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Mitteleuropa in den EssayGyörgs y...

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83 Juliane B r a n d t (Leipzig) Mitteleuropa in den Essays György Konráds 1 In den achtziger Jahre begann in den Ländern entlang des Eisernen Vorhangs eine Diskussion um „Mitteleuropa", die die Dichotomien der politischen Spaltung Europas in Frage stellte und in der, soweit der heterogene Charakter der Meinungsäußerungen in dieser Debatte generalisierende Verallgemeinerungen zuläßt, eine mögliche politische Zukunft und deren kulturelle Grundlagen in diesem Gebilde „Mitteleuropa" gesucht wurden. Dissidenten und Exilanten, Literaten und Politologen in Ost und West ergriffen in dieser Diskussion das Wort. Auch in György Konráds politischen Essays der achtziger Jahre spielte dieses Konzept früh eine Rolle. Als Timothy Garton Ash 1986 eine erste Bilanz der einschlägigen Überlegungen in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn vornahm, kritisierte er allerdings gerade Konráds Gedanken als inkonsistent, widerspiichlich und nicht in eine realistische politische Strategie mündend 1 . An seinen Ausführungen wollte er demonstrieren, wie in diesem Mitteleuropa-Modell „Geschichte als wahrer Mythos" wieder auflebe. Sie dienten zum Beleg der These, daß „diese mythisch-poetische Tendenz, dieser Hang, der mitteleuropäischen Vergangenheit genau das zuzuschreiben, was die Hoffnung auf eine mitteleuropäische Zukunft symbolisiert", „typisch für den neuen Mitteleuropäismus" sei 2 . Aus politologischer Sicht waren diese Texte sicher als inkonsistent und zu wenig systematisch zu kritisieren und ließen sich als „eine Art später literarischer 1 ,gititi poli tik ist ein Sammelsurium, ein Wettstreit der Ideen, die eine nach der anderen aufgegriffen werden, fest miteinander verwoben, neu formuliert, dann wieder zugunsten anderer, hübscherer, jüngerer (aber leider dennoch widersprüchlicher) Ideen verworfen werden, nur um ein paar Seiten später neu, gehätschelt und apostrophiert zu werden. Seine essayistischen Arbeiten stimulieren und verärgern zugleich." (...) Timothy Garton Ash: Mitteleuropa - aber wo liegt es? In: ds., Ein Jahrhundert wird abgewählt [Übers.: Yvonne Badai].- München, Hanser, 1990, 188-226, zit. 192 2 ebd., 194
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Juliane B r a n d t (Leipzig)

Mitteleuropa in den Essays György Konráds

1 In den achtziger Jahre begann in den Ländern entlang des Eisernen Vorhangs eine Diskussion um „Mitteleuropa", die die Dichotomien der politischen Spaltung Europas in Frage stellte und in der, soweit der heterogene Charakter der Meinungsäußerungen in dieser Debatte generalisierende Verallgemeinerungen zuläßt, eine mögliche politische Zukunft und deren kulturelle Grundlagen in diesem Gebilde „Mitteleuropa" gesucht wurden. Dissidenten und Exilanten, Literaten und Politologen in Ost und West ergriffen in dieser Diskussion das Wort. Auch in György Konráds politischen Essays der achtziger Jahre spielte dieses Konzept früh eine Rolle. Als Timothy Garton Ash 1986 eine erste Bilanz der einschlägigen Überlegungen in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn vornahm, kritisierte er allerdings gerade Konráds Gedanken als inkonsistent, widerspiichlich und nicht in eine realistische politische Strategie mündend1. An seinen Ausführungen wollte er demonstrieren, wie in diesem Mitteleuropa-Modell „Geschichte als wahrer Mythos" wieder auflebe. Sie dienten zum Beleg der These, daß „diese mythisch-poetische Tendenz, dieser Hang, der mitteleuropäischen Vergangenheit genau das zuzuschreiben, was die Hoffnung auf eine mitteleuropäische Zukunft symbolisiert", „typisch für den neuen Mitteleuropäismus" sei2. Aus politologischer Sicht waren diese Texte sicher als inkonsistent und zu wenig systematisch zu kritisieren und ließen sich als „eine Art später literarischer

1 ,gititi poli tik ist ein Sammelsurium, ein Wettstreit der Ideen, die eine nach der anderen aufgegriffen werden, fest miteinander verwoben, neu formuliert, dann wieder zugunsten anderer, hübscherer, jüngerer (aber leider dennoch widersprüchlicher) Ideen verworfen werden, nur um ein paar Seiten später neu, gehätschelt und apostrophiert zu werden. Seine essayistischen Arbeiten stimulieren und verärgern zugleich." (...) Timothy Garton Ash: Mitteleuropa - aber wo liegt es? In: ds., Ein Jahrhundert wird abgewählt [Übers.: Yvonne Badai].- München, Hanser, 1990, 188-226, zit. 192

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Jugendstil" einordnen. Doch verfehlt diese Kritik gerade den spezifischen literarischen Charakter dieser Essays, den ihnen eingeschriebenen Adressatenbezug. Im Kontext der „Ordnung von Jalta" (Konrád), auf der östlichen Seite des Eisernen Vorhangs, stellten diese Texte vor allem eine Anregung zum Neudurchdenken der Lage, eine Anstiftung zum „Andersdenken" dar. Sie waren Provokation, utopisches Aufblitzen einer Möglichkeit, Ausloten des Denkbaren oder wenigstens des Vorstellbaren, gegen die geistigen Implikationen der politischen Setzungen.

Freilich ist die Frage berechtigt, was denn „Mitteleuropa" in Konráds Überlegungen beinhaltete und welches Schicksal dieses Konzept in seinen späteren Werken, zumal nach dem Verfliegen der großen Hoffnungen der Wendezeit in der Region, hatte. Auch wenn T. G. Ashs Hinweis auf den „mythisch-poetischen" Charakter des Modells Mitteleuropa den Kern vieler zeitgenösssicher Äußerungen trifft, läßt sich doch zeigen, daß es gerade bei Konrád durchgängig mehr war als ein in die Vergangenheit projizierter Zukunftsentwurf. Wohl ging es um einen „Traum von Mitteleuropa"3, doch eben in dem Bewußtsein, an einer politischen Konstruktion zu arbeiten, mit einem „politischen Begriff'4 zu operieren. Es läßt sich zeigen, daß gerade daraus die große Offenheit des Konzepts in geographischer Hinsicht resultierte.

2 In den zu Beginn der achtziger Jahre entstandenen Essays, in der „Versuchung der Autonomie" und in der „Antipolitik"5, taucht das Wort Mitteleuropa eher beiläufig auf. In der „Versuchung der Autonomie" ist „Ost-Mittel-Europa" die Zone „von Warschau über Prag und Budapest bis

ds.: Van-e még álom Közép-Európáról? (1984-85).- In: Europa köldökén. Esszék 1979-1989.- Budapest, Magvető 1990, 153-186. (dt. vgl.: Budapester Tao.- In: ds.: Stimmungsbericht.- Frankfurt a.M., Suhrkamp, 1988, 237-314.)

György Konrád: Középről. - In: Europa köldökén, a.a.O., 338-374, hier 342. (Ü.: J.B.)

Az autonómia kísértése. Hier nach: György Konrád: Az autonómia kísértése. Antipolitika. - Budapest, Codex Rt, 1989, 1-154. Antipolitika (1982). - ebd., 157-361, bzw. dt.: ds.: Antipolitik. Mitteleuropäische Meditationen. Frankfurt a.M., Suhrkamp, 1985.

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nach Belgrad", ein Übergangsgebiet zwischen „westlicher und östlicher Kultur"6. Ostmitteleuropa ist der Teil Osteuropas im sowjetischer Machtbereich, in gewissem Maße aber auch eine Region mit gemeinsamer Geschichte und gemeinsamen Grundzügen der Mentalität.

Grundanliegen der „Versuchung der Autonomie" ist jedoch nicht in erster Linie der historische Zusammenhang oder die gemeinsame Zukunft der Region, sondern die Diskussion einer gesellschaftlichen Entwicklungsperspektive dieser Gesellschaften, einer möglichen Perspektive des dortigen Staatssozialismus. Erörtert wird, von der Seite des Sozialsystems und der Verfassung aus gesehen, die Möglichkeit einer dritten Phase des Sozialismus, eines autonomen Sozialismus7, von der Seite der Individuen her die Möglichkeit autonomen Handelns.8 Die Ablösung der herrschenden Sozialordnung dieses ostmitteleuropäischen Raums wird hier noch nicht angesprochen. Während das Gemeinsame von Mittel- oder Ostmitteleuropa hier nicht eingehender thematisiert wird, werden wesentliche Elemente des diesem später zugerechneten Kulturkonzepts bereits entwickelt. In diesen Rahmen gehört auch der Gedanke einer Konföderation der Völker Mittel-Osteuropas.9

6 Konrád, Az autonómia kísértése, a.a.O., 6. Die „kleinen Völker" der Region seien Niederlagen gewöhnt, sie hätten immer wieder unter fremder Herrschaft gelebt (6' 7 \ die Geschichte habe ihre Angehörigen zu Mißtrauen und unheroischcn Verhalten erzogen (9). Mythisierte Bilder vom goldenen Zeitalter nationaler Selbstbestimmung und von der Rebellion gegen Fremdherrschaft und Unrecht prägten das offizielle Selbstbild. Doch: „Das ist unsere feiertägliche Verrücktheit .Denn wochentags rebellieren wir ganz und gar nicht." (10, vgl. 7)

7 ebd., 20 8 „An der Arbeit der Autonomie nimmt jeder auf seine Weise, an seinem

Platz teil. Niemand kann an meiner statt, für mich die Aufgaben der Autonomie erfinden. Diese Arbeit ist völlig legal, es bedarf dazu keiner neuen, geheimen Organisation. (...) Ein anderes Wundermittel gibt es nicht. Die Erlöser sind wir selber, alle, und wenn ich uns so betrachte, ist das reichlich komisch." ebd., 137

9 u.a. ebd., 56 „Die sogenannten Volksdemokratien sind auch daran interessiert, in Föderation miteinander zu treten. Dazu müssen unsere

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Zentral ist in diesem Essay vielmehr das, was mangels besserer Worte auch die „inhaltliche Utopie" genannt werden könnte: der Entwurf einer autonomen inneren Verfassung der ostmitteleuropäischen Länder, des Hineinwachsens in eine Kultur autonomen individuellen Lebens und Entscheidens. Angestrebt wird eine Umformung der Gesellschaft von innen: ein langsames Herauswachsen aus der autoritären Allmacht des Staates, individuelles autonomes Verhalten. In nuce sind hier also wesentliche Ideen der späteren Werke - nämlich das Andenken gegen die bipolare Konfrontation, statt dessen die hohe Veranschlagung der Rolle des individuellen Handelns, der Kultur als Experimentierfeld neuen Verhaltens, die Rolle der Stadt, die Vorstellung vom Europa der Städte, die Überzeugung von der Begrenztheit des Nationalstaates, von seinem Ungeeignetsein für moderne Verhältnisse, um nur die wichtigsten in Stichworten zu nennen - schon angelegt. Schwerpunkt dieser „Versuchung der Autonomie" ist die Analyse der inneren Verfassung der staatssozialistischen Länder, die Frage nach dem auszubauenden Spielraum der Autonomie, die Verbreitung dieses Gedankens entgegen dem bipolaren Modell einander gegenüberstehender und schon damit einander ausschließender Welten.

3 Ähnliches gilt auch für die „Antipolitik". Hauptanliegen ist hier die Analyse der inneren Logik der Ordnung von Jalta, die Kritik des Blockdenkens und der Gegenentwurf der Antipolitik als „Ethos der zivilen Gesellschaft."10 Antipolitik verweist die Politik auf den ihr gebührenden

Gesellschaften zunächst - indem sie einander besser kennenlernen - die Kultur der Föderation entwickeln. Diese Demokratie zwischen den Völkern leugnet jegliche nationale Unterdrückung und verlangt Respekt für die Persönlichkeit der anderen Volkskultur. Von Jugoslawien bis Polen sind wir eine natürliche Integration. Völker mit ähnlicher Geschichte, aufeinander angewiesen. Die ostmitteleuropäische demokratische Föderation kann in Freundschaft mit dem sich immer mehr vereinigenden Westeuropa und der Union der sowjetischen Völker leben." (ebd., Ü.: J.B.)

10 Antipolitik, a.a.O., 1985, 89. "Antipolitik will die Politik [...] auf ihren Platz verweisen und wacht darüber, daß sie selbst sich nicht über ihren Zuständigkeitsbereich hinaus ausdehnt, nämlich nicht über die

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Platz11, sie betreibt die „Entstaatlichung der Gesellschaft"12. So gesehen ist der Entwurf dieser Haltung die Fortfuhrung des Gedankens von der „Versuchung der Autonomie", seine konkrete Umsetzung auf das durch Blocklogik und staatliche Penetration der Gesellschaft geprägte Leben im Osteuropa der frühen achtziger Jahre. Auch hier entwickelt Konrád eine Strategie einer allmählichen Veränderung. Durch unkontrollierte, gewaltsame Massenbewegungen ließe sich das System von Jalta, wie die Erfahrung belegt, nicht verändern, wohl aber durch eine langsame Aufweichung des russischen Modells.13

Der hauptsächlich verwendete Terminus zur Beschreibung der Region ist hier Osteuropa. Osteuropa zum einen als der gesamte Raum östlich des eisernen Vorhangs, zum anderen insbesondere als die nach 1945 in den sowjetischen Machtbereich geratenen europäischen Staaten, mitunter auch als Ostmitteleuropa bezeichnet: das zu Osteuropa geschlagene Ostmitteleuropa. Dessen Zustand, dessen soziale und wirtschaftliche Verfassung analysiert die „Antipolitik". Spricht sie von osteuropäischer oder ostmittcleuropäischer Haltung, so beschreibt sie die geistige Verfassung der Menschen der Region, ihrer Mentalität in ihrem historischen Gewordensein.14 Dies schließt die Last der Vergangenheit ein, der sich die Region stellen muß, will sie zu einer anderen Form

Verteidigung und Läuterung der Spielregeln in der zivilen Gesellschaft hinaus. Die Antipolitik ist das Ethos der zivilen Gesellschaft. Die zivile Gesellschaft ist der Gegensatz der Militärgesellschaft."

11 ebd., 213. "Antipolitik ist das Politisieren von Menschen, die keine Politiker werden und keinen Anteil an der Macht übernehmen wollen. Antipolitik betreibt das Zustandekommen von unabhängigen Instanzen gegenüber der politischen Macht, Antipolitik ist eine Gegenmacht, die nicht an die Macht kommen kann und das auch nicht will. Die Antipolitik besitzt auch so schon und bereits jetzt Macht, nämlich aufgrund ihres moralisch-kulturellen Gewichts. [...]

12 vgl. ebd., 214 13 ebd. 69 und ff. 14 Dergestalt werden die Mentalitäten der Osteuropäer insgesamt, aber

auch die bestimmter Schichten, namentlich der politischen Eliten, der Bürokratie und der Intellektuellen, untersucht, vgl. 141 ff., bes. 145.

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menschlichen Lebens gelangen. Die Entwürfe zu möglichen Schritten heraus aus dem staatssozialistischen System, wie sie z.B. unter der Überschrift der „Schlängelstrategie der osteuropäischen Befreiung"15

beschrieben werden, knüpfen an diese gegebene Mentalität, die charakteristischen Verhaltensweisen und Überlebensstrategien ihrer Bewohner an. Die Konstruktion einer gemeinsamen, institutionell verbundenen Zukunft (Ost-)Milteleuropas tritt vorerst dahinter zurück. Mitteleuropa, dessen östlicher Teil dieses Ostmitteleuropa in der Argumentation des Essays darstellt, gliedert sich wiederum ein in ein durch kulturelle Vielfalt geprägtes Europa16, in dessen Interesse es liegt, unter Rückbesinnung u.a. auf diese Tradition zur Abkehr vom von der politischen Blocklogik, zur Oligopolarisierung der Welt beizutragen ,17

4 Ausdrücklich expliziert wird das Konzept von Mitteleuropa dann in den Texten der frühen achtziger Jahre, so dem „Traum von Mitteleuropa" (1984/84), bzw. dem ..Budapester Tao"18. Hier wird nun das Modell Mitteleuropa als das eines Raums gemeinsamer Zukunftschancen einer Region auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs entworfen. Diese Mitteleuropa ist ein Raum der ethnischen und kulturellen Vielfalt, des Ncbeneinanders von Gemeinsamkeiten und Unterschieden19. Doch bedeutet dieses Konzept von Mitteleuropa nicht in erster Linie Berufung auf die gemeinsame Vergangenheit der Region, sondern einen Entwurf ihrer Zukunft.20 Einen Entwurf, dessen politisch-institutionelle Umsetzung im

15 ebd., 115-121 16 ebd., 69 und ff. 17 vgl. ebd., 42 18 als dessen deutscher Fassung. Vgl. Anm. 3 19 „Gegeben ist die Vielfalt. (...) Ein übergreifendes Sich-Einrichten in der

mitteleuropäischen Kultur ist für uns eine natürliche Erweiterung." (ebd., 268) „Unser mitteleuropäisches Wesen deutet sich in den Parallelen und Unterschieden der in unseren Kulturen wirksamen Lebensstrategien an." (ebd., 269)

20 „Wir träumen nicht vom versunkenen Reich, sondern von der freiwilligen, souveränen demokratisch-sozialistischen Konföderation

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Bereich des Möglichen liegt, der jedoch in erster Linie als kulturelles Phänomen ausgesponnen wird.21 In diesem Verständnis, mit dieser Perspektive scheint Mitteleuropa geeignet als Ansatz zur Überwindung der Blockkonfrontation wie ihrer weiter zurückliegenden, sich durch die (mittel-europäische Geschichte ziehenden Ursachen, der nationalistischen Aspirationen der Einzelstaaten, ihrem Drang nach europäischer Vorherrschaft. Als Alternative erscheint die kulturelle Föderation Mitteleuropas, das Netzwerk der Kooperation der transnationalen Intellektuellen, der „Integration der Städte" gegenüber der der Nationen , der „Integration der mehrsprachigen intellektuellen Polisbürger"22.

5 Dieses Konzept wird in anderen kleinen Texten aus den folgenden Jahren weiter ausgeführt.23 Besonders nach dem Zerfall des

der mitteleuropäischen Völker. Die Vision vom kreativen Pluralismus, diese Idee ist in Mitteleuropa revolutionär." (ebd., 265) "Es gibt keine politische mitteleuropäische Formation, doch politische mitteleuropäische Aktionen sind denkbar. Die Auflösung der Militärblöcke in Völker und Individuen, die Verwicklung der Völker und Individuen in zivile Konfigurationen - Schritte in Richtung einer gemeinsamen Utopie." (ebd., 276)

21 „Im Vergleich zur geopoli Ii sehen Realität Osteuropas und Westeuropas existiert Mitteleuropa heute lediglich als eine kulturpolitische Antihypothese. Da es ein Mitteleuropa de facto nicht gibt, ist der mitteleuropäische Standpunkt ein blocktranszendenter. Mitteleuropäer sein bedeutet keine Staatsbürgerschaft, sondern eine Weltanschauung." (ebd., 277)

22 ebd., 292 23 vgl. Középről [1988].- In: Europa köldökén, a.a.O., 1990, 338-374,

Europa megcsinálható. [Rede im Mai 1988 auf einem Schriftstellcrtreffen in West-Berlin zum Thema „Traum von Europa"].-In: Europa köldökén, a.a.O., 375-394; Ökológiai realizmus [1988].- In: Európa köldökén, 394-404; Individuumok Európája. [Rede im Münchener Goethe-Institut, 1989] (404-422), weitgehend identisch mit „Das Europa der Individuen". (In: Die Melancholie der Wiedergeburt. Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 1992, 107-123

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Staatssozialismus und des östlichen Parts des Blocksystems ist in Konráds Texten ein Übergang zu vielen Einzelfragen zu beobachten24. Daneben ist kontinuierlich eine Linie der Diskussion grundsätzlicher ethischer und geschichtsphilosophischer Fragen zu verfolgen. Zentrale Stellung kommt hier dem Problem zu, ob das Prinzip staatlicher Souveränität und Autonomie oder das der individuellen Autonomie, der Menschenrechte höher zu bewerten sei, und welches daher bei der Schlichtung von Konflikten - durch die Staatengemeinschaft oder deren nationale Dependancen - im Vordergrund stehen sollte.

6 Diese Gewichtsverlagerung, diese Verschiebung der Aufmerksamkeit hin zu aktuellen politischen Fragen bedeutet also nicht, daß der Entwurf von Mitteleuropa stillschweigend aufgegeben worden sei. Der Funktionalisierung des Begriffs war sich Konrád dabei durchaus bewußt: „Ja, der Begriff Mitteleuropa ist auch ein politischer Begriff. Er bedeutet den Anspruch, daß der Eiserne Vorhang aus der Mitte Europas verschwinden muß, weil er stört. (...) Die militärische Determination des gesellschaftlichen Zustands muß verschwinden. Der kulturelle Begriff Mitteleuropa schließt die Ablehnung des militärischen Bildes des zweigeteilten Europas in sich ein. Seine prinzipielle Ablehnung, weil er das Programm von dessen stufenweiser Auflösung beinhaltet."25 Mitteleuropa war eine Ausformung, eine bildhafte Ausgestaltung der Ansprüche, die der Autor u.a. auch schon in der „Versuchung der Autonomie" entwickelt hatte. Die Anstiftung zu persönlicher Autonomie fand in Mitteleuropa eine Anknüpfungspunkt in der Vielfalt der kulturellen Phänomene, die Perspektive antipolitischer Gegenkultur einen aufzeigbaren Bezugsraum. Der Rückbezug auf ein Mitteleuropa mit einer Tradition kultureller Vielfalt schien geeignet, zur Besinnung auf diese Möglichkeit, diese Traditionslinie in der eigenen Geschichte aufzurufen - neben den aus der dem kulturellen Gedächtnis nicht zu löschenden Geschichten von nationalistischen Zwistigkeiten und Vernichtung. Doch hatte dieser Blick in die Vergangenheit vor allem insofern Gültigkeit, als er Anstiftung zum Denken

2 4 vgl. Die Melancholie der Wiedergeburt, a.a.O., 1992; Várakozás. -Budapest, Pesti Szalon 1995

25 ebd., 342. (Ü.: J.B.)

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in die Zukunft war: „Grundlage der Autonomie ist nicht die Vergangenheit, sondern die Zukunft."26

Ostmitteleuropa bzw. Mitteleuropa waren konzeptionell gesehen Vehikel, um bestimmte Werte (individuelle Autonomie, Menschenrechte, versus Verstaatlichung des individuellen Lebens, staatliche Kontrolle usw.) zu behaupten. Zu einem bestimmten Zeitpunkt erschienen dieses Konzept als geeigneter Rahmen, in dem diese Werte in kleinen realistischen Schritten realisiert werden konnten, aufbauend auf den vielen, vielfältigen Aktionen der Individuen, als Netzwerk persönlicher Begegnungen, persönlichen Interesses aneinander, geistigen Austauschs - als Europa der Kultur, als Netzwerk der Intellektuellen, als „Europa der Individuen".27

Dieser Entwurf kann rückblickend interpretiert werden als eine Umsetzung antipolitischen Handelns. Eines Handelns, das eben ausgehend von dem in der „Antipolitik" herausgearbeiteten einschränkenden Bedingungsfeld, innerhalb einer in bipolarer Konfrontation erstarrten Welt mit mehrfachem Vernichtungspotential agierend, ohne die innere Verfassung der Staaten auf beiden Seiten sofort in Frage zu stellen, diesen individuellen Spielraum ausschöpft und auszuweiten bestrebt ist. Als Modell eines begrenzten Schritts, eines ersten Schritts zu weiterreichender Zusammenarbeit, zu weiterrcichender Wahrnehmung gemeinsamer Interessen, als Entwurf eines Bereichs, in dem individuelle Schritte, Aktionen, individuelle Zusammenarbeit, Verbindungen schließlich etwas Umfassendes konstituieren könnten.

Da wiederum diese aktuellen Handlungsbedingungen des politischen Umfelds schonungslos kritisiert und von einem Standpunkt außerhalb der Blocklogik analysiert wurden, spielte die Geschichte als Projektionsfläche für Konráds Mitteleuropa-Konzept nur eine vergleichsweise zweitrangige Rolle: da die Stnikturen des staatssozialistischen Systems unverbrämt beschrieben wurden, konnte die Aufweichung dieses Systems als Lebensinteresse seiner Bewohner verstanden werden, so wie ein Interesse der Westeuropäer an der Überwindung der Ordnung von Jalta konstatiert

26 Antipolitik, a.a.O., 158 27 so der Titel eines Vortrags 1989. Vgl. György Konrád: Individuumok

Európája [Rede im Münchener Goethe-Institut, 1989].- In: Europa köldökén, a.a.O., 405-422

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wurde. Das Gemeinsame konnte mit anderen Worten in aktuellen, höchst vitalen Interessen gesucht werden; der Rückgriff auf die Geschichte war nur insoweit nötig, als er das Verständnis der einmal entstandenen Situation erklären, verstehen helfen konnte. Als rückblickende Utopie eines vergangenen gemeinsamen Mitteleuropas, als historische Entschuldigung für das Modell und als Begründung für einen Aufnahmeantrag nach Europa (nämlich nach Westeuropa) war sie in diesem Argumentationszusammenhang nicht erforderlich.

7 Die Veränderungen und Brüche in der Folge der Texte sind andernorts zu finden. Ein Wandel ist weniger auf der Ebene des Europa- und des Mitteleuropa-Bildes zu beobachten. Eher veränderte sich zwangsläufig die Beschreibung der konkreten Schritte heraus aus der gegebenen Situation, die Beschreibung des künftigen Zustandes der osteuropäischen Länder, dessen, was die osteuropäischen Länder einmal werden könnten. Ein zentrales Anliegen der Texte in den neunziger Jahren war nunmehr die Frage der Bewahrung der Demokratie in Ungarn wie in Osteuropa, ihres Ausbaus, der Situation der individuellen Freiheitsrechte.

Mitteleuropa ist also, betrachtet man Konráds Konzept rückblickend, auch ein an die aktuellen Bedingungen angepaßter Handlungsrahmen. Das schlägt sich auch darin nieder, daß die Ansätze zu einer osteuropäischen Föderation auf dem Weg nach Mitteleuropa, die möglichen Bündnisse auf dem Weg nach Europa immer wieder anders ausfallen, je nach der aktuellen politischen Situation. Neben dem Hinweis auf „Kakanien"28 stand der Gedanke einer „ostmitteleuropäischen demokratischen Föderation" als „vermittelndem Gürtel" und „Experimentierfeld"29, oder einer „Donau-Konföderation" als Zusammenschluß der ostmitteleuropäischen Länder auf dem Weg zur europäischen Integration, zu einer „Kultur der Zusammenarbeit"30, aber auch anderer, in andere geographische Räume

2 8 Budapester Tao, a.a.O., 270 29 Ökológiai Realizmus, a.a.O. 395, 396 3 0 Oda-vissza. Áprilisi jegyzetek. - In: Kritika (1993)4, 22-25, hier 23

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reichender Verbindungen31. Neben dem Ungarns und Ostmitteleuropas steht das Schicksal der „lange(n) nord-südliche(n) Zone" „von der Ostsee bis zum Mittelmeer" zur Debatte. Kooperation in Ostmitteleuropa ist dabei nur eine Möglichkeit.32 „In der Zeit des Zerfalls war es Mode bei den Minderheiten, mitteleuropäische Beziehungen zu pflegen, jetzt reift vielleicht die Erkenntnis, daß wir, ob so oder so, zur Kooperation gezwungen sind." (...) Wir müssen dort zusammenarbeiten, wo es möglich ist."33

Mitteleuropa war und ist in diesen Essays und Reden kein statischer Entwurf, kein Punkt, auf den die Entwicklung zuläuft, kein blueprint, sondern die bildhafte Vision eines möglichen Weges, eines Handlungskonzepts. Ebendies erklärt, warum das Konzept, in immer neuer konkreter räumlicher Ausgestaltung, auch immer wieder auftauchte.

Die Kontinuität wiederum, mit der das Netzwerk geistiger Kontakte, das Europa des Kulturaustauschs immer wieder ausgemalt wurde, belegt in gewissem Sinne auch Konstanten der Situation: Wegen der Risiken im Militärbereich, nunmehr aber auch wegen der Schwierigkeiten des Interessenausgleichs im ökonomischen Bereich erscheint auch Mitte der neunziger Jahre Kultur als der Hauptbereich der Aktivitäten zum Aufbau Mitteleuropas - als der Bereich, in dem auf dem Weg nach Europa Zusammenarbeit, Aufbau von Verbindungen, am ehesten möglich ist. Allerdings stehen nun, was die andere Seite der Verbindungsaufnahme angeht, mehrere, unterschiedliche, auch weiter geographisch entfernte Partner zu Verfügung.

Umgekehrt wiederum ist daher auch Europa nur eine relative Größe, nur ein Bezugsrahmen innerhalb eines größeren Zusammenhangs, innerhalb der Globalisierung der ökonomischen, politischen und kulturellen Bezüge, ein Fall von „transnationalen" Bezügen. Globalisierung von Beziehungen und Globalisierung von Problemen führt dazu, daß sich Utopien, Entwürfe nun auf Ethik des Lebens unter diesen Bedingungen, auf

31 Egymásra itelve [Rede vor dem ungarischen Parlament 10. Sept. 1994, zum Thema Stabilität und Konsolidierung in Mitteleuropa], - In: Várakozás, a.a.O. 1995, 515-522, hier 521

32 ebd., 521 3 3 ebd., 522

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wünschenswertes menschliches Verhalten darin richten. Konráds Reflexionen kreisen um zentrale Werte, Leitprinzipien, für grundlegende Entscheidungen unter diesen Bedingungen. Nachdem der Bewegungsraum so offen geworden ist, wie er es nach 1989 ist, nimmt der (utopisch gefärbte) Entwurf möglichen Verhaltens einen zentralen Platz ein.

8 Nach Konráds Texten der neunziger Jahre wird das Schicksal Europas davon abhängen, ob sich in den Konflikten der zweiten Jahrtausendwende das Prinzip der Rechte des Individuums oder das des Schutzes staatlicher Souveränität als Leitprinzip erweisen wird.34 Noch scheint es eine Chance zu geben, daß die immer wieder aufflammenden nationalistischen Zusammenstöße eher als Vakzine denn als Seuchenherde wirken35. Vorerst tendiert Konrád zu einem optimistischen Blick auf die Chancen einer an der Autonomie des Individuums orientierten Ethik sowie des Aufbaus eines vernünftigen, verantwortungsbewußten Zusammenlebens in der Welt. Möglicherweise hat auch diese Betrachtungsweise - ähnlich wie die vergleichsweise optimistische, weil auf die Katastrophen des Jahrhunderts zurückblickende positive Einschätzung des europäischen Zusammenwachsens 1994 für die „Zeit" - eine starke funktionale Komponente: Anlässe für Kritik, Gründe zur Niedergeschlagenheit, Enttäuschung gäbe es viele, aber an einer Zukunft arbeiten kann man nur, wenn Hoffnung auf Umsetzung bestimmter Ziele besteht. Da Tätigsein fur bestimmte Ziele der einzige Weg zu ihrer Umsetzung ist, erscheint es sinnvoll, relativ optimistisch in die Zukunft zu blicken. „Versuchen wir, das Mögliche und das Wünschenswerte zu verbinden. (...) Jede Ethik postuliert, daß die Utopie und die Geschichte einander an einer fernen Straßenecke ein Rendezvous geben.(,..)"36

3 4 z.B.: Se bosszú, se megbocsátás.- In: Kritika (1995)10, 15-18, Rettenetes, avagy tanuljunk a fecskéktől.- In: Kritika (1995)5, 20-23

3 5 Európai realizmus. - In: Várakozás, a.a.O., 1995, 308-311, hier 311 3 6 Az autonómia kisértése, a.a.O., 147


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