kann'lustzentriert' gefahren werden, kann der Privatraum genossenwerden, kann man sein eigenes Klima, seine eigene Musik, sichselbst oder seine selbstgewählte Gesellschaft im Auto genießen.Dann werden immer auch Elemente der potentiellen sekundärenFunktionen aktiviert oder aktualisiert – und dies übrigens auchvon Frauen, die gerne für sich beanspruchen, rationalere Autos('Familientransporter') rationaler zu fahren. Doch das ist trüge-risch: einerseits kaufen Frauen gern auf dem Marktsektor typi-scher 'Lustfahrzeuge' wie etwa kleine Roadster oder Cabrios. An-dererseits gibt es eine Zunahme von früher männerspezifischerVerkehrsdelikte wie Geschwindigkeitsüberschreitungen. Es istgezeigt worden, dass Frauen zunehmend weniger anders fahrenals Männer.9 Die Tendenz weist klar auf einen Abbau der Ge-schlechtsspezifik hin. Heute entscheidet über die Nutzung desAutos mehr die soziale Komponente wie auch die wirtschaftliche:Über die Nutzung von Autos entscheidet das verfügbare Einkom-men, der Familienstand und die soziale Gruppe eher als das Ge-

9. Hodenius, Birgit: Frauen fahren anders! – Zum Wandel der Relevanz undAktualität eines Themas, in: Schmidt, Gert (Hrsg.): Technik und Gesellschaft.Jahrbuch 10: Automobil und Automobilismus, Frankfurt am Main/New York1999, S. 167-182.

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schlecht.

Wenn Frauen für sich beanspruchen vernünftigere Autos nutz-wertorientierter zu fahren, dann stellt sich die Frage nach der Er-mittlung der Nutztypen – und zwar der tatsächlichen, nicht derbehaupteten Nutzung. Die Gestalt der Fahrzeuge kann trüger-isch sein, denn auch Transporter können lustbetont, unvernünf-tig, aggressiv gefahren werden. Es wäre daher zu kurz gegriffen,sich bloß die Zusammensetzung der Fahrzeugflotte vorzuneh-men, also etwa 'Familienautos' gleichzusetzen mit vernünftigerNutzung. Es ist der Gebrauch zu rekonstruieren – mit allen Vor-behalten bei der Beurteilung der Selbstbekundungen der Nutzer-zwecke. Auch Berufsfahrten können Lustkomponenten haben.Hierbei hat die historische Forschung noch nicht einmal den er-sten Schritt getan. Vor allem die nötige quellenkritische Reflexionhat bisher kaum stattgefunden. Denn es besteht sehr konkret dieGefahr, dass durch Befragungen von Autofahrerinnen und Auto-fahrern ein schiefes Bild entsteht. Viele Nutzer werden auf dieFrage, ob für sie Autos Nutz- oder Spaßfahrzeuge sind, mit einer'rationaleren' Tendenz antworten, die nicht dem tatsächlichenGebrauch entspricht.

Die Funktionszuweisung als Nutzfahrzeug ist insbesondere beiakademisch Gebildeten überproportional hoch – ob es auch dieNutzung ist, scheint fraglich. Das Argumentationsmuster 'ich (al-leine) kaufe und fahre mein Fahrzeug rational' ist sehr verbreitet.Es ist auch ein probates Distinktionsmerkmal, weil es impliziert,der Rest der Nutzer tue dies nicht. Für Historiker ist es deshalbschwierig die tatsächlichen Nutzerkulturen zu rekonstruieren.Dass sich die Lust am Auto vernünftig gibt, ist 120 Jahre alt. Diegesamte Automobilgeschichte durchzieht dieses Argumentati-onsmuster: von den Rechnungen, die die Autopioniere aufge-macht haben, um die Ersparnisse gegenüber dem Pferdebetriebaufzulisten, über die Propaganda für den motorisierten Güter-transport in den 20er Jahren bis zu den stets von den Nutzern un-

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terschätzten Betriebskosten heute. Zu günstige Kosten-rechnungen begleiten durchgängig die Motorisierungsgeschich-te, ebenso wie der transportmitteltransgredierende Gebrauchvon Autos – dass sich die Lust am Auto vernünftig gibt. Historikermüssen mit dieser Camouflage rechnen.

Wenn Sie mir bis hierhin gefolgt sind und akzeptieren, dass diesekundären Funktionen der Automobilität die dominanten sind,und zwar nicht erst heute, sondern über den gesamten Nutzungs-zeitraum des Autos, dann hat das eine Reihe von Konsequenzen.Die wichtigste vielleicht ist die Konsequenz für die Diskussionenum die Substitution des motorisierten Individualverkehrs, um'nachhaltige Mobilität', um Konzepte des Umsteigens auf öffentli-che Verkehrsmittel, um 'vernünftigere' Autos oder um die Idee des"Benutzen statt Besitzen."10 Bisher wird diese Debatte beherrschtvon Vorschlägen, die Transportfunktion zu substituieren. Wennnun Transport gar nicht die im Zentrum stehende Funktion ist,dann geht es offenbar um ganz andere Ersatzformen – nichtmehr primär nur darum jemanden zu helfen umweltschonender,sicherer und nachhaltig mobiler von A nach B zu kommen. Dannmüssen wir über die Substitution von sekundären Funktionennachdenken; Fahr- und Besitzlust, Privatheit und Zeitsouveränitätsind dann Faktoren, die für eine kompensatorische Anstrengungin Betracht kommen. Doch dieser Prozess hat bisher noch nichteinmal richtig angefangen.

Weiterhin hätte die These, dass Transport gar nicht im Mittel-punkt der individuellen Straßenmobilität steht, Konsequenzen fürdie Zukunft des Automobils. Bei solchen Prognosen kann es nichtum die Zukunft gehen, wie wir sie uns wünschen oder fürchtenmögen, sondern wie lange Trends mit einiger Plausibilität auf-

10. Siehe Knie, Andreas: Plan zur Abschaffung des Privat-Automobils. Ein ver-kehrspolitischer und wissenschaftssoziologischer Feldversuch, in: Schmidt, Gert(Hrsg.): Technik und Gesellschaft, Jahrbuch 10: Automobil und Automobilis-mus, Frankfurt am Main/New York 1999, S. 129-148.

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grund der 120-jährigen Entwicklung des Autos nach vorne ver-längert werden können.

Es ist hierbei erforderlich zu verstehen, wie sich letztlich das Autoin die Geschichte der europäischen Gesellschaften einfügt. DieIdeenkonglomerate, die sich um individuelle Mobilität angesie-delt haben – Individualität, Selbstbeweglichkeit, Besitz, Naturge-nuss, 'freies Schweifen', Privatheit, um nur einige zu nennen – sindim 18. Jahrhundert formuliert und als gesellschaftliche Werteund Sehnsüchte etabliert worden. Das Auto nun wurde vom Be-ginn des 'automobilisme' an interpretiert als ideale Realisierungs-maschine genau dieser Ideen der bürgerlich-revolutionären Zeitdes 18. Jahrhunderts. Dass uns das Auto "näher zu Goethe" brin-gen könne, wie das berühmte Diktum des Jahrhundertwende-Au-tors und Automobilreisenden Otto Julius Bierbaum lautet, istkeine Paradoxie, sondern aus den Verheißungen der neuen Mo-bilitätsmaschine heraus zu verstehen, deren Erfüllungspotentialsich für die alten bürgerlichen Sehnsüchte nach 1900 abzeichne-te. Die langen Linien der Ideen von Individualität und Mobilitätsowie ihre Bilder und Erwartungen versprachen im Automobil zukumulieren.

Die Geschichte des Automobilismus ist auch zu betrachten alsFeld von Wünschen, Images und Sehnsüchten, nicht nur als kon-krete Entwicklung. Erwartungen der Nutzer waren es, die wesent-lich die Gestalt und die technische Auslegung des Autos mit-formten und beeinflussten. Doch es ist nur allzu bekannt: Wie oftin der Geschichte der Konsumgesellschaft brachte die ansatzwei-se kollektive Realisierung vieler der Ideen, Ansprüche oder Sehn-süchte, die die bürgerliche Gesellschaft vor mehr als 200 Jahrenformulierte, Probleme, die genau mit dieser Massenhaftigkeit zu-sammenhängen: Die Verwirklichung individueller Mobilitätrauscht direkt in den Stau. Die Realität heute widerspricht längstder ursprünglichen Idee. Heute erleben Autofahrer 'Verkehrsteil-nahme' statt individuell bestimmtes Fahren, Massenverkehr, Mo-

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bilitätsblockaden. Sie leiden unter der evidenten Spannung zwi-schen den nach wie vor wirkmächtigen Images der Mobilität in'Einsamkeit und Freiheit' und der konkreten Situation auf denStraßen, mit der wir täglich zu tun haben.

Wie wird in Zukunft die Mobilitätslust damit umgehen? Die kon-ventionelle Meinung oder Antwort lautet: Wenn erst alle im Mas-senstau stehen, werden schon alle 'umsteigen'. Bei steigendemLeidensdruck wird die Fahrlust unter Druck geraten, die Zeitbud-gets unkalkulierbar und folglich wird es andere Mobilitätsformengeben müssen. Doch zunächst muss der Historiker Skepsis an-melden: Das Gefühl, es 'ginge nichts mehr', ist sehr alt. Die Mei-nung, bei weiteren Zuwächsen steckten alle fest, gehörte in derautofahrenden bundesdeutschen Öffentlichkeit genauso wie beiden Verkehrsexperten ab etwa 1960 zum Standardrepertoire.

Parallel dazu gingen ausnahmslos alle Prognosen, auch solche,die verschiedene Motorisierungsszenarien durchspielten,11 vomjeweils bald bevorstehenden Erreichen eines Plateaus des Be-standes und stagnierenden oder auch abnehmenden Gesamt-fahrleistungen aus.

Diese Prognosen waren durchweg falsch.12 Sie unterschätzten,teilweise in hohem Maß, das tatsächliche Bestandswachstum.Ausnahmslos alle Experten blamierten sich durch eine Fehlein-schätzung der automobilen Wachstumsdynamik. In gleichemMaß erwiesen sich alle Prognosen als falsch, die von einer be-

11.Deutsche Shell-Aktiengesellschaft (Hrsg.): Gipfel der Motorisierung inSicht: stark sinkende Emissionen; Szenarien des Pkw-Bestands und der Neuzu-lassungen in Deutschland bis zum Jahr 2020 (= Aktuelle Wirtschaftsanalysen.H. 26, 1995, 9). Hamburg 1995.12. Siehe hierzu den äußerst signifikanten Aufsatz von Kill, Heinrich H.: Ver-kehrswachstum als Folge und Voraussetzung wirtschaftlicher Entwicklung –Möglichkeiten und Grenzen einer 'Verkehrswende', in: Giese, Eckhard (Hrsg.):Verkehr ohne (W)Ende? Psychologische und sozialwissenschaftliche Beiträge,Tübingen 1997, S. 79-93, besonders Schaubild S. 82.

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vorstehenden Krise der Automobilität ausgingen und ein "Endedes Automobils"13 in Aussicht stellten. Dies, und der Fehlschlageiner Verkehrspolitik, die jahrzehntelang den 'Vorrang der Schie-ne' proklamierte, aber zugleich einen stets sinkenden Anteil desschienengebundenen Verkehrs am Transportaufkommen zu kon-statieren hatte, muss eigentlich zur Skepsis mahnen. Die bei Lai-en wie Experten offenbar populäre Vorstellung, wenn es so weiterginge mit dem Straßenverkehr oder gar alles noch schlimmerwerde – etwa weil man nicht genügend Straßen baue, den Ver-kehr zu sehr reguliere oder 'fessle', ginge bald gar nichts mehr –scheint eine Chimäre. Dass in unmittelbarer Zukunft in Deutsch-land eine große Mobilitätsblockade bevorsteht, wird seit denspäten 50er Jahren prognostiziert – bei einem Kfz-Bestand von4,5 Millionen im Jahr 1960. Nach der Jahrtausendwende hatsich der deutsche Bestand verzehnfacht und die angekündigteBlockade fand nicht statt, auch wenn es Indizien gibt, dass die Ef-fizienz des Straßentransports abnimmt.

Die Frage ist, ob es einigermaßen realistisch ist anzunehmen,dass das kollektive Leiden am Stau Entscheidendes bewirkt. Wiewird in Zukunft die Mobilitätslust mit dem Spannungsfeld zwi-schen der als drohend empfundenen Selbstblockade individuel-ler Mobilität und der fortbestehenden Lust daran umgehen?Kommt es tatsächlich zu einer 'Re-Rationalisierung' im Sinn vonkleineren, vernünftiger gefahrenen Wagen mit anderen Haupt-antrieben? Provoziert es andere Nutzungsformen, führt es beiden Autonutzern tatsächlich zu Haltungs- und Verhaltensänder-ungen? Ich bin skeptisch, denn die Lust an der transportmittel-transgredierenden Mobilität ist wohl resistenter als angenommen– aus folgenden Gründen, die meiner Meinung nach zu beden-ken sind:

1. Ich halte die Macht der Mobilitätsbilder und Mobilitätsillusio-

13. Stellvertretend: Canzler, Weerth/Knie, Andreas: Das Ende des Automobils.Fakten und Trends zum Umbau der Autogesellschaft, Heidelberg 1994.

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nen für so groß, dass sie die alltäglichen, im Massenverkehrerlittenen Kränkungen kompensieren kann. Denn es geht beider Mobilität immer auch um das Potentielle neben demRealen, um die individuellen wie kollektiven Wunschbilder.Dass man im Grunde individuell oder selbstbestimmt fahrenkönnte, bleibt auch im Massenverkehr das unbestrittene Leit-bild. Dass man eigentlich 'rechts raus' fahren kann, mit demGeländewagen oder SUV,14 ist selbst angesichts von hartbegrenzten Verkehrsschneisen, zu denen die Straßen gewor-den sind, eine liebgewonnene Vorstellung. Dass man in 3,9Sekunden von 0 auf 100 km/h beschleunigen könnte, wennman nicht in der Stadt stünde, ist eine Befriedigung, diedurch die Verkehrserfahrung letztlich nicht berührt wird. Wirbeobachten eine hohe Resilienz der Mobilitätsillusionen ge-gen die kränkende und belastende Praxis des Massenver-kehrs.

Die Unterscheidung zwischen Produktwert oder Gebrauchswertund Gebrauchswertversprechen ist gerade beim Auto sehr nütz-lich. Letztere, die verstärkte Pflege der Images und Illusionen, hatdurchaus Schritt gehalten mit den alltäglichen Angriffen darauf.Je mehr Fahrer die Fallhöhe zwischen Versprechen und ihremStraßenalltag empfinden und erleiden, desto mehr schätzen sieeine kulturelle Aufrüstung des Potentiellen, das um Autos ange-siedelt wird. Werbung, Autoliteratur, Tests und kulturelle Verar-beitungen sorgen für eine Positionierung und Stabilisierung derImages lustvoller und tief befriedigender, letztlich aber fiktionalerMobilität. Dies ist eine gezielte Stabilisierung der Mobilitätsillu-sionen gegen den reduzierten Transportmittelcharakter. Gern istdies seit etwa 1970 als gezielte Verführung interpretiert wor-den,15 angezettelt von einer mächtigen Industrie, die ihre Märkte

14. SUV = Sport Utility Vehicles. Geländegängiges freizeitorientiertes Sport-und Nutzfahrzeug mit Allradantrieb (Spaß-Fahrzeug), eher für die Straße als fürOffroad, z.B.: Mazda Tribute, Mercedes ML 320, Lexus RX 300 (Anmerkungder Herausgeberin)

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ausbauen will. Doch dies scheint mir zu kurz gegriffen. Mobili-tätsimages der beschriebenen Art sind nicht nur ein Produkt desMarketings eines einflussreichen automobilen Industriekomple-xes, sondern beruhen auf einem breiten gesellschaftlichen Kon-sens. Schon beim Ansehen von Reise- oder Autosendungen imFernsehen, bei der Lektüre des auflagenstärksten europäischenMagazins16 oder beim Hineinhören in automobilbezogene Ge-spräche wird evident, dass das Fahren in Einsamkeit und Freiheit,fern von den Zwängen des Massenverkehrs, nicht nur ein nachwie vor kulturell dominierendes Image ist, sondern dass es auchmedial wie individuell affirmiert wird

2. Und Kompensationen gibt es auch auf der Objektebene, beiden Fahrzeugen: Autos sind 'kränkungsresistenter' geworden.Sie vermögen die Insassen zunehmend von der Umwelt, denmobilen aufdringlichen Anderen abschotten. Die Industrieofferiert außerdem kompensatorisch wirkende Autogattun-gen: 'Spaßautos', Offroader, Cabrios, SUVs, Freizeitmobile,Hyper-Luxuswagen mit der Motorleistung kleinerer Passagier-flugzeuge, nicht zuletzt Motorräder, deren Fahrer sich alsobere Hälfte einer Maschine zur Erzeugung von Fahrlustempfinden kann.17 Wir sehen eine Konzentration der Anbiet-er auf Mobilitätsmaschinen mit runtergespieltem Transport-mittelcharakter. Solche 'Freizeit-Mobilitätsmaschinen', die mitTransport im verkehrswissenschaftlichen Sinn wenig mehr zutun haben, sind zum wesentlichen (jedenfalls kulturell signifi-kantesten) Teil der automobilen Kultur geworden. DieMehrzahl der Anbieter von Autos konzentriert inzwischen ihreAnstrengungen nicht mehr auf die Offerte von Mainstream-oder Basisfahrzeugen wie etwa Familienlimousinen, sondern

15. Vgl. dazu das bahnbrechnde auto- und industriekritische Buch: Krämer-Badoni, Thomas/Grymer, Herbert/Rodenstein, Marianne: Zur sozio-ökonomi-schen Bedeutung des Automobils, Frankfurt am Main 1971.16. Die monatlich erscheinende Clubzeitschrift ADAC Motorwelt.17. Dazu Spiegel, Bernt: Die obere Hälfte des Motorrads. Vom Gebrauch derWerkzeuge als künstliche Organe, München 1999.

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auf funktional anders positionierte 'Mobilitätsmaschinen –solche, die man früher als 'Nischenfahrzeuge' beschriebenhat. Doch diese sind längst aus den Nischen in den automo-bilen Mainstream hineingewandert. Sie diffundierten von derOberklasse und dem oberen Marktsegment bis hinunter zuden billigeren sogenannten 'Einsteigerfahrzeugen'. Das Re-sultat habe ich an anderer Stelle 'Supersloanismus' genannt,eine Erweiterung der Idee des General-Motors-Chefs AlfredP. Sloan aus der Mitte der 20er Jahre.18 Er ersetzte höchsterfolgreich das Konzept eines Einheitsautos, wie es HenryFord einführte, durch das eines Wagens 'für jeden Zweck undGeldbeutel'. Die so entstandene Automobilkultur lebte zu-nehmend von der Transgression der Transportfunktion. Undzu erinnern ist nochmals daran, dass auch 'vernunftbetonte'Autos unvernünftig, spaßbetont gefahren werden können.

Deswegen ist mein Gegenstandsbereich Mobilitäts-, nicht Trans-portgeschichte. Die langen Linien der Lust am Auto, der Lust amFahren, der Übersteigerung funktionalen Transports zu verfol-gen, zu erklären, zu interpretieren ist eine wichtige Aufgabe derHistoriker. Ich bin überzeugt, dass nur eine solche Art von Ge-schichte, die Ideen, Images, im weitesten Sinn Fiktionales mit ein-bezieht, den 'unwahrscheinlichen' Erfolg des größten technischenSystems auf Erden befriedigend erklären kann.

18.Möser, Kurt: Geschichte des Autos, Frankfurt am Main/New York 2002, S.227-230.

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Arbeit – Freizeit – Mobilität.Wichtige Trends in Freizeit und Tourismus

Christoph Becker

In dem folgenden Beitrag sollen zunächst die allgemeinen Trendsin Freizeit und Tourismus dargestellt werden, die einen erstaunli-chen Boom während der letzten Jahrzehnte verzeichnen können.Dieses Wachstum ist mit einer interessanten Angebotsentwick-lung in Deutschland verbunden. Gerade der Tourismus der Deut-schen reicht aber auch weit über Deutschland hinaus. Besondersdiese auch geographisch relevanten Aspekte sollen stark heraus-gestellt werden.

1. Die Entwicklung der Freizeit: ein Boom ohne Ende?

Die Entwicklung der Freizeit in den letzten 150 Jahren stellt sichals eine einzige Erfolgsgeschichte dar. Allerdings herrschten zuBeginn der Industrialisierung extrem schlechte Arbeitsbedingun-gen. Besonders im Laufe des 20. Jahrhunderts traten deutlicheVerbesserungen ein, vor allem gab es einen Schub in den 60erJahren. Aufgrund der Entwicklung in der jüngsten Vergangenheitstellt sich die Frage, ob wir künftig mit einem verlangsamtenWachstum oder einer Stagnation rechnen müssen.

Angesichts dieser schon dramatischen Entwicklung in den letzten150 Jahren sollte aber nicht vergessen werden, dass die Bevöl-kerung im Mittelalter ähnlich viel Freizeit hatte wie heute: ein Er-gebnis der Zunftregeln und der zahlreichen Feiertage.

Inzwischen haben wir also ein statistisches Gleichgewicht zwi-schen Arbeitszeit und Freizeit erreicht; dies ergibt sich als groberDurchschnitt über das ganze Jahr, wobei die gleichbleibendenächtliche Schlafenszeit unberücksichtigt bleibt.

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Die Freizeit ist schwer definierbar und statistisch nicht leicht er-fassbar. Immerhin liegen für den Urlaubsbereich zwei Zeitreihenvor: Die Entwicklung der tariflich gesicherten Urlaubstage ver-zeichnet seit den Nachkriegsjahren ein starkes Wachstum. Heutestehen dem Berufstätigen im Durchschnitt knapp 30 Tage Urlaubpro Jahr zur Verfügung, was sechs Urlaubswochen entspricht.

Dass die lange Urlaubszeit auch größtenteils für Urlaubsreisengenutzt wird, zeigt die Entwicklung der Reiseintensität seit 1954:Sie hat einen erstaunlichen Aufschwung erlebt – im Spitzenjahr1994 unternahmen 78% der deutschen Bevölkerung ab 14 Jahrewenigstens eine Urlaubsreise mit einer Dauer von mindestensfünf Tagen. Aber ebenso wie bei der Entwicklung der Urlaubsta-ge zeichnet sich bei der Reiseintensität eine Stagnation ab: Hierist zu klären, ob es sich um das Ende eines Booms handelt oderob schlechthin eine Sättigungsgrenze erreicht ist.

Die Grundlagen des Reise- und Freizeit-Booms sind die wirt-schaftliche Entwicklung, die fortschreitende Rationalisierung, diesteigenden Einkommen, die private Motorisierung, der billigeFlugverkehr und die offenen Grenzen. Vieles spricht dafür, dasswir eine Sättigungsgrenze oder eben die Grenze des Möglichenerreicht haben: Es werden die verheerenden Auswirkungen desVorruhestandes erkannt; statt weiterer Arbeitszeitverkürzungenwird zunehmend die Verlängerung der Lebensarbeitszeit disku-tiert; die Renten sind zwar sicher, doch wird ihre Höhe weiter be-schnitten. Auch wenn wir bei der Reiseintensität betrachten, wa-rum ein Teil der Bevölkerung ganz oder in einzelnen Jahren aufeine Urlaubsreise verzichtet, dominieren als Gründe ein schlech-ter Gesundheitszustand oder eine hohe, fortlaufende Arbeitsbe-lastung; fehlende Finanzmittel sind nicht allzu oft der Grund fürdas Nicht-Verreisen.

Wir haben offenbar bei Freizeit- und Tourismus nach dem kräfti-gen Boom eine Sättigungsgrenze erreicht. Wir müssen uns also

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in den nächsten Jahrzehnten auf eine Stagnation auf dem er-reichten hohen Niveau einstellen – mit einem leichten Auf und Abvon Jahr zu Jahr. Dies schließt allerdings nicht aus, dass qualita-tive Veränderungen bei Angebot und Nachfrage auftreten.

2. Die Angebotsentwicklung des Freizeitsektors in Deutschland

Angesichts des Booms bei der Zunahme von Freizeit und Touris-mus sollte erwartet werden, dass sich auch das Angebot entspre-chend entwickelt. Im Tourismussektor hat sich eine eindeutigeEntwicklung vom Verkäufermarkt zum Käufermarkt ergeben:Während es noch in den 1970er Jahren geradezu unmöglichwar, während der Sommerferien kurzfristig ein freies Zimmer ander deutschen Küste zu finden, besteht heute ein vielfältiges An-gebot für jeden Geschmack zu (fast) allen Zeiten.

Für den Freizeitsektor soll eine Freizeitaktivität herausgegriffenwerden, und zwar das Wandern und Spazierengehen, das beiAusflügen die am häufigsten ausgeübte, wirkliche Freizeitaktivitätbildet. Es ist nach wir vor die am weitesten verbreitete Freizeitak-tivität in Deutschland, auch wenn sie in den letzten Jahrzehntenetwas an Bedeutung verloren hat: Wandern und Spazierengehenhaben kein besonderes Image; es scheint etwas aus der Modegekommen zu sein, es wirkt veraltet; gerne wird auf das hoheDurchschnittsalter in den Wandervereinen hingewiesen.

Im Hinblick auf die Wander-Infrastruktur bei den Gemeindenund in den Wandergebieten scheint deren Entwicklung stehengeblieben zu sein; das Wandern gilt bei den Fremdenverkehrsge-meinden als Selbstläufer. Auch die Freizeit- und Tourismusfor-schung hat sich kaum mit dem Wandern und Spazierengehenbefasst, innovative Freizeitaktivitäten lenken schon eher das For-scherinteresse auf sich.

Aber seit den 80er Jahren hat ein gesellschaftlicher Wertewandel

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eingesetzt, in dessen Rahmen – wenn auch relativ spät – eine Re-naissance des Wanderns begonnen hat. Geleitet von den neuenFreizeitwerten entdecken auch Jüngere das Wandern wieder. Esmotivieren die körperliche Bewegung, das Interesse an der Na-tur, die Geselligkeit und die Beschaulichkeit. Allerdings stellendie Jüngeren auch höhere Ansprüche an die Wander-Infrastruk-tur, da das Wandern auch Spaß machen soll:

• Die Wanderwege sollen weder asphaltiert noch zu weichsein.

• Der Verlauf der Wege soll gewunden, die Wege selbst sollenschmal sein.

• Es soll immer wieder Aussichtspunkte geben, die bei Bedarffreizuschlagen sind.

• An Höhepunkten des Wanderwegenetzes sollten Sitzgruppenvorhanden sein.

• Eine klare Wegweisung muss sichergestellt sein, wobei dasalte vorhandene Wegenetz durchaus etwas reduziert werdenkann.

• Es werden zuverlässige Informationen durch Karten undWanderführer sowie über das Unterkunftsangebot erwartet.

Einige Pilotprojekte zum Neuen Wandern sind bereits realisiert,etwa der Rothaarstieg oder das Wanderwegenetz der GemeindeTodtmoos/Schwarzwald. Es ist jedoch eine äußerst zähe Entwick-lung: Einerseits sind die öffentlichen Mittel zur Zeit besondersknapp, andererseits fehlt in Deutschland eine regionale Freizeit-planung fast vollständig. Die Zuständigkeiten für den Freizeitsek-tor sind auf viele verschiedene Ministerien verteilt; letztlich bleibtdas Wanderwegenetz als Aufgabe der Gemeinden, obwohl ge-rade das Wandern überörtlich organisiert werden sollte, da sichkein Wanderer auf das Gebiet einer einzelnen Gemeinde be-schränken will.

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Trotz der starken Zunahme bei der Freizeit ist die öffentliche Frei-zeitinfrastruktur kaum ausgebaut worden. Lediglich privat betrie-bene Freizeiteinrichtungen florieren: Tennisanlagen, Golfplätze,Freizeitbäder und Freizeitparks – hier liegt eine Schwäche unse-res Gesellschaftssystems.

3. Die Entwicklung bei den Reisezielen

Auch im Hinblick auf die Nachfrage haben sich einige bedeuten-de Veränderungen bei den Urlaubsreisen ergeben – insbesonde-re was die gewählten Reiseziele betrifft. In den letzten Jahrzehntenhat sich bei den Urlaubsreisen ein starker Trend von den Inlands-reisen hin zu Auslandsreisen entwickelt: Inzwischen hat sich derTrend insoweit eingependelt, dass immerhin noch 30% derHaupturlaubsreisen zu inländischen Reisezielen unternommenwerden.

Der überwiegende Teil der Europareisen führt zu den Warmwas-serzielen am Mittelmeer, während der Alpenraum etwas an Inter-esse verloren hat. Allerdings besteht gerade beim Reisen einstarker Trend zur Globalisierung: Rund 14% der Haupturlaubs-reisen sind ausgesprochene Fernreisen, die in andere Kontinenteführen (wobei die Türkei noch zu Europa gerechnet wird). DieserTrend scheint aber durch den 11.9. und seine Folgen zumindestgebrochen zu sein.

Aspekte des Umweltbewusstseins spielen beim Reisen eine gerin-ge Rolle, was der beachtliche Anteil der Fernreisen und das bis-herige ständige Wachstum der Flugreisen signalisieren. Es zeigtsich mit großer Deutlichkeit, dass der Energieverbrauch bei Fern-reisen um ein Vielfaches höher liegt als bei den Inlandsreisenoder bei Reisen in die europäischen Nachbarländer. Daher soll-ten auch die Urlaubsreisenden mit dem Pkw keineswegs verteu-felt werden, auch wenn Bahn- und Busreisen noch etwasumweltschonender sind. Jeder, der eine Fernreise in Erwägung

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zieht, sollte sich fragen, ob sie auch bewusst zum Kennenlernenfremder Länder genutzt wird. Hier ist noch viel Aufklärung not-wendig, auch wenn diese bei einer so emotionalen Entscheidungwie bei der Urlaubsreise nur sehr begrenzt zum Tragen kommt.

4. Ausblick

In der Retrospektive lassen sich verschiedene Trends in Freizeitund Tourismus herausarbeiten. In der Planung besteht die Nei-gung, diese Trends fortzuschreiben. Angesichts der großen Ver-haltensbeliebigkeit bei Freizeit und Tourismus ist dies jedochproblematisch: Moden, technologische Entwicklungen, Krisenoder die Besteuerung der Energieträger können ganz kurzfristigdas Verhalten der Bevölkerung ändern. Daher ist eine sehr flexi-ble Planung nötig.

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Arbeit – Freizeit – Mobilität.Zwischen demographischem und

technologischem Wandel

Stefanie Wahl

1. Was ist der Befund? In welchem Verhältnis stehen diedrei Begriffe zueinander?

Unter Arbeit wird derzeit in Deutschland in erster Linie Erwerbsar-beit verstanden. Sie prägt bis heute ganz wesentlich das Lebenvieler, nicht zuletzt deshalb, weil sie in den zurückliegenden Jahr-zehnten immer mehr verteilungs- und gesellschaftspolitischeFunktionen übernommen hat. Erwerbsarbeit ist heute für die gro-ße Mehrheit nicht nur wichtigste Einkommensquelle, sie ist auchGrundlage sozialer Sicherheit. Darüber hinaus ist sie wichtigstesInstrument gesellschaftlicher Anerkennung und für viele Quelleder Sinnerfüllung.

Im öffentlichen Bewusstsein besteht eine klare Rangfolge ver-schiedener Arbeitsformen. An der Spitze steht die Erwerbsarbeit.Sie ist Maßstab für die Bewertung von Eigenarbeit, hauswirt-schaftlichen Tätigkeiten, Nachbarschaftshilfe, Erziehung von Kin-dern u.a.m. Alle diese Tätigkeiten werden in ein Verhältnis zurErwerbsarbeit gesetzt. Dies gilt auch für die Freizeit. Zwar wird sievon der Bevölkerung hoch geschätzt, aber ihre Wertschätzungsteht und fällt mit Erwerbsarbeit. 100% Freizeit ist für eine Er-werbsperson, d.h. einen erwerbsgeneigten Menschen, keines-wegs erstrebenswert.

Für die meisten aktiven Menschen sind Erwerbsarbeit und Freizeitklar voneinander getrennte Bereiche – obwohl der Anteil derersteigt, bei denen sich Erwerbsarbeit und Freizeit zeitlich zuneh-mend durchmischen. Paradebeispiel sind die 6 bis 10 MillionenSchwarzarbeiter. Auch inhaltlich ist eine Annäherung zwischen

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Erwerbsarbeit und Freizeit zu beobachten. Erwerbsarbeit soll wiedie Freizeit Spaß machen. Freizeit soll wie Erwerbsarbeit Erfolgs-möglichkeiten bieten und gesellschaftliche Anerkennung ermög-lichen.

Mobilität ist gewissermaßen das Schmiermittel zwischen Erwerbs-arbeit und Freizeit sowie innerhalb der beiden Bereiche. In ihrerFreizeit sind die Deutschen ein physisch hoch mobiles Volk. Beider Erwerbsarbeit ist dies weniger der Fall. 1999 wechselten 6%der Erwerbstätigen den Beruf und 11% den Betrieb. Dies ist iminternationalen Vergleich wenig. Drei Viertel der abhängig Be-schäftigten in Deutschland waren 1998 in ihrem Betrieb längerals 2 Jahre beschäftigt. Dies liegt nicht zuletzt an der tiefen regio-nalen Verwurzelung der Deutschen. Gern den Wohnort wechselnwollten 2000 ganze 7% der Bevölkerung. 85% lehnten dies ab.Besonders stark war die Ablehnung in Sachsen und Thüringen.Überdurchschnittlich bereit zumWohnortwechsel waren Mecklen-burger, Brandenburger und Sachsen-Anhaltiner.

2. Welche Rahmenbedingungen bestimmen künftig diedrei Bereiche?

Zwei Rahmenbedingungen werden im Folgenden behandelt: derdemographische Wandel und der technologische bzw. der wirt-schaftliche Strukturwandel.

2.1. Der demographische Wandel

Der demographische Wandel äußert sich auf dreifache Weise:Die Bevölkerung nimmt zahlenmäßig ab, sie altert und schließ-lich steigt der Zuwandereranteil. Alle drei Merkmale gelten auchfür die Erwerbsbevölkerung. Auch sie wird zahlenmäßig kleiner,älter und zunehmend heterogener. Dies hat für die Bereiche Ar-beit, Freizeit, Mobilität weitreichende Konsequenzen. Bis 2020nimmt die Zahl der Erwerbsfähigen, d.h. der 15- bis 65-Jährigen

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Arbeit – Freizeit – Mobilität

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nach der neunten Bevölkerungsvorausberechnung des Statisti-schen Bundesamtes um knapp 5 Millionen, bis 2040 um 14 Mil-lionen ab. (Variante Wanderungssaldo +100.000 p.a.) Ent-sprechend werden 2020 nur noch 65% (heute 68%) der Bevöl-kerung im erwerbsfähigen Alter sein. 2040 sind es sogar nurnoch 58%. Hinzu kommen große Verschiebungen zwischen deneinzelnen Altersgruppen. 2020 ist der Anteil der 30- bis 50-Jäh-rigen und 50- bis 65-Jährigen mit etwa 38% gleich groß. Heuteliegt das Verhältnis bei 47% zu 28%. Bis 2040 nähert sich dasVerhältnis mit 41% zu 33% wieder dem heutigen Stand an. Zu-gleich steigt der Anteil von Zuwanderern von heute knapp einemZehntel auf 15% im Jahr 2040. In Ballungsräumen wird er sogarzwischen 30 und 50% liegen. Die Zuwanderer kommen zuneh-mend aus außereuropäischen Regionen.

Darüber hinaus muss die zahlenmäßig kleinere Erwerbsbevölke-rung größere soziale Lasten schultern – erst recht, wenn diewachsende Zahl von Transferempfängern weiter über erwerbsar-beitszentrierte soziale Sicherungssysteme finanziert werden soll.Im Jahr 2000 mussten 100 15- bis 65-Jährige für 24 über 65-Jährige aufkommen. Im Jahr 2020 werden es bereits 34, im Jahr2040 sogar 51 über 65-Jährige sein, die von den 15- bis 65-Jährigen versorgt werden müssen. Um die wachsende Zahl nichtmehr Aktiver zu versorgen, benötigt die Erwerbsbevölkerung einehoch produktive Wirtschaft. Zugleich steigt die Nachfrage nachpersonenbezogenen Dienstleistungen.

Auf die Erwerbsarbeit und die Erwerbsbevölkerung kommen alsoerhebliche Herausforderungen zu. Was muss getan werden, umdiese zu bewältigen?

• Das ansässige Erwerbspersonenpotential muss ausgeschöpftwerden. Im Klartext bedeutet dies, dass die Erwerbstätigkeitvon Frauen und älteren Erwerbspersonen künftig steigenmuss. Dies setzt u.a. voraus, dass sich die Einstellung zu älte-ren Erwerbspersonen verändert. Denn heute beschäftigt jeder

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zweite Betrieb keinen Arbeitnehmer über 50 mehr.• Die Zuwanderer müssen besser integriert werden. Hierzu

gehört vor allem eine bessere Ausbildung junger Zuwande-rer.

• Die Bildungszeiten müssen verkürzt und die Lebensarbeitszeitmuss verlängert werden.

• Die Produktivität muss erhöht werden. Die abnehmende Zahlvon Erwerbstätigen muss über hoch produktive Arbeitsplätzeverfügen können. Voraussetzung hierfür sind u.a. mehr Inve-stitionen und ein Ausbau des Bereichs Forschung und Ent-wicklung.

Eine Bevölkerung, bei der 2040 fast jeder zweite Erwachsene äl-ter als 60 sein wird, hat andere, differenziertere Freizeitbedürfnis-se als die heutige. Zwar bleiben die Menschen im Alter immergesünder. Auch sind sie freizeit- und reisefreudiger und erfahre-ner als ihre Altersgenossen früher. Bisher sanken erst im Laufedes achten Lebensjahrzehnts vor allem die Ausgaben für Freizeitund Reisen. Tendenziell dürfte dies auch künftig der Fall sein,doch ist mit einer spürbaren Abflachung dieses Trends zu rech-nen. Dies ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass z.B. körper-lich besonders anstrengende Freizeitaktivitäten an Bedeutungverlieren bzw. den Bedürfnissen Älterer angepasst werden müs-sen. Gesundheitserhaltende und -fördernde Aktivitäten werdennoch wichtiger. Gleiches gilt für die Möglichkeit, in der FreizeitKontakte zu knüpfen und zu pflegen, da familiäre Netzwerke beivielen künftig entweder nicht vorhanden oder weniger belastbarsind. Darüber hinaus werden Weiterbildungsangebote an Be-deutung gewinnen. Schon jetzt gibt es für Ältere ein reiches Bil-dungsangebot, das bis zu Seniorenuniversitäten reicht. Künftigwird die Nachfrage zunehmen. Hierfür spricht nicht zuletzt dersteigende Bildungsgrad älterer Menschen.

Was wird künftig gebraucht werden? Unter anderem

• altersgerechte Sport- und Freizeiteinrichtungen, die leicht er-

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reichbar sind sowie• altengerechte Angebote zur Weiterbildung – allerdings wer-

den die Kosten hierfür, die bislang häufig von der öffentli-chen Hand getragen wurden, künftig verstärkt von denNachfragern übernommen werden müssen. Denn die öffent-liche Hand ist absehbar außer Stande, den demographie-und interessenbedingten Nachfrageschub im bisherigenUmfang zu finanzieren.

Altersgerechte Verkehrssysteme und Automobile werden zwar da-für sorgen, dass der einzelne im Alter länger mobil bleibt. SolcheAutomobile befinden sich bereits jetzt in der Planungsphase undzum Teil auch schon in der Entwicklung. Insgesamt dürfte jedochdie physische Mobilität in einer älteren Bevölkerung abnehmen.Deutlich an Bedeutung gewinnen wird die virtuelle Mobilität. Derältere Bevölkerungsteil ist verstärkt auf sie angewiesen. Die der-zeitigen Lebensformen begünstigen den Aufbau partiell virtuellerNetzwerke, während sie den physischen Kontakt in Familien- undNachbarschaftsverbänden beeinträchtigen.

Was wird künftig gebraucht werden? Unter anderem

• altersgerechte Verkehrssysteme sowie• altersgerechte Informations- und Kommunikationssysteme

etc.

2.2. Der technologische Wandel

Der technologische Wandel ist u.a. gekennzeichnet durch intelli-gentere Lösungen, d.h. einen schonenderen Einsatz von Ressour-cen, auch des Faktors Arbeit, sowie die Ausbreitung einerWissensgesellschaft. Die Wirkungen des technologischen Wan-dels auf die Erwerbsarbeit sind seit langem spürbar. Die Wirt-schaft produziert immer wissens- und kapitalintensiver und immerarbeitssparender. Oder anders gewendet: Die Bedeutung vonWissen und Kapital im Wertschöpfungsprozess steigt, die der Er-werbsarbeit sinkt. Von 1980 bis 2000 erhöhte sich der reale Wert

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der erwirtschafteten Güter und Dienste pro Kopf der Wohnbevöl-kerung um reichlich ein Viertel. Zugleich sank das Arbeitsvolu-men, d.h. die Summe der von allen Erwerbstätigen gearbeitetenStunden pro Kopf der Wohnbevölkerung um 12%. Dagegenstieg der reale Kapitaleinsatz pro Erwerbstätigenstunde um zweiDrittel. Dieser Trend wird anhalten. Auch künftig werden immermehr standardisierbare Tätigkeiten durch Wissen und Kapital er-setzt. Zugleich wird Erwerbsarbeit immer "flockiger". Die Zahldauerhafter, arbeits- und sozialrechtlich abgesicherter, soge-nannter Normarbeitsverhältnisse sinkt, zugleich nimmt der Anteilvon Nicht-Normarbeitsverhältnissen, d.h. Teilzeit-, befristeterund geringfügiger Beschäftigung sowie anderer Arbeitsformenzu. Sie machen heute reichlich ein Drittel aller Arbeitsverhältnisseaus. Diese Entwicklung hat gravierende Wirkungen auf die Ver-teilung. Die Wertschöpfung geht zunehmend an Wissen und Ka-pital, d.h. Wissensträger und Kapitaleigner und abnehmend andie Anbieter von Erwerbsarbeit, d.h. die Arbeitnehmer. Wachsen-de Einkommensunterschiede sind auch innerhalb der Arbeitneh-merschaft zu beobachten. Beschäftigte in Normarbeitsverhält-nissen nehmen in der Regel an der Wohlstandsentwicklung teil,während Beschäftigte in Nicht-Normarbeitsverhältnissen häufignur geringe Einkommen beziehen.

Darüber hinaus ändert sich die Produktionsweise. Mit Hilfe derneuen Techniken kann der einzelne immer mehr bestimmen,wann und wo er arbeitet. Projektarbeit wird künftig zunehmenddie klassische Lohn- und Betriebsarbeit ablösen. Der einzelnewird immer mehr zum Unternehmer seiner Arbeitskraft. Fernermachen es die neuen Techniken möglich, den Schwund der Er-werbsbevölkerung, aber auch altersbedingte Produktivitätsver-luste zunehmend auszugleichen. Schließlich wird der Bedeu-tungsrückgang der Erwerbsarbeit dazu führen, dass andere Tä-tigkeiten, wie Eigenarbeit, gemeinnützige Tätigkeiten bzw.freiwilliges soziales Engagement etc. an Bedeutung gewinnen.

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Arbeit – Freizeit – Mobilität

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Was muss künftig u.a. getan werden, um den technologischenWandel optimal zu nutzen?

• Die wichtigste Maßnahme ist die Verbreiterung der Vermö-gensbildung. Wenn Kapital der renditeträchtigste Produkti-onsfaktor ist, müssen möglichst viele Zugang zu diesemFaktor erhalten.

• Darüber hinaus müssen Erwerbsarbeit und soziale Sicherung,insbesondere die gesetzliche Alterssicherung entkoppelt wer-den.

• Ferner muss der Zugang zu Wissen verbreitert und die Quali-tät des Humankapitals verbessert werden.

• Schließlich muss unternehmerisches Denken gefördert wer-den.

Mit der technologiebedingten rückläufigen individuellen Arbeits-zeit nimmt die Freizeit des Einzelnen weiter zu. Der Jahrgang1892 verbrachte 20% seines gesamten Lebens mit Erwerbsarbeit.Für den Geburtsjahrgang 1956 dürfte Erwerbsarbeit nur nochhalb soviel, nämlich ein Zehntel seiner Lebenszeit ausmachen.Technischer Fortschritt hält in der Freizeit weiter Einzug. Er er-möglicht neue Freizeitaktivitäten (Chatten im Internet, Spieleetc.). Wie im Bereich der Erwerbsarbeit lassen sich durch ihnauch körperliche Beeinträchtigungen kompensieren. Darüber hi-naus führt technischer Fortschritt dazu, dass die Grenzen zwi-schen Erwerbsarbeit und Freizeit künftig noch durchlässiger wer-den. Freizeit wird ferner stärker dazu genutzt werden, um andereTätigkeiten, wie Eigenarbeit, freiwilliges soziales Engagementetc. auszuüben. Schließlich wird der Einzelne als Unternehmerseiner Arbeitskraft seine Freizeit künftig vermehrt dazu nutzen(müssen), seine Verwendbarkeit durch Weiterbildungsmaßnah-men zu erhalten bzw. zu verbessern. Der technologische Fort-schritt sorgt dafür, dass das Schmiermittel Mobilität seineFunktion in einer alternden und folglich statischeren Bevölkerungerfüllen kann. Mobilität kommt künftig insbesondere im Arbeits-

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leben noch größere Bedeutung zu. Darüber hinaus wird durchdie Tatsache, dass z.B. Menschen immer und überall online seinkönnen, das Bedürfnis älterer und in der Regel immobilerer Men-schen nicht nur nach Kommunikation, sondern auch nach Si-cherheit befriedigt.

Was wird künftig u.a. gebraucht werden?

• Mobilitätshemmende Regelungen und Einstellungen müssenabgebaut werden (z.B. Vorbehalte gegen einen Arbeitneh-mer, der oft den Arbeitsplatz gewechselt hat).

• Mobilität muss durch integrative, z.B. Betreuungsmaßnah-men belohnt werden.

• Der technische Wandel muss bewusst gestaltet werden. DasAugenmerk muss stärker auf kundenorientierte Produkte undDienstleistungen gerichtet werden. Kundenorientiert heißtkünftig häufig altengerecht.

3. Fazit

Alle drei Bereiche – Arbeit, Freizeit und Mobilität – unterliegen inden nächsten Jahrzehnten starken Veränderungen. Die wichtigsteVeränderung ist: Überall werden die Akteure deutlich älter sein.Diese und andere Veränderungen beinhalten Chancen und Risi-ken.

So trifft es sich günstig,

• dass die künftig im Schnitt wesentlich ältere Bevölkerung beider Erwerbsarbeit und in der Freizeit auf Techniken zurück-greifen kann, die viele physische und psychische Unzuläng-lichkeiten kompensieren;

• dass in einer Bevölkerung mit einem rückläufigen Erwerbstä-tigenanteil immer arbeitssparender produziert werden kann;

• dass immer mehr physisch und psychisch unattraktive Tätig-keiten von Maschinen im weitesten Sinne erledigt werden;

• dass der Nachfragerückgang nach Arbeitskräften im produ-

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Arbeit – Freizeit – Mobilität

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zierenden Bereich kompensiert wird durch einen demogra-phiebedingten Nachfrageanstieg bei den personenbe-zogenen Dienstleistungen;

• dass zu einem Zeitpunkt, wo ein wachsender Teil der Bevöl-kerung altersbedingt räumlich weniger mobil sein kann,Techniken entwickelt werden, die Kommunikation ohneräumliche Mobilität ermöglichen.

Diese Chancen müssen offensiv genutzt werden. Allerdings gibtes auch eine Fülle von Risiken:

• Die Arbeitsmarktprobleme könnten sich verschärfen, die Er-werbsbiographien noch brüchiger werden.

• Die internationale Wettbewerbsfähigkeit könnte schwinden.• Wirtschaftliches Wachstum könnte sich bei einer so alten Be-

völkerung noch mehr verlangsamen bzw. ganz ausbleben.• Für Freizeitaktivitäten könnten Geld und Zeit fehlen.• Generationskonflikte könnten aufbrechen.• Neue Techniken könnten von Älteren nicht angenommen

werden.• Vereinzelung und Vereinsamung Älterer könnten sich ausbrei-

ten.• Steigende Mobilität könnte die Geburtenraten weiter sinken

lassen u.v.a.m.

Diese Entwicklungen und andere könnten eintreten, wenn dieMehrzahl der vorgeschlagenen Maßnahmen nicht umgesetztwird. Letzteres setzt wiederum geistige Mobilität, d.h. Verände-rungsbereitschaft voraus.

Hinzu kommen muss ferner, dass die Politik die Bevölkerungrückhaltlos über die künftigen Herausforderungen aufklärt undfür die zukunftsträchtigen Lösungen zu deren Bewältigung umMehrheiten wirbt.

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Stefanie Wahl

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Technologie und Datenmobilität

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Datenmobilität in der Informationsgesellschaft

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Datenmobilität in der Informationsgesellschaft

Firoz Kaderali

Kurzfassung

Versteht man unter Informationsgesellschaft eine Gesellschaft,die moderne Informations- und Kommunikationstechnologiensowohl für wirtschaftliche Zwecke als auch für gesellschaftlicheund private Belange ausgiebig nutzt, so stellt sich die Frage, wasdiese Technologien auszeichnet und welche markanten gesell-schaftlichen Veränderungen mit deren Einsatz verbunden sind.Im vorliegenden Beitrag wird diese Frage kurz erörtert und daraufhingewiesen, dass Datenmobilität hierbei eine zentrale Rollespielt. Anschließend werden einige Beispiele der Datenmobilitätvorgestellt.

1. Einführung

Moderne Informations- und Kommunikationstechnologien basie-ren auf Digitaltechnik. Die Erfindung der Puls-Code-Modulati-onstechnik (PCM) durch Reeves1 im Jahre 1938 kann als dieWiege der Digitaltechnik angesehen werden. Der Durchbruchder Digitaltechnik kam allerdings erst allmählich in den sechzigerund siebziger Jahren, als die wirtschaftlichen Vorteile dieserTechnik ersichtlich und PCM-Strecken durch digitale Vermitt-lungseinrichtungen ergänzt wurden, um eine einheitliche digitaleÜbermittlungstechnik zu ermöglichen.2 Die Digitalisierung des

1. Robertson, David: Alec Reeves (1902-1971). (Online Dokument), verfüg-bar über: http://www.telecomwriting.com/TelephoneHistory2/reeves.html,2002.2. Kaderali, Firoz: Digitale Kommunikationstechnik I, Braunschweig 1991, S.35 ff.

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Teilnehmeranschlusses, die in den siebziger Jahren zu ISDN (In-tegrated Services Digital Network) führte und der Funkstrecken,die in den neunziger Jahren zum GSM (Global System for MobileCommunication) führte, manifestieren den Siegeszug der Digi-taltechnik.3

Diese Entwicklung ist auf die erheblichen Vorteile der Digitaltech-nik gegenüber der herkömmlichen Analogtechnik zurückzufüh-ren. Einerseits ist die Digitaltechnik kostengünstiger, was primärzu ihrem Siegeszug beigetragen hat, andererseits ermöglicht sieeine höhere technische Qualität durch ihre Regenerationsfähig-keit. Hinzu kommt die Möglichkeit mehrere Verbindungen übereine Übertragungsstrecke durch digitale Multiplexbildung zu rea-lisieren. Ausschlaggebend ist heute jedoch die Tatsache, dass dieDigitaltechnik eine einfache Speicherung und Verarbeitung derNutzinhalte ermöglicht. Sie unterscheidet nicht zwischen den ver-schiedenen Diensten (Daten, Text, Ton, Bild und Video), sondernbildet sie alle gleichermaßen auf binäre Symbolketten ab und er-möglicht hierdurch eine einheitliche Handhabung, führt so alsozur Integration verschiedener Dienste. Die Nutzinhalte sind digi-tal codiert und daher für eine Verarbeitung durch Rechner zu-gänglich. Diese integrierte Nutzung von Daten, Text, Sprache,Bild, Ton und Video in einer Anwendung ergänzt durch Interakti-vität wird auch durch den Begriff Multimedia gekennzeichnet.

Aus technischer Sicht bestehen Daten aus Folgen von Symbolen– ob Hieroglyphen oder binäre Zeichen. Daten im Kontext bildenInformationen, beispielsweise Meldungen oder Befehle. Geord-nete, korrelierte Informationen bilden Wissen, so wie es z.B. Le-xika oder Datenbanken zur Verfügung stellen. Gekoppelt mitErfahrung erhält Wissen eine erhöhte Qualität. Mangels einesbesseren Begriffes wollen wir dies als Weisheit bezeichnen. Die

3. Plank, Karl-Ludwig/Kaderali, Firoz: Informations- und Kommunikations-techniken – Entwicklungstrends und Nutzungspotentiale, Braunschweig 1993.

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Datenmobilität in der Informationsgesellschaft

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so aufgebaute Informationspyramide besteht also hierarchischaus Daten, Informationen, Wissen und Weisheit.

2. Digitale Informationen und deren Eigenschaften

Die Mächtigkeit von Daten unter Verwendung der Digitaltechnikkann an einfachen Beispielen sehr eindrucksvoll geschildert wer-den. Eine Buchseite besteht gewöhnlich aus etwa 1500 Anschlä-gen (Buchstaben und Zeichen). Da ein Buchstabe bzw. einSymbol (einschließlich Leerzeichen) mit 8 Bit codiert wird, sprichtman auch von 1500 Byte. Ein Buch mit 200 Seiten besteht dem-nach aus 300 000 Byte oder 300 Kilobyte. 100 000 Bücher zu-sammen ergeben dann 30 000 000 Kilobyte oder 30 Gigabyte.Dies entspricht in etwa der Kapazität einer Festplatte eines heuti-gen Laptops. Mit einem Laptop kann man also faktisch 100 000Bücher bei sich haben. Verwendet man noch eine geeigneteKomprimierung, so kann man mit einer Komprimierung auf etwa25% bereits 400 000 Bücher bei sich haben!

Wir betrachten nun die Mobilität dieser Daten. Die Übermittlungeines Buches mit 200 Seiten, d.h. 300 Kilobyte oder 300 x 8 =2 400 kbit, von einem Ort zum anderen unter Verwendung vonISDN (mit 64 kbit/s), erfordert also 37,5 Sekunden. Würde maneine Komprimierung verwenden, wären es lediglich 9,4 Sekun-den. Entsprechend kann man unter Verwendung von ADSL (768kbit/s) 10 Bücher in 31,3 Sekunden oder mit Komprimierung in7,8 Sekunden übermitteln. Im übrigen kostet die Übermittlungder 10 Bücher ohne Komprimierung bei T-Online lediglich 0,7Cent, wenn man von der Grundgebühr absieht!

Während unser Wissen sich stetig vermehrt, steigt das Informati-onsangebot unverhältnismäßig schnell.4 Wir werden bei derHandhabung der Informationsflut regelrecht überfordert und be-

4. http://www.ib.hu-berlin.de/~wumsta/price14.html

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Firoz Kaderali

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nötigen künftig vermehrt Unterstützung durch Softwarewerkzeugewie Personal Information Manager und Personal Agents zur Aus-wahl und Sortierung von relevanten Informationen. In unserer Le-benseinstellung, unserem Demokratieverständnis usw. werdenwir durch die Informationsflut einerseits massiv beeinflusst, ande-rerseits stumpfen wir auch ab, um von unangenehmen Informa-tionen (z.B. über Krieg und Hungersnot) nicht erdrückt zu werden.

Die Eigenschaften von digitalen Daten werden auch auf digitaleInformationen übertragen. Hierzu gehören insbesondere die ein-fache Verarbeitbarkeit, die leichte Kopierbarkeit und der schnelleTransport.

Die Speicherung und rechnerunterstützte Verarbeitung von digi-talen Informationen wird immer leistungsfähiger. Auch die Stra-tegien zur Wissensorganisation, Wissensablegung und Wissens-wiederfindung werden stets weiterentwickelt. So entstehen bei-spielsweise Datenbanken, Bildarchive und Videoarchive für un-terschiedlichste Anwendungen. Hinzu kommt, dass auch die Ver-arbeitungs- und Anwendungsprogramme inzwischen eine gewis-se Reife erlangt haben – dies gilt z.B. für Textverarbeitung, Bilder-kennung und Bildverarbeitung, Spracherkennung usw. DieseEntwicklungen führen dazu, dass uns Menschen viel Arbeit abge-nommen wird.

Auch das Kopieren von digitalen Informationen und deren Ände-rung und Ergänzung ist inzwischen sehr leicht geworden. DerWert der meisten Informationen, so z.B. welche Maßnahmen ge-gen bestimmte Krankheiten wirksam eingesetzt werden können,bleibt beim Kopieren erhalten. Lediglich wenige Informationenverlieren durch das Kopieren ihren Wert, so z.B. Börsengeheim-nisse. In unserer Gesellschaft wird derzeit der Schutz des geisti-gen Eigentums häufig missachtet. Dies liegt unter anderem auchdaran, dass das Kopieren unbemerkt vor sich geht – d.h. wederder Wert der ursprünglichen Information ändert sich, noch hin-

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Datenmobilität in der Informationsgesellschaft

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terlässt das Kopieren irgendwelche Spuren daran. Wie wir bereitsgesehen haben, können Daten und somit digitale Informationenauch in größeren Mengen mit geringem Aufwand blitzschnell indie ganze Welt übermittelt werden. Einerseits unterstützt dies diemenschliche Kommunikation, andererseits beeinflusst es auchunser Verhalten. Vor allem beschleunigt es das Tempo, mit demviele Vorgänge abgewickelt werden können, mitunter also auchunser Lebenstempo. Dies ist besonders ersichtlich beim Fax undbeim Mobilfunk. Wie bereits erörtert, können digitale Informatio-nen leicht verarbeitet und somit auch leicht verändert und mani-puliert werden. Die Authentizität einer Information, d.h. die desSenders und der ursprünglichen Version, ist heute beispielsweisedurch den Einsatz der digitalen Unterschrift technisch überprüf-bar. Den Wahrheitsgehalt einer Information zu überprüfen istdemgegenüber allerdings fast unmöglich – dies bedarf, wie auchbei den Printmedien, gewisser gesellschaftlicher Strukturen (ver-gleiche Wahrheitsgehalt einer Nachricht in der Bildzeitung oderin der Zeit!). Dies führt dazu, dass wir auch leicht gezielt beein-flussbar werden. Unsere Manipulierbarkeit wächst, wenn der Zu-gang zu Kommunikationsnetzen – um Informationenauszubreiten – nur wenigen Menschen vorbehalten wird.

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3. Zwei Beispiele der Datenmobilität

Wir wollen uns nun zwei innovative Anwendungsbeispiele näheransehen, die in besonderer Weise auf Datenmobilität basieren.Es handelt sich dabei um das elektronische Geld nach DavidChaum, das als DigiCash bekannt wurde5 und um mobile Agen-ten.6

Beim DigiCash erzeugt der Nutzer eine zufällige Bitfolge, die alsDigitales Geld bezeichnet wird und einen bestimmten Geldwertdarstellt. Er verpackt es in einen Umschlag, d.h. verschlüsselt es,und schickt es an seine Bank. Die Bank bescheinigt die Echtheitund den Wert des Geldes, in dem sie es blind signiert. Sie buchtden entsprechenden Betrag von dem Konto des Nutzers ab,schickt das Digitale Geld an den Nutzer zurück und behält eineKopie der Signatur. Die so signierte und mit Wert gekennzeich-nete Bitfolge fungiert nun als Geld und kann anonym ausgege-ben werden. Sie kann natürlich auch weiter verschenkt werden,sogar über das Netz, und ist somit mobil! Beim Einkaufen erhältder Händler (beispielsweise im Internet) das Geld und schickt esin Echtzeit an die Bank zur Überprüfung der Echtheit. Die Banküberprüft die Echtheit, löscht den Signatureintrag, schreibt demHändler den Betrag auf sein Konto gut und informiert ihn ent-sprechend. Der Händler liefert nun die Ware, die beispielsweiseein Programm oder ein digitales Bild oder Video sein kann undwiederum über das Netz geliefert wird. Das mathematische Ver-fahren, auf das DigiCash basiert, ermöglicht, dass der Einkäuferanonym und die Echtheit des Geldes gewahrt bleibt. Falls eineKopie des Geldes erstellt wird, wird die Kopie, welche die Bankals erste erreicht, als echt angesehen. Bei Missbrauch kann die

5. Chaum, David: Privacy Protected Payments – Unconditional Payer and/orPayee Untraceability, Smart Card 200: The Future of Smart Cards, IFIP WG11.6, Elsevier Science Publishers 1989.6. Mattern, Friedemann: Mobile Agenten, in: it+ti – Informationstechnik undTechnische Informatik, Oldenbourg Verlag 1998/4.

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Datenmobilität in der Informationsgesellschaft

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Bank mit Hilfe des Nutzers die Anonymität aufheben und die Vor-gänge offen legen.

Als mobile Agenten bezeichnet man Software, die im Auftrag ih-res Besitzers autonom Aufgaben durchführt und sich dabei inKommunikationsnetzen bewegt. Zunächst betrachten wir zweiBeispiele, um den Sachverhalt besser zu verstehen:

Ein Einkaufsagent sucht im Auftrag seines Besitzers ein mittleresAuto einer bestimmten Marke in einer ausgewählten Farbe zu ei-nem bestimmten maximalen Preis. Es können zahlreiche weitereRandbedingungen vorgegeben werden. Der Agent besucht ver-schiedene Angebotsseiten im Internet, sammelt und vergleichtdie Angebote, sucht die fünf geeignetesten Angebote aus undkehrt damit zu seinem Besitzer zurück. Dabei sucht er seinen Wegselbständig im Netz aus, indem er diverse Informationen auswer-tet.

Ein mobiler Code soll im Auftrag seines Besitzers gewisse Berech-nungen durchführen. Hierzu benötigt er geeignete statistischeDaten, die er zunächst von verschiedenen Datenbanken im Netzzusammenstellt. Anschließend sucht er einen geeigneten Groß-rechner, der ihm die erforderliche Rechenkapazität zur Verfügungstellt und führt die Berechnungen dort durch. Die Ergebnisse derBerechnungen bringt er dann mit den verwendeten Eingaben zu-rück zu seinem Besitzer.

Die Entwicklung von mobilen Agenten ist zur Zeit im anfänglichenForschungsstadium. Außer geeigneter Agentensoftware undHostschnittstellen müssen auch aufwendige Sicherheitsmaßnah-men entwickelt werden.7 So müssen sowohl der Agent als auchder Host vor Attacken und unberechtigten Manipulationen ge-schützt werden. Allerdings ist sicher, dass solche Softwareagen-ten künftig an Bedeutung gewinnen werden, um uns bei demAufsuchen und der Nutzung vorhandener umfangreicher rele-vanter Daten zu unterstützen.

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Es gibt zahlreiche weitere Anwendungen von Datenmobilität, diebereits heute Eingang in unser berufliches und privates Leben ge-funden haben. Hierzu zählen unter anderem

• SMS (Short Message Services)

• MMS (Multimedia Message Services)

• Musikbörsen (z.B. Napster, Kazaa)

• Streaming Video und

• Kommunikative Spiele.

4. Ausblick

Die Datenmobilität unterstützt auch die Mobilität von Menschen,wie folgende Beispiele belegen:

• Mobilfunk

• Mobile Internet

• Location Based Services

• GPS (Global Positioning System)

• AutoPilot

• Mautsysteme, usw.

In der Vergangenheit hat die Datenmobilität unser Leben alleindadurch im erheblichen Maße verändert, dass Informationenweltweit schnell verfügbar wurden. Vor allem hat es auch zu einerBeschleunigung unseres Lebenstempos geführt. Bereits heute istfolgendes Szenario fast realisierbar: Man befindet sich in einer

7. Vigna, Giovanni (Hrsg.): Mobile Agents and Security, LNCS 1419, Berlin/Heidelberg 1988; Cubaleska, Biljana/Schneider, Markus: A Method for Pro-tecting Mobile Agents Against Denial of Service Attacks, Sixth Int. Workshop onCooperative Information Agents, CIA 2002, LNAI 2446, Berlin/Heidelberg2002; Westhoff, Dirk/Schneider, Markus/Unger, Claus/Kaderali, Firoz:Methods for Protecting a Mobile Agent‘s Route, 2nd Int. Workshop an Infor-mation Security, ISW 99, LNCS 1729, Berlin/Heidelberg 1999.

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Datenmobilität in der Informationsgesellschaft

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fremden Stadt. Per GPS wird der Aufenthaltsort bestimmt. Übereine Brille wird die Richtung, in die man schaut, festgestellt undbei Bedarf wird die Geschichte des Gebäudes im Blickfeld vorer-zählt. Oder man trifft zufällig auf eine Person, die man nichtgleich erkennt. Über eine in der Brille integrierte Kamera wird einBild der Person aufgenommen, mit dem persönlichen Archiv ver-glichen und schon wird einem ins Ohr geflüstert, um wen es sichhandelt, wann man ihn zuletzt gesehen hat, usw.

Diese Beispiele zeigen auch auf, dass die Datenmobilität für ihreRealisierung zwar notwendig ist, mit ihr allein solche Anwendun-gen allerdings nicht zu realisieren sind. Ein effizientes Wissens-management ist hierzu erforderlich und heute leider noch nichtausreichend verfügbar.

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Technologie und Datenmobilität

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Technologie und Datenmobilität

Johann Günther

1. Zyklische Veränderungen

Menschen waren immer mobil. Im Mittelalter waren es die Wall-fahrerwege und heute sind es die Urlauberrouten, auf denen sichdie Massen bewegen. Trotzdem war die Menschheit noch niemobiler als heute. Mit dem gewachsenen Wohlstand und demWegfallen vieler Grenzen in Europa kam auch die 'Freiheit' alsneues Symbol. Freiheit führt den Menschen zum Bewegen. Dieniedergerissenen Stacheldrahtgrenzen müssen überwunden wer-den. Unsere Wirtschaft wurde arbeitsteilig und braucht mehr Mo-bilität. Mobilität der Waren und Produkte und ihrer Manager.Dazu kommen immer stärker liberalisierte Märkte, die den Welt-markt zu einem 'Global Village' machen. Im 21. Jahrhundert wirddie globale Wirtschaft von drei Schlüsselindustrien dominiert:

• Telekommunikation,

• Computertechnologie und

• Tourismus.

Die Computertechnologie wächst im Augenblick 2,5mal schnel-ler als traditionelle Branchen. Die immer mobilere Wirtschaft hatauch das Privatleben stark beeinflusst und der Tourismus gehörtzu einer der größten Branchen der Welt. Elf Prozent der arbeits-fähigen Weltbevölkerung arbeitet im Tourismus.

Zyklen haben aber nichts mit 'Mode' zu tun:

"Das System der Mode, in seiner aktuellen, hochgradig profes-sionalisierten Erscheinungsform, ist keineswegs nur die kalteBrachialmaschinerie der permanenten Innovation, sondernauch ein intelligenter und effektiver Abwehrmechanismus widerdie überfordernden Zudringlichkeiten der 'Zuvielisation'. Die

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Johann Günther

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Mode errichtet eine Art Puffer- und Knautschzone um diemenschliche Psyche, baut ihr einen 'Zeitkokon', in den wir unszurückziehen, um uns vor dem Anprall der großen Info-Flutenzu schützen."1

Mode ist von der Gesellschaft geprägt und besteht aus einemlaufenden Kommen und Gehen; aus einem Zerstören und wiederneu Formieren. Die Zyklen der Generationen sind tiefgreifenderund nachhaltiger. Generations- und Technologiewechsel sindkeine ungewöhnlichen Veränderungen. Neue Baustile haben im-mer schon alte abgelöst. Neue Technologien ersetzen alte. Tele-kommunikation und Computertechnik haben uns in dieInformationsgesellschaft gebracht. Über 50% der Beschäftigtenarbeiten in den entwickelten Ländern ausschließlich mit Informa-tionen.

Diese Informationsgesellschaft hat nicht nur technische Neuerun-gen gebracht. Die von ihr eingeführten Instrumente und Hilfsmit-tel haben dem Menschen wieder die Chance gegeben mobilerzu sein. Mobilität ist nichts Neues für den Menschen. Das Noma-dische liegt in ihm und wird trotz beengter Umstände unsererStaatsorganisationen wieder möglich. Informationstechnologienverändern viele Prozesse in unserer Berufswelt. Diese Verände-rungen dürfen aber nicht nur technisch betrachtet werden. DieHintergründe sind in sozialen, gesellschaftlichen und wirtschaftli-chen Faktoren zu suchen. Die klassischen Berufe werden durchneue Medien völlig verändert, wenn nicht überhaupt verdrängt.

Unsere westliche Gesellschaft schlägt einen Weg weg von derLandwirtschaft und Industrie hin zur Informationsgesellschaft undzur Intensivierung des Schaffens ein. In Zahlen ausgedrückt heißtdas etwa für Deutschland, dass zwischen 1960 und 1990 die Be-schäftigten in der Landwirtschaft um 76% und in der Industriepro-

1. Guggenberger, Bernd: Sein oder Design. Im Supermarkt der Lebenswelt-ten, Hamburg 1998, S. 205.

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Technologie und Datenmobilität

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duktion um 33% abgenommen haben. Gleichzeitig wuchsen dieTop-Technologien um 44% und der High Tech Bereich um 26%:

• Top Technologien: + 44%

• High Tech: + 26%

• Industrieproduktion: - 33%

• Landwirtschaft: - 76%2

Nach dem Krieg waren noch mehr als die Hälfte der Beschäftig-ten Österreichs in der Landwirtschaft aktiv. Zu Beginn des 21.Jahrhunderts sind es weniger als fünf Prozent. Hatten im 19.Jahrhundert die Hightech-Betriebe in Form der Stahlwerke kleineBergbauern arbeitslos gemacht, so sind diese Stahlbetriebe heu-te selbst Opfer geworden. Obwohl – wie die obige Statistik zeigt– die Anzahl der in der Industrie Beschäftigten radikal zurück-ging, hat diese Talfahrt noch kein Ende erreicht. Bis zum Jahr2020 wird jeder fünfte Industriearbeitsplatz abgebaut sein.

Diese Veränderungen gehen zu Gunsten der Dienstleistungsbe-triebe. Wobei es vor allem die Software und Contentproduktionist, die so hohe Zuwächse erzielt. Ein Fotoapparat hat heute mehrSoftware als ein Applecomputer vor 10 Jahren. Dies wirkt sichauch auf die Kosten aus. Bei einer Minolta Kamera kostet dieSoftware 550 Euro, die Linse 40 Euro und das Gehäuse 20 Euro.Vor einigen Jahrzehnten war dies noch umgekehrt, wobei es Soft-ware überhaupt noch nicht gab. Ein hoher Anteil an unseren Pro-dukten und an der Wirtschaft als Gesamtes sind Informationen.

Hardware hat einen geringeren Stellenwert und Anteil an einemProdukt als Software. Auch bei Produkten, wo wir das nie vermu-ten würden. Der Austausch des Bordcomputers im Auto kann dieLeistungsfähigkeit des Motors erhöhen. Der Computer managtdie Einspritzung des Treibstoffs präziser und leistungsgerechter,

2. Veränderung der Beschäftigten zwischen 1960 und 1991 in Deutschland.

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wodurch einerseits der Verbrauch selbst reduziert werden kann,aber auch die Leistung erhöht wird. Dieselbe Maschine leistetmehr durch genauere Steuerung. Dieser 'Steuerungsanteil' istauch mehr wert als die Maschine selbst.

"Diese neuen Technologien bedeuten eine grundlegende Verän-derung unserer Gesellschaft, unserer Wirtschaft und unsererArbeit."3

Obwohl viele Jobs verloren gingen – wie etwa in der Landwirt-schaft – gibt es heute mehr Arbeitsplätze als vorher. Die USA hat-te etwa um 1900 27 Millionen Erwerbstätige und 1993 125Millionen! Diese Steigerung liegt auch am hohen Frauenanteil imArbeitsprozess.

Neben den Langzeitzyklen passieren Veränderungen in mittelfris-tigen Zeitabständen. In der Wirtschaft gibt es ein ständiges Aufund Ab. Es kommen Wachstumsschübe, deren Intensität nach-lässt und von einem neuen Schub beschleunigt werden. NachStagnation und Depression folgt ein neuer Aufschwung. LangeZeit waren die Zyklen umstritten. Erst durch die Forschungsarbei-ten von Cesare Marchetti wissen wir, dass eine gewisse Systema-tik dahinter steckt. Alte Technologien werden durch neue ersetzt.Diese Substitution entsteht durch neue Gesellschaftsverhaltens-formen und neue ökonomische Strukturen und laufen alle nacheinem bestimmten, vorausberechenbaren Muster ab.

Marchetti begann seine Untersuchungen an den Fischbeständenin der Adria. Er fand heraus, dass er nach einer bestimmten For-mel die Fischbestände sogar vorausberechnen konnte. Nahmendie Beutetiere überhand, konnten sich die Räuber unter den Fi-schen wieder stärker vermehren (es gab genug zum Fressen). DieFolge davon ist eine Futterknappheit für die Räuber, welche zu ei-ner Bestandsverminderung führt. Die Beutetiere vermehren sich

3. Rudas, Andreas, in: Huber, Hanspeter/Rosenberger, Sigrid: Österreich inder Welt von morgen, Wien 1999, S. 66.

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Technologie und Datenmobilität

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wieder und der Zyklus beginnt von Neuem. Diese Erkenntnis –mathematisch in eine 'S-Kurve' gebracht – verwendet man heuteauch in der Wirtschaft.

Der Zyklus lautet:

• Entstehung (=geringe Verbreitung, schwaches Wachstum)

• Wachstum (=starkes Wachstum, rasche Vermehrung)

• Sättigung

• Verdrängung

Inzwischen liegt so viel Beweismaterial vor, dass man diesen Sub-stitutionsprozess anhand vieler Beispiele nachweisen kann:

• Entwicklung des Automobilbestandes in einem Land

• Zunahme des Weltflugverkehrs und dessen Transportvolumen

• Welttankerflotte

• Primärenergieverbrauch bestimmter Länder

• technologische Substitution verschiedener Stahlherstellungs-verfahren

• Ablöse der Pferde durch Autos etc.

Auch wenn wir das Gefühl haben, dass heute vieles schnellergeht, ist der Innovationszyklus gleich geblieben. Der Abstand derInnovationswellen beträgt 55 Jahre.

Die derzeitige Welle lässt sich mit folgenden Eckdaten beschrei-ben:

• 1980: Mitteldatum zwischen Innovation und Erfindung

• 1984: Beginn des Innovationsschubs

• 1993: 50% der Basisinnovationen waren realisiert und 50%der neuen Industrien gegründet, aber noch geringe Produkti-onskapazität

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• 2000: 90% der Innovationen sind getätigt. Danach setzteeine Aufwärtsentwicklung ein

Die Neuentwicklungen dieser 'Welle' sind:

• Informationsverarbeitung

• Genmanipulation

• Wasserstoffantrieb (Autos und Flugzeuge)

Die Zentren dieser Schlüsseltechnologien sind jeweils um führen-de Universitäten angesiedelt. Das sind in den USA:

• Universität Berkley,

• Universität Stanford,

• Massachusetts Institute,

• California Institute of Technology,

• in Europa:

• München,

• Dresden,

• Zürich

und in Japan:

• Kanagawa

Ausbildungsstätten produzieren die notwendigen Fachkräfte fürdie Industrie der Region.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts haben wir demnach zu wenig In-formationsarbeiter und zu viele manuelle Fabrikarbeiter.

"Wir haben auf der einen Seite das Beispiel von Volvo gehörtund wie viele Beschäftigte bei den Umstrukturierungen abge-baut wurden – das ist in vielen Bereichen vor sich gegangenund geht immer noch vor sich. Auf der anderen Seite gibt esden Bereich der Telekommunikation, wo immer wieder darauf

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hingewiesen wird, dass es nicht genug gut ausgebildete Mitar-beiter und Mitarbeiterinnen gibt. Also: auf der einen Seite müs-sen Leute gekündigt werden, auf der anderen Seite werdenLeute dringend gesucht. Das Problem ist nun, dass die, die hin-ausfallen, nicht jene sind, die gesucht werden."4

Arbeiter können aber nicht in Informatiker umgeschult werden.Ein bekanntes Telekommunikationsunternehmen hatte vor 15Jahren 2000 Mitarbeiter und hat auch heute noch 2000 Mitar-beiter. Vor 15 Jahren gab es noch eine Fabrik mit 1500 Arbei-tern. Aus der Fabrik wurde ein 'Workshop' mit 150 Mitarbeitern.Daneben entstand ein Softwarehaus mit über 1000 Ingenieuren.Praktisch wurden 1000 Arbeiter gekündigt und 1000 Softwarein-genieure neu eingestellt.

Ausgelöst wurde die große Flexibilität in der Wirtschaft auchdurch den Wegfall der Monopole. Industrien der vorigen Jahr-hunderte waren oft monopolistisch. Monpolistisch in Branchen,die heute unvorstellbar sind. So war die Herstellung von Bleistift-minen in der österreichisch-ungarischen Monarchie ein Monopolder Firma Hardtmuth.

"Produziert wurden neben Geschirr insbesondere Bleistifte mitMinen aus einer Graphit-Ton-Mischung, für deren ErzeugungHardtmuth im Jahr 1812 beim Kaiser ein 'Privilegium exclusi-vum', also ein Monopol erhielt."5

Später wurden Wirtschaftszweige aus strategischen Gründen mo-nopolisiert – so die Telekommunikation, weil sie militärstrate-gisch wichtig war. Erst am Ende des 20. Jahrhunderts wurdedieser Wirtschaftszweig wieder liberalisiert. Mit diesem Schritt,der in Nordamerika einige Jahrzehnte früher einsetzte, kam es zu

4. Lassnig, Lorenz, in: Huber, Hanspeter/Rosenberger, Sigrid: Österreich inder Welt von morgen, Wien 1999, S. 47.5. Komlosy, Andrea (Hrsg.): Industrie-Kultur Mühlviertel Waldviertel Südböh-men, Wien 1995, S. 151.

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einer grundlegenden Veränderung der Wirtschaft. Dies veränder-te wiederum die soziale Ordnung unserer Gesellschaft von derIndustrie hin zum Wissen:

"Wenn Wissen in steigendem Maß nicht nur als konstitutivesMerkmal für die moderne Ökonomie und deren Produktions-prozesse und -beziehungen, sondern insgesamt zum Organisa-tions- und Integrationsprinzip und zur Problemquelle dermodernen Gesellschaft wird, ist es angebracht, diese Lebens-form als Wissensgesellschaft zu bezeichnen."6

Für diese heutige Gesellschaft gibt es mehrere Bezeichnungen:

• Dienstleistungsgesellschaft,

• Informationsgesellschaft,

• Wissensgesellschaft,

• postindustrielle,

• postmoderne,

• postmaterialistische,

• Risikogesellschaft,

• Wohlfahrtsgesellschaft,

• Erlebnisgesellschaft etc.

Allein die Vielzahl an Begriffen zeigt die Mobilität der heutigenMenschen. Sie leben in mehreren Gesellschaften und wechselndiese nach Bedarf. Gleichzeitig stehen sie aber auch im Wider-spruch zueinander. Sozial- und Wohlfahrtsgesellschaft sind einBeispiel dafür.

"Wenn man auf die Zahlen und Daten schaut, dann müßte essich im Grunde bei den europäischen Wohlfahrtsgesellschaften

6. Stehr, Nico: Die Zerbrechlichkeit moderner Gesellschaften, Vortrag am 2.Juni 2000 im Rahmen des Kongresses 'Kommunikationskulturen zwischenKontinuität und Wandel' in Wien

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um unglaublich solidarische Systeme handeln, gab es doch niezuvor in der Geschichte ein größeres Umverteilungsvolumen,das wohlfahrtsstaatlich eingesammelt, administriert und verteiltwird. Dennoch haben wir das Gefühl, die 'wirkliche' Solidarität,von Angesicht zu Angesicht ausgeübt, würde versickern, würdevon Brutalität, Eigennützigkeit, Oberflächlichkeit und Selbstbe-zogenheit abgelöst."7

Die bisher besprochenen Zyklen sind nur mittel- und kurzfristig.Der darüber hinausgehende Wechsel wäre der von der Biosphä-re zur Neosphäre – vom Erdgebundenen zum Wissensbezoge-nen.

Die Veränderung hin zur Wissensgesellschaft vermittelt erstein-mal den Eindruck, als würde sich die Menschheit weg vom Tieri-schen hin zum Besseren und geistig Bezogenen entwickeln. Einepochaler weltgeschichtlicher Wechsel, den wir heute noch nichtbeurteilen können. Zu klein und zu kurz ist unser menschlichesLeben und unser Denken, um diesen Wechsel wirklich beurteilenzu können.

2. Kommunikationsverhalten

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts stehen wir vor einer großen kul-turellen Veränderung. Sowie 500 v. Chr. im antiken Griechen-land der Wechsel von der 'Sprechkultur' zur 'Schriftkultur'stattfand8 kommt jetzt die 'Multi-Media-Kultur'. Dadurch wird un-sere Kommunikation 'entlinearisiert'.9

7. Prischnig, Manfred: Die bröckelnde Solidarität, in: Bernhofer, Martin: Fra-gen an das 21. Jahrhundert, Wien 2000, S. 145.8. Sokrates (469 bis 399 v.Cr.) schrieb keine Zeile; für Aristoteles (384 bis322 v.Chr.) war die Schrift schon selbstverständlich9. siehe auch Rauch, Wolf: Informationsethik. Die Fragestellung aus der Sichtder Informationswissenschaft, in: Kolb, Anton/Esterbauer, Rheinhard/Rucken-bauer, Hans-Walter: Cyberethik. Verantwortung in der digital vernetzten Welt,Stuttgart 1998.

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Die schriftliche Sprache zwingt zur sequentiellen Abarbeitung vonWörtern und Sätzen. Neue Medien erlauben assoziative Verbin-dungen und das Wechseln von einem Gedanken zu einem an-deren, ohne das Gesamtkonzept zu verlassen. Diese Ver-änderung der Aufnahme von Wissen ist bereits messbar: In indu-strialisierten Ländern, also jenen, wo neue Lernmethoden ange-wendet werden, nehmen die Werte bei Intelligenztests zu.10 EineZunahme des Gehirnvolumens ist aber nicht nachweisbar.

Der Lebensstil unserer Gesellschaft ändert sich auch durch ver-stärkte Mobilität. Dies führt zu Individualisierungstrends mit denAnforderungen:

• Hier (wo immer das ist)

• Jetzt (man will nicht warten)

• Für mich (nicht mit jemandem anderen teilen müssen)

2.1. Grenzen der Informationstechnologie

Die neuen Medien sind nur ergänzend, also additiv zu den tradi-tionellen Wirtschaftsinstrumenten zu sehen. Das Arbeiten mitdem Computer kann Teile der alten Wissensvermittlung ersetzen.Aber nicht alles kann ersetzt werden. Die Telekommunikationbaut Hierarchien ab und wendet sich direkt an den Wissensträ-ger. Der einzelne Arbeiter steht in der Hierarchie des Netzes aufgleicher Stufe wie sein Vorgesetzter. Dasselbe ist in der Schuleder Fall. Der Lehrer wird im Internet dem Schüler gleichgesetzt.

Die Grenzen der Telematik liegen im Transport der Informatio-nen. 7% der Kommunikation beziehen sich auf den Inhalt, 33%auf die Stimme und 60% sind nonverbale Signale wie Stimmungund Körpersprache, die sehr limitiert über neue Medien transpor-

10. Rötzer, Florian: Eintritt in die Medienwelt und die Aufmerksamkeitsökono-mie, in: Bernhofer, Martin: Fragen an das 21. Jahrhundert, Wien 2000,S. 282.

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tiert werden können. Auch der Traum, dass das Netz keine Gren-zen kennt, stimmt nicht. In Teilen Schwarzafrikas wurde erst 1960das Transistorradio eingeführt. Nach über 30 Jahren hat es inder schwarzen Bevölkerung eine Verbreitung von nur 20%. War-um? Der Preis eines Radioapparats beträgt ein halbes Jahresge-halt eines Einheimischen. Wann soll diesen Völkern Internetzugänglich sein?

Die Entwicklungsländer sind vom digitalen Fortschritt abgekop-pelt. Die Verteilung der Internetnutzer sieht so aus:

• 43,2% Nordamerika

• 28,2% Europa/GUS

• 20,6% Asien/Pazifik

• 5,6% Lateinamerika

• 2,4% Afrika/Mittlerer Osten11

Diese ungleiche Verteilung findet in den Kosten für den Compu-terkauf seinen Niederschlag. In Deutschland ist der Aufwand zurAnschaffung eines PCs ein Monatsgehalt; in Bangladesh sind eszehn Jahresgehälter!

Das Vorhandensein und der Zugang zu den neuen Medien isteine Grundvoraussetzung. Der viel wichtigere Faktor wird abersein, was wir damit machen. Mit der zunehmenden Medialisie-rung des Lebens wird auch die geistige Trägheit enorm um sichgreifen. Dienstleistungen jeder Art, von der Hauszustellung bis zuintelligenten Suchprogrammen werden uns bedienen. Zumindestdiejenigen, die sich diese Dienste leisten können. Andererseits istnicht anzunehmen, dass der Zugang zu immer mehr Daten heißt,dass wir alle intelligenter werden. Wer ein guter Wissensarbeitersein will, kommt um eine breite und gleichzeitig vertiefte Allge-meinbildung nicht herum. Um in der Datensphäre erfolgreich zu

11. In: Die Woche vom 28. April 2000, S. 12.

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sein, genügt es nicht, über einen Internet-Anschluss zu verfügen.Und es reicht auch nicht, wie die Digitalniks immer behaupten,dass unsere Nachkommenschaft flink mit dem Gameboy zu han-tieren versteht. Kreativ mit modernen Kommunikationswerkzeu-gen umzugehen wird weiterhin ein relativ rares Talent sein. Dieseneuen Technologien geben aber auch die Chance, das koope-rative Lernen zu fördern. Studierende werden angeregt sich Wis-sen selbst anzueignen und von anderen Studierenden zu lernen.

Die empirische Forschung zeigt, dass eine Ausweitung des Fern-sehangebotes den Konsum nicht mehr steigert. Selbst bei 50 undmehr Fernsehkanälen nutzt der Mensch in der Regel maximal 13!Um aus einem umfangreichen Angebot konsumieren zu können,braucht er Navigationssysteme, die ihm bei der Auswahl helfen.Die Zerbrechlichkeit der heutigen Gesellschaft liegt weniger ander Globalisierung und der Internationalisierung der Wirtschaft,sondern an der Konzentration des Wissens. Wir können heuteeine Wissensverschiebung feststellen. Die Wissenschaft ist nichtmehr der Schlüssel zum Zugang der Geheimnisse der Welt. DieWirklichkeit wird auf Basis der Wissenschaft eingerichtet. Früherwar das Wissen ein Modell zur Beschreibung der Realität. Wissenund Technik dringt heute in alle Bereiche des Lebens. DieseEmanzipation bringt aber auch Verunsicherung. Wissenschaftstellt nicht Gesichertes vor, sondern begründete Annahmen, diezwar Diskussionsgrundlagen, aber keine Lösungen sind. Fach-wissen schützt nicht vor Machtverlust. Die traditionellen Organi-sationen wie Kirche und Staat werden von kleinen Gruppenunterminiert und abgelöst. Mit Hilfe der neuen Kommunikations-technologien können kleine Gruppen von Akteuren viel beein-flussen.

2.2. Shift of Skills

Früher haben Manager diktiert und die Sekretärinnen vom Bandgetippt. Heute, mit dem Personalcomputer, schreibt sich der Ma-

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nager den Text selbst. Die Sekretärin wurde von der 'Schreibkraft'zur 'Sachbearbeiterin' und der Manager wurde seine eigeneSchreibkraft. Diese Veränderung passierte unspektakulär undohne Vorankündigung. Hätte der Chef einer Firma in einemRundschreiben angekündigt, dass ab einem bestimmten DatumSekretärinnen abgeschafft würden, wäre Unmut ausgebrochen.Es passierte so, wie bürgerliche Familien vor 100 Jahren ihrDienstpersonal verloren. Waschmaschinen, Staubsauger und ra-tionelle Küchen machten die Hausarbeit leichter.

Dazu kommt noch ein gesellschaftlicher Wandel, der neben demVermitteln von reinem Fachwissen mit berücksichtigt werdenmuss. Am Ende des 20. Jahrhunderts standen wir vor einer gro-ßen kulturellen Veränderung. 500 Jahre vor Christi Geburt fandim antiken Griechenland der Wechsel von der 'Sprechkultur' –das Wissen wurde durch Auswendiglernen und sprachliche Wei-tergabe erhalten – zur 'Schriftkultur' statt. Schrieb Sokrates (469bis 399 v.Chr.) noch keine einzige Zeile auf, so war für den inder nächsten Generation geborenen Aristoteles (384 bis 322v.Chr.) die Schrift eine Selbstverständlichkeit:

"Noch Sokrates, der zum Inbild des weisen Menschen gewordenist, war ein Freund der Rede und ein Gegner des geschriebenenWortes, obwohl uns seine Worte nur in Aufzeichnungen seinesSchülers Plato überliefert sind."12

Heute findet ein ähnlich revolutionärer Wechsel statt. Von der'Schriftkultur' hin zur 'Multi-Media-Kultur'. Dadurch wird unsereKommunikation 'entlinearisiert'. Die schriftliche Sprache zwingtzur sequentiellen Abarbeitung von Wörtern und Sätzen. NeueMedien erlauben assoziative Verbindungen und das Wechselnvon einem Gedanken zu einem anderen ohne das Konzept zuverlassen. Parallel dazu entwickelt sich unsere Bürokorrespon-

12. Frühwald, Wolfgang: Zeit der Wissenschaft. Forschungskultur an derSchwelle zum 21. Jahrhundert, Köln 1997, S. 129.

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denz vom 'Schreiben' hin zum 'Sprechen'. In jedem Fall wird sieschneller. Wurde ursprünglich alles mit Briefen ausgetauscht, sobeschleunigte das Fax und heute die E-Mail die Bürokorrespon-denz. Geschäftspartner müssen rascher und schneller reagieren.Sprachtechnologien wie Voicemail, Sprachspeicher Mobilboxund Videokonferenz bringen neue Kommunikationsformen undsind wieder schneller.

Waren gute Berichteschreiber gute Manager, so wird diese Ei-genschaft zunehmend weniger gefragt sein. Das Geschäftslebenwird noch schneller laufen und, bedingt durch Technologien wieVoice-Mail, Spracherkennung und Videokonferenzen, werdenNachrichten zunehmend mündlich weitergegeben. Die Qualifi-kationen des Managers werden mehr im persönlichen Präsenta-tionsstil liegen müssen. 'The people who can write brilliantly arein the driver´s seat right now. In the networked world, they will beless dominant and less relevant.' Bei geschriebenen Meldungenhatte man noch die Chance, um alles richtig verstanden zu ha-ben, den Text ein zweites oder drittes Mal zu lesen. Bei mündli-cher Kommunikation muss genau zugehört und die Entscheidungnach dem ersten Anhören getroffen werden. Wurden Managermit dem Fax zu rascheren Antworten und Reaktionen gezwungen,so wird dies mit Videokonferenztechnik noch um eine Dimensionbeschleunigt. Videokonferenzen werden durch die verbessertenNetze immer stärker verbreitet. Dieses Marktsegment verdoppeltsich in Europa derzeit alle zwei Jahre.

Durch diese internationale Vernetzung wird es auch möglich, dassder Schneeballeffekt des 'Voneinander Lernens' stark beschleunigtwird. Das 'Miteinander Lernen' in der Schulklasse kann so in die gro-ße Welt hinausgetragen werden. Virtuelle Klassenzimmer entstehen,in denen Eignungsgruppen und Workshops entstehen, die in der tra-ditionellen Schulorganisation nicht möglich wären. Die Ressource'Mensch', von der man lernen kann, vermehrt sich im Netz und passtsich auch den persönlichen Eignungen an. Jeder Lernende kann

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sein eigenes Eignungsteam zum gemeinsamen Lernen zusammen-stellen. Gemeinschaften finden sich, die rascher ans Ziel kommenals von der staatlichen Organisation vorgegebene Schulklassenein-teilungen. Neue Medien, Kommunikations- und Computertechno-logien verändern die Gesellschaft, unser Verhältnis mit diesenWerkzeugen und unsere Art und Weise der Ausbildung.

2.3. Virtualität

Durch Mensch-Computer-Netzwerke entstehen neue Virtualitä-ten; Geisteswelten, die aus dem Vorstellungsvermögen des Men-schen entstehen und die es immer schon gegeben hat. Wo aberliegt der Unterschied zwischen einem geträumten Traum und ei-ner vom Computer vorgespielten irrealen Welt?

Für Manfred Faßler ist "Virtualität

• ein physiologisches (sinnlich-nervöses),

• ein biographisches (wahrnehmungsgebundenes) und

• ein infographisches Prinzip (an die erkennbare Gegenständ-lichkeit der Codes) der Formgebung."13

Die Computervirtualität kann auf Programmcodes reduziert wer-den, während beim menschlichen Traum nur die geistige Interpre-tation ausschlaggebend ist. Löst sich Realität in Virtualität auf? EineBefürchtung vieler postmoderner Philosophen, die nicht eintretenwird. Der Golfkrieg war nicht virtuell, er war real, aber trotzdemvon der amerikanischen Armee gemeinsam mit CNN manipuliert.Nur jene Bilder wurden gezeigt, die von der Zensur gewünscht wa-ren. Das Ereignis, das geschehen ist und das transportiert wird, istunterschiedlich. Die Computervirtualität gibt dem Menschen mehrMobilität. Es können Dinge über ein Netzwerk herbeigeholt wer-den und (fast) überall sichtbar und wiederholbar gemacht werden.

13. Faßler, Manfred: Cyber-Moderne. Medienrevolution, globale Netzwerkeund die Künste der Kommunikation, Wien 1999, S. 225.

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3. Kommunikationstechnologien

Die neuen Telekommunikationstechnologien ermöglichen mehrMobilität. Mobilität im privaten und im beruflichen Bereich. Mo-bilität in der realen und in der virtuellen Welt:

"Die Gemeinsamkeit dieser sich abzeichnenden Revolution derneuen Technologien scheint zu sein, dass sie – ganz allgemeingesprochen – den Raum überwinden, die Ortsbindung aufhe-ben. Sie machen Teilhabe ohne Anwesenheit möglich."14

Telekommunikation erlaubt eine zeitgleiche und direkte Kommu-nikation auf der ganzen Welt. Telekommunikation ist

• "geographisch unabhängig,

• informationsunabhängig sowie

• benutzerunabhängig"15

Der Telekom-Weltmarkt zählt heute mit über 500 Milliarden Eurozu den größten Wirtschaftszweigen. Fast 50% der Telekommuni-kations-Investitionen erfolgen in Europa, ein Viertel in Nordame-rika, 20% im Fernen Osten und nur wenige Prozentpunkte in denEntwicklungsländern Zentral- und Südamerikas, Asiens und Afri-kas (1,6%!). Der Breakeven in der Telefonie zwischen Amerikaund Europa geschah 1980. Ab diesem Zeitpunkt hatte Europamehr Telefonanschlüsse als die USA. Mit berücksichtigen mussman dabei aber auch, dass Europa fast drei Mal so viele Einwoh-ner hat als Amerika.

14. Guggenberger, 1998, S. 13.15. Schorlemer, Sabine von: Globale Telekommunikation und Entwicklungs-länder. Die Liberalisierung von Telekommunikationsdiensten in GATT/WTO,Baden-Baden 1999, S. 44.

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Die Sprachkommunikation wird zunehmend 'wireless'. Die heuti-ge Gesellschaft wird von drei Technologien beeinflusst:

• Mobile Kommunikationstechnologie,

• Digitalisierung und

• Netzwerke.

Digitalisierung

Mobile Informationsgesellschaft

Mobiltechnologie Netzwerktechnologie

Professor Liessmann16 nennt die neuen Kommunikationstechno-logien 'Mitteilungstechnologien', die auf die Einführung des öf-fentlichen Briefverkehrs zurückgehen. Mit dem Briefeschreibenentstand die 'Subjektivität'. Die heutigen elektronischen Techno-logien beschleunigen dies und personalisieren den Menschen. Erkann

• an jedem Ort,

• zu jeder Zeit

senden und empfangen.

Die Telefonnummer wurde zu einem persönlichen Bestandteildes Menschen. Rief man früher einen Telefonapparat an, umMenschen zu erreichen, so ruft man heute Menschen an, die ei-

16. Univ. Prof. Dr. Konrad Paul Liessmann, Universität Wien.

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nen Apparat haben. Vielleicht wird dieser bald im Körper implan-tiert sein. Die neuen Mitteilungstechnologien sind demnach'körpernahe Mitteilungstechnologien'.

3.1. Veränderungen durch Digitalisierung

Digitalisierung und Globalisierung haben zu einer Beschleuni-gung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Prozesse ge-führt. Dies bringt eine Polarisierung der Gesellschaft in

• Gewinner und

• Verlierer.

Die neuen Medien verändern unsere Welt und sie ändern sichauch selbst: Alles, was früher über Kabel übertragen wurde, gehtheute schnurlos und alles, was heute schnurlos geht, tendiert zueiner Kabelübertragung. Fernsehen ändert sich durch die Digita-lisierung und wird zunehmend über das Telefonnetz übertragen.Man kann das gewünschte Programm abrufen, wann immer manwill. Um die aktuellen Nachrichten 'Zeit im Bild' zu sehen, mussman nicht um 19.30 Uhr seinen Fernseher in Betrieb setzen, son-dern kann diese News-Sendung zu jeder beliebigen Zeit sehen.'Pay TV Sendungen' können über das Telefonnetz übertragen undüber die Telefonrechnung abgerechnet werden. Analog zu dengebührenfreien Nummern entstehen auch Telefonnummern, diekommerziell verwertet werden und deren Tarife individuell defi-niert werden können.

Das verändert aber auch das Leben der Redaktionen; der Redak-tionschluss ist überflüssig geworden. Sendungen sind in einerNews-Datenbank gespeichert und werden kontinuierlich aktuali-siert. Die Individualisierung der Kommunikationstarife wird auchAuswirkungen auf das Bildungssystem haben und Politikern seiempfohlen niedrigere 'Bildungstarife' einzuführen. Heute werden'dumme' und 'gescheite' Inhalte zum selben Preis transportiert.Zukünftig soll es hier eine Unterscheidung geben. Wissenstrans-

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port beeinflusst den internationalen Status eines Landes, mittel-und langfristige Tarife für Telekommunikation sollen aus strategi-schen Gründen billiger werden.

3.2. Das Telefon

Schneller und mobiler zu sein war immer ein Menschheitstraum.In Amerika wurde diese Technologie erstmals positiv wahrge-nommen, als die Meldung vom Wahlsieg per Telefon schnellerverbreitet wurde als mit der Eisenbahn. Schon der Vorläufer desTelefons, der Fernschreiber, war für einzelne Länder strategischwichtig.

Napoleon baute windmühlenähnliche 'Telegrafen'. Aus der Stel-lung der Zeiger der Windmühle konnte eine bestimmte Informa-tion abgelesen werden. Auf Sichtweite wurden diese Telegrafenentlang der Grenze errichtet und konnten Veränderungen raschweitergeben. Der Nationalkonvent Frankreichs bewilligte 1794die erste Telegrafenstrecke zwischen Lille und Paris. Die Überle-gungen dazu waren rein politische und militärische: man wolltedie Truppen schneller erreichen. Das Telefon hat aber die 'Face-to-Face-Kommunikation' nicht verdrängt. Der erste Satz, denGraham Bell über sein erfundenes Telefon sprach war "Mr. Wat-son – come here – I want to see you." In der westlichen Welt istdas Telefon in allen Haushalten vertreten. In so manchen Ent-wicklungsländern jedoch noch elitär. Dies zeigt auch, dass eseine Abhängigkeit von Telekommunikationseinrichtungen undReichtum eines Landes gibt. Länder mit hohem Bruttonational-produkt haben eine hohe Telefondichte.

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Quelle: eigene Darstellung

Allein das Beispiel 'Telefon' zeigt die neue gesellschaftliche Ver-teilung. Eine Verteilung in drei Dritteln.

Zum unteren Drittel werden gehören

• die Minderbegabten,

• jene, denen die nötige Ausbildung fehlt,

• ältere, die sich nicht mehr an die rasche Umstellung anpas-sen können und

• hochgebildete Menschen, die sich der Beschleunigung undder neuen Economy verwehren.

Weltweit gab es 1998 788,460 Millionen Telefonanschlüsse. In-klusive der Nebenstellen (Sprechstellen) waren das zirka 1,5 Mil-liarden Telefonanschlüsse. Die Hauptanschlüsse teilten sich wiefolgt auf:

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• Europa 288,718

• Amerika 239,887

• Asien 232,576

• Afrika 15,469

• Australien/Ozeanien 11,810

Der Zuwachs beträgt weltweit 7,2%: Europa, mit der stärkstenSättigung 4,3% und Asien mit dem höchsten Nachholbedarf12,5%.

Das Telefon wird immer mobiler. Jeder Mensch erhält eine Kom-munikationsnummer. Zuhause sucht das Schnurlostelefon denSender des Heimtelefons, wenn man hinaus geht, sucht dieserden Empfang mit einem öffentlichen Netz.

In diesem Jahrhundert wurde unsere Gesellschaft immer mobilerund beweglicher. Den Reifegrad der Mobiltelekommunikationmachte mir ein kleiner Bub am Flughafen bewusst. Als die Flug-gäste aus dem Flugzeug ausstiegen, begannen viele Managerbereits im Bus zu telefonieren. Dass sie gut gelandet seien; ob esim Büro Neues gäbe. Der 5-jährige Bub sah diese telefonieren-den Männer, zog sein Plastiktelefon aus dem Rucksack, drückteeinige Tasten des Playmobiltelefons und sprach "Hallo! Hier istMarkus. Ist dort der Kindergarten? Ich bin soeben gut gelandet.Geht es gut bei Euch? Was spielt Ihr gerade? ....." Das Mobilte-lefon hat unser Leben verändert und ist Teil unseres Lebens ge-worden.

Weltweit gibt es über eine Milliarde Telefonanschlüsse. In dennächsten Jahren kommen nochmals so viele Mobiltelefone hinzu.In den entwickelten Ländern der westlichen Welt gibt es bereitsmehr Mobiltelefone als Festnetzanschlüsse (verkabelte Telefone).In Österreich etwa gibt es 4,5 Millionen fixe Telefonanschlüsseund seit Beginn 2000 ebenso viele Mobiltelefonnutzer. Im Jahr

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2004 hatten wir weltweit ebenfalls über eine Milliarde Mobiltele-fone. 350 Millionen werden nicht nur für Sprachkommunikation,sondern auch für Datendienste verwendet werden.

In den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts hat sich die Anzahl derösterreichischen Mobiltelefonnutzer jedes Jahr verdoppelt:

Die 'Wireless World' ist aber noch viel größer. Zählt man alleFernbedienungseinrichtungen, die wir benutzen, hinzu, dannkommen wir pro Haushalt auf vielleicht ein Dutzend mobiler Ter-minals. Sei es der Schlüssel, der mit Fernsteuerung die Autotürenöffnet, sei es die Fernbedienung für Fernseher oder Radio, derGaragentoröffner oder das Schnurlostelefon für zuhause. Mobil-telefone werden auch in Geräten eingebaut. Zementsilos sind mitFühlern ausgestattet, die den Stand des Inhalts messen. Wird einMindeststand unterschritten, dann wählt er über ein eingebautesModem und meldet, dass er nachgefüllt werden muss. Computerwerden in Pillen eingebaut, die man schluckt und die ihre Mess-werte aus dem Körper heraus per Funk an einen Empfänger wei-tergeben. Der Arzt kann so kontinuierlich den Status desPatienten abfragen.

Tabelle 1:

Jahr. Mobilfunk-nutzer.

1997. 1,1.

1998. 2,2.

1999. 4,3.

2000. 5,7.

2004. 7.

2010. 25.

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Selbst Verpackungen von Produkten werden mit Mobiltelefon-funktionen ausgestattet. Die Milchpackung etwa, die meldet,wenn das Ablaufdatum überschritten ist oder die Medikamenten-packung, die den Patienten durch Anruf daran erinnert, dass erseine Tabletten einnehmen muss.

Wird das Mobiltelefon für andere Einsatzgebiete als Sprachkom-munikation eingesetzt, so nennt man das WAP (Wireless Applica-tion Programm). Mit WAP werden auch Zahlungsabwicklungendurchgeführt. Die Cola aus einem Automaten in einem fernenLand kann über die Telefonrechnung bezahlt werden. Die Rech-nung an der Tankstelle oder der simple Einkauf, den man auchmit Bargeld oder einer Kreditkarte bezahlen kann, wird über dieMobiltelefonrechnung abgewickelt. Parkscheine oder Eisen-bahntickets können via Mobiltelefon gekauft werden. Die immergrößeren Anforderungen an die Mobilkommunikation machenauch hier höhere Bandbreiten notwendig. UMTS (Universal Mo-bil Telephone System), der international standardisierte Dienst,wird dies ermöglichen. Neben höheren Bandbreiten, die auchFernsehbildübertragung ermöglichen, sollen die unterschiedli-chen Standards und Normen zusammengeführt werden. Reintechnisch ist es Internettelefonie.

Eine wesentliche Applikation im Mobiltelefonbereich sind ShortMessages (SMS). Hier ist eine enorme Zunahme zu verzeichnen.Wurden etwa im Oktober 1999 noch 2 Milliarden SMS weltweitverschickt, waren es zwei Monate später (Dezember 1999) schon3 Milliarden. Um beim vorhin zitierten Beispiel Finnland zu blei-ben: finnische Teenager verschickten 1999 pro Monat 100 SMS.50% ihrer Telefonrechnung ist für diese Applikation bestimmt.Die Europäische Union hatte ein Klima geschaffen, das die Ent-wicklung von GSM erlaubte und diese Technik auch eine Welt-machtstellung erreichen ließ. 1999 hatten 230 Telekom-munikationsbetreiber in 110 Ländern der Erde diesen Standardim Einsatz.

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Mit zunehmender Bandbreite im Mobiltelefonbereich könnenauch mehr Applikationen abgewickelt werden. WAP, das Wire-less Application Protocoll, erlaubt Anwendungen wie:

• E-Commerce

• Product Inventory

• Intranet, Internet

• Remote Calender

• Localised Services

• E-Mail,

um nur einige zu nennen.

Der Erfolg der Mobiltelefonie basiert auf:

• einheitlichen (europäischen) internationalen Standards,

• Liberalisierung und Wettbewerb,

• modernen Technologien,

• Marktbedürfnis und der

• Mobilität des Menschen.

Das Telefon als Gerät wird zunehmend in den Alltag und in un-sere Kleidung eingebaut. Warum soll jemand beim Skifahren denwärmenden Handschuh ausziehen und die warme Wollmützehochklappen, um zu telefonieren? Das könnte doch in der Klei-dung integriert sein.

Warum tragen wir neben der Aktentasche oder Handtasche eineeigene Computertasche? Warum wird der Lap Top nicht in dieTasche integriert?

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2004.1 Radio

Auch das Radio wird sich ändern. Mit dem 'Radio Daten System'können automatisch bestimmte Programme oder Angebote ge-sucht werden. Mit zunehmender Liberalisierung gibt es immermehr Radioprogramme, die eine manuelle Programmwahlschwierig machen. Das RDS hilft bei der Suche. Andererseitskommt es zum 'digitalen Radio', bei dem nur mehr digitale Datenübertragen werden. Eigene Endgeräte werden notwendig, umdiese zu entschlüsseln und hörbar zu machen. Verbreitung wirddiese Technologie nicht wegen ihrer besseren Qualität finden,sondern um die Frequenzknappheit zu überbrücken. In Frank-reich gibt es über 300 Privatsender. Allein Paris hat über 100 Ra-diounternehmer. Österreich liberalisierte im Jahr 1997 300Firmen und Vereinigungen hatten um eine Lizenz angesucht. Ausfrequenztechnischen Gründen konnten sie nur 50 bekommen.Digitales Radio wird mehr erlauben. Zwischen einem'telefonierenden Radio' und einem 'Telefon mit Radioprogramm'wird man nicht mehr unterscheiden können. Digitalradio ist reintechnisch betrachtet sehr ähnlich dem Mobiltelefon. Mobiltelefo-nie wird teilweise im Frequenzbereich 1800 MHz übertragen undDigitalradio bei 2100 MHz. Ein Operator kann einen Großteilseines Übertragungsnetzes – sprich Sender, Netzversorgung etc.– verwenden. Mit dem Digitalradio bekommt die Telekommuni-kation neue 'Player'. Fernsehanstalten und Privatradiounterneh-mer können als Servicedienstleistung auch Internet oderTelefonie anbieten. Auch die Endgeräte verschmelzen. Autora-dios haben Telefonfunktionen und die Stereoanlage im Wohn-zimmer wird zur zentralen Telefonanlage.

2004.2 Fernsehen

Monopole können speziell beim Medium Fernsehen nicht mehraufrecht erhalten werden. Nationale Gesetzgeber können einVolk nicht mehr abschirmen. Satelliten-, Internet- und Kabel-TV-

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Technologien bringen ausländische Sender ins Land. In Öster-reich hatten trotz fehlendem Privatfernsehen mehr als dreiviertelder Bevölkerung ausländischen Fernsehempfang.17ProzentualeVerteilung von Empfangstechniken in österreichischen Haushal-ten:

• Kabel- und/oder Satelliten-TV = 78%

• Kabel TV = 40,5%

• SAT-Anlagen = 39,4%

2004.3 Internet

Mit Internet kommt die große Welt der Kommunikation auch indie Haushalte. Die Zuwachsraten zeigen dies. Über Zahlen zusprechen ist schwierig. Eine Zahl, die man hier schreiben würde,wäre bereits bei ihrer Drucklegung überholt. 1999 gab es 18618

Millionen Internetbenutzer. Im Jahr 2010 rechnet man mit 1 Mil-liarde Teilnehmer. Internet macht auch keinen Unterschied mehrbei Generationen. Nach und nach ist die Gesamtbevölkerungrepräsentativ vertreten. Zum Wachstum meint Zerdik: "Ein Inter-netjahr verläuft siebenmal so schnell wie ein normales Jahr."19

Für Unternehmer ist es daher wesentlich, bereits vorausschauendTrends richtig zu erkennen und im eigenen Unternehmen zu be-rücksichtigen.

• Verschiedene Medien verschmelzen zum Internet-StandardSprachkommunikation, Audio und Video werden technolo-gisch im Internet verschmelzen. Die Digitalisierung verschie-

17. Quelle: ORF, Fessel*GfK, Integral; Stand 3. Quartal 1999.18. NN: E-Commerce-Euphorie, GFK Marktforschung, in: Effecten Spiegel,2/1999, Heft 31/99, S. 2.19. Zerdick, Axel/Picot, Arnold/Schrape, Klaus/Artope, Alexander/Goldham-mer, Klaus/Lange, Ulrich, T./Vierkant, Eckart/Lopez-Escobar, Esteban/Silver-stone, Roger: Die Internet-Ökonomie. Strategien für die digitale Wirtschaft,Berlin/Heidelberg 1999, S. 136.

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Technologie und Datenmobilität

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dener Medien lässt es zu, diese gemeinsam zu übertragen.Internetstandards wie TCP/IP oder HTML werden sich auch inanderen Technologien durchsetzen

• Multimedia Internet: Wie schon im Punkt vorher ersichtlich,wird Internet zu einem multimedialen Dienst.

• Sinkende InternetnutzungskostenDurch immer stärkere Verbreitung werden auch die Preise,sowohl auf der Nutzer-, als auch auf der Anbieterseite fallen. Speziell die Öffnung der Telekommunikationsmärkte im Ja-nuar 1998 hat eine deutliche Kostensenkung bewirkt.

• USA – Europa: Der Abstand zwischen Europa und den USAwird kleiner werden.

• Werbung im InternetWurden im Jahr 1995 noch 32 Millionen US $ im Internet fürWerbung ausgegeben, so waren es im Jahr 2000 2,8 Milli-arden US $.20

• Neue und einfachere EndgeräteZukünftig werden neben dem PC weitere internetfähige Ter-minals auf den Markt kommen. Der Computer wird integrier-ter Bestandteil in anderen Geräten und so kann auch eineUhr, ein Mobiltelefon, ein Küchenherd oder eine zu ver-schluckende Pille (eatable Computers) Internetzugang erhal-ten. Die immer einfachere Bedienung bringt den Zugang vonPersonengruppen, wie älteren Menschen, die sich bis datomit dem Internet nicht auseinander gesetzt haben. Mobiltele-fone haben eine höhere Verbreitung als Personal Computerund werden zunehmend als Internetterminal verwendet.

• Höhere Bandbreiten

20. Bhattacharjee, Edda: Profi.M@arketing im Internet. Erfolgreiche Strate-gien, Konzepte und Tips, Freiburg/Berlin/München 1998, S. 11.

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Sowohl die Übertragungsgeschwindigkeit als auch dieMenge der übertragbaren Daten werden bei sinkenden Prei-sen zunehmen. Dadurch werden Applikationen wie Video OnDemand (Fernsehen nach Bedarf) realisierbar werden. Fern-sehen und Internet etwa verschmelzen zu einem Dienst.Videokonferenz wird zu einer Haushaltsapplikation.

• Vom Massenmarketing zur IndividualisierungBedingt durch die Interaktivität des Internets kann mehr aufdie Bedürfnisse und Wünsche des Nutzers eingegangen wer-den. Es können individuelle Angebote unterbreitet werden.

• Virtuelle InteressensgemeinschaftenFür das traditionelle Zielgruppenmarketing entsteht eineneue Zielgruppe: die 'virtuellen Interessensgemeinschaften'.Im Internet entstehen rascher Freundschaften als in der realenWelt, nur sind sie rein zweckorientiert. So rasch sie entstehen,gehen sie wieder auseinander, wenn der Zweck erfüllt ist.Dem muss vermehrt Rechnung getragen werden.

• Zerfall von konventionellen WertschöpfungskettenTraditionelle Wertschöpfungsketten können rasch zerfallen.Vertriebshierarchien können durch einen direkten Internetver-trieb ersetzt werden. Käufer und Verkäufer werden zuneh-mend stärker vernetzt.

• IntranetsNeben dem öffentlich zugänglichen Internet entstehen ge-schlossene Benutzergruppen (=Intranet) im Rahmen von Fir-menverbänden. Diese wachsen schneller als das Internet.

Internet und Mobiltelefonie entwickeln sich parallel. Mobiltele-fonterminals übernehmen zunehmend die Internetapplikationen;lösen auf diesem Gebiet den klassischen Personal Computer ab.

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Aufgewendete Zeit für Mobiltelefon und Internet:21

Mobiltelefonie 1998: 160 2005: 550

Internet 1998: 45 2005: 199

1998.1 Electronic Mail

Die Kosten von Dienstleistungen sind gestiegen. Die Kosten einerBriefzustellung übersteigen zum Beispiel bei weitem den Preis derBriefmarke, da ein Brief mit Auto, Bahn und Flugzeug transpor-tiert wird, um letztendlich von einem Briefträger in den x-ten Stockgetragen und in den Briefkasten geworfen zu werden. Eine Voll-kostenrechnung würde diese Transportart immer unbezahlbarermachen. Die Alternative ist die elektronische Übertragung. DasTelefax war eine erste Vorstufe dazu. Rascher und schneller wur-den Briefe übertragen. Nun erspart man sich auch das Ausdru-cken und Kopieren und verschickt gleich die digitalisierte Formdes Briefes. Email erscheint nicht mehr als Wunder, wenn man esdigitales Fernkopieren nennt.

Das WWW – World Wide Web – entstand am europäischenHochenergieforschungszentrum CERN in Genf und ist heute deram schnellsten wachsende Dienst im Internet. 1999 konnten fast200 Millionen Menschen in allen Kontinenten elektronisch er-reicht werden.

21. Vortrag von Sani Baldauf: Nokia Networks, Oulu/Finnland, 24.3.2000.

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Entwicklung der weltweiten Internetnutzer22

Jahr Internetuser in Millionen

1997 113

1998 148

1999 186

2000 231

2001 279

2002 329

2010 1.000

Ein wesentlicher Träger für E-Mails werden die Mobiltelefone.Das Handy kann fotografieren und dieses digitale Bild kann perE-mail als elektronische Postkarte verschickt werden. Den Text,den man normalerweise auf eine Postkarte schreibt, diktiert manins Handy und schickt ihn mit dem Bild mit.

2010.1 Multimedia

Multimediale ist die Vereinigung der Geräte Fernseher, Telefonund PC zu einer Maschine. Diese Kombination erlaubt neue Ar-ten des Einkaufens (Teleshopping), Telelernens und der Telear-beit. Informationen können als Bewegtbild, als Stehbild, als Tonoder Text empfangen werden. Jede Information hat eine Mittei-lungsform, die ihr am besten liegt. Es macht einen Unterschied,ob man eine Nachricht spricht, zeichnet oder schreibt.

Multimedia Kommunikation kann online oder offline erfolgen.Die Informationen können über Datenleitung von einer Daten-

22. NN: E-Commerce Euphorie, Vorsicht vor zu großer E-Commerce Eupho-rie, GFK Marktforschung, "Kaum ein Internethändler verdient derzeit wirklichGeld", in: Effecten Spiegel, Jahrgang 1999, Heft 31/99, S. 2.

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bank kommen oder auf einer lokalen CD gespeichert sein. Kom-binationen von offline und online Multimediakommunikationsparen Kommunikationskosten. Der Schwerpunkt des Multime-diageschäfts liegt nicht in der Hard- oder Software bzw. im Netz,sondern im 'Content', also im Inhalt des Angebots. Im Jahr 2000werden bereits über 50% des Multimediageschäfts mit Contentgemacht.

Dies zeigen auch strategische Allianzen zwischen TV- und Filmin-dustrie und Telekommunikationsbetreibern. Bei Filmindustrie fälltuns sofort 'Hollywood' ein. Die internationale Szene der'elektronischen Informationsservices' verteilt sich weltweit wiefolgt:

Weltregion 1999

Westeuropa 40%

Nordamerika 50%

Andere 10%

Dies bescheinigt einen Nachholbedarf Europas gegenüberNordamerika. Internet und das World Wide Web sind die trei-benden Kräfte für die rasche Veränderung auf technologischemund organisatorischem Gebiet. Innerhalb der Informationstech-nologie stellen sie das stärkste Wachstum seit der Einführung desPCs Anfang der 80er Jahre dar.

Wir haben es mit weltweit einer Milliarde neuer Konsumenten zutun, die innerhalb eines elektronischen Marktes ein neues Käu-ferverhalten kreieren. Dies wird nicht nur einen Quantensprungbei der Benutzung der neuen Medien ergeben, sondern auch ge-sellschaftliche Veränderungen, die mit denen der Industrierevolu-tion im 19. Jahrhundert gleichzusetzen sind.

Das Zusammenführen von Text, Sprache, Bild und Daten ist erstein kleiner Schritt in Richtung Multimedialität. Gerüche, Tastzu-

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stände und Nonverbales sind noch viel wichtigere Faktoren zumKommunizieren. Bewässerungsanlagen können heute schonFeuchtigkeitszustände erheben und diese dem Bewässerungs-computer übermitteln, damit er weiß, wann und wieviel er gießenmuss. Die elektronische Nase kann speziell im Sicherheitsbereichviele Vorteile bringen, wenn man etwa bei Gasaustritten keineMenschen in das Katastrophengebiet schicken muss. Biochemi-sche Interfaces werden Forschungsarbeiten beschleunigen.

2010.2 Kabelgebundenes wird mobil

Wir leben derzeit in einer Übergangszeit, in der sich Back-bonenetze austauschen. Kabelgebundene Kommunikation wirdzunehmend über Funk übertragen und 'wireless Communication'wird zunehmend im Kabel transportiert.

Kabelgebundene Kommunikation <–> Wireless Communication

Fernsehen wird mehr und mehr zum kabelgebundenen Mediumund mehr ein 'Demand Medium'. Über konventionelle Festnetz-leitungen der Telefonie werden Fernsehprovider ihre Programmeanbieten und abrufbar machen.

Umgekehrt läuft ein Austausch zwischen mobilen Telefonnutzernund kabelgebundenen Telefonierern. International ist in dieser

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Beziehung bereits ein Rückgang von Festnetzanschlüssen fest-stellbar. Erste Zielgruppe sind Single-Haushalte, denen ein Mo-bilanschluss ausreicht und die sich vom Festnetzanschlussverabschieden. Es wird auch immer schwieriger zwischen Inter-nettelefonie und anderen Telefonsystemen zu unterscheiden.Auch wenn Statistiken von einer Zunahme der Internettelefoniesprechen, so wird der Konsument ausschließlich von Sprachtele-fonie sprechen. Welche Übertragungsarten gewählt werden, wirdnicht mehr transparent und ausschlaggebend sein. Fakt ist jeden-falls, dass es immer mehr mobile Sprachtelefonteilnehmer gebenwird. Der Break Even ist im Jahr 2010 zu erwarten, dann wird es1,4 Milliarden Festnetz- und 1,4 Milliarden Mobiltelefonierer ge-ben.

Jahr Prozent des Telefonverkehrs

1997 0,...23

1998 1

1999 4

2000 6

2001 8

2002 12

Entwicklung der Telefongesprächsminuten via Internet in Prozentdes weltweiten Telefonverkehrs24

Im internationalen Wettlauf zwischen USA und Europa dürfte aufdiesem Gebiet – natürlich auch wegen der ohnehin bereits höhe-ren Preise und Tarife – Europa einen stärkeren Zuwachs zu ver-zeichnen haben.

23. Im Jahr 1997 war die Prozentzahl noch zu klein, um sie statistisch zudokumentieren.24. Frost & Sullivan

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2002.1 Individuelle Werbung

Werbung, ob im Printmedienbereich, in Radio oder Fernsehen,ist eine Einwegkommunikation. Der Konsument lässt sie über sichergehen, um sein eigentliches Informationsprogramm, den Film,den Zeitungsartikel, zu bekommen. So wie Fernsehen und Radiointeraktiv und auf Bedarf verfügbar werden, beziehen wir auchWerbung nach Wunsch. Professor Dertouzos25 nennt das'umgekehrte Werbung'. Man definiert seine Anforderungen undbekommt die dazugehörigen 'gelben Seiten' in Form von Fern-seh-Werbespots. Im Internet konsumieren wir bereits heute Wer-bung aktiv. Da sich das Internet nicht selbst anbietet, sondern dieInformationen aktiv abgerufen werden müssen, verhält es sichauch mit der Werbung so. Je kleiner die Zielgruppe eines Medi-ums ist, um so individueller wird auch die Werbung gestaltet. Inkleinen Lokalfernsehanstalten verschmelzen so Werbebeiträgeund redaktionelle Berichte. Die Eröffnung einer neuen Pizzeria istnicht nur Werbung, sondern auch Information für die Einwohnerdes Ortes.

2002.2 Individuelle Produkte

Die Vernetzung innerhalb der Vertriebswege macht es möglich,dass der Konsument immer individuellere Produkte bekommt. Sowie im 19. Jahrhundert in der Hochblüte des Handwerks wird in-dividuell nach Auftrag gefertigt. Zwar kommt das Produkt heuteaus einer Massenproduktionsstätte, Computer Added Designeerlaubt aber individuelle Wünsche. So kann der Käufer eines Au-tos individuell die Farbe und die Musterung der Polster bestim-men. Das Fahrzeug wird erst nach Kundenauftrag gefertigt.Geschmäcke müssen nicht mehr weiter durch Meinungsbefra-gungen erhoben werden, um dann im voraus dem Zeittrend ent-

25. Dertouzos, Michael: What will be. Die Zukunft des Informationszeitalters,Wien/New York 1999.

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sprechend zu produzieren. Selbst Schuhe werden bald aufVorbestellung gefertigt und man kann bestimmen, wo dieSchnalle angenäht werden soll. Bei Möbeln habe ich mir dieFernbestellung nicht vorstellen können, bis einer meiner Studen-ten seine Abschlussarbeit über Teleshopping im Möbelhaus IKEAschrieb. Der eigene Raum kann virtuell am Bildschirm dargestelltwerden und so wie in einer Puppenküche kann man die verschie-denen Möbel hineinstellen, verschieben, austauschen oder dieFarben verändern, bis man die gewünschte Kombination gefun-den hat und die Bestellung ebenfalls elektronisch absetzt. Selbstindividuelle Anfertigungen sind so möglich. Nicht jede Küche istgleich groß. Nicht jedes Wohnzimmer hält sich in seinen Ausma-ßen an die Größe der vorgefertigten Bücherregale. Eckschränkeund Höhen können den individuellen Anforderungen angepasstwerden: Massenproduktion mit individuellen Bestellmöglichkei-ten. Dort, wo es bei Massenproduktion bleibt, wird durch die in-dividuellen Zyklen die Produktion immer teurer:

"Wenn die Nachfrage steigt, müssen die Betriebe teure Sonder-schichten fahren. In der Flaute müssen die überzähligen Pro-dukte – z.B. Autos – zu Zehntausenden auf Werkparkplätzenabgestellt werden und sind danach nur noch zu Niedrigpreisenzu verkaufen. Oder die Firmen drosseln die Produktion durchKurzarbeit oder Entlassungen. In langwierigen Verhandlungenmüssen teure Sozialpläne geschmiedet werden."26

Auch in der Bildung bringt der Computer neue Möglichkeitenund neue Individualität:

"Der Computer gibt den Kindern ungeheure Möglichkeitenkreativ zu sein: Sie können mit ihm Musik machen, schreiben,zeichnen, kommunizieren oder einfach nur spielen. Er fasziniertund motiviert sie mehr, als viele Lehrer es vermögen."27

26. Beck, Ulrich: Schöne neue Arbeitswelt. Vision: Weltbürgergesellschaft,Frankfurt/New York 1999, S. 79.

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2002.3 Neues ersetzt Altes?

Die neuen Medien sind nur ergänzend, also additiv zu den tradi-tionellen Wirtschaftsinstrumenten zu sehen. Das Arbeiten mitdem Computer kann Teile der alten Wissensvermittlung ersetzen.Aber nicht alles kann ersetzt werden. Das Land mit der größtenInternetdichte (Norwegen) hat auch die meisten Tageszeitungenund die Norweger haben die höchsten Pro-Kopf-Ausgaben fürBücher. Internet ergänzt und verdrängt nicht. Umgekehrt sind tra-ditionelle Bibliotheken nicht immer zweckmäßig. Wenn etwa ineiner Vorlesung ein Buch empfohlen wird, von dem dann nur einExemplar – und das ist die Regel – in der Bibliothek zur Verfügungsteht, ist dies ein Hohn und die Einleitung eines Wettrennens fürvielleicht hunderte von Studenten.

2002.4 Kultur ist Teil der Technologie

Humanwissenschaften stehen heute oft konträr zu den Naturwis-senschaften. Die kulturelle Vernunft stimmt nicht mehr mit dertheoretischen, physikalischen Naturwissenschaft überein, die – sowie die Wirtschaft – von Technologien bestimmt wird. Die Wirk-lichkeit des Menschen wird aber immer von der ihn umgebendenLebenswelt bestimmt. Teil der Lebenswelt ist die Kultur. Die vonden Menschen verwendeten Technologien sind eine organisato-rische Teilerscheinung, die als Kulturfunktion betrachtet werdenkann. Die heutige Zeit verlangt einen inneren Zusammenhangvon Technologien und Kultur. Die neuen Technologien machenes möglich, dass ein Einzelner ganze Systeme lahmlegen kann.Technische Einrichtungen wie 'Telefon', 'Internet', 'Auto' könnenzu Waffen werden, mit denen auch Kleinkriege gewonnen wer-den können. Ganz abgesehen davon, dass das Internet Anwei-sungen zum Bau von Waffen bietet. So wie Raser auf der Straße

27. Gronnemeyer, Marianne: Lernen mit beschränkter Haftung. Über dasScheitern der Schule, Berlin 1996, S. 98.

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andere gefährden oder das Fahren gegen die Fahrtrichtung zurMutprobe wurde, kann man mit dem Telefon einzelne Menschenterrorisieren. Im Management liegen Entscheidungs- und Sach-kompetenz oft nicht beisammen. Neue Medien wie die E-Mailkönnen sie zusammen bringen. Beim klassischen Telefonat wur-de und wird die Kommunikation zwischen dem Chef und demMitarbeiter über die Sekretärin aufgebaut. Bei der E-Mail wendetman sich an den, der die Antwort geben kann, egal in welcherHierarchiestufe er steht.

Das nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaute Wirtschaftssystemhat sich in den letzten Jahren grundsätzlich verändert. Das führteaber auch zu Veränderungen im Bereich der Menschenrechte,der Souveränität und Freiheit. Inwieweit dieser Prozess auch dieDemokratien verändern wird, kann man heute noch nicht sagen.Der Zugang wird aber sicher ein anderer sein als noch vor hun-dert Jahren.

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Mobilität und die EU-Erweiterung

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Bilder von Europa

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Bilder von Europa.Ohne die Arbeit von Künstlern herrscht

visueller Analphabetismus zwischen den Nationen1

Matthias Winzen

Wir kennen die Bilder der europäischen Gipfeltreffen: Freundli-ches Händeschütteln, blinkende Zähne – in geradezu über-menschlicher Sitzungsanstrengung konnte der Streit, der sichvorher zwischen den Regierungschefs so klar abgezeichnet hatte,wieder einmal triumphal in Pressefotos und Nachrichtenbilderumgewandelt werden, die uns alle zuversichtlich stimmen sollten.Offensichtlich besteht ein breiter internationaler Bedarf an Bild-material, auf dem die Komplexität der strittigen Punkte zwischenden europäischen Regierungen nicht zu sehen ist, und das seinebeschwichtigende Macht aus seiner prallen Oberflächlichkeit be-zieht. Die Suggestivkraft solcher Bildroutine wird durch eine an-dere, ebenso regelmäßige Übung erstaunlicherweise nichtgemindert. Kaum zurück in ihrer jeweiligen Hauptstadt, fühlensich die Regierungschefs vom fotogenen europäischen Einver-nehmen nicht daran gehindert, nationale Missstände sofort wie-der der Brüssler Bürokratie anzulasten.

Abgesehen von den politischen Zwängen zur Einigung und zurPose des Erfolgs – die absurde Regelmäßigkeit, mit der uns Pres-sebilder von staatsmännischem Einvernehmen und deren an-schließende Desillusion präsentiert werden, wäre nicht möglichohne die Vieldeutigkeit des Bildlichen überhaupt. Aus dieser Viel-deutigkeit ergeben sich einerseits die unerschöpflichen Manipu-lationsmöglichkeiten und Suggestionen, wie sie tagtäglich in derWerbung, aber auch im scheinbar dokumenthaften Pressefoto

1. Teile dieses Textes sind am 7. Januar 2003 in der WELT erschienen.

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eingesetzt werden. Andererseits bedeutet die Vieldeutigkeit desBildlichen – sachgerecht behandelt – ein heute völlig unter-schätztes kulturelles Verständigungspotential zwischen den euro-päischen Nationen mit ihren vielen verschiedenen Landes-sprachen und Dialekten.

Denn die Frage steht im Raum: Welche symbolischen, welchekulturellen Verständigungsmöglichkeiten stehen der fortgeschrit-tenen wirtschaftlichen Vereinigung Europas gegenüber? Auf wel-cher Ebene der Verständigung, mit welchen Medien können diereich ausdifferenzierten Gesellschaften Europas über die engenGrenzen wörtlicher Sprachübersetzung hinaus miteinander kom-munizieren? Was ist, wo steht die "kulturelle Währung", nachdemdie gemeinsame ökonomische Währung längst eingeführt ist?

Den versprochenen dauerhaften Frieden kann die zukünftigewirtschaftliche Entwicklung Europas nur bringen, wenn sich dieschon sprachlich stark diversifizierten Kulturen Europas verstän-digen können. Das betrifft tiefergehende Fragen als diejenigen,die sich bei Gipfeltreffen simultan übersetzen lassen. Die euro-päischen Kulturen sind ähnlich und unähnlich zugleich, sie sindmiteinander kommunikationsfähig und doch sehr verschieden. Indieser Situation können die europäischen Gesellschaften von ih-ren Künstlern und Kulturschaffenden aus guten, auch histori-schen Gründen Ideen und Beiträge erwarten: Es waren dieKünstlergruppen der klassischen Avantgarden zu Beginn des 20.Jahrhunderts, die – gegen die nationalistische Zeitstimmung vordem ersten Weltkrieg – in ihrem Netzwerk der europäischen Me-tropolen begrenzte nationale Horizonte übersprangen. Auchheute gilt, dass Künstler von Berufs wegen Brücken schlagen. In-tensiver als die meisten anderen Berufe verlangt der Künstlerbe-ruf, sich mit den Prägungen der eigenen Herkunft, derIdeengeschichte der eigenen Mentalität auseinander zu setzen.Und zugleich sind die Künstler diejenigen, die in ihrer Arbeit dieBegrenzung der jeweiligen Landessprache überwinden, weil sie

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Bilder von Europa

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als bildende Künstler, Fotografen, Tänzer, Musiker, Architektenprinzipiell die Begrenzung von Alltagssprache umgehen und imMedium von Bildlichkeit, Imagination, Symbolik und Form kom-munizieren.

Dabei setzen sich die meisten jüngeren europäischen Künstlernicht mit Esoterischem, sondern mit den Alltag prägender Visua-lität auseinander wie etwa die Schwedin Miriam Bäckström, dieFernsehkulissen fotografiert. Die Fotografien Bäckströms bildendie Szenerien der Vorabendserien und historisierenden Sets fastillusionistisch realitätsgetreu ab – mit der kleinen, aber feinen Ab-weichung, dass auch die Grenzen solcher Fiktion zu sehen sind:die Halterungen und Unterkonstruktionen, die Lichteinlässe, dienirgendwohin führenden Türdurchgänge. Als große Serie von Fo-tografien zeigen diese Arbeiten gesamteuropäischen Innenraum.Längst sind die europäischen Industriegesellschaften nicht mehrnur von einer Umwelt aus Bergen, Häusern und Flüssen umge-ben. Unsere natürliche Umwelt, unsere tagtägliche Orientierungbesteht zum allergrößten Teil aus massenmedial verbreiteten Bil-dern.

Der litauische Künstler Mindaugas Ratavicius fotografierte dietraditionellen Märkte seiner Heimat – eine umfängliche Fotose-rie, deren ungeheure auratische Aufladung sich der scheinbarsimplen Tatsache verdankt, dass er auch die neuen Märkte, dieEinkaufszentren mit riesigen Parkplätzen aufnahm. Die architek-tonischen Standards westeuropäischer Marktwirtschaft werfen sowie von selbst die Frage auf, was alles zerstört wird durch wirt-schaftliche Optimierung und Internationalisierung, mögen sichdiese auch noch so erfolgreich entfalten.

Der Verständigungsbedarf im Europa der aneinander interessier-ten, aber differenten nationalen und subnationalen Kulturenkann angesichts seiner linguistischen Vielgestaltigkeit nicht aufdie kommunikative, von Landessprachen unabhängige Kraft des

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Bildlichen verzichten. Am Beginn des 21. Jahrhunderts ist dasBild zum wichtigsten und schnellsten Informationsträger über-haupt geworden, was zugleich bedeutet, dass die Bilderflut unddie transportierten Informationen, mit denen wir uns täglich kon-frontiert sehen, einer kritischen Beurteilung, einer qualifizieren-den Wertung bedürfen. Im Alltag filtert der Einzelne dieBildermenge praxisgebunden und pragmatisch, das heißt ohneprinzipielles Hinterfragen. Im Grunde herrscht visueller Analpha-betismus. So werden in den hochgerüsteten Beobachtungssyste-men der Presseindustrie fotografische Bilder weit unter ihrenkulturellen Möglichkeiten als irgendwie bestätigende Illustratio-nen dieser oder jener Meldung eingesetzt. Unter einer Aufnahmevon Chirac und Schröder kann eine Unterzeile mit etwas bedeu-tungsschwerem über den drohenden Krieg im Irak stehen undwie die beiden Staatsmänner die Gefahr abwenden werden. Esgibt auf einem solchen Foto immer einiges, dass bestimmte Inter-pretationen näher legt als andere, aber nichts, was im strengenSinn eine klare Information wäre ohne die vereindeutigende Bild-unterzeile, die ihrerseits ihre ganze Informationskraft aus demFoto zieht – dem Beweis, der seinerseits ohne Unterzeile nichtsbeweist. Ohne dass das eine das andere zur handfesten Beweis-grundlage machen kann, erzeugen beide zusammen frei schwe-bend die Anmutung einer fundierten Nachricht – eine ebensounglaubliche wie alltägliche Fiktion von Information.

Eine tiefer gehende und gesellschaftlich wirksame Auseinander-setzung über das Bildliche als rasend schneller Transmitter imFernsehen, Internet, Verkehr und Warenfluss findet kaum statt,am wenigsten in diesen Medien selbst. Die massenmediale, in-formationstechnische und kommerzielle Bildergegenwart in alleneuropäischen Gesellschaften wird nur in einem gesellschaftli-chen Teilbereich genauer Betrachtung und kritischer Reflexionunterzogen, nämlich in den Künsten in all ihren visuellen, darstel-lenden, angewandten Varianten. Als Bildermacher, Bilderstürmer

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Bilder von Europa

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und Bilderverwerter sind es die Künstler, die auf der Basis immerwieder selbst entwickelter, nicht von fremden Zwecken bestimm-ter Kriterien diese Bildlichkeit überprüfen und infolge dieser Aus-einandersetzung eigene Bilder entwerfen. Die Künste arbeiten inder nach-mythologischen, nachspirituellen und nach-metaphysi-schen Gegenwart Europas am kollektiven Imaginationsraum,und zwar ohne sich einerseits fundamentalistisch auf vermeintlichvon der Vergangenheit vorgegebene Urbilder zu fixieren undohne andererseits, wie etwa die kommerzielle Werbung, stets dieAnnehmlichkeit einer zum Greifen nahen Zukunft zu suggerieren,die aber nie eintritt. Der kollektive, gegenwartsbezogene Imagi-nationsraum – oder anders ausgedrückt, der Mischraum zwi-schen realer Gegenwart mit ihren konkreten Problemen undkreativer, visionärer, pragmatischer Fantasie –, dieses imaginati-ve Reservoir und Potenzial ist eigentlich das, was zeitgenössischeeuropäische Kultur zu nennen wäre. So gesehen betreiben diezeitgenössischen Künste eine Art piktorale Grundlagenforschungfür Europa.

Diese Grundlagenforschung hat den Vorzug, überhaupt nichtzum inflationären Tempo massenmedialer Aufmerksamkeitsöko-nomie zu passen. Dem Nachrichtenkonsumenten fordert dieschiere Fülle der täglichen Bild-/Textinformationen eine nie dagewesene Beschleunigung seines individuellen Wahrnehmungs-geschehens ab. Die allermeisten Wahrnehmungsvollzüge desEinzelnen verlaufen tagtäglich nach dem Konsumparadigma. EinWahrnehmungsinhalt wird in dem Moment, da er dem Bewusst-sein erscheint, zugleich verbraucht, verzehrt, vergessen, sei es dermomentane Börsenkurs als Nachricht oder die sekundenkurzeWerbung im Fernsehen. Künstlerische Bildlichkeit ist als Wahr-nehmungsgeschehen das extreme Gegenteil des Konsumismus-paradigmas. Künstlerische Bilder (in ihren vielfältigen Formen:als Malerei genauso wie als getanzte Choreografie) erfordernDauer und sie geben Dauer. Sie zu verstehen ist kein Event und

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kein Spektakel, sondern eine Anstrengung, in deren Verlauf ima-ginative Räume betreten werden, die keineswegs asozial beliebigsind, sondern in denen sich mit anderen kommunizieren lässt.

Natürlich brauchen wir für das in Zukunft noch notwendiger wer-dende kulturelle Verstehen zwischen den nationalen und regio-nalen Mentalitäten Europas nicht ein Klima des scheinbarenPragmatismus und ökonomistischen Politikverzichts. ÄngstlichesSchielen von Politikern nach immer neuen Einsparmöglichkeitenbei Bildung und Kultur vermag die sowieso mit supranationalerDynamik fortschreitende, unsere Zukunft bestimmende wirt-schaftliche Vereinheitlichung Europas in keiner Weise zu besänf-tigen. Solches Schielen gefährdet vielmehr die heutigen Grund-lagen uns in dieser europäischen Zukunft miteinander zu verstän-digen.

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Die EU als Wanderungsraum

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Die EU als Wanderungsraum – zwischen alten und neuen gesellschaftlichen

Herausforderungen

Robert Hettlage

1. Einleitung

Globalisierung ist das Modewort unserer Zeit. Es will die auffäl-lige Kompression von Raum und Zeit auf einen Nenner bringen.Genauer sind damit folgende Kennzeichen der modernen Weltgemeint:

• der freie Warenverkehr, besonders der internationalisierteKapitalfluss

• die Verringerung der Transportkosten

• die Veränderung der Kommunikationsgeschwindigkeit

• die daran angepasste 'neue' Beweglichkeit der Menschen aufdieser Welt

Andererseits steht die freie Bewegung der Menschen immer mehrin Frage. Denn die Nationalstaaten, ja ganze geopolitische Räu-me, versuchen immer stärker, sich gegen die massenhafte Mobi-lität von Menschen zur Wehr setzen zu wollen.

Das ist so aber nicht ganz richtig. Denn bei genauerem Hinsehenist es wohl eher so, dass sich innerhalb bestimmter Räume dieMobilität sogar beschleunigen soll, während sie zwischen denRäumen abgebremst werden soll. Das ist der Fall der EU.

1. Mobilität erscheint nicht mehr als automatische Folge einerwirtschaftlichen Anpassung, sondern steht auch zunehmendim Gegensatz zu ihr. So stellen wir eine eigentümliche Kon-tradiktion zwischen dem Konzept der Mobilität als freie Bewe-gung in bestimmten Räumen und dem der Migration fest, diedurch einen dauerhaften Wechsel des Wohnorts über admi-

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Robert Hettlage

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nistrativ-territoriale Grenzen hinweg definiert ist.2. Dauer (relative Permanenz) und Wohnort sind die beiden sta-

tistisch entscheidenden Erfassungsgrößen. Diese werfen aberheute große Probleme auf. Denn sie erweisen sich alsunscharf, um moderne Phänomene der alternierenden Mi-gration ('Transmigration') zu erfassen. Die Unterscheidungzwischen definitivem Ortswechsel und temporären Wande-rungen ist immer schwerer zu treffen. Moderne Mobilitätdeckt sich also nicht mehr mit der 'alten' Migration – sei sienational (intern) oder international.

3. Beide haben aber weiterhin mit ökonomischer, politischerund soziokultureller Anpassung zu tun. Denn Mobilität undMigration verändern ('mobilisieren') die betroffenen Gesell-schaften zwangsläufig und in hohem Maß. Aber während diewirtschaftliche Globalisierung tendenziell eher auf Standardi-sierung von Verhaltensweisen ausgerichtet ist, scheint diewachsende gesellschaftliche Mobilität gerade das Gegenteilzu bewirken. Beides bringt die globalisierten Räume in Bewe-gung – nur aus unterschiedlicher Richtung.

Der Druck der Mobilität auf den europäischen Raum soll im Fol-genden genauer untersucht werden. Er ist ohne seine globaleEinbettung kaum zu verstehen. Deswegen werden wir zuerst ei-nen Blick auf die Welt in Bewegung richten (Kapitel 2), um dannzu fragen, ob und inwiefern Europa in Bewegung ist (Kapitel 3).

2. Die Welt in Bewegung

2.1. Das globale Wanderungssystem

In der wohl umfassendsten Studie zur Geodynamik des weltwei-ten Migrationssystems konnte Gildas Simon zeigen,1 dass sichWanderungen tatsächlich 'mondialisiert' haben. Im letzten Jahr-

1. Simon, Gildas: Géodynamique des migrations internationales dans lemonde, Paris 1995.

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Die EU als Wanderungsraum

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zehnt hat sich der Trend noch verstärkt. Die meisten Länder derWelt sind heute (2005) von diesem Phänomen betroffen. Über-dies haben die zentralen Wanderungsgebiete (d.h. die'Zielregionen' USA, Europa, Ostasien, Australien und der NaheOsten) eine beträchtliche Ausweitung ihrer Rekrutierungsgebieteerfahren.

Nach Schätzungen sind heute 120-130 Millionen Menschen di-rekt in den internationalen Migrationsprozess eingebunden (dar-unter 95-100 Millionen reguläre Wirtschaftsmigranten, 20Millionen Flüchtlinge und 20 Millionen Illegale). 200-240 Millio-nen Menschen sind von den Wanderungen wirtschaftlich abhän-gig, die pro Jahr 70 Milliarden Dollar an Geldtransfers auslösen.

Die Zirkulation von Arbeitskraft, Wissen und Kompetenzen ist un-erlässlich geworden. Sie bewirkt eine Vernetzung bisher nationalgetrennter Ökonomien. Sie gilt für Geschäfte, Waffen und u.a.auch für den Sport. Zweifellos wohnen wir einer Entwicklung zumultipolaren Wanderungsräumen auf ethnischer Basis bei (Nurein kleines Beispiel am Rande: Zur Zeit arbeiten etwa 10.000Thailänder in Libyen, ebenso viele in Israel). Im Gegensatz zu den6oer Jahren des letzten Jahrhundert handelt es sich aber nichtum mehr oder weniger verfestigte Lebensentscheidungen. Siesind vielmehr ganz flexibel auf die auch kurzfristige Wahrneh-mung von ökonomischen Chancen ausgelegt. Zumindest über-lagert sie die bisher gängigen langfristigen Wanderungsbe-wegungen.

Neben den genannten fünf zentralen Zielregionen der Welt bil-den sich solche von geringerer, nur interregionaler Bedeutungheraus: Südasien, Südamerika, Afrika südlich der Sahara, Russ-land und vielleicht Osteuropa. (OECD-Bericht: SOPEMI 1994).Überdies ist das globale Wanderungssystem ein System der Me-tropolisierung. Die Bevölkerungen massieren sich in und konzen-trieren sich auf die Zentren der Entscheidung, der Kapitalbildung,

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der Kompetenzen, also auf das, wo die meisten Austauschvor-gänge von Gütern, Diensten, Informationen und Bildern stattfin-den. Das sind die in dieser Hinsicht attraktivsten, sogenannten15-20 Global Cities von Los Angeles, London, New York, Paris,Tokio, Hongkong, Frankfurt und in einem geringeren AusmaßMailand, Barcelona, Madrid, Sydney, San Francisco, Montreal,Brüssel und Berlin. So wohnen z.B. 45% der Migranten Großbri-tanniens im Großraum von London. Alle die genannten Metro-polen konstituieren sich durchschnittlich zu 15-30% aus inter-nationalen Zuwanderern – mit allen Ausprägungen von Parallel-gesellschaften, Ghettoisierung und ethnischer Markierung.

Dabei wird die Kontrolle dieser Migranten immer schwieriger,denn man kann 'richtige' Zuwanderer kaum mehr von 'falschenBesuchern' mit oder ohne Touristenvisum unterscheiden. Tat-sächlich sind die Zuströme auch aus subjektiver Sicht der Wan-derer nicht mehr fest definiert. Man bleibt auf Visite, arbeitet nachGelegenheit, kehrt wieder zurück, um erneut wegzugehen. Dasist auch bei den irregulären wie den regulären Wanderungen zubeobachten. Beide ziehen flexible Familienbewegungen auf derSuche nach Arbeit nach sich. Die Aufenthalte vervielfältigen sich,bevor man eventuell in andere Destinationen weiterzieht (Mexiko,Westafrika etc. sind gut beobachtete Beispiele dafür2). Damitwird auch die alte Unterscheidung zwischen Emigrations- undImmigrationsländern obsolet. Das zeigt sich deutlich an der eu-ropäischen Entwicklung.

2.2. Die Globalisierung des europäischen Wanderungssystems

Auch Europa sieht sich mit diesem neuen Phänomen konfrontiert.Damit ist weniger gemeint, dass die Wanderungen an sich dortneu wären. Im Gegenteil! Im Gegensatz zu den alltäglichen

2. Vgl. Pries, Ludger: Transnationale Migration, Bielefeld 2000.

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Die EU als Wanderungsraum

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Überzeugungen nämlich sind die Größenordnungen (absolutund relativ gesehen) keineswegs neu. Denn zwischen dem späten19. Jahrhundert und der Krise der 30er Jahre wurden rund 100Millionen Menschen von der Wanderungsbewegung erfasst.Nach dem 2. Weltkrieg bis in die Mitte der 6oer Jahre belief sichdie Zahl auf ca. 60 Millionen, die infolge des Krieges und derspäteren Boomjahre das Reservoir der europäischen Migrationauffüllten.3 160 Millionen ist eine mehr als beachtliche Zahl, dieeuropäische und amerikanische Verhältnisse in dieser Hinsichtnicht allzu unterschiedlich erscheinen lässt. Auch Europa ist seitlangem ein Zuwanderungskontinent.

Wirklich neu hingegen ist die sukzessive Ausweitung der Rekru-tierungsgebiete und später (ab den 8oer Jahren) die Globalisie-rung auch des europäischen Migrationssystems.

2.2.1. Die Veränderung der Herkunftsregionen

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts zogen die Einwanderer nochüberwiegend in die klassischen europäischen Migrationsländerwie Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Österreich. Siekamen im Wesentlichen aus den Grenzregionen. Großbritannienholte die Iren, Frankreich die Belgier, Deutschen und Norditalie-ner, Deutschland die Polen etc. Erste Einbrüche in dieses Reser-voir vollzogen sich mit den Arbeitskräften aus den französischenKolonien. Etwa um 1960 weitete sich durch gezielte Anwerbungdas Rekrutierungsbecken langsam aus.

Anfänglich zogen die boomenden westeuropäischen Länder ihreGastarbeiter aus dem nördlichen Mittelmeerrand an sich (Italien,Spanien, Portugal, Jugoslawien, Griechenland). Dann bemühteman sich um Arbeitskräfte aus der Türkei und aus dem Maghreb.

3. Vgl. Guegnant, J.-P.: Migrations internationales et développement: Lesnouveaux paradigmes, in: Revue Européenne de Migrations internationales,Bd. 12/2, 1996, S. 109.

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In Großbritannien war der koloniale, globale Faktor von Anfangan wesentlich ausgeprägter (Indien, Pakistan, Jamaika). Mitte der70er Jahre stellte das Mittelmeerbecken rund die Hälfte der Zu-wanderer nach Westeuropa (in Frankreich waren es sogar 3/4und Deutschland und der Schweiz 2/3).

Dann ist plötzlich bei allen europäischen Zuwanderungsländerneine markante Ausweitung des Rekrutierungsfelds auf das ganzeMittelmeerbecken zu beobachten: Nun wandern die Marokkanerauch nach Deutschland, die Türken auch nach Frankreich, Hol-land und Schweden, die Portugiesen nach Deutschland, die Ita-liener nach Großbritannien etc. Mit anderen Worten: dieMigrationsbevölkerungen in diesen Ländern diversifizieren sich.

Bald aber genügt das Mittelmeerbecken nicht mehr. Es nimmtnicht nur der Anteil der Europäer an der Zahl der Wanderer lau-fend ab (z.B. in Frankreich von 60% (1975) auf 45% (1985)). Mitdem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 treten auch die Mit-tel-Osteuropäer als Wanderungsgröße wieder auf den Plan. DreiMillionen Arbeitssuchende und Flüchtlinge machen sich auf denWeg. Zwei Millionen (d.h. 2/3) gelangen nach Deutschland. Siekamen zu den mehr als 1,5 Millionen Aussiedlern hinzu, dieDeutschland nach 1988 aufnahm. Aber auch andere Staaten sa-hen sich seit 1989 neuen Problemen ausgesetzt: Spanien, Italienund Griechenland, alles ehemalige Auswanderungsländer, wur-den gegen Ende des 20. Jahrhunderts 'normale Zielregionen' derWanderungsströme aus dem Norden Afrikas, aber auch Ziellän-der von Flüchtlingen aus den Kriegs- und Repressionsgebietendes Balkan, aus Lybien, Äthiopien usw. Für Italien schätzt mandie Migrationspopulation heute auf gut 2 Millionen. Davon sinddie meisten illegal Eingewanderte, die in den Randgebieten dergroßen Metropole 'untergetaucht' sind und den 'schwarzen' Ar-beitsmarkt auffüllen.

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Die EU als Wanderungsraum

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2.2.2. Die sozio-politischen Besonderheiten des europäischen Zuwanderungsmusters

Sieht man von den Fluchtbewegungen einmal ab, dann fälltschon an den Wanderungen des 19. und frühen 20. Jahrhun-derts auf, dass sich die Regierungen aktiv an der Entstehung undSteuerung der Migration beteiligten. Anfänglich suchten die USA,Kanada und Australien als weitgehend leere Räume viele Siedler.Das war den Europäern nur Recht, da sie so ihre Armutsproble-matik in Irland, Skandinavien, Italien, Deutschland und derSchweiz mittels Auswanderung der überzähligen Arbeitskräfteentschärfen konnten. Solche Abwanderungskonfigurationen sindfolglich vor dem Hintergrund politischer und wirtschaftlicherGrundentscheidungen zu verstehen. Ähnliches gilt für die Boom-zeit der 6oer Jahre als Europa eine der Idee nach zeitlich be-grenzte und flexible steuerbare Einwanderungskonfigurationaufbaute.

Hans-Rudolf Wicker weist darauf hin, dass die Europäer im Ge-gensatz zu den alten Einwanderungsländern USA, Kanada, Aus-tralien dabei ein völlig anderes Zuwanderungsmuster verfolg-ten.4

Während die Nordamerikaner z.B. die Möglichkeiten der Migra-tion in dieses Zielgebiet immer restriktiver handhabten, aber miteiner liberalen Einbürgerungspraxis verbanden, verhielten sichdie Europäer gerade umgekehrt. Sie waren in der Zuwanderungoffen und liberal, gestalteten aber die Bürgerrechte restriktiv.Weil die vollen Bürgerrechte schwer zu erlangen sind, bleibt derAusländeranteil in diesen Ländern relativ hoch. (Die Schweiz istdafür das Paradebeispiel). Folglich bleibt auch die Integrations-problematik über Generationen hinweg brisant. Hingegen ist derAnteil illegaler Wanderer meist geringer, da die Selektion bei der

4. Wicker, Hans-Rudolf: Migration, Migrationspolitik und Migrationsfor-schung, in: ders. (Hrsg.): Migration und die Schweiz, Zürich 2003, S. 23.

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Zuwanderung geringer ausfällt. Hier allerdings ist im Lauf derZeit eine deutliche Annäherung an das amerikanische System(selektive Zuwanderung, liberalere Einbürgerung) in Gang ge-kommen. Dadurch dürften die Asylströme und die illegale Wan-derung in Westeuropa noch stärker zunehmen.

Dass sich die europäischen Regierungen in der Problemwahr-nehmung aufeinander zubewegen, zeigt sich daran, dass sie ab2004 die Zuwanderungspolitik insgesamt untereinander harmo-nisieren wollen. Die Frage bleibt vorderhand offen, ob die EU an-gesichts nationaler Souveränitätsvorbehalte als Wanderungs-raum in Bewegung kommt.

3. Europa und die Europäische Union in Bewegung

In gewisser Hinsicht war Europa immer in Bewegung. Ob es auchals Wanderungsraum in Bewegung kommt, muss von zwei Seitenaus analysiert werden. Denn es muss die globale Seite der Wan-derung von den Aspekten des Binnenraums für die nunmehr 25Mitgliedstaaten der EU getrennt werden.

3.1. Europa und die internationale Wanderung

Derzeit wandern offiziell jährlich etwa 700.000 Menschen in dieEU ein. In allen Mitgliedstaaten ist die Wanderungsbilanz (Zu-wanderung minus Abwanderung) positiv. Allerdings sind die ein-zelnen Mitgliedstaaten von den Wanderungsbewegungenunterschiedlich betroffen: 1998 hatte Luxemburg mit 0,94% diehöchste Zuwanderung pro Jahr, gefolgt von Irland (0,57%), denNiederlanden (0,28) und Griechenland (0,21). Die geringstenNettozuwächse wiesen Österreich und Deutschland (je 0,06%)sowie Frankreich (0,05%) auf.

Ganz anders sieht es aus, wenn man den prozentualen Auslän-deranteil an der Bevölkerung betrachtet. Hier führt mit weitemAbstand wieder Luxemburg (34,1%) gefolgt von Österreich

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Die EU als Wanderungsraum

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(9,1%) und Deutschland (9,0%). Am anderen Ende befinden sichSpanien und Griechenland (je etwa 1,5% Ausländeranteil).

Einen besseren Einblick in die Lage bekommt man, wenn mandie Art der Zuwanderung näher betrachtet. Klammert man dieBinnenwanderung von Unionsbürgern zunächst einmal aus, sokann man fünf verschiedene Wanderungskategorien unterschei-den:

Die Aufnahme ethnisch Zugehöriger, die aufgrund von Vertrei-bungen, Repatriierungen (push-Faktoren), später aufgrund vonwirtschaftlichen und politischen Überlegungen (pull-Faktoren) indie jeweilige 'alte Heimat' einwandern (Spätaussiedler, Wandereraus ehemaligen Kolonien). Frankreich und Großbritannien (undin einem gewissen Ausmaß Belgien) sahen sich nach dem Endeder Kolonialzeit als erste mit diesem Problem konfrontiert. Später(nach der Nelkenrevolution von 1974) sah sich Portugal in einervergleichbaren Lage. Seit 1989 hat Deutschland eine massiveZuzugsbewegung deutschstämmiger Aussiedler aus dem ehema-ligen Sowjetblock zu bewältigen und sah sich zu strengen Quo-tierungen (200.000 pro Jahr) gezwungen.

Gewöhnliche Arbeitsmigrationen sind zwar in den 70er Jahrenüberall begrenzt worden, (intensive Rückkehrförderung). Mittler-weile sieht man aber, das man aus demographischen und öko-nomischen Gründen auf vermehrte Zuwanderung nicht ver-zichten kann. Da bis auf Irland kein westeuropäisches Land eineReproduktionsziffer erreicht, die die derzeitige Bevölkerungsgrö-ße (und das augenblickliche Rentenniveau) garantiert, ist manauf die ausländische Wohnbevölkerung angewiesen. Das hat ei-nen Prozess des Umdenkens in Gang gesetzt. In vielen EU-Staa-ten ist deswegen der allgemeine Zuzugstopp wieder gelockertund aufgehoben worden. In Deutschland gibt es seit 2001 sogarwieder eine gezielte Anwerbepolitik für hoch qualifizierte Spezia-listen (der IT-Branche).

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Der Anwerbestopp von 1973 hatte u.a. dazu geführt, dass mansich – gezwungen durch verfassungsrechtliche Vorgaben – auf ei-nen Nachzug von Migrantenfamilien einlassen musste. Diesergenießt in den meisten EU-Staaten aus völkerrechtlichen Erwä-gungen heraus Priorität. An der Gesamtwanderung gemessenbeträgt der Anteil der familienbezogenen Zuwanderung inSchweden 80%, in Frankreich 75%, in Großbritannien und Dä-nemark etwa die Hälfte.5

Flüchtlinge und Asylbewerber: Nach der Genfer Flüchtlingskon-vention von 1951, die auch für alle EU-Länder Gültigkeit besitzt,sind Flüchtlinge solche Menschen, die ihr Land aus Furcht vorethnischer, religiöser und politischer Verfolgung verlassen müs-sen. Sie genießen aus humanitären Gründen deswegen einenbesonderen Schutz. Ihre langfristige Aufnahme bleibt nationalund europaweit jedoch umstritten. Deutschland hielt sich viel zu-gute auf seine humanitären, liberalen Regelungen, musste dieseunter dem Druck der vielen Asylanträge aus den mittel-osteuro-päischen Staaten (MOEL), insbesondere als Zielregion für Asyl-bewerber aus dem ehemaligen Jugoslawien, aber sukzessiveinschränken ('Asylkompromiss').

Diese Bewegung zur Verschärfung der Gesetze ist in fast allenEU-Staaten festzustellen. Eine europäische Lastenverteilungkonnte bisher nicht erreicht werden. Hingegen wurde die Visums-pflicht koordiniert, um EU-interne Weiterwanderungen nach ab-gelehnten Asylanträgen zu verhindern. Dadurch konnte die Zahlder Anträge deutlich verringert werden.6

Infolge der Abschreckung bei der Asylpolitik hat sich die illegaleImmigration als weiteres Ventil aufgetan. Nach Schätzungen der

5. Angenendt, Steffen: Europa als Einwanderungsgebiet, in: Weidenfeld,Werner (Hrsg.): Europa-Handbuch, Bonn 1999, S. 20.6. Tränhardt, Dietrich: Zur Wanderungspolitik im europäischen Vergleich, in:Angenendt, Steffen (Hrsg.): Migration und Flucht. Bonn 1997, S. 147.

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Die EU als Wanderungsraum

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Internationalen Organisation für Migration (IOM) wandern jähr-lich zwischen 300.000 und 500.000 Menschen heimlich in dieEU ein. Sie gelten als billige Arbeitskräfte, da auf sie die gesetz-lichen Regelungen keine Anwendung finden. Die meisten der un-dokumentierten Migranten (clandestini, 'sans papier') hoffendarauf, dass ihr Aufenthalt – wie die Diskussionen und Maßnah-men in Frankreich und Italien zeigen – mit der Zeit legalisiert wer-den kann. Da sie ohne offizielle Genehmigung (wohl aber oftunter Duldung) im Land leben, ist auch ihre Herkunft kaum er-fasst. Es kann davon ausgegangen werden, dass sich alle diese5 Wanderungsströme zu dauerhaften sozialen Problemkategori-en gruppieren. Das war schon bei offiziellen, regulären Migran-ten (den sogenannten Gastarbeitern) der Fall. Die Flüchtlings-schübe werden das noch akzentuieren.

Die EU-Länder müssen sich darauf einstellen:

a) dass sich ihre Gesellschaften entlang dieser Probleme ausdif-ferenzieren,

b) dass sich vielfältige Ethnien auf Dauer in den Zuzugsgesell-schaften einrichten,

c) dass sie eine plurale, multikulturelle Migrantenbevölkerungbilden werden,

d) dass dadurch die alten Probleme auf dem Arbeitsmarkt, in derSozialpolitik und in Bezug auf die gesellschaftliche Integrationweiter Bestand haben.

Das alles macht es zusätzlich schwierig, zu einer gemeinsamenMigrationspolitik im gemeinsamen Binnenraum zu gelangen.

3.2. Die 'Festung Europa'

Europa – und das heißt in diesem Fall die EU ('Schengenland') –fühlt sich immer stärker unter Druck gesetzt. Es sieht sich sozusa-gen von globalen Entwicklungen 'belagert', die von außen in die-

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sen einheitlichen Wirtschafts- und Währungsraum hineinge-tragen werden. Die Entwicklungen sind aber so weit fortgeschrit-ten, dass es nicht mehr darum gehen kann, diese Wanderungs-ströme von den EU-Ländern fernzuhalten. Die Frage ist nur noch,ob es gelingt, die Ströme zu kanalisieren.

Dabei ist nochmals festzustellen, dass sich die einzelnen nationa-len politischen Maßnahmen zusehends verhärten. Das deutscheZuwanderungsgesetz wurde erst 2003 vom Bundesrat abgelehnt.Deutschland steht da gar nicht allein. Zwischen 1991 und 1993haben sich die gesetzlichen Hürden überall erhöht: in Großbri-tannien (1991), Dänemark, Niederlande, Belgien, Portugal(1993), Frankreich und Deutschland (1993).

Die Schwierigkeit Europas liegt nun darin, dass die Mitgliedstaa-ten einerseits den gemeinsamen Binnenraum liberalisieren, an-dererseits aus Gründen der Sicherheit und des Wohlstands keinezusätzlichen Bevölkerungsmassen aus Drittländern mehr anzie-hen wollen. Daher bleibt die Einstellung in vielen EU-Staaten zu-mindest ambivalent gegenüber dem globalen Wanderungs-phänomen. Deutlich zeigt es sich bei den Flüchtlingen. Man willsich zwar als menschlich erweisen, verschließt aber zugleich dieZugangstore am Süd- und Ostrand Europas.

Zugleich wissen alle, dass das Problem im nationalen Alleingangnicht mehr angemessen zu lösen ist, sondern einer transnationa-len, europäischen Gemeinschaftslösung bedarf. Im Zeitalter derGlobalisierung, d.h. der die Transportkosten minimierendenRaum- und Zeitverdichtung, stimmen "die de jure Zuständigkei-ten räumlich nicht mehr mit der de facto Regulierbarkeit über-ein".7 Der Nationalstaat kann seine Kompetenzen nicht mehr vollausspielen, weil der Abbau der Binnengrenzen (d.h. die Freizü-gigkeit) bedingt, dass die Zuwanderungspolitik eines einzelnen

7. Märker, Alfredo: Zuwanderungspolitik in der Europäischen Union, in: AusPolitik und Zeitgeschichte, Bd. 16/2, 2001, S. 7.

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Mitgliedslands zwangsläufig gesamteuropäische Folgen habenmuss. Da nämlich die Aufenthalts- und Einbürgerungsbestim-mungen für Drittstaatler in den Mitgliedsstaaten jeweils unter-schiedlich sind, kann dies für jenes Land mit den geringstenEintrittshürden unerwünschte Pull-Effekte auslösen. Umgekehrtbrachte der fortlaufende Integrationsprozess die Einzelstaatenständig unter neuen Zugzwang.

Deswegen drängt sich eine verstärkte Kooperation der Mitglied-staaten in der EU auf, auch wenn sie bislang von den nationalenSouveränitätsvorbehalten immer wieder unterlaufen wird. Den-noch lässt sich ein zaghafter Weg zu einer solchen gemeinsamenMigrationspolitik nachzeichnen:

• 1957 wurde die EWG in Rom gegründet. Ziel war vonAnfang an u.a. auch der freie Personenverkehr.

• Die Zollunion war mit gemeinsamem Außenzoll vollendet.

• 1985 wurde das Schengener Abkommen unterzeichnet, dasdamals von 13 Migliedern ratifiziert wurde (außer Großbri-tannien und Dänemark). Damit wurden die bisherigen Bin-nengrenzen von Kontrollen befreit. Nur noch dieAußengrenzen werden überwacht.

• 1990 wurden im Dubliner Abkommen erstmals auch euro-päische Flüchtlings- und Asylprobleme verhandelt. (Zustän-digkeitsregelung eines Asyllandes). Die Asylverfahren undAufnahmeregelungen blieben aber weiterhin unter nationalerHoheit.

• 1997 (Amsterdamer Vertrag) wurde die Notwendigkeit derHarmonisierung bekräftigt. Seither gilt die Zuwanderungspo-litik als künftiger (bis 2004 zu regelnder)'Vergemeinschaftsbereich'. Das geht über eine einfache Har-monisierungsidee hinaus. Diese Regeln wurden am11.2.2003 im europäischen Parlament verabschiedet.

2004 wurden zehn weitere Mitglieder in die EU aufgenommen,

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für die der bisherige acquis communautaire gilt. Allerdings wur-den mit einzelnen dieser Staaten lange Übergangsfristen verein-bart, damit die wegen der schleppenden nationalen Wirtschafts-konjunkturen ohnehin schon stark angespannten Arbeitsmärktenicht durch 'Billigimport' von Arbeit zusätzlich belastet werden.

Die Verhärtung gilt aber nicht nur im Inneren der EU, sondernnoch stärker für die nach außen gerichtete Wanderungspolitik.Da unter den EU-Mitgliedern der jeweils kleinste gemeinsameNenner gefunden werden, also die liberalen Standards abge-senkt werden müssen, kann die Entwicklung in diesem Fall nurauf eine Verschärfung der Regeln hinauslaufen.8 Weil bisher eineeinvernehmliche Lösung trotzdem noch nicht in Sicht ist, wurdeauch die Einstimmigkeitsregel (Vetorecht) im Ministerrat beibe-halten. Das heißt, dass Europa in Migrationsfragen bis heutedoch noch über keine gemeinsamen Kontrollinstrumente verfügt.Es ist vom Konsens noch weit entfernt, wie die Bevölkerungsbe-wegungen eingedämmt, gesteuert oder wirksam kontrolliert wer-den können.

Sichtbar ist hingegen jetzt schon, dass seit Schengen (1985) unddem Schengener Durchführungsabkommen (1990) trotzdem ein'Schengenland' im Entstehen begriffen ist, das den gemeinsamenBinnenraum vom Raum der Drittstaaten tendenziell abtrennt. DerBinnenraum soll nach anderen Kriterien funktionieren als der Au-ßenraum.

8. Bade, Klaus: Deutsche im Ausland – Fremde in Deutschland, 3. Aufl.,München 1993, S. 123.

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3.3. Die europäische Binnenwanderung

3.3.1. Binnenmarkt und Binnenmobilität – ein Effekt der keiner war

Betrachtet man die Arbeitskräftewanderung zwischen den Mit-gliedstaaten, so unterliegt sie tatsächlich heute schon ganz ande-ren Gesetzmäßigkeiten. Wie erwähnt, war die Zollunion 1968zwar formal erreicht, ein eigentlicher Binnenmarkt aber nochnicht wirklich entstanden.

Dazu bedurfte es der Verwirklichung der freien Bewegung von Ar-beit, Kapital, Waren und Dienstleistungen ('4 Freiheiten').

Diese umfassenden Mobilitätsvoraussetzungen wurden mithilfeder Einheitlichen Akte (1986) auf den Weg gebracht. Vereinbartwurde der schrittweise Abbau folgender Hemmnisse:

• Personen- und Warenkontrollen

• Technische Regeln

• Dienstleistungsfreiheit im gemeinsamen Gebiet (z.B. Bankenund Versicherungen)

• Angleichung der Verbrauchssteuern (Mehrwertsteuer)

• Mobilität für Selbständige

• Mobilität für Nicht-Erwerbspersonen (Rentner)

• Anerkennung der Bildungsabschlüsse

Dieses Programm ist heute weitgehend zur europäischen Realitätgeworden.

Seit der Gründung der EU im Vertrag von Maastricht (1993) –also seit 12 Jahren – kamen

• die europäische Einheitswährung (Euro: 2002)

• die europäische Staatsbürgerschaft

• die Wahlrechte der EU-Bürger bei Kommunalwahlen und

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• die Übertragung erworbener sozialer Ansprüche in ein ande-res Mitgliedsland hinzu.

Damit sind wesentliche wirtschaftliche, politische und soziale Vor-bedingungen für einen gemeinsamen Binnenwanderungsraumgeschaffen worden. Diese Prozesse waren – gerade in Deutsch-land und Frankreich – mit großen Vorbehalten begleitet worden.Denn man fürchtete sich zunächst vor einem unkontrollierbarenMassenansturm aus dem Süden, d.h. aus Italien. Dieser trat ge-nauso wenig ein, wie später der befürchtete Andrang aus Grie-chenland, Spanien und Portugal, denen 1987 nach einerÜbergangszeit die volle Freizügigkeit gewährt wurde. Bei Öster-reich, Schweden und Finnland bestanden keine Befürchtungen,so dass diese 1993 schon ohne Übergangsregeln beitretenkonnten.

Die EU der 15 Länder hat intern also keinen bemerkenswertenWanderungsschub ausgelöst.

Nicht einmal zwei Prozent (genauer 1,7%) aller Arbeitskräfte derEU-Länder stammen im Durchschnitt aus den jeweils anderenMitgliedsstaaten (wobei die Prozentsätze je Land natürlich variie-ren). Auch haben sich in den letzten 15 Jahren, als der Binnen-markt wirklich Gestalt annahm, keine bedeutenden Ver-schiebungen ergeben. Der größte Anteil der ausländischen Ar-beitskräfte wird immer noch aus den Drittstaaten gestellt (1,7%gegenüber 4,8% im Jahr 1999; die entsprechenden Werte fürDeutschland betragen 2,7% gegenüber 8,7%).9

Diese geringe Mobilität unter den 'Westeuropäern' erstaunt, zu-mal die EU ja auch im Hinblick auf einen freien Wanderungs-raum gegründet wurde. Die anfängliche Überlegung derIntegrationstheoretiker war doch die gewesen, dass die ökono-

9. Vgl. Werner, Heinz: Wirtschaftliche Integration und Arbeitskräftewanderungin der EU, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Bd. 8, 2001, S. 13.

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mische Wohlfahrt beträchtlich erhöht würde, wenn die Menschendahin wandern könnten, wo ihre Produktivität (Lohn) am höch-sten sei. Demnach würde der Austausch der Arbeitskräfte überdie ehemaligen Grenzen hinweg so lange dauern bis sich dieLöhne für die gleiche Arbeit im Binnenmarkt ausgeglichen hätten.

Nun ist es bestens bekannt, dass sich der Binnenhandel unter denMitgliedstaaten enorm ausgeweitet hat – sie wickeln 60% ihresehemaligen '(Außen)Handels' unter sich ab. Handelstechnisch istdie Globalisierung für die EU-Mitglieder also vorwiegend eineEuropäisierung. Dabei hat sich die Produktpalette innerhalb derBranchen außerordentlich verbreitert. Zur eigentlichen Arbeitstei-lung im Sinn der Verschiebung ganzer Produktionszweige in an-dere Länder ist es aber nicht gekommen!

Auch haben sich die Einkommensniveaus untereinander angenä-hert, was erhebliche regionale Disparitäten nicht ausschließt (z.B.in Italien: das Sozialprodukt pro Kopf in der Lombardei liegt 1/3über dem EU-Durchschnitt, dasjenige Kalabriens mehr als 1/3(40%) darunter). Das legt die Folgerung nahe, dass der wirt-schaftliche Wanderungsdruck (Push-Faktor) zwischen Mitglieds-ländern durch die regionalen Einkommensunterschiede, alsozwischen Hoch- und Niedriglohngebieten, weitgehend absor-biert wurde.

Die Menschen wandern innerhalb der EU (begrenzt) zwischenden Regionen, aber nicht grenzübergreifend zwischen den Län-dern! Hinzu kommt, dass die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit in-nerhalb des ganzen EU-Raums insgesamt bisher die Sogwirkungzwischen den Ländern weitgehend unterbunden hat. Wenig qua-lifizierte Arbeitskräfte werden anderswo auch nicht nachgefragt.

Heinz Werner leitet daraus ab, dass Freizügigkeit zwar ein Schrittzu einem europäischen Arbeitsmarkt ist, aber keinen Mobilitäts-schub auslösen konnte, weil:

• sich die Wohlstandsniveaus angenähert haben bzw. die Ein-

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kommen in der angestammten Heimat offensichtlich als aus-reichend akzeptiert wurden.

• die Direktinvestitionen (Freihandel, Kapitaltransfer) dieArbeitskräftewanderung ersetzten.

• die Vorteile der kulturellen Einwurzelung höher geschätztwurden als die Nachteile der Abwanderung und Entwurze-lung. Gegenüber diesem traditionellen Bleibemotiv müssenEinkommensdifferenzen schon massiv sein, um als Wande-

rungsgrund durchzuschlagen.10

All das schließt Sonderentwickungen bei den Grenzregionen (to-tal 200.000 Pendler), bei den befristeten Aufenthalten (Praktika,Geschäftsreisen, Werkvertragsarbeitnehmer) und bei qualifizier-ten Fachkräften ('green card'- Spezialisten) nicht aus. Letzterewerden in immer höherem Maß im gesamten europäischenRaum nachgefragt.

3.3.2. Die Binnenwanderung und der europäische Osten

Eine ganz andere Entwicklung scheint sich aufzutun, wenn manan die seit 2004 vollzogene Osterweiterung Europas denkt. WieFassmann und Münz nachgewiesen haben,11 stellte der OstenEuropas seit der industriellen Revolution für den Westen ein gro-ßes und unverzichtbares Arbeitskräftereservoir dar. Die Wande-rung westwärts erfolgte in mehreren, genauer in 4 Etappen:

1. Phase: (westeuropäische Industrialisierung)

Zwischen 1850 und 1920 erfolgte nicht nur eine starke Auswan-derung aus Polen, der Ukraine und Tschechien nach Amerika(30 Mio.), sondern auch eine innereuropäische Wanderung in

10. Vgl. Werner, 2001.11. Fassmann, Heinz/Münz, Rainer: La migration d'est en ouest en Europe(1918-1993), in: Revue Européenne de Migrations Internationales, Bd. 11/3,1995.

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Die EU als Wanderungsraum

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die Produktions- und Handelszentren. Bekannt sind die Wande-rungen der Polen ins Ruhrgebiet.

2. Phase: (Zwischenkriegszeit 1918-1939)

In der Zwischenkriegszeit schlugen die politischen Gründe imGefolge der gewaltsamen Nationalismen als Wanderungsdruck(push-Faktoren) zu Buche. Die Blüte der Nationalideen schuf'neue' ethnische Minderheiten und endete schließlich in derenUmsiedlung und Vertreibung. So wanderten auf der Ost-West-Achse in diesem Zeitraum ca. 9,2 Mio. Ost-Mitteleuropäer ab.Man schätzt, dass etwa 2/3 davon den ethnischen 'Reinigungen'zu entkommen versuchten.

Diese Bewegung lässt sich quer durch ganz Europa von Grie-chenland über Rumänien, Polen, Russland, Tschechien undDeutschland verfolgen. Auch die Rückwanderungen waren be-trächtlich, erlangten aber nicht annähernd diese Größenord-nung.

3. Phase (Nachkriegszeit 1945-1950)

Diese Abwanderungswelle war eine Folge des Zweiten Welt-kriegs und zahlenmäßig noch stärker als die vorangegangene.Laut Schätzung der UNO waren 30 Mio. Menschen in Bewe-gung, wenn man auch die länderinternen Wanderungen mit ein-bezieht.

Die Hälfte (also 15,4 Millionen) fällt unter den strengeren, aufGrenzüberschreitung abhebenden Mobilitätsbegriff. Die Zahlensind imposant und zugleich fürchterlich:

• 12 Millionen Deutsche flohen oder wurden aus den Ostge-bieten Deutschlands und den besetzten Gebieten des Ostenswieder vertrieben.

• Von den 10,5 Millionen Heimatvertriebenen, Kriegsgefange-nen, Zwangsarbeitern und Überlebenden von Konzentrati-

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onslagern kehren etwa 4,7 Millionen Überlebende in ihreUrsprungsländer in Mittel-Osteuropa zurück.

• Die neuen Grenzziehungen in Europa (nach den Konferen-zen von Jalta (1944) und Potsdam (1945)) führen zu weiterenUmsiedlungen in Tschechien, Polen, Russland (Ostpreußen),Litauen, in der Ukraine, in Italien und Slowenien (je100.000), Ungarn, Rumänien, Serbien und sogar Nordeu-ropa (400.000 Karelier ziehen nach Finnland).

Nach der Errichtung des 'Eisernen Vorhangs' quer durch Europakommen die Abwanderungsströme zunächst zum Erliegen undnehmen meist punktuellen Charakter an.

4. Phase: (Die Zeit des Kalten Krieges 1950-1993)

Eine Ausnahme bildet die konstante Westwanderung der DDR-Bürger (1950-1961: 5,3 Millionen) – solange, bis diese durchden Mauerbau 1961 unterbunden wurde. Hier handelt es sichaber um einen statistischen Sonderfall, da er in den amtlichenStatistiken oft als Binnenwanderung geführt wird. In Ungarn(1956), Tschechien (1968) und Polen (1981) folgen die Wande-rungen (total: 600.000 Flüchtlinge) den jeweiligen Revolutionenbzw. den sich ausbreitenden Unruhen, erreichen aber nicht dieGrößenordnung der innerdeutschen Migration. Die meisten an-deren Verschiebungen sind bei uns wenig beachtet worden,wenn man von den jüngeren Fluchtbewegungen der 90er Jahreaus dem früheren Jugoslawien, Bosnien-Herzegowina, Kosovoetc. absieht (1991-1993: 650.000 Personen).

Insgesamt ergibt sich für den genannten Zeitraum von rund 40Jahren aber wiederum eine höchst beachtliche Zahl von 14 Mil-lionen Personen. Waren die Wanderungen aus Osteuropa unddem Balkan anfänglich eher politischer Natur, so haben sie sichspäter immer deutlicher mit wirtschaftlichen Motiven vermischt.

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Die EU als Wanderungsraum

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3.3.3. Der Sonderfall Deutschland und die 'deutschen Ängste'

Kein europäisches Aufnahmeland hat dabei eine vergleichbareRolle gespielt wie Deutschland. 2/3 der oben genannten Wan-derungen führen die Menschen nach Deutschland (1950-1993:9,6 Millionen. Davon waren 5,2 Millionen Deutsche). Die Grö-ßenordnungen des Wanderungsgeschehens liegen rund 10 malso hoch wie in Frankreich! Die deutschen Ängste vor einer Öff-nung der Grenzen nach Osten sind in dieser Hinsicht auch be-sonders groß. Dazu ist aber folgendes anzumerken:

• Bis 1989/90 sind die bedeutsamen Wanderungen – mit Aus-nahme der innerdeutschen Absetzbewegung nach Westen –zahlenmäßig immer begrenzt gewesen. Das hing damitzusammen, dass sie auf bilateralen Übereinkünften zwischenRegierungen beruhten. Nach 1989 ist das nicht mehr derFall.

• Die Ost-Westwanderung aus ethnischen Minoritäten, Flücht-lingen und Wirtschaftswanderern ist heute eine Massenbewe-gung und stellt sozusagen die neue Normalität dar. Zwischen1989-1993 haben ganze fünf Mio. Europäer ihr Land verlas-sen (darunter 1,8 Millionen Flüchtlinge aus dem Jugoslawi-enkrieg). Die meisten enden, ohne bilaterale Rekrutierung,auf den Arbeitsmärkten der großen europäischen Städte. Seit1945/46 hat der Kontinent keine solche Völkerwanderungmehr erlebt.

• Westeuropa reagiert auf diese Entwicklungen, auch wenn siehistorisch kein neues Phänomen sind, mit Angst und Zurück-weisung. Schätzungen, dass das Wanderungspotential ausden nun nach Westen offenen Mittel- und OsteuropäischenLändern (einschließlich Russlands) sich auf weitere fünf, wennnicht gar 25 Millionen Menschen beläuft, sind jedoch sicherstark übertrieben.

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• Erhebliche Bevölkerungsverschiebungen sind aber nicht aus-zuschließen, da sich die Transformationsländer nicht soschnell den Lebensbedingungen der bisherigen 15 EU-Län-der angleichen werden, wie man anfänglich dachte. Daswirkt sich als push-Faktor auf die dortigen Arbeitsmärkte aus,und begünstigt wenigstens temporäre Abwanderungsent-scheidungen. Das gilt auch für die Nicht-EU-Länder Ukraine,Weißrussland, Moldawien, Kroatien, Bulgarien, Rumänien,Albanien etc.

• Seit der Osterweiterung der EU von 2004 werden dieseStröme aus den neuen Mitgliedsländern der Binnenwande-rung zugeschlagen. Deswegen waren die Kämpfe um dieÜbergangsfristen bis zur Gewährung der völligen Freizügig-keit der Arbeitskräfte in den Beitrittsverhandlungen hart undsind vermutlich noch nicht ganz ausgefochten.

• Die stärkste Aufmerksamkeit Deutschlands richtet sich dabeiauf den polnischen Arbeitsmarkt. Polen hat die stärkstenUmstrukturierungen (von einem überwiegenden Agrarland zueiner Dienstleistungsgesellschaft) zu verkraften, was umfas-sende Freisetzungen von Arbeitskraft und damit auch Migrati-onsentscheidungen begünstigen kann.

• Augenblicklich leben rund 300.000 Polen im NachbarlandDeutschland. Das sind keine dramatischen Werte, wenn mansie mit der Zahl der Türken vergleicht. Was für die Zukunftdaraus abzuleiten ist, lässt sich schwer sagen.

• Die zugrundeliegenden Motive sind heute hauptsächlich wirt-schaftlicher Natur (vgl. Kapitel 4). Die Kaufkraftdisparitätenzwischen Ost und West sind beachtlich. Daran ändern auchdie zur Zeit günstigen Wachstumsraten noch wenig. Es lohntsich deshalb, in einem 'alten' EU-Land wie Deutschland zuarbeiten. Es kann aber sehr gut sein, dass die Einkommen,nach Art der 'Transmigrations'-Erfahrungen, überwiegend inPolen ausgegeben werden.

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Die EU als Wanderungsraum

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• Das Schwergewicht der nationalen Kulturen ist im allgemei-nen in Europa so hoch, dass sich bei Veränderung der Wirt-schaftsdaten – ganz wie etwa bei der Remigration derItaliener, Spanier und Portugiesen – auch nach Osten neueRückwanderungsströme bilden (temporäre Wohlstandswan-derung).

• Wie sich an den Zahlen der 'Daueraufenthalter' in Deutsch-land aus den früheren Zuwanderungswellen zeigt, wird manaber auch jetzt mit einem festen, in der Höhe derzeit kaumabschätzbaren Prozentsatz von unentschiedenen, sozio-kultu-rell ambivalenten Einwanderern rechnen müssen. Nach einerweiteren Generation von Wanderungsgeschichten (also etwaum das Jahr 2030) werden wir mehr darüber wissen.

4. Ausblick

Wie die anderen europäischen Gesellschaften wird sich auchDeutschland also zwangsläufig, aber vielleicht widerwillig, eth-nisch-kulturell 'pluralisieren'. Das ist wohl der Weg aller europäi-schen Länder nach Europa. Die Frage ist nur, ob er kontrolliertoder unkontrolliert erfolgt und ob die Spannungen im Geist dereuropäischen Zivilisation und Integration gelöst werden.

Menschen kämpfen u.a. um die Veränderung ihres sozialenRaums. Es geht dabei nicht allein um die Arrondierung ihrer Be-sitzungen und Gebiete, auch nicht um die Verbesserung ihrerChancen, sich eines dauerhaften Wohlstands zu versichern. Hier-bei treffen Zuwanderer auf einheimische 'Bodenbesitzer' (Sim-mel). Dass solche Konflikte erheblich sind (und auch zu allenFormen der Gewaltanwendung führen können), kann kaum ver-niedlicht werden. Europa ist seit jeher ein spannungsvolles Ge-misch von kulturellen und politischen Strömungen. Hier warenVölkerwanderungen, Überlagerungen, Unterschichtungen, Dis-kriminierungen, Ausgrenzungen etc. immer endemisch. Ein Blickauf die Geschichte kann uns darüber kaum im Zweifel lassen.

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Im historisch einmaligen, europäischen Einigungsprozess des20./21. Jahrhunderts treten über die Bevölkerungsverschiebun-gen alte Probleme auf, die aber von jeder Generation wieder alsneu erfahren werden.

• Das erste Problem betrifft das Verhältnis von externer undinterner Wanderung. Die Frage ist, ob die ursprünglichexterne Zuwanderung aus den Mittel- und OsteuropäischenLändern (MOEL) künftig als interne und damit 'normale' bzw.sogar gewünschte Bevölkerungsverschiebung gewertet wird.Die Zuwanderungen von außen (Drittländer) sind aus derSicht der Nationalstaaten und der EU das größere Problem.Wir brauchen sie jedoch, um der drohenden demographi-schen Lücke wirksam entgegenzutreten.

• Durch den gemeinsamen Binnenraum wird das Verhältnisvon Bewegung und Stabilisierung noch verstärkt. Hat Europaschon ein Problem, die Zuwanderung von außen zuzulassen,aber auch unter Kontrolle zu bringen, so gilt das künftig fürabsehbare Zeit auch für die Binnenwanderung innerhalb derEU. Im Allgemeinen wird erwartet, dass das Wanderungspo-tential nach 2010/2015 sinkt, wenn sich die wirtschaftlichenund politischen Verhältnisse in den zehn Beitrittsländern von2004 etwas normalisiert haben.

• Auch im Europäischen Binnenraum sind die Ansprüche annationale Souveränität und kulturelle Besonderheiten nichtvom Tisch. Sie können es nicht. Es wäre auch nicht wün-schenswert. Wie sie mit einem notwendigen ethnisch-kulturell

'Vergemeinschaftungsglaube'12 auf nationaler und europäi-scher Ebene in Einklang gebracht werden, wird sich nichtzuletzt an den Migrationsströmen und ihrer politischenBehandlung ablesen lassen.

• Denn nur unter der unrealistischen Annahme, dass soziale

12.Vgl. Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen 1964.

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Räume entstünden, ohne dass sich die neuen mit den altenBevölkerungen vermischten, könnte das Problem der jeweili-gen 'Vergemeinschaftung' distanziert und relativ entspanntangegangen werden. Die Dynamik Europas zielt nicht indiese Richtung. Zudem ist die EU selbst Ausdruck einer'regionalen Globalisierung'. Das heißt, sie selbst steht unterdem Gesetz der Raum-Zeit-Kompression. Deshalb akzentu-iert sie auf den verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen lau-fend das Verhältnis von Schließung und Offenheit, vonvermeintlicher Homogenität und Differenz, von Einheit undDiversität. Die Verarbeitungskapazitäten der nationalen Ge-sellschaften und der Europäischen Union dafür sind vermut-lich höher als im allgemeinen unterstellt wird.

Europa hat mit und von der Spannung zwischen Einheit und Viel-heit immer gelebt, sich im Gegensatz zu klassischen Einwande-rungsländern wie den USA aber auch immer schwer damit getan.Man darf dabei keinen Illusionen verfallen, muss diesmal aberdie Hoffnung auf einen Ausgleich auch nicht fahren lassen. DieZeichen standen schon lange nicht so günstig wie heute, dass derSprung wenigstens in einen gemeinsamen Binnenraum als ge-sellschaftlicher, wirtschaftlicher, politischer und zivilisatorischerEntfaltungsraum gelingen kann. Dass dieser Prozess mittel- undlangfristig nicht ohne sozialen Wandel bei allen Betroffenen vorsich gehen kann, ist beinahe eine soziologische Binsenweisheit.Auf dem Weg nach Europa tun wir dennoch gut daran, die Au-gen nicht davor zu verschließen.

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5. Literaturverzeichnis

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Die EU als Wanderungsraum

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nales dans le monde, Paris 1995.Simon, Gildas: La France, le système migratoire européen

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Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen1964.

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Theater ohne Grenzen.Von der Qualität des interkulturellen Dialogs in

der Kinder- und Jugendkulturarbeit

Norbert Radermacher

Im Kontext einer Diskussion über Kunst und Kultur als Integrati-onsfaktoren in Europa kommt der Zielgruppe der Kinder und Ju-gendlichen eine besondere Bedeutung zu. Das Interesse an derKunst artikuliert sich bei jungen Menschen jedoch nicht aus-schließlich über Konzert-, Museums- und Theaterbesuche, son-dern die Kunst gewinnt gerade dort ihren Stellenwert, wo sieEinmischung und Partizipation ermöglicht. Aktive Aneignungsfor-men und Ensemblespiel stehen höher im Kurs als die Betrachtungund der rein rezeptive Nachvollzug von Kunst. Ganz in diesemSinne entstand das Projekt eines europäischen Theaterdialogs,über das ich im Folgenden berichten möchte.

'Theater ohne Grenzen' meint den kulturellen Dialog mit den Mit-teln des Theaters zwischen Kindern und Jugendlichen aus denLändern und Regionen Europas – den interkulturellen Austauschzwischen den Nationalstaaten und Kulturgemeinschaften. Ich be-ziehe mich in meinem Beitrag dabei auf die europäischen Kin-der- und Jugendtheaterprojekte der internationalen Organi-sation EDERED (European Drama Encounter – Recontres Euro-péennes de Drama).

Meinen Ausführungen voran stelle ich ein Zitat aus dem Berichteines 14-jährigen Mädchens, das 1998 am 9. Europäischen Kin-dertheaterprojekt in Helsinki/Finnland teilgenommen hat.

Sie schreibt in ihrem Bericht:

"Diese zwei Wochen möchte ich nicht missen. Ich habe so vieleneue Freunde gefunden und viel Spaß gehabt. Und dass man inzwei Wochen soviel lernen kann, wusste ich zuvor nicht. Es kam

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einem so vor, als würde man ALLE schon sein Leben lang ken-nen und keiner wollte mehr nach Hause, weil es so schön warund das Theaterspielen jeden Tag fehlt mir jetzt total. Nach die-sen zwei Wochen bin ich noch selbstbewusster geworden. Auchsonst habe ich mich verändert. Ich weiß jetzt auch, dass alleMenschen gleich sind und es keinen Unterschied macht, auswelchem Land man kommt und wie man aussieht. Und mankann mit Menschen aus einem anderen Land genau soviel Spaßhaben, wie aus dem Land aus dem du kommst."1

In diesem Bericht drückt die Teilnehmerin eine Empfindung aus,die viele Jungen und Mädchen bestätigen können, die seit 1982an den Europäischen Kinder- und Jugendtheaterprojekten vonEDERED teilgenommen haben. Ihre Reaktionen im Anschluss an14 erlebnisreiche Tage sind vielfach ähnlich. Sie berichten vonihren wunderbaren, persönlichen Eindrücken, ihren einzigartigensozialen und künstlerischen Erfahrungen und sie formulieren ihreErwartungen an ein Europa der Jugend, ein Europa der Friedfer-tigkeit und des Dialogs.

Seit 1982 werden diese Europäischen Werkstatttreffen von derinternationalen Organisation EDERED veranstaltet, die eigenszum Zwecke der Vorbereitung und Durchführung dieser Projektegegründet wurde.

Die Idee zu den Theatertreffen entstand 1979 im Rahmen einesSeminars des Europarates in Eskilstuna (Schweden).

Innerhalb dieser Konferenz wurde eine Resolution für ein Projektdes Europarates verabschiedet und ein jährliches Treffen vonKinder- und Jugendlichen der Mitgliedstaaten des Europaratesvereinbart. Ziel dieser Veranstaltung sollte sein, Kinder und Ju-gendliche mit den Mitteln des Theaters

"[...] im europäischen Verständnis einzuüben, um die Vielfaltund die Unterschiede der verschiedenen europäischen Kultur-

1. Desiree Sander, TPZ - Theaterwerkstatt Lingen.

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und Sprachgruppen zu erfahren, zu erleben und kennenzuler-nen."2

Es dauerte jedoch noch drei Jahre, bis vom 4.- 8. Juli 1982 in LaMarlagne (Belgien) das erste Kindertheaterprojekt stattfindenkonnte. Seitdem haben über 4000 Kinder und Jugendliche ausüber 30 europäischen Ländern an den insgesamt 20 Theatertref-fen teilgenommen. Die Grundidee von Eskilstuna sowie Ziel undZweck des ersten Treffens in Belgien haben im wesentlichen fürdie folgenden Treffen ihre Gültigkeit behalten.

Das Ziel war:

"Kinder der verschiedenen Sprach- und Kulturgemeinschaftenzusammenzuführen, um ihnen die Möglichkeit zu geben, durchdas Theater als Ausdrucksmittel miteinander in Kontakt zu tre-ten, voneinander Erfahrungen zu sammeln, Erlebnisse undGefühle des Lebensalltages mitzuteilen, um dadurch gleichzei-tig auch das Verständnis für die Europäische Gemeinschaft zufördern und Wege zur Lösung von Spannungen und Konfliktenaufzuzeigen."3

Auch wenn in dieser Zielformulierung das Theater nur als Mittelzur Förderung des europäischen Dialogs benutzt wird, so habendie Treffen ganz entscheidend auch die Diskussion über theater-pädagogische Methoden in Europa beeinflusst.

Seit 1982 haben über 350 Künstler, Musiker und Tänzer, Thea-terpädagogen und Regisseure aus Europa als Werkstattleiter andiesen Treffen mitgewirkt. So bildete sich im Laufe der Jahre eineuropäisches Netzwerk theaterpädagogischer und künstlerischerKompetenz, das weit über diese engeren EDERED-Veranstaltun-gen hinaus geht. Auf der Basis dieses kulturellen europäischenNetzwerks konnte der Dialog über unterschiedliche Standards in

2. Vgl. Esther Mischler, in: SADS (Hrsg.): Shake&speare – Schütteln & aufspie-ßen: Eine Werkdokumentation des 1. Europäischen Jugendtheatertreffens inStratford/GB, Zürich 1988.3. Ebd.

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der Theaterarbeit mit Kindern und Jugendlichen in Europa ent-scheidend weiterentwickelt werden.

Da fast alle europäischen Länder und viele Mittelmeerstaaten aneinem dieser Treffen teilgenommen haben, gibt es mittlerweileumfangreiche bilaterale Kontakte zwischen den einzelnen Län-dern. Dieser Austausch wird auf internationaler Ebene, z.B. imKontext des 'Welt-Kindertheater-Festes' und anderer internationa-ler Symposien und Projekte fortgesetzt.

In den einzelnen Theater-Werkstätten dieser Treffen sind jeweilsca. 16-20 Kinder und Jugendliche aus 8-10 Nationen und siesprechen fast ebenso viele Sprachen. Als Repräsentanten ihrer je-weils unterschiedlichen Kulturen sind sie Impulsgeber und Motorder Veranstaltung. Sie kommen alle mit einer großen Erwartungs-haltung und einer unbändigen Lust, Neues zu erfahren und an-dere Menschen kennen zu lernen.

Die Kinder und Jugendlichen bringen aber auch ihre persönli-chen kulturellen Erfahrungen, ihre Träume und Phantasien, Hoff-nungen, Utopien und Ängste in den theatralen Prozess ein.

Die jugendlichen Teilnehmer erfahren die Qualität dieser Grenz-überschreitungen aus einer alterstypischen emotional geprägtenGrundhaltung heraus. So fasst der 14-jährige Phillip Dietz ausDeutschland seine Erfahrungen beim 9. Europäischen Kinder-theaterprojekt in Helsinki 1998 wie folgt zusammen:

"Die ganzen zwei Wochen waren für mich ein außerordentlichesErlebnis und eine große Erfahrung über das Theaterspielen inanderen Ländern. All dies würde ich jedem weiterempfehlen,der Theater spielt oder es lernen möchte, denn dort ist der bestePlatz dafür."

An die Künstler und Pädagogen werden innerhalb einer solchenKinder- und Jugendtheaterwerkstatt hohe Anforderungen ge-stellt. Neben der selbstverständlichen künstlerischen Kompetenzund Erfahrung in der interkulturellen Arbeit werden von ihnen

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Teamfähigkeit und ein hohes Maß an pädagogischer Qualifika-tion verlangt.

Die Werkstattleiter haben die Aufgabe das große Potential derKinder zu aktivieren und geeignete Arbeitsformen und Methodenzu entwickeln, um diese Kräfte in gemeinsame künstlerische Pro-zesse umzusetzen.

Die europäischen Kinder- und Jugendtheaterwerkstätten verste-hen sich als Forum des Austausches und des Dialogs zwischenden Kindern und Jugendlichen und den beteiligten KünstlerInnenund PädagogInnen.

Sprachprobleme spielen während der Werkstatttreffen ganz sel-ten eine Rolle. Zitat aus einem Bericht einer jugendlichen Teil-nehmerin des 1. Jugendtheaterprojektes in Stratford/Groß-britannien (1987):

"Wir verständigten uns nicht in einer Sprache, sondern in ver-schiedenen! Wir amüsierten uns köstlich. So kam es auch, dasswir bis zum Ende des Kurses ein Stratford-Esperanto erfundenhatten.Ich erachte es als sehr positiv und anregend, in einer Gruppemit so vielen verschiedenen Leuten und Sprachen konfrontiertzu werden. Mit der Zeit haben wir uns in der Gruppe mit Dol-metschen arrangiert. Malta übersetzte von Englisch in Italienisch und Spanisch. Spa-nien auf Portugiesisch oder Belgien auf Französisch. Wir habenoft gelacht." (Flavon Bearth)

Im Theaterspiel können Sprachprobleme schnell überwundenwerden, weil in Mimik, Gestus und Bewegung das Wort lebendigwird. Das Spielerische und das Körperliche des theatralen Pro-zesses ermöglichen einen neuen Zugang zu sich selbst und zumanderen. Zugleich fördern Spiel und Theater die Fähigkeit, imDenken, im individuellen Erleben, im sozialen Verhalten genausowie im künstlerischen Ausdruck – objektiv und subjektiv – Neueszu schaffen.

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Die Äußerungen von Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Eu-ropäischen Kinder- und Jugendtheaterwerkstätten zeigen, dassdie gemeinsame Theaterarbeit wesentlich dazu beiträgt, kulturel-le Andersartigkeit zu respektieren und Grenzüberschreitungen zuwagen. So ist es möglich, dass trotz der verschiedenen Sprachen,Kulturen und sozialen Herkünfte ein gemeinsames Theaterpro-dukt entstehen kann, auf das am Ende die Beteiligten sehr stolzsind. Eine Voraussetzung ist allerdings die Akzeptanz der eigenenVerunsicherung zu Beginn des Projekts. Es gilt dabei die Angstvor dem Fremden auszuhalten, zu bewältigen und als Ermuti-gung für die eigene Lebensperspektive zu erfahren. Aus der Neu-gierde erwachsen die sinnhaft-körperlichen Vorgänge desTheaters und sie beschleunigen den Prozess der Aneignung un-bekannter Welten. Hier liegt die besondere Qualität dieserKunst! Wenn heute weltweit Grenzen per Email und Internet inSekundenschnelle mit einem Mausklick überschritten werdenkönnen, so fehlt diesen modernen Kommunikationsformen einewesentliche humane Dimension. (Was ist schon ein 'Hello' aufdem Bildschirm gegen eine körperliche Umarmung, einen Hän-dedruck, einen Blick in die Augen oder einen Kuss auf die Wan-ge). Ich muss den anderen riechen, seine Essgewohnheitenkennen lernen, sein Lachen hören, seine Trauer, seinen Schmerzund seine Freude nachempfinden können.

Theaterpädagogische Methoden und die künstlerischen Mitteldes Theaters sind auf die Berührung mit dem Menschen und zwi-schen den Menschen angelegt. Sie sind geradezu zwingend not-wendig, damit die künstlerische Aufgabe erfüllt werden kann. Inkeiner anderen Kunstform arbeitet man mit so vielen und intensi-ven körperlichen Kontakten. Gerade aus der konkreten Begeg-nung mit dem Fremden im Theaterraum entwickeln sich diebefreienden und schöpferischen Kräfte, die dazu beitragen, dieKunst des Zusammenlebens zu üben als eine der wesentlichenVoraussetzungen für ein geeintes Europa.

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Kulturpolitischer Anhang

Die kulturelle und künstlerische Jugendbildung fällt zur Zeit nochzu sehr durch das Raster von Jugend-, Bildungs- und Kulturpoli-tik.

Die Theaterprojekte mit Kindern und Jugendlichen passen entwe-der nicht in die Zielvorgaben der Jugendpolitik oder gehörennicht in die Kategorien klassischer Bildungsaufgaben und dieKunst und Hochkultur hatte immer große Schwierigkeiten mit ju-gendspezifischen und pädagogisch orientierten Maßnahmen.Aber gerade in der Schnittstelle dieser drei Bereiche liegt dieQualität solcher Projekte.

Das Dilemma von kultureller Kinder- und Jugendbildung alsQuerschnittsaufgabe wird an dem Beispiel der EDERED Projektebesonders deutlich. Eine Finanzierung der Theaterwerkstättenüber eine europäische Förderstruktur ist zur Zeit sehr schwierig.

Und obwohl man seit dem Vertrag von Maastricht (Kulturklausel)den Aufbau von europäischen Kulturnetzwerken in die Förder-programme (z.B. Kultur 2000) ausdrücklich aufgenommen hat,ist die europäische Union nicht bereit, institutionelle und admini-strative Kosten zu übernehmen. Man versucht, die Projekte in diejeweilige nationale Verantwortung zu geben, die wiederum sichnicht in der Verpflichtung sieht, gesamteuropäische Aufgaben zufinanzieren. Daher steht die europäische Jugendpolitik vor derHerausforderung, die Förderung internationaler Jugendaus-tauschmaßnahmen besser mit den Mitgliedsstaaten abzustim-men, um auf dieser Ebene ergänzende Fördermöglichkeiten zuschaffen, wobei der Jugendkulturaustausch mit seinen vielgestal-tigen Begegnungsformen auch in der europäischen Kultur- undBildungspolitik eine besondere Berücksichtigung finden muss.4

4. Vgl. Becker, Helle: Europäische Jugendkulturarbeit (= Schriftenreihe derBundesvereinigung Kulturelle Jugendbildung), Bd. 34, Remscheid 1996.

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Die kurzfristig formulierten politischen Prioritäten im Jugendaus-tausch müssen einer längerfristigen Strategie der internationalenBeziehungen im Jugendsektor weichen, denn jugendkulturelleMaßnahmen wie die EDERED-Projekte sind sowohl in ihrem bil-dungspolitischen Anspruch als auch in ihrer erzieherischen Qua-lität auf Kontinuität und langfristige Wirkung angelegt.

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Literaturverzeichnis

Becker, Helle: Europäische Jugendkulturarbeit (= Schrif-tenreihe der Bundesvereinigung Kulturelle Jugendbil-dung), Bd. 34, Remscheid 1996.

Bundesvereinigung Kulturelle Jugendbildung (Hrsg.): Kul-tur, Jugend, Bildung, Bd. 58, Remscheid 2001.

SADS (Hrsg.): Shake&speare – Schütteln & aufspiessen:Eine Werkdokumentation des 1. Europäischen Jugend-theatertreffens in Stratford/GB, Zürich 1988.

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Der Mythos von der Massenimmigration

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Der Mythos von der Massenimmigration.Ost-West-Wanderung im Zuge

der Osterweiterung

Angelina Topan

1. Einführung

Gegenstand dieses Beitrages ist die Frage, ob mit der bevorste-henden Osterweiterung der Europäischen Union mit einer Mas-senwanderung mittel- und osteuropäischer Arbeitskräfte ge-rechnet werden muss. Zum einen konzentriert sich der Artikeldeshalb auf die Szenarien potentieller Wanderung von mittel-und osteuropäischen Arbeitskräften unter Berücksichtigung derdemographischen und ökonomischen Entwicklung in den MOEL(mittel- und osteuropäische Länder). Zum anderen wird auf dieMaßnahmen der Europäischen Union zur Steuerung der Arbeits-migration aus den Beitrittskandidaten eingegangen. Diese um-fassen im wesentlichen Maßnahmen im Bereich der Personen-freizügigkeit.

Unmittelbar nach Beendigung des Ost-West-Konflikts kam es bis1992/93 zu einer Ost-West-Wanderung größeren Ausmaßes.Die Mehrheit reiste entweder mit einem Touristenvisum oder alsHändler, Arbeitskräfte und Flüchtlinge ein. Motive der Migrationwaren nicht nur ethnisch-nationale Spannungen und der Bürger-krieg in der ehemaligen Republik Jugoslawien, sondern auch dieökonomische und politische Ungewissheit über den Erfolg desTransformationsprozesses.1 Ab 1992/93 ging die Ost-West-Wanderung merklich zurück. Gründe hierfür waren einerseits dierückläufige Flüchtlingswanderung und die politische wie ökono-

1. Topan, Angelina: Die Europäische Union – eine notwendige regionaleKooperation? Antworten der Neuen Politischen Ökonomie am Beispiel derUmwelt- und Migrationspolitik, Hamburg 2001, S. 115.

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mische Stabilisierung in Mittel- und Osteuropa. Andererseits fandeine zunehmende Abschottung der EU statt. Zudem verschlech-terte sich die Arbeitsmarktlage in der Europäischen Union.2 So-mit nahmen sowohl Push- als auch Pullfaktoren der Migrationab. Trotzdem blieb die EU auch in den 90er Jahren des vorigenJahrhunderts ein bevorzugtes Ziel der Ost-West Migration. ImFolgenden wird der Fokus auf reguläre Arbeitsmigranten aus denmittel- und osteuropäischen Beitrittskandidaten liegen.

2. Szenarien der Arbeitsmigration aus denmittel- und osteuropäischen Beitrittskandidaten

Inzwischen liegen zahlreiche Prognosen der zu erwartenden Ost-West-Wanderung vor. Diese lassen sich grundsätzlich in zweiGruppen einteilen – in mikroanalytische repräsentative Befra-gungen und in makroanalytische Modellrechnungen. Trotz derunterschiedlichen Designs und der differierenden Methodik kom-men beide Gruppen von Forschungsarbeiten zu ähnlichen Er-gebnissen.3 Mittel- bis langfristig ist nicht mit einer "Völker-wanderung" zu rechnen, wie uns vielfach die politischen Debat-ten um die Osterweiterung suggerieren wollen.4 So scheint essich um zweckrationale politische Debatten zu handeln, die widerbesseren Wissens die Angst vor Überfremdung und sozialem Ab-stieg der Bürger für kurzfristige politische Erfolge instrumentalisie-ren und einem anti-europäischen Populismus Vorschub leisten.

Eine in regelmäßigen Abständen durchgeführte Umfrage der Eu-

2. Fassmann, Heinz: Ost-West-Wanderung: reale Entwicklungen und zukünf-tige Erwartungen, in: Husa, Karl/Parnreiter, Christof/Stacher, Irene (Hrsg.):Internationale Migration. Die globale Herausforderung des 21. Jahrhunderts?,Frankfurt am Main 2000, S. 116ff.3. Brücke, Herbert/Trübswetter, Parvati/Weise, Christian: EU-Osterweiterung:keine massive Zuwanderung zu erwarten, in: DIW-Wochenbericht 21/00, S.324.4. Ackermann, Ulrike: Ein Samtener Vorhang vor der Osterweiterung?, in:Aus Politik und Zeitgeschichte, B 15/2001, S. 4.

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ropäischen Kommission in den Mitgliedstaaten zur Osterweite-rung spiegelt die Ängste in der EU-Bevölkerung wider. EineMehrheit der im November 2002 Befragten, 65%, glauben, dassviele Bürger der neuen Mitgliedstaaten sich in den alten Mitglied-staaten (EU15) niederlassen werden. Immerhin sind 44% der Be-fragten der Meinung, mit der Osterweiterung würde auch dieArbeitslosigkeit steigen, wobei die Zahlen zwischen 33% in Dä-nemark und 58% in Griechenland variieren. Ähnlich äußertensich die Befragten, wenn nach dem Niveau der sozialen Siche-rung gefragt wurde. So glauben 43% an ein Absinken des Ni-veaus, sobald die Osterweiterung stattfindet – mit steigenderTendenz in Deutschland, Griechenland und Österreich. Insge-samt zeigen die Umfrageergebnisse vom November 2002 imVergleich zu vorhergehenden Umfragen eine steigende Tendenzder Befragten, negative Effekte der Osterweiterung im sozialenund Arbeitsmarktbereich stärker zu bewerten.5 Werden die Be-fürchtungen der EU-Bürger auch von den empirischen Arbeitenunterstützt oder handelt es sich, zumindest in diesem Zusammen-hang, nicht vielmehr um unbegründete Zukunftsängste?

2.1. Mikroanalytische Befragungen

Ziel der mikroanalytischen Befragungen ist die Ermittlung der ab-wanderungsbereiten Menschen. Die Befragungen unterscheidensich vor allem in der Art der Fragestellung. Je allgemeiner dieFragen, desto größer ist auch das Migrationspotential. Exempla-risch hierfür werden die Ergebnisse zweier Befragungen vorge-stellt. In einer Befragungsreihe der IOM (International Organi-zation for Migration) 1999 in 11 ostmittel- und osteuropäischenStaaten gaben 13-68% der Befragten ein allgemeines Interessean einem kurzfristigen Arbeitsaufenthalt an, außerdem äußerten7-26% aller Befragten eine Bereitschaft zur dauerhaften Migrati-

5. Gallup Europe: Flash Eurobarometer 132/2: Results and Comments,Brüssel November 2002, S. 73.

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on.6 Die Befragung von Fassmann/Hintermann 1997 in Tsche-chien, Slowakei, Polen und Ungarn hingegen unterschiedzwischen einer allgemeinen Migrationsabsicht und einer bereitskonkret geplanten Migration. Wurde nach konkreten Migrations-absichten und ersten Wanderungsvorbereitungen gefragt, dannwaren lediglich zwischen 0,75 und 2,1% hierzu bereit.7 Insge-samt würde es sich dann um 1,4% bzw. 711.000 potentielle Mi-granten mit ersten Realisierungsmaßnahmen handeln. Dies isteine Bestandsgröße und nicht eine jährliche potentielle Netto-Mi-gration.

Die Mehrheit der in der Fassmann-Studie Befragten (ca. 65%)war an einem kurzfristigen Arbeitsaufenthalt bis zu 5 Jahren inter-essiert, davon strebten 19% lediglich einen einjährigen und 26%einen zweijährigen Arbeitsaufenthalt an. Sie würden jedoch Pen-deln im Tages- oder Wochenrhythmus bevorzugen. Dies lässtdarauf schließen, dass das Interesse an einer Arbeitsaufnahmeim EU-Ausland in den Grenzregionen besonders hoch ist. Fürdiese These spricht auch die Tatsache, dass die Mehrheit als Ziel-länder Deutschland (37%) und Österreich (24,4%) angeben, inerheblichem Abstand gefolgt von der Schweiz (9,1%) und Groß-britannien (6,4%).8 Bei den potentiellen Arbeitsmigranten han-delt es sich überwiegend um jüngere, gut qualifizierte Migranten,die ein relativ hohes Bildungsniveau besitzen. Wanderungswilligsind in der Regel Schüler, Studenten, Wissenschaftler, Beschäftig-te im Gesundheits- und Baubereich, aber auch Büro- und Ver-waltungsangestellte. Industrie- und Landwirte äußerten kaumWanderungsbereitschaft.9

6. Fassmann, Heinz/Münz, Rainer: Die Osterweiterung und ihre Konsequen-zen für die Ost-West-Wanderung, in: Bade, Klaus/Münz, Rainer (Hrsg.): Migra-tionsreport 2002: Fakten – Analysen – Perspektiven, Frankfurt am Main 2002,S. 75.7. Ebd.8. Ebd., S.76.9. Ebd., S. 78.

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2.2. Makroökonomische Modellrechnungen

Makroanalytische Modelle treffen eine Reihe unterschiedlicherAnnahmen, wobei alle eine Abhängigkeit der erwarteten Migra-tion von der Höhe der Einkommensunterschiede unterstellen. Beisteigender Lohndifferenz steigt die Migration und umgekehrt. Jeschneller die Integration abläuft, d.h. je schneller der Aufholpro-zess der mittel- und osteuropäischen Beitrittsländer erfolgt, destogeringer ist die Zahl der Migranten.10 Betrachtet man die Ergeb-nisse der Studien, unterscheiden sie sich bei der erwarteten Ge-schwindigkeit und dem Ausmaß der Gesamtwanderung. Beieinigen sinkt die jährliche Zahl der Migranten nach einigen Jah-ren erheblich ab, bei anderen bleibt sie über 15 bis 30 Jahre re-lativ konstant hoch. Gemeinsam ist allen Studien, dass sie miteiner jährlichen Wanderung von 0,3 bis 0,6% der Bevölkerungrechnen. Insgesamt prognostizierte die Mehrheit der Studien eineGesamtzahl an Migranten, die zwischen 3 und 5 Millionen Men-schen bzw. zwischen 3% und 5% der Bevölkerung Ostmitteleuro-pas liegt.11 Problematisch bei makroanalytischen Studien sinddie getroffenen Annahmen und die angewendeten Analogiever-fahren. Einige Studien legen empirische Untersuchungen zu frü-heren Beitrittsrunden, zur Arbeitskräftewanderung von Mexiko indie USA zugrunde oder stützen sich auf die Erfahrungen Deutsch-lands mit der Arbeitsmigration der 50er und 60er Jahre undübertragen diese Ergebnisse auf die Osterweiterung. Analogie-verfahren haben jedoch Grenzen.12 Beispielsweise herrscht inder Mehrheit der Beitrittskandidaten ein höheres Bildungsniveauund eine geringere Technologielücke, die mit einer höheren Pro-duktivität verbunden ist, als dies in Portugal 1986 der Fall war.13

Bei allen Studien fehlt die Berücksichtigung der geographischen

10. Brücke/Trübswetter/Weise, 2000, S. 327.11. Fassmann/Münz, 2002, S. 66.12. Brücker/Trübswetter/Weise, 2000, S. 319ff.13. Belke, Ansgar/Hebler, Martin: EU Enlargement and Labour Markets in theCEEC´s, in: Intereconomics, H. 5, Jg. 35, 2000, S. 225.

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Distanz sowie der soziokulturellen Faktoren. Die Wanderungsbe-reitschaft hängt nicht nur von "harten" ökonomischen Faktorenab, sondern beispielsweise auch von der Gefahr der sozialen Iso-lierung oder der Trennung von Familien und Freunden.14

Zusammenfassend können die Ergebnisse der makroanalyti-schen Schätzungen nur Modellcharakter haben und sind deshalbunter Vorbehalt zu betrachten. Die Ergebnisse der empirischenUntersuchungen haben eine besondere Brisanz, wenn es um dieFrage geht, ob Einwanderung in die EU15 benötigt wird, um diedemographische Lücke zu verringern.

3. Demographische Entwicklung in den mittel- und osteu-ropäischen Beitrittskandidaten

Kommt das Argument der demographischen Entwicklung insSpiel, werden in der Regel die Konsequenzen der sogenannten"doppelten Altersdynamik" in den westlichen Industriestaaten dis-kutiert. Hierunter wird eine sinkende Fertilitätsrate bei gleichzeitigsteigender Lebenserwartung verstanden. Folgen dieser Entwick-lung in der EU sind nicht nur eine drastische Verringerung derWohnbevölkerung, sondern auch ein Absinken der Erwerbsbe-völkerung verbunden mit einem Mangel an Fachkräften sowiemit einem dann kaum noch zu finanzierenden sozialen Siche-rungssystem. Nach Berechnungen von Eurostat (EuropäischesAmt für Statistik) wird die Erwerbsbevölkerung (20-64 Jahre) inder EU15 im Jahre 2025 nur noch 223 Millionen betragen,1995 waren es noch 225 Millionen. Der Anteil der Bevölkerungüber 65 hingegen wird sich von 15,4% (1995) auf 22,4% (2025)erhöhen. In Italien beispielsweise wird zwischen 1995 und 2050ein Bevölkerungsschwund von 28% mit einer Altersstruktur erwar-tet, nach der im Jahre 2050 jeder und jede zweite in Italien älter

14.Orlowski, Witold: Warum sollten die Polen eigentlich massenhaft einwan-dern?, in: Frankfurter Rundschau, 17. 7. 2001.

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als 53 Jahre sein wird.15 Wirtschaftswissenschaftler und inzwi-schen auch die politische Elite weisen deshalb auf die Notwen-digkeit der Arbeitsmigration hin.16 Scheinbar wird davonausgegangen, dass in den mittel- und osteuropäischen Beitritts-kandidaten ein nahezu unerschöpfliches Arbeitskräftereservoirvorhanden ist, das die Staaten der EU aus ihrer demographi-schen und arbeitsmarktpolitischen Falle holt. Hingegen wird diedemographische Entwicklung in den mittel- und osteuropäischenBeitrittskandidaten so gut wie gar nicht diskutiert. Da die Über-gangsfrist für die Personenfreizügigkeit zwischen zwei und siebenJahren betragen kann und die ersten MOEL voraussichtlich imJahre 2004 beitreten, liegt es nahe, die demographische Ent-wicklung in den mittel- und osteuropäischen Beitrittsländern abca. 2011 zu analysieren.

Auffällig ist, dass alle Staaten (außer der Slowakei) seit Beginnder 90er Jahre eine stagnierende oder schrumpfende Bevölke-rung haben.17 Studien der Europäischen Kommission weisendeshalb ausdrücklich darauf hin, dass eine Ost-West-Wande-rung die demographischen und arbeitsmarktpolitischen Proble-me der EU15 langfristig nicht zu lösen vermögen.18

Gründe hierfür sind die sinkende Fertilitätsrate, die als Anpas-sung an marktwirtschaftliche Strukturen bei gleichzeitig sinkenderLebenserwartung gesehen wird. Grund dafür sind der Abbau unddie Monetarisierung der medizinischen Grundversorgung. Hinzukommt Verarmung und Abwanderung zu Beginn der 90er Jahrekurz nach der Öffnung, als der wirtschaftliche und politische Er-

15. UN-Bevölkerungsabteilung: Bericht zu "Ersatzmigration", in: Migration undBevölkerung 5/2000, S. 6.16. Straubhaar, Thomas: Die Z(uwanderungs)-Frage, in: Handelsblatt,25.6.2002.17. Fassmann/Münz, 2002, S. 80.18. Europäische Kommission: Mitteilung der Kommission an den Rat und dasEuropäische Parlament über eine Migrationspolitik der Gemeinschaft, KOM(2000) 757 endgültig, Brüssel 22.11. 2000, S. 24.

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folg des Transformationsprozesses noch sehr ungewiss gewesenist. Am bedeutsamsten ist jedoch die gesunkene Fertilitätsrate,die inzwischen mit weniger als 1,5 Kinder pro Frau westeuropäi-sches Niveau erreicht hat.19 In Polen beispielsweise ist die Ferti-litätsrate zwischen 1990 und 1999 von 2,2 auf 1,4 gesunken.20

In Tschechien ist die Fertilitätsrate zwischen 1989 und 1996 von1,89 auf 1,18 gesunken und der Anteil der Kinder im Alter von0 bis 14 Jahren gehört mit 17,4% zu den niedrigsten in Euro-pa.21

So stehen die mittel- und osteuropäischen Staaten ab 2020,wenn die geburtenstarken Jahrgänge der 1960er und 1970erJahre das Rentenalter erreichen, vor denselben Problemen wiedie westlichen Industriestaaten.22 Besonders stark vom Bevölke-rungsschwund sind jene betroffen, die in den kommenden Jahrenjüngere Altersgruppen und damit gleichzeitig potentielle Mütterverlieren.

Gerade dann, wenn die Übergangsfristen der Personenfreizügig-keit auslaufen, werden die geburtenschwachen Jahrgänge der1990er Jahre, wie in Westeuropa auch, das Bildungssystem ver-lassen. Ein geringerer Bestand an Erwerbsbevölkerung erhöht je-doch ihre Chancen, auf dem heimischen Arbeitsmarkt einenArbeitsplatz zu finden. Sollte die wirtschaftliche Entwicklung inden Beitrittskandidaten ähnlich dynamisch verlaufen wie in den90er Jahren des letzten Jahrhunderts, dann ist eine Verringerungder Migration aufgrund des gesunkenen Migrationsdrucks wahr-scheinlich. Ein ausschlaggebender Faktor für oder gegen eineMigrationsentscheidung ist die Verbindung der demographi-

19. Fassmann/Münz, 2002, S. 84.20.o.N.: Polen: Bevölkerungszahl nimmt ab, in: Migration und Bevölkerung,01/00 (Januar/Februar), S. 4.21. Tschechien: Bevölkerungsprognose bis zum Jahr 2020, in: Migration undBevölkerung, 04/98, Mai 1998, S. 7.22. Europäische Kommission, 22.11.2000, S. 23.

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schen Entwicklung mit der ökonomischen Entwicklung im Her-kunftsland. Die wirtschaftliche Entwicklung der MOEL wird imFolgenden auch im Zusammenhang mit der demographischenEntwicklung betrachtet.

4. Ökonomische Entwicklung in den mittel- und osteuropäischen Beitrittskandidaten

Eine positive wirtschaftliche Entwicklung im Zuge der Integrationmit weiterhin relativ hohen Wachstumsraten und eine weitereKonvergenz des Pro-Kopf-Einkommens verringeren die Lohndif-ferenzen. Die Erfahrungen mit vergangenen Erweiterungsrundenhaben gezeigt, dass mit einem Beitritt der Wanderungsdruck eherabgebaut wurde. Verstärkter Handelsaustausch, der Transfer derStrukturfonds und steigende Direktinvestitionen führten zu einerKonvergenz des Pro-Kopf-Einkommens.23 Bedeutsam ist auch,dass mit einem Beitritt die Erwartung auf eine Verbesserung derallgemeinen wirtschaftlichen Lage sowie der individuellen Ein-kommenssituation verbunden wurde.

Diese Überlegungen könnten auch auf die Osterweiterung über-tragen werden, da mit einem weiterhin zunehmenden Handels-austausch zwischen der EU und den neuen osteuropäischenMitgliedstaaten zu rechnen ist. Dieser ist ohnehin schon sehr be-trächtlich: Im Jahr 2001 betrug die durchschnittliche Ausfuhr indie EU im Vergleich zu den Gesamtausfuhren 63,5%, die Einfuhraus der EU 50,8%.24 Die EU ist damit mit Abstand der Haupt-handelspartner der mittel- und osteuropäischen Beitrittskandida-ten. Ähnlich wie bei den früheren Erweiterungsrunden scheint die

23. Werner, Heinz: Wirtschaftliche Integration und Arbeitskräftewanderung inder EU, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B8/2001, S. 16.24. Europäische Kommission: Auf dem Weg zur erweiterten Union. Strategie-papier und Bericht der Kommission über die Fortschritte jedes Bewerberlandesauf dem Weg zum Beitritt, KOM (2202) endgültig, Brüssel 9.10.2002, S. 112.(2002a)

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hohe Mobilität des Kapitals die geringe Mobilität des Faktors Ar-beit zu ersetzen. So sind die ausländischen Direktinvestitionen inProzent des BIP für 2001 mit durchschnittlich 5,7% des BIP be-trächtlich.25

Im Zeitraum von 1997 bis 2001 konnte die Mehrzahl der Bei-trittskandidaten ein weitaus höheres Wirtschaftswachstum vondurchschnittlich 3,3% des BIP verzeichnen als jenes der EU15,das lediglich durchschnittlich 2,6% betrug. So variierte das BIP-Wachstum in diesem Zeitraum zwischen Estland mit 5,2%, Lett-land mit 6,1%, Polen mit 4,2% und Bulgarien mit 2,0%.26 Aus-gedrückt in Kaufkraftparitäten stieg das Pro-Kopf-Einkommen inden MOEL auch weiterhin, von 38,5% im Jahr 2000 auf 39,3 %im Jahr 2001 des EU-Durchschnitts.27 Dabei ergibt es erneutgroße Variationen zwischen 69% des EU-Durchschnitts im FalleSloweniens, 51% in Ungarn, 40% in Polen und 28 in Bulgari-en.28

Die Tendenz einer geringen Migrationsneigung wird sich erhö-hen, wenn das Wirtschaftswachstum in der derzeitigen EU weiter-hin gering ist und die Arbeitsmarktsituation weiterhin angespanntbleibt.29 Allerdings haben fast alle Beitrittskandidaten mit eineranhaltend hohen Arbeitslosigkeit zu kämpfen. Diese lag für 2001bei 12,6%, wobei es erneut große Schwankungen gibt.30 Seit2002 zeichnet sich allerdings ein erster Anstieg der Beschäftig-tenzahlen ab.31

Aufgrund der parallel verlaufenden demographischen Entwick-lung in Westeuropa und in den mittel- und osteuropäischen Staa-

25.Ebd., S. 112.26.Ebd., S. 113.27.Ebd., S. 17.28. Ebd., S. 17.29.Brücker/Trübswetter/Weise, 2000, S. 316ff.30. Europäische Kommission, 2002a, S. 112.31.Ebd., S. 17.

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ten und unter der Annahme einer weiterhin positivenwirtschaftlichen Entwicklung in den MOEL kann von einem sin-kenden Migrationspotential ab 2010 ausgegangen werden. Ausdiesem Grund werden sie als Herkunftsregion für Arbeitskräfte ineinem nur äußerst begrenzten Rahmen zur Verfügung stehenkönnen. Die mittel- und osteuropäischen Beitrittskandidaten wer-den voraussichtlich ebenfalls den Bedarf an Arbeitskräften durchAnwerbung ausländischer Arbeitskräfte decken müssen.

Wie reagiert nun die EU auf die demographische Entwicklungund den daraus abgeleiteten Bedarf an ausländischen Arbeits-kräften? Maßnahmen zur gezielten Steuerung der Einwanderungwerden erst verstärkt diskutiert, seit die Osterweiterung und damitdie Gewährung der Personenfreizügigkeit unmittelbar bevor-steht. Im Folgenden sollen lediglich jene Maßnahmen betrachtetwerden, die auf eine Steuerung der Arbeitsmigration aus den mit-tel- und osteuropäischen Beitrittskandidaten hinauslaufen. Hier-bei handelt es sich im wesentlichen um die Personenfreizügigkeit,die zu den vier Freiheiten des Binnenmarktes gehört.

5. Übergangsregelungen zur Personenfreizügigkeit

Die EU-Mitgliedstaaten haben sich hinsichtlich der Personenfrei-zügigkeit auf eine flexible Übergangsregelung geeinigt, ähnlichwie dies anlässlich des Beitritts Griechenlands, Portugals undSpaniens beschlossen wurde. Demnach können Mitgliedstaatenin den ersten zwei Jahren Arbeitsmigration nach nationalemRecht zulassen. Derzeit gibt es eine Bandbreite nationaler Rege-lungen, die von Quoten, Green Card, Regelungen für bestimmteBerufsgruppen bis hin zu spezifischen Regelungen für Saisonar-beiter reicht.32 Nach einer zweijährigen Frist wird die Europäi-sche Kommission einen Bericht über die vorliegende Situation

32. Europäische Kommission: Free Movement for Persons – a Practical Guidefor an Enlarged European Union, Brüssel 2002, S. 7. (2002b)

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anfertigen und die Mitgliedstaaten müssen bekannt geben, obsie Arbeitsmigration aus den mittel- und osteuropäischen Mit-gliedstaaten nach nationalem Recht oder nach EU-Recht gewäh-ren. Die Entscheidung bleibt hier den Mitgliedstaaten überlassen.Sicherheitsklauseln wären jedoch möglich, d.h. bei unvorherge-sehenen arbeitsmarktpolitischen oder regionalen ökonomischenStörungen können Mitgliedstaaten zeitlich befristet den Zugangzum Arbeitsmarkt wieder restriktiv handhaben. Weitere drei Jahrespäter werden jene Staaten mit beschränkter Personenfreizügig-keit nochmals aufgefordert, ihre Arbeitsmärkte vollständig zu öff-nen. Die Übergangsperiode sollte nach fünf Jahren beendet sein.Die Personenfreizügigkeit kann dann weiterhin nur beschränktwerden, wenn bestehende oder drohende ernstliche Störungendes Arbeitsmarktes nachgewiesen werden können. Diese flexibleÜbergangsregelung ist vor allem auf Betreiben Deutschlandsnotwendig, da dort ein eher politischpsychologisches Problemmit der Gewährung der Arbeitnehmerfreizügigkeit besteht. Dortsind allenfalls in einigen Grenzregionen mit Spannungen aufdem Arbeitsmarkt aufgrund von Berufspendlern zu rechnen.33

Zwei Jahre später jedoch darf kein Mitgliedstaat mehr die Perso-nenfreizügigkeit beschränken.34 Dieser flexiblen Regelung habenalle Mitgliedstaaten und bislang neun der zehn mittel- und osteu-ropäischen Beitrittskandidaten zugestimmt (mit Bulgarien sind dieVerhandlungen noch nicht abgeschlossen). Arbeitnehmer ausden MOEL, die bereits in den Mitgliedstaaten arbeiten oder wäh-rend der Übergangsperiode eine Arbeit in den alten Mitglied-staaten aufnehmen, fallen unter das Nichtdiskriminierungsverbot(Art. 12) hinsichtlich der Arbeitsbedingungen, der Besteuerungund des sozialen Sicherungssystems.35

33.Wochenbericht des DIW 21/2000, S. 332.34.Europäische Kommission: Integrating Migration Issues in the EuropeanUnion’s Relations with Third Contries, KOM (2002) 757 endgültig, Brüssel 22.11. 2002, S. 4. (2002c)35. Europäische Kommission, 2002b, S. 5.

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Zudem wurde vereinbart, bisherige Regelungen zur Personenfrei-zügigkeit nicht zu beschneiden. Bedeutsam ist auch, dass vonden Übergangsregelungen das Aufenthaltsrecht von Bürgern derneuen Mitgliedstaaten nicht betroffen ist. Hier muss zwischenAufenthaltsrecht, welches vollständig gewährt wird, und der Ar-beitserlaubnis, für die gegebenenfalls Übergangsregelungen ge-troffen werden können, differenziert werden. Sofern sie eineKrankenversicherung und genügend finanzielle Mittel für den Le-bensunterhalt nachweisen können, gilt für alle Bürger der MOELbereits seit Inkrafttreten der Assoziierungsverträge die Niederlas-sungsfreiheit.36 Die Übergangsregelung trifft auch nicht auf Selb-ständige zu, die ebenfalls mit den Assoziierungsverträgen dasRecht haben, ein Unternehmen zu gründen (als Gesellschaft oderSelbständige). Sobald die MOEL beigetreten sind, können ihreBürger sich frei über die Grenzen als Touristen, Studenten oderFamilienangehörige von Arbeitnehmern bewegen. Sie könnenauch grenzüberschreitend Dienstleistungen als Unternehmenoder Selbständige erbringen. Bislang sind lediglich in Deutsch-land und Österreich Restriktionen vorgesehen, wenn Unterneh-men aus zukünftigen Mitgliedstaaten ihre Angestellten mit-bringen möchten.

6. Schlusswort

Welche Schlussfolgerungen können nun für das erwartete Maßan Ost-West-Wanderung getroffen werden? Die Mitgliedstaatender EU agieren im Spannungsfeld von staatlicher Souveränitätund der Angst der Bevölkerung vor der Ost-West-Wanderung aufder einen und dem Wettbewerb um Arbeitskräfte auf der anderenSeite. Das mäßige Wirtschaftswachstum und die hohen Arbeits-losenzahlen ließen das Thema "Zuwanderung" bzw. "Arbeitskräf-teimmigration" zum Tabu werden. Doch die demographische

36. Ebd., S. 14.

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Entwicklung in West- und Osteuropa sowie die bislang rasantenWachstumsschübe in den MOEL lassen eine Ost-West-Wande-rung größeren Ausmaßes höchst unwahrscheinlich erscheinen.Ganz im Gegenteil dazu werden sich die neuen Mitgliedstaatenmittelfristig selbst am Wettbewerb um Arbeitskräfte beteiligen.Die Übergangsfristen zur Personenfreizügigkeit sind deshalbmehr aus politisch-psychologischen Gründen notwendig, dennmit schwerwiegenden Störungen des Arbeitsmarktes ist, bis aufeinige Ausnahmen in den Grenzregionen, nicht zu rechnen.

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Der Mythos von der Massenimmigration

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Mobilität der Sinne

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Angelina Topan

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Klang – Zeit – Raum – Bewegung

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KLANG – ZEIT – RAUM – BEWEGUNGDie RaumklangInstallationen

Sabine Schäfer und Joachim Krebs

1. Verräumlichung der Zeit – Verzeitlichung des Raums

Die modernen Wahrnehmungslehren fußen alle mehr oder weni-ger auf der Tatsache, dass die Zeit- und Raumwahrnehmung desMenschen sich gegenseitig bedingen. Eine Distanz, die derMensch – oder auch ein Klang – im Raum zurücklegt, wird vorallem als zeitliches Phänomen begriffen, anhand dessen derMensch, durch Messen und Vergleichen, seine subjektive Raum-Zeitvorstellung entwickeln kann.

Bewegung im Raum wird somit Zeit. Zeitstrecken werden zuräumlichen Distanzen. Zeitempfinden realisiert sich durch Raum-empfinden und umgekehrt. Raum wird durch das Erleben der imRaum real bewegten Klangereignisse zur Erfahrung von Zeit. Zeitwird dadurch zu einem offenen, imaginären Werdensprozess vongedachtem Raum. Entgrenzte, vom linear gerichteten Zeitflussbefreite, offene Räume dienen als Repräsentationsflächen fürsich ständig im Wandel befindliche Werdensprozesse von Über-gängen.

Zwischen ZeitRäumen und RaumZeiten gibt es mannigfaltige Ar-ten von Zwischenzonen mit ihren ZwischenRäumen und Zwi-schenZeiten. Dies alles führt zur Auflösung des realen Auf-führungsraums, in der die Zeit selbst eine linear-dramaturgisch,final gerichtete Vorstellung (von Raum?) inszeniert. Anstelle des-sen setzt ein zyklisches, nicht-lineares Zeitbewusstsein das Bedürf-nis nach 'Eintauchen' in den psychischen Innenraum frei, umdurch konzentrierte Wahrnehmung von vordergründig ereignis-losen, auf elementar-harmonikal einfachen Klangmaterialienund -transformationen beruhenden Klangereignissen, den physi-

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Sabine Schäfer und Joachim Krebs

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kalischen Außenraum mitsamt seiner Effektivzeit und inhaltlichbesetzten Gedankenräumen auszublenden, damit der Blick, oderbesser, das Hören frei werden, um Gegenwart als Möglichkeitvon Übergängen – von Augenblick zu Augenblick – frei fließen-der Zustände zu erfahren.

In den RaumklangInstallationen des Künstlerpaares SabineSchäfer und Joachim Krebs werden spezifische Klangräume kre-iert, die substantiell die Bewegung des Klangs im Raum kompo-sitorisch einbeziehen. Einzelne Klangschichten der Kompositionwerden sozusagen in den äußeren Raum transferiert und übereine im Raum installierte Lautsprechermatrix – computergestütztund mit Hilfe einer exklusiv für das Künstlerpaar entwickeltenSoftware – verschieden im Raum bewegt bzw. in den Raum ge-setzt. Spezifisch für diese Raumklangkunst ist somit die freie Ver-teilung der Klangquellen im Raum und der um die realeBewegung der Klänge erweiterte, kompositorische Klangraum.Dieser kompositorische Klangraum – primär als Zeitkunst defi-niert – avanciert somit auch zur Raumkunst. Vergleichbar demMedium Film/Video, in dem das vormals statisch sich repräsen-tierende Bild durch seine Bewegung nun als Zeitkunst erlebbarwird.

Das Erleben der im architektonischen Raum bewegten Raum-klang-Ereignisse intendiert nicht nur eine intensive räumliche Er-fahrung, sondern wird auch zur Erfahrung von akustischkünstlerisch gestalteter Zeit.

Einzelne, im Raum verteilte Klangpunkte/Schallquellen werdendurch Bewegung zu quasi organisch wuchernden Klanglinien,die – ihrerseits wieder zu einer artifiziellen RaumZeitMatrix ver-bunden – in der 'NichtZeit' freischwebende RaumZeitNetze akus-tisch imaginieren. Raum und Zeit werden dabei selbst zu intera-gierenden Wahrnehmungsqualitäten, die permanent zwischen'realem' und 'irrealem' RaumZeitEmpfinden fluktuieren.

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Klang – Zeit – Raum – Bewegung

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2. Künstliche Klanglandschaften zwischen purer Natürlich-keit und reiner Abstraktion

Ausschließlich Aufnahmen natürlicher Geräusche und Klängebilden das Grund- und Ausgangsmaterial in allen Künstlerpaar-Werken1 seit 1998. Es sind insbesondere amorphe Tier-/Natur-laute bzw. -klänge sowie heterogene Alltagsgeräusche aus demmenschlichen Umfeld und Lebensraum. Jedoch keine Sprachesowie Instrumentalklänge oder synthetisch erzeugte Klangmate-rialien! Nachfolgend werden hier die wesentlichsten Aspekte derkünstlerischen Arbeitsweise des Künstlerpaars dargestellt.

Ein erster, wichtiger Arbeitsschritt bei der Komposition bildet dasintensive Studium der einzelnen (vor)gefundenen und (aus)ge-suchten Geräusche und Klänge. Wichtigste Frage hierbei: Wel-che natürlich vorhandene und welche zukünftige artifizielleKonsistenz birgt jeder einzelne Klang im zunächst unhörbaren,molekularen Innenbereich der Mikrostruktur. Die Geräusche undKlänge werden deshalb, mit dem Instrumentarium des digitalenSamplers aufgezeichnet. Bis in den kleinsten Molekularbereichstellt der Sampler dem Klangkünstler einzelne Binnenstrukturpar-tikel dieser Geräusch-Klangmaterie zur künstlerischen Weiterar-beit zur Verfügung.

Im Gegensatz z.B. zum Synthesizer, aber auch zu herkömmlichenMusikinstrumenten, erzeugt der Sampler selbst keine eigenenKlänge, sondern generiert sein Klangmaterial aus allem, was aufdieser Welt klingt. Damit dient der Sampler dem visionärenKlangkünstler als sogenannte "abstrakte Maschine" (Deleuze/Guattari)2, die – als kongeniale zentrale Produktionseinheit miteinem Komplex von computergestützen Schnittstellen – in das

1. Veröffentlichungen des Jahres 2004: 'AquaAngelusVox – Ein Raumklang-Mandala mit Hildegard von Bingen' 1998.2003, erschienen als DVD/CD2004 bei MDG (924 1254-5)/'TopoSonic Spheres' 2004 erschienen als DVD/CD bei Wergo/artist.cd (ARTS 8108). Bestellung online siehe: www.sabine-schaeferjoachimkrebs.de

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"auf der Welt" vorgefundene und nach künstlerischen Kriterienausgewählte, organische Klanggewebe eindringt, um einzelneKlangproben, sogenannte "akustische Fragmentmuster", unter-schiedlichster Größe, Menge und Dauer zu entnehmen und digi-tal aufzuzeichnen.

Nach umfangreichen Sammel- und Archivierungsprozessen, indenen jedes einzelne Sample nach verschiedenen Kategorienabgespeichert und durch Katalogisierung für die künstlerischeWeiterarbeit verfügbar gemacht wird, erfolgt in einer weiteren Ar-beitsphase die intensive Untersuchung der zunächst noch amor-phen und heterogenen Geräusch-/Klangelemente. In diesemStadium der quasi wissenschaftlichen Arbeit am Klang dient derSampler als akustisches Mikroskop oder 'Hochleistungshörgerät'für die praktische Geräusch- und Klanganalyse.

Nach einer quasi akustischen Sezierung des kompletten Sample-materials in einzelne Muster-Partikel erfolgt die Innendarstellungdes Klanges, von uns, in Anlehnung an medizinische Verfahrens-weisen, 'EndoSonoSkopie' genannt.

Hierbei handelt es sich vor allem um die Hörbarmachung dernormalerweise nicht wahrnehmbaren Klangdimensionen mit ih-ren spezifischen Räumlichkeiten auf der mikroakustischen Ebeneder elementaren Klangbereiche des Innenlebens der einzelnenGeräuschKlangPartikel. Was ein Mensch normalerweise ohnekünstliche Hilfsmittel nicht wahrnehmen kann, weil das akusti-sche Material z.B. zu hoch oder zu tief, zu schnell, aber auch zu

2. Das französische Philosophen-Paar Deleuze/Guattari übrigens, inspiriertmit seinen 'Gedanken-Rhizomen' und Schriften schon seit langem unserekünstlerischen Arbeiten auf eine grundlegende und nachhaltige Art, z.B.: Joa-chim Krebs, 'Rhizom II' (1982) erschienen bei Wergo, Ed. ZeitgenössischeMusik (WER 6526-2)/Sabine Schäfer, 'TopoPhonicPlateaus' (1995) col legno,'Donaueschinger Musiktage 1995' (WWE 31898)/<sabine schäfer // joachimkrebs>, 'Sonic Lines n´Rooms' (1999) Wergo, 'Klangkunst in Deutschland'(CD-ROM, T 5150).

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langsam erklingt, wird hier durch Vergrößerung und Verkleine-rung, Beschleunigung oder Verlangsamung – und manchmal mitdem jeweiligen Original-Klangelement gemischt – zum alleini-gen Ausgangs- und Basisklangmaterial aller RaumklangKompo-sitionen und -Installationen. Diese Quasi-Molekularisierung desKlanges führt zur nächsten und eigentlichen künstlerischen Kom-positionsphase: der Transformierung und artifiziellen Konsistenz-bildung der völlig unbearbeiteten und nicht künstlich verändertenAusgangsklangmaterialien.

Insbesondere die artifizielle Konsistenz entsteht im wesentlichendurch die Bildung sogenannter Selbstintensivierungs-Schleifen:den Loops. Diese wiederum funktionieren hier als Vektoren fürdie Veräußerlichung innerer Intensitäten der organischen Klang-materie. Dadurch werden multilineare Intensitätsströme aus ei-gendynamisch vibrierenden Klangenergien freigesetzt, um durchTranscodierung des semantischen Gehalts der konkreten Klängeund Geräusche, die nichtklangliche Inhaltsmaterie in eine klang-liche, entsubjektivierte Ausdrucksmaterie umzuwandeln – jenseitsaller (außer)musikalischen Bedeutung und auch subjektiv be-schränkter Vorstellungskraft des Menschen.

Aus diesen akustisch veräußerlichten, oszillierenden Intensitäts-schichten werden wiederum – in artifiziell-symbiotischer Mannig-faltigkeit – multilineare individuierte Klanggefüge mit ihrenjeweiligen multidimensionalen, künstlichen Resonanzfeldern ge-formt und zu sogenannten expressiven, temporären Klang-blöcken zusammengeschmolzen, die – auf transparent-luftigenKonsistenzPlateaus künstlich/-lerisch errichtet – ein (zumindesttheoretisch) unendliches, räumliches Klangkontinuum bilden.Durch kontinuierlich variierte Interaktion der einzelnen Klang-komponenten untereinander entstehen – in der Konsistenz undim Dichtegrad ständig sich verändernde – schillernde Klanggefü-ge. Im Innern dieser multilinearen Klanggefüge wachsen, gedei-hen und vergehen durch artifiziell erzeugte, eigendynamische

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Selbstintensivierungsschleifen – und deren, permanentem Wech-sel unterworfenen Geschwindigkeits-, Bewegungs- und Dyna-mikverhältnissen – sogenannte akustisch fluoreszierende Klang-Milieus. Diese wiederum funktionieren als oszillierendes, symbio-tisches Amalgam fluktuierend zwischen Realität und 'virtueller'Realität, um die Gegenwartswahrnehmung für mögliche künstle-rische Visionen – jenseits von überholten traditionellen Dichoto-mien: hier Natur, dort Kunst; hier Realität, dort virtuelle Realitätusw. – durchlässiger zu machen. In diesen spezifisch kreierten,organisch-artifiziellen ZwischenMilieus geht es nicht zuletzt vorallem auch um ein 'Werden von Übergängen'; um ein 'Natur-Tier-Mensch-Werden' von Klang an sich, das umso mehr gelingt,wie die Natur bzw. das Tier oder der Mensch etwas 'Anderes'wird: 'reine' Linie, 'reiner' Raum, 'reine' Farbe, 'reiner' Klang,'reiner' Rhythmus, 'reine' Bewegung, 'reiner' Zustand. Die künstli-che Klanglandschaft erscheint somit als Ensemble von entsubjek-tivierten Ausdrucksmaterien im geschichteten Klangsystem derhorizontalen, rhythmisch-melodischen Klang-Linie und dem ver-tikalen, resonanz-harmonischen Klang-Raum.

3. Die fünf wichtigsten Raumklang-Installationsarten

Im Laufe der Jahre haben sich u.a. durch unterschiedlichste Auf-führungssituationen verschiedene Raumklang-Installationsartenherauskristallisiert und entwickelt, von denen im nachfolgendendie fünf wichtigsten dargestellt werden:

a) Das RaumklangObjekt

b) Der umgehbare RaumklangKörper

c) Der begehbare RaumklangKörper

d) Raum-im-Raum

e) Konzertanter RaumklangKörper

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a) Das RaumklangObjekt

Charakteristisch für das RaumklangObjekt ist eine zweidimensio-nale Anordnung der Lautsprecher, die in eine Richtung abstrah-len. Hierdurch ergibt sich vor dem jeweiligen Objekt eineoptimale Rezeptionszone, in der sich der Besucher dem Objektnähern bzw. von dem er sich entfernen kann. Zumeist sind dieRaumklangObjekte deshalb auch an einer Wand entlang posi-tioniert.

Die Abbildung 1 zeigt das RaumklangObjekt 'Sonic Lines', einAuftragswerk der Nuova Consonanza Rom 1998. Die zweidi-mensionale Lautsprecheranordnung ist in Form einer achtglied-rigen Linie entlang der Mamorwand im Foyer des Goethe-Instituts in Rom plaziert. Der Lautsprecheraufbau des Raum-klang-Objekts ist inspiriert durch die spezifischen Dimensionender architektonischen Raums. Deutlich erfahrbare 'Linien-Klänge'(in Form von rollenden Kugelmotiven) werden durch Wasserklän-ge kontrapunktiert, die – in sich fluktuierend bewegt – den flüssi-gen, nicht konsistenten Zustand der achtkanaligenRaumklangKomposition repräsentieren.

Abbildung 1: Sonic Lines', 1998

RaumklangObjekt mit 8-gliedrigem Lautsprecherensemble

Die Abbildung 2 zeigt das RaumklangOb-jekt 'Hörbild'. Das elfgliedrige Lautspreche-rensemble ist in einer monochromen,blauen Klangwand eingelassen, wodurchein tafelbildähnliches Objekt entsteht.

Die Lautsprechermatrix des Hörbildes bil-det die Form eines Unendlichkeitszeichens.Aber nicht nur auf der Bahn der unendli-chen Schleife bewegt sich der Klang, viel-mehr wird das Lautsprechertableau zu

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einem Territorium, einem Gefüge für Klänge, die sich auf diesemausbreiten, verdichten, verflüchtigen und wieder konsistent wer-den.

Das RaumklangObjekt entstand im Auftrag des Siemens Arts Pro-gram München und wurde bei den Berliner Festwochen 1995 mitden 11-kanaligen RaumklangKompositionen 'Tableau I-III' zumersten Mal präsentiert. Weitere Werke wurden für die erste Aus-stellung der Klanggalerie des Sender Freies Berlin (SFB) und fürdie Musik Triennale Köln, im Auftrag des Studio Akustische Kunstdes WDR (Klaus Schöning) 1997 produziert.

Abbildung 2: Hörbild', 1995

Freistehendes, monochromes RaumklangObjekt in blau, aus Holz undexolierter Stahl mit 11-gliedrigem Lautsprecherensemble

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b) Der umgehbare RaumklangKörper

Der umgehbare RaumklangKörper ist eine Raumklang-Installati-onsart, deren Einzel-Exponate einen dreidimensional-skulpturalenAufbau der Lautsprecher besitzen, die in verschiedene Richtungenabstrahlen können und die spezifisch für den jeweiligen architek-tonischen Raum entwickelt werden. Die Verteilung der Klangquel-len im Raum ist so angelegt, dass ein horizontaler bzw. vertikaler,linienförmiger Lautsprecherkörper geformt wird, um den man her-umgehen kann und über den die einzelnen Klangschichten mitspezifisch dafür entwickelten Bewegungstypen erklingen. Die Di-mensionen bzw. Maße des jeweiligen Lautsprecherkörpers orien-tieren sich an der Größe des Aufführungsraumes. Bei Bedarf wirdfür das Lautsprecherensemble ein Objekt entwickelt, auf dem dieLautsprecher montiert sind, wie dies z.B. in den Abbildungen 3und 4 zu sehen ist. Da die Lautsprecher in verschiedene Richtun-gen abstrahlen können und das Lautsprecherensemble frei imRaum plaziert ist, so dass der Besucher – im Gegensatz zumRaumklangObjekt – den RaumklangKörper aus verschiedenenRichtungen wahrnehmen kann, verweist der Begriff 'umgehbar' so-mit vor allem auch auf die dreidimensionale Rezeptionsweise dervariablen Hörperspektiven, die im gesamten Raum von gleichwer-tiger Qualität sind. Die beiden hier vorgestellten Beispiele aus derProjektreihe 'Sonic Lines n´Rooms' repräsentieren einen achtglied-rigen 'diagonal-horizontalen' (Abb.3) sowie einen achtgliedrigen'diagonal-vertikalen' (Abb. 4), umgehbaren RaumklangKörper.Die Lautsprecher sind jeweils auf einer, den Raum quer durchzie-henden, ca. 10 m langen Stahl-Traverse montiert. Die Abbildun-gen zeigen zwei der insgesamt vier Räume des Gewölbekellers derFürstlich Fürstenbergischen Hofbibliothek, für die das Künstler-paar eine vierteilige Raumklanginstallation, als Auftragswerk an-lässlich der Donaueschinger Musiktage 1999, kreiert hat.3

3. Weitere Informationen zur Projektreihe: www.sabineschaeferjoachim-krebs.de

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Abbildung 3: RaumklangKörper 1 aus 'Sonic Lines n’Rooms',1999

Diagonal-horizontaler, umgehbarer RaumklangKörper mit achtgliedri-gem Lautsprecherensemble. Insgesamt acht Lautsprecher (1-8) sind aufeiner aufsteigenden Stahl-Traverse inienförmig in gleichen Abständenangeordnet.

Abbildung 4: RaumklangKörper 2 aus 'Sonic Lines n´Rooms',1999

Diagonal-vertikaler, umgehbarer RaumklangKörper mit achtgliedrigemLautsprecherensemble. Insgesamt acht Lautsprecher (1-8) sind auf ei-ner aufsteigenden Stahl-Traverse linienförmig, in gleichen Abständenangeordnet.

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c) Der begehbare RaumklangKörper

Charakteristisch für den begehbaren RaumklangKörper ist derkünstlerisch-poetische Umgang mit dem architektonischenRaum. Dieser wird durch die artifizielle Transformierung des Roh-materials 'Raum vor Ort' initiiert, um den komponierten Klang-raum durch die dreidimensionale Bewegung der Klänge zu öff-nen und Zustände des akustischen 'Spezifisch-Werdens' von ar-chitektonischem Raum zu ermöglichen.

Die Lautsprecherkonfiguration eines begehbaren Raumklang-Körpers umfasst fast immer den gesamten architektonischenRaum. Meistens sind die Lautsprecher ringsum an den Wändenentlang auf verschiedenen Höhenebenen plaziert, so dass derBesucher – umgeben von dem Lautsprecherkörper – sich imRaum frei bewegen kann, um unterschiedlichste Hörperspektivenzu erfahren.

Spezifische Klangräume entstehen, die u.a. durch die speziellenEigenschaften der jeweiligen Architektur geprägt werden. Es voll-zieht sich quasi eine 'akustische Topographierung', so dass dieDimensionen des imaginären Hörraums und des real'schallenden' Klangraums sich verweben und einen Zustand einesspezifischen Raum-Zeit-Kontinuums kreieren. Durch den Aspektder Permanenz erhalten diese Zustände in ihrem Gleich-Sein/-Bleiben und ihrer ständig variierten Wiederholung eine gewisseAuthentizität des 'Wirklichen'.

Für den Rezipienten schaffen realer Raum und bewegter Klang-raum spezifische Synergien. Der imaginäre Vorstellungsraumentwickelt sich (durch den bewegten Klang und die eigene Bewe-gung) innerhalb des realen Raums. Hier geschieht gewisserma-ßen eine Aufhebung der 'wirklichen' Raumgrenzen. MentaleProzesse der Ortsveränderung werden initiiert, die – obwohl ima-ginär und losgelöst – gerade auch durch den inszenierten 'realen'Ort mit seiner entsprechenden Klangarchitektonik evoziert wer-

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den. Ein spezifischer Raum entsteht, um die Wahrnehmung selbstspezifisch werden zu lassen. Die abgebildeten begehbarenRaumklangKörper (Abb. 5 und 6) sind Bestandteil des 4-teiligenRaumklangInstallationsprojekts 'Sonic Lines n´Rooms'.

Das vierteilige Gesamtensemble – mit einer 32-kanaligen Raum-klangkompostion für 4 x 8 Lautsprecher – ist die erste Produktiondes Künstlerpaares zur gleichnamigen Projektreihe 'Sonic Linesn´Rooms'. Die Reihe verknüpft die zwei verschiedenen Raum-klang-Installationsarten 'umgehbarer RaumklangKörper' und 'be-gehbarer RaumklangKörper', die je nach Projekt einzeln oderkombiniert zur Anwendung kommen.

Der RaumklangKörper 3 aus 'Sonic Lines n´Rooms' wurde imJahr 2000 als einzelner begehbarer RaumklangKörper bei der'KlangArt Buch', veranstaltet von der Akademie der Künste Berlin,uraufgeführt. Die erste konzertante Aufführung der Raumklang-Komposition 'Sonic Lines n´Rooms No.3' fand im selben Jahr inRotterdam (NL) im Rahmen der 'v_2'-Veranstaltungsreihe 'Time-Based Space' statt.

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Abbildung 5: RaumklangKörper 3 aus 'Sonic Lines n´Rooms',1999

Begehbarer RaumklangKörper mit achtgliedrigem Lautsprecherensem-ble. Insgesamt acht Lautsprecher sind auf zwei Höhenebenen angeord-net: davon vier Lautsprecher in den Ecken auf dem Boden plaziert (1,3, 5, 7) und vier weitere Lautsprecher oben, jeweils in der Mitte derWand, aufgehängt (2, 4, 6, 8)

Der RaumklangKörper 4 aus 'Sonic Lines n´Rooms' wurde zumerstenmal im Rahmen des Festivals MIX.01 in Aarhus (DK) 2001einzeln präsentiert und die RaumklangKomposition 'Sonic Linesn´Rooms No.4' im Rahmen des 10th Florida Electroacoustic Mu-sic Festival in Gainesville (USA) uraufgeführt.

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Abbildung 6: RaumklangKörper 4 aus 'Sonic Lines n´Rooms',1999

Begehbarer RaumklangKörper mit achtgliedrigem Lautsprecherensem-ble. Insgesamt acht Lautsprecher sind auf einer Höhenebene den Wän-den entlang elliptisch angeordnet.

Natürlich gibt es auch vielfältige Mischformen der drei beschrie-benen Raumklang-Installationsarten (RaumklangObjekt, umgeh-barer und begehbarer RaumklangKörper), wovon nachfolgendzwei Möglichkeiten exemplarisch vorgestellt werden.

A. Mischform von begehbarem und umgehbarem Raum-klangKörper mit RaumklangObjekt

Die lichtinszenierte 18-gliedrige RaumklangInstallation LOST(Abb.7) wurde für hohe Räume mit langen Nachhallzeiten kreiertund zum erstenmal 1992 im Lichthof des Badischen Kunstvereinsin Zusammenarbeit mit dem ZKM (Zentrum für Kunst und Medi-entechnologie) in Karlsruhe ausgestellt. Die RaumklangInstallati-on ist vor allem durch eine ca. sieben Meter hohe, 6-gliedrigeLautsprecher-Säule (Abb.7, Ebene A) geprägt. Über diesesRaumklangObjekt stürzen Klangmassen hinab und ziehen sich inbestimmten Phasen auch wieder hinauf.

Beim Betreten des Raumes über die im oberen Stockwerk gele-gene Galerie ist der Besucher zeitweilig von einem Klangband

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umgeben, das sich über einen begehbaren RaumklangKörper inForm eines 6-gliedrigen Lautsprecher-Halbkreises (Abb.7, EbeneB) bewegt und die fallenden Klang-Gesten kontrapunktiert. Deram Boden positionierte umgehbare RaumklangKörper der EbeneC überträgt vor allem fluktuierende Klangfarbgrundierungen undbildet das Klangtableau für die bewegten Klänge der Ebenen Aund B.

Abbildung 7: 'LOST', 1992

6-gliedriger begehbarer RaumklangKörper (Ebene B) und 6-gliedrigerumgehbarer RaumklangKörper (Ebene C) mit einem an die Wand mon-tierten RaumklangObjekt/(Ebene A) in schwarz, aus Styropor mit 6-gliedrigem Lautsprecherensemble.

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B. Mischform von begehbarem RaumklangKörper mit zwei umgehbaren RaumklangKörpern

Die lichtinszenierte 28-gliedrige RaumklangInstallation 'Topo-PhonicPlateaux' (Abb. 8) besteht aus einem 27-gliedrigen Laut-sprecher-Ensemble mit einem Computer gesteuerten Konzertflü-gel. Die 28-kanalige RaumklangKomposition wurde – alsAuftragswerk der Donaueschinger Musiktage 1995 – speziell fürden Sternensaal in Donaueschingen konzipiert. Drei Installati-onskomponenten sind für diesen RaumklangKörper prägend(siehe hierzu Graphik, Abb. 8):

Komponente 1: Ein Außenkreis, der – gebildet aus 15 Lautspre-chern – am rechten Bühnenrand beginnt und am linken Bühnen-rand abschließt. Die Lautsprecher sind in einer sukzessivansteigenden und wieder abnehmenden Höhe positioniert. Dercomputergesteuerte Konzertflügel befindet sich auf der Bühneund schließt somit als 16. Glied den raumumfassenden Lautspre-cherkreis. Der Flügel wird realtime angesteuert und ist über denComputer mit dem Lautsprecherensemble synchronisiert.

Komponente 2: Zwei Säulen – gebildet aus jeweils 4 Lautspre-chern – die im Innenraum, sich gegenüberliegend, positioniertsind. Die Lautsprecher sind in der Höhenposition versetzt ange-ordnet und strahlen in verschiedene Richtungen ab. Die beidenLautsprecher-Säulen repräsentieren typische umgehbare Raum-klangKörper.

Komponente 3: Vier Lautsprecher, die jeweils in den Ecken desRaumes auf dem Boden positioniert sind. Diese Lautsprecher-gruppe legt Klanggrundierungen in den Raum und erweitert denunter Komponente 1 beschriebenen Lautsprecherkreis zu einem20-gliedrigen begehbaren RaumklangKörper.

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Abbildung 8: 'TopoPhonicPlateaus', 1995

20-gliedriger begehbarer RaumklangKörper mit zwei, jeweils vierglie-drigen, umgehbaren, RaumklangKörpern in Form von Lautsprecher-Säulen.

d) Raum-im-Raum

Dieses künstlerische Konzept geht von einem eigenständigen be-gehbaren RaumklangKörper als 'Raum im (architektonischen)Raum' aus. Das heißt, der begehbare RaumklangKöper wird da-durch auch gleichzeitig umgehbar. Durch die Verbindung der Ei-genschaften der Umgeh- und Begehbarkeit entstehen neueQualitäten, die zu einer eigenständigen Raumklang-Installati-onsart führen. Ein Beispiel hierfür ist der von uns kreierte Raum-klangKöper 'Klangzelt' aus der Projektreihe 'SonicRooms' (Abb.9).

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Der Präsentationsort des RaumklangKörpers selbst wird hier nichtin seinen architektonischen Dimensionen akustisch durchschrit-ten – oder besser gesagt 'durchschallt' – um quasi den Raum ansich 'hörbar' zu machen, sondern im Gegenteil handelt es sichhier, vor allem wenn man sich im Innern des RaumklangKörpersbefindet, um die weitestgehende Eliminierung der realen – visu-ellen wie akustischen – Umgebung des Ortes, an dem der be-gehbare RaumklangKörper – quasi ein Raum im Raum –aufgestellt ist.

Das Innere des RaumklangKörpers 'Klangzelt' das von seiner Um-gebung durch doppelte Stoffbespannung ebenso leicht wie effek-tiv künstlich separiert ist, klammert den visuellen Aspekt derkünstlerischen Gestaltung von Raum und Zeit soweit wie möglichaus, um die auditive Rezeption der artifiziell kreierten, virtuellenKlangRäume zu intensivieren.

Da auch der für die Orientierung und Lokalisierung so wichtigeSichtkontakt zur Schallquelle Lautsprecher durch leichte, blick-dichte aber schalldurchlässige Stoffwände verhindert wird, ist esmöglich, irreal-imaginäre 'ErlebnisKlangRäume' zu realisieren, indenen wiederum real bewegte Klänge – nur mit dem Ohr wahr-genommen – als amorphes Kontinuum von flüchtigen und un-greifbaren Zuständen und akustischen Atmosphären erlebtwerden können.

Paradoxerweise werden künstliche Räumlichkeiten von Klang ansich, durch reale Bewegung desselben noch gesteigert. Manmuss also, um das 'Klangzelt' adäquat rezipieren zu können, 'live'vor Ort sein, um u.a. den Unterschied zwischen künstlich produ-zierten Räumlichkeiten im Stereobild und der Künstlichkeit derpsychischen, 'inneren' Raumwahrnehmung, die durch real vonLautsprecher zu Lautsprecher eine räumliche Distanz zurückle-gende Klänge hervorgerufen wird, miterleben zu können. In wie-derum künstlich, in einem realen Raum installierten 'Hörinseln',

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die – dem Hören mit Kopfhörern ähnlich – den realen Raum vorOrt durch allseitige Stoffbespannung weitestgehend ausschlie-ßen, um die artifiziell produzierten Räumlichkeiten der Raum-klangkompositionen selbst authentischer wahrnehmbar zumachen, wird es also möglich sein, neuartige Hörerfahrungen zuerleben, die u.a. zu Irritationen des 'normalen' Raum- und Zeit-empfindens führen können. Im besten Falle evoziert das Klang-kunstwerk eine – zwischen imaginärem, psychischem Innenraumund 'realem', physikalischem Außenraum – frei fließende Raum-Zeiterfahrung.

Abbildung 9: 'SonicRooms - Klangzelt', 1998

Be- und umgehbarer RaumklangKörper mit doppelwandiger Stoffbe-spannung und integriertem achtgliedrigem Lautsprecherensemble

e) Der konzertante RaumklangKörper

Der konzertante RaumklangKörper repräsentiert eine spezielleArt der RaumklangInstallation. Die wichtigsten Kriterien dieserausschließlich auf den Klang konzentrierten Raumklang-Installa-tionsart sind:

• Bestuhlung des Aufführungsraums oder Konzertsaals (sitzen-des Auditorium), woraus die eindeutige Festlegung der vierRichtungen (vorne/hinten – links/rechts) resultiert

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• Fixierung von Anfang und Ende, und somit der Gesamt-spieldauer, der RaumklangKomposition mit eventuell drama-turgisch linear gerichteter Verlaufsform der jeweiligenRaumklangKomposition

• Hinzunahme von Instrumentalisten als gleichberechtigterBestandteil des ansonsten nur aus Lautsprechern bestehen-den RaumklangKörpers

• der aus Lautsprechern und Instrumentalisten gemeinsam undhierarchiefrei gebildete konzertante Lautsprecher-Instrumen-tal-Körper umfasst meist kreis- oder hufeisenförmig dengesamten Zuschauerraum

• der konzertante RaumklangKörper kann einmalig innerhalbeines Konzerts aufgeführt werden, oder es können mehrma-lige, aufeinander folgende Aufführungen mit jeweiligem Ein-lass zu Beginn der RaumklangKomposition stattfinden

Als Beispiel sei hier die im Frühjahr 2002 entstandene Raum-klangKomposition 'TopoSonic Lines n´Rooms with Instruments'für einen 12-gliedrigen konzertant erfahrbaren RaumklangKör-per mit 8 Lautsprechern und 4 Instrumentalisten (Perc., Fl., Clar.,Ob.) genannt. Als Auftragswerk des AUDI-Kulturfonds wurde dieArbeit speziell auf die Architektur des 'museum mobile' in Ingol-stadt abgestimmt. Dem kreisrunden Aufführungsraum entspre-chend wurden die Lautsprecher und die Instrumentalisten, wieauf der abgebildeten Skizze (Abb.10) zu ersehen ist, um das sit-zende Auditorium herum gruppiert. Der Instrumentalpart derRaumklangKomposition berücksichtigt durch eine entsprechendeInstrumentation, gleichermaßen wie das digitale 8-Kanal-Ton-band, Aspekte der Raumklangbewegung, wodurch ein gemein-sam 'agierender' 12-gliedriger RaumklangKörper entsteht.

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Klang – Zeit – Raum – Bewegung

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Abbildung 10: 'TopoSonic Lines n´Rooms with Instruments',2002

Aufbau des 12-gliedrigen konzertanten RaumKlangKörpers für das’museum mobile’ des AUDI-Forums in Ingolstadt.

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Sabine Schäfer und Joachim Krebs

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Die Autorinnen und Autoren

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Die Autorinnen und Autoren

Christoph Becker

ist Gründungsgeschäftsführer und Fachdirektor am Europäi-schen Tourismus Institut GmbH an der Universität Trier. Prof. Dr.Beckers Forschungsschwerpunkte liegen auf den regionalpoliti-schen Effekten des Tourismus und dessen Nachhaltigkeit.

Publikationen u.a.:

• Freizeit und Tourismus in Deutschland. Eine Einführung, in:Institut für Länderkunde (Hrsg.): Nationalatlas Bundesrepu-blik Deutschland. Freizeit und Tourismus. Leipzig u.a. 2000,S. 12-21.

• (zusammen mit Martin L. Fontanari): Organisationsstrukturenim deutschen Tourismus, in: Institut für Länderkunde (Hrsg.):Nationalatlas Bundesrepublik Deutschland. Freizeit und Tou-rismus. Leipzig u.a. 2000.

Johann Günther

ist Geschäftsführer der Fachhochschule St. Pölten in Österreich.Er ist zudem Präsident der European Association of TelematicsApplication (EATA). Dr. Günther wurde mehrfach für seine For-schungsaktivitäten ausgezeichnet, darunter 1995 mit dem öster-reichischen Exportförderungs-Anerkennungspreis für seineAktivitäten in Osteuropa.

Publikationen u.a.:

• Der vernetzte Egoist. Telekommunikation und Computer ver-ändern den Menschen, Innsbruck u.a. 2004.

• (zusammen mit Paul Stefan): Marketing – Kommunikations-technologien verändern die Gesellschaft, Krems 2004.

• Die neue Mobilität der Gesellschaft, Innsbruck u.a. 2002.

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Robert Hettlage

ist Professor für Soziologie an der Universität Regensburg. SeineForschungsgebiete liegen u.a. im Bereich der Wirtschafts-, Kul-tur- und Entwicklungssoziologie und der Europäischen Integrati-on. Prof. Dr. Hettlage ist Mitglied der Schweizerischen Gesell-schaft für Soziologie, der internationalen Vereinigung für Rechts-und Sozialphilosophie sowie Mitherausgeber der Schriften zumGenossenschaftswesen und zur Öffentlichen Wirtschaft.

Publikationen u.a.:

• Träume ohne Flügel. Integrationsrealitäten italienischer Gast-arbeiterfrauen in Basel, Opladen 2003.

• Familienreport. Eine Lebensform im Umbruch. 2. erweiterteund aktualisierte Auflage. München 1998.

Firoz Kaderali

ist seit 1986 Professor für Kommunikationssysteme an derFernUniversität Hagen und seit 1992 Direktor des Forschungsin-stituts für Telekommunikation (FTK), ein Gemeinschaftsinstitutder Universität Hagen und der Universität Wuppertal. Er ist zu-dem einer der Gründer der Virtuellen Universiät Hagen und Vor-sitzender der Open Source Initiative CampusSource.

Publikationen u.a.:

• Anonymität im Internet, Bd. 5 (= Berichte aus der Kommuni-kationstechnik), Aachen 2000.

• Aufbau und Betrieb einer Virtuellen Universität – Erfahrungenan der FernUniversität Hagen, in: Zeitschrift it+ti, Heft 4/2002, S. 205-210.

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Die Autorinnen und Autoren

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Hermann Lübbe

war neben seiner Lehrtätigkeit an verschiedenen Universitäten,von 1966 bis 1969 Staatssekretär im Kultusministerium NRWund anschließend bis 1970 Staatssekretär beim Ministerpräsi-denten von NRW. Prof. Dr. Lübbes publizistisches Werk wurdemehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Ernst-Robert-Curtius-Preisfür Essayistik 1990 und dem Hanns Martin Schleyer-Preis 1995.Professor Lübbe ist Träger des Großen Bundesverdienstkreuzes.

Publikationen u.a.:

• Im Zug der Zeit. Verkürzter Aufenthalt in der Gegenwart, Ber-lin/Heidelberg 2003.

• Medien- und Gesellschaftswandel, München 2002.

Kurt Möser

lehrte an der Universität Erlangen und war DAAD-Lektor an denUniversitäten Oxford/UK und New Delhi/Indien. Seit 1987 ist Dr.Möser Konservator am Landesmuseum für Technik und Arbeit inMannheim und betreut die Sammlungen und Ausstellungen zurBinnenschifffahrts- und Straßenverkehrsgeschichte.

Publikationen u.a.:

• Die Geschichte des Autos, Frankfurt/Main 2002.

• Zwischen Begeisterung und Verweigerung. Zur Verarbeitungvon Technik und Industrie in der deutschen Literatur, Mann-heim 1994.

• Die Schildbürger und die Moderne. Populärer Niederschlagder "hohen" Kunst in Blech- und Emailschildern des 20. Jahr-hunderts, Mannheim 1994.

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Norbert Radermacher

baute 1980 das Theaterpädagogische Zentrum (TPZ) der Ems-ländischen Landschaft e.V. auf, dessen Leiter er bis heute ist. Seiteinigen Jahren lehrt Norbert Radermacher an der Fachhoch-schule Osnabrück im Studiengang Diplom-Theaterpädagogikdas Fach Kulturmanagement. Im Jahr 2000 wurde er zum Präsi-denten des Bundes Deutscher Amateurtheater (BDAT) ernannt.

Publikationen u.a.:

• Stichwort 'Amateurtheater', in: Gerd Koch/Marianne Streis-and (Hrsg.): Wörterbuch der Theaterpädagogik, Berlin 2003.

• Berufsfelder der Theaterpädagogik in Europa, Lingen 2000.

Caroline Y. Robertson-von Trotha

ist Gründungsmitglied und Direktorin des Zentrums für Ange-wandte Kulturwissenschaft und Studium Generale der UniversitätKarlsruhe (TH). PD Dr. Robertson-von Trotha ist u.a. Mitglied desWissenschaftsforums ’Migration und Integration in Baden-Würt-temberg’ und Kuratoriumsmitglied des Instituts für Kulturpolitikder kulturpolitischen Gesellschaft.

Publikationen u.a.:

• (Hrsg.): Der Perfekte Mensch. Baden-Baden 2003.

• Periskop: Interkulturelle Kompetenz in der Patchwork-Gesell-schaft. Europäische Integration zwischen individueller Identi-tät und gesellschaftlichem Konsens, in: Ludger Hünnekens/Matthias Winzen (Hrsg.): Dissimile – Prospektionen: Jungeeuropäische Kunst. Bd. 2, Baden-Baden 2003.

Angelina Topan

leitet seit 2003 das Agil Büro in Freiburg mit den Tätigkeitsberei-chen Bildungsplanung, Organisations- und Personalentwicklung.

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Die Autorinnen und Autoren

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Zuvor war Dr. habil. Angelina Topan wissenschaftliche Assistentinan der Hochschule für Wirtschaft und Politik (HWP) in Hamburg.Ihre Forschungsschwerpunkte liegen u.a. auf der EuropäischenIntegration und der internationalen Bürokratieforschung.

Publikationen u.a.:

• The European integration process: a historical and compara-tive institutional analysis, Münster u.a. 2001.

• Transformationsprozeß in Osteuropa und organisierte Krimi-nalität am Beispiel des Frauen- und Mädchenhandels:Lösungsvorschläge der ökonomischen Theorie der Kriminali-tät und praktische Lösungswege der EU, Hamburg 2000.

Sabine Schäfer und Joachim Krebs

arbeiten seit 1995 als Künstlerpaar an gemeinsamen Projektenauf dem Gebiet der Raumklangkunst und der radiophonenKlangkunst. Im Rahmen verschiedener Werkreihen entstandenRaumklangKompositionen für RaumklangObjekte sowie begeh-bare, umgehbare und konzertante RaumklangKörper. Seit 1999veröffentlichen die Künstler ihre Produktionen unter dem Künst-lerpaar-Namen <sabine schäfer // joachim krebs>.

Medienkunstwerke (DVD/CD) u.a.:

• AquaAngelusVox – Ein RaumklangMandala mit Hildegardvon Bingen 1998/2003, DVD/CD 2004 bei MDG (9241254-5).

• TopoSonic Spheres 2004, DVD/CD bei Wergo/artist.cd(ARTS 8108).

Stefanie Wahl

ist Wissenschaftlerin am Institut für Wirtschaft und GesellschaftBonn e.V. (IWG) und seit 2005 zudem Geschäftsführerin desIWG. Zwischen 1995 und 1997 war sie außerdem wissenschaft-

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licher Sekretär in der Kommission für Zukunftsfragen der Frei-staaten Bayern und Sachsen. Seit 1998 ist sie im Kuratorium derFreudenberg-Stiftung zur Förderung von Wissenschaft, Erziehungund Bildung in der Gesellschaft.

Publikationen u.a.:

• Geburtenverhalten in Deutschland und anderen ausgewähl-ten Ländern, Bonn 2003.

• Deutschland – ein Auswanderungsland?, Bonn 2004.

Matthias Winzen

leitet seit 1999 die staatliche Kunsthalle in Baden-Baden. Erschreibt seit 1989 Kunstkritiken u.a. für Art in America, dasKunstbulletin und den WDR 2. 1994 wurde Dr. Matthias Winzender Carl-Einstein-Preis für Kunstkritik der Kunststiftung Baden-Württemberg verliehen.

Publikationen u.a.:

• HA KYPOPT! Russische Kunst heute, Bild-Textband, Wienand2004.

• (Hrsg. zusammen mit Johannes Bilstein): Ich bin mein Auto.Die maschinalen Ebenbilder des Menschen, Köln 2001.

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