Aggression im Straÿenverkehr �
wie mens hli hes Fahrverhalten die
Stauentstehung beein�usst
Martin Treiber
1 Aggression aus der Si ht des
Verkehrsmodellierers
Aggressivität und andere Einstellungen von Autofahrern wirken si h
auf das Fahrverhalten und mittelbar auf den Verkehrs�uss aus, insbe-
sondere auf die E�zienz des Verkehrs und die Stauneigung. Ist eine
moderate Aggressivität der Fahrer immer ungünstig für den Verkehrs-
�uss oder verursa ht es mehr Staus, wenn man bewusst langsam fährt
und groÿe Lü ken lässt? Kann man dur h ein geändertes Fahrverhal-
ten selbst zur Stau-Reduzierung beitragen? Wie verändert si h der
Verkehrs�uss in der Zukunft, wenn es immer mehr teilautomatisierte
oder sogar autonome Fahrzeuge gibt?
Ein Ansatz um sol he und ähnli he Fragen zu beantworten ist die
mathematis he Modellierung des Fahrverhaltens und die Simulatio-
nen dieser Modelle als �Vielteil hensysten� � jedes Fahrzeug und der
dazugehörige Fahrer
1
ist ein Teil hen � in vers hiedenen Verkehrssi-
tuationen.
In diesem Beitrag werden zunä hst die für das Fahrverhalten re-
levanten Dimensionen identi�ziert und ein darauf basierendes �Fahr-
zeugfolgemodell� für die Längsdynamik � also die Modellierung von
Bes hleunigungs- und Bremsmanövern � vorgestellt. Wir zeigen, wie
sol h ein Modell mit Hilfe allgemeiner Annahmen über die Risikobe-
reits haft und Aggressivität im Rahmen einer Maximierung des erwar-
teten subjektiven Nutzens hergeleitet werden kann. Neben Bes hleu-
nigen und Bremsen tre�en Autofahrer au h diskrete Ents heidungen
wie Spurwe hsel, Nutzung einer Lü ke zum Einfahren auf eine vor-
1
Zur Vereinfa hung der Darstellung wird im Folgenden das generis he Maskuli-
num verwendet. Fahrerinnen sind ausdrü kli h mit gemeint.
1
a = 1 m/s
b = 1 m/s 2
s0 = 3 m
v0 = 90 km/hT = 2 s
2
s = 0
b = 4 m/s 2
a = 4 m/sv0=220 km/h
s0 = 1 m
T = 0.3 s
!2
s = 0
Abbildung 1: Das Fahrverhalten wird dur h die Parameter des
Fahrzeugfolgemodells bestimmt: Wuns hges hwindig-
keit v0, Folgezeitlü ke T , Mindestabstand s0, Wuns h-
Bes hleunigung a und komfortable Bremsverzögerung b.
fahrtsbere htigte Straÿe oder Weiterfahren bzw. Halten, wenn man
si h einer auf gelb springenden Ampel nähert. Aufbauend auf den
Fahrzeugfolgemodellen formulieren wir Modelle dieser Ents heidungs-
situationen und berü ksi htigen zusätzli h den Grad an Altruismus
bzw. Egoismus.
Simulationen dieser Modelle zeigen, dass eine geringe Menge an Ag-
gressivität dem Verkehrs�uss eher förderli h ist, ehe es in das Gegen-
teil ums hlägt. Wi htiger zur Stauvermeidung ist aber Agilität, Anti-
zipation (Vorwegnahme der Situation einige Sekunden voraus) sowie
Tempolimits an kritis hen Stellen und bei hoher Verkehrsbelastung.
2 Longitudinale Modellierung: Die fünf
Dimensionen des Fahrverhaltens beim
Fahrzeugfolgen
Das in Treiber et al. (2000) erstmals vorgestellte Intelligent-Driver
Model (IDM) ist ein Fahrzeugfolgemodell, wel hes folgende Dimen-
2
sionen des Fahrverhaltens in Form von Modellparametern, also �Ein-
stells hrauben� des Modells, berü ksi htigt (vgl. Abb. 1):
3
• Wuns hges hwindigkeit v0 bzw. genauer das Minimum aus int-
rinsis her Wuns hges hwindigkeit und Begrenzungen dur h Tem-
polimits oder die Motorisierung
• Folgezeitlü ke (�Si herheitsabstand�) T . Die Fahrs hulregel �Ab-stand glei h halber Ta ho� entspri ht T = 1.8 s. Generell werdenaber erst Abstände unterhalb �viertel Ta ho� als aggressiv emp-
funden. Neben dem dur h die Folgezeitlü ke implizierten Ab-
stand gibt es no h einen zwei oder drei Meter betragenden Min-
destabstand s0 bei Stillstand
• Bes hleunigungswuns h a. Typis he Alltagswerte liegen um 2m/s2
oder etwas darunter. Eine Bes hleunigung �von Null auf Hundert
in 10 s� entspri ht 2.8m/s2
• Komfortable Bremsverzögerung b, ebenfalls um 2m/s2. Je nie-
driger, desto eher bremst ein Fahrer
• Reaktionszeit Tr. Diese umfasst alle Stufen einer Reaktion vom
Ereignis (z.B. ein über die Straÿe laufendes Kind ist erstmals
si htbar) über die sensoris he Erfassung, Interpretation, Ent-
s heidungs�ndung (�Notbremsung!�) bis hin zur Umsetzung (Fuÿ
auf die Bremse, te hnis he Antwortzeit der Bremse) und beträgt
tyis herweise 1 s und mehr.
Die psy hologis hen Verhaltensdimensionen beein�ussen i.A. mehr-
ere dieser Parameter, insbesondere wird ein aggressiver Fahrer dur h
hohe Werte von v0, a und b und niedrige Werte von T und s0 ha-
rakterisiert, ein unsi herer Fahrer dur h niedrige Werte von v0 und
a und hohe Werte von b, ein erfahrener Fahrer dur h niedrige Werte
von b und ein agiler Fahrer zusätzli h dur h hohe Bes hleunigungen
a und eher niedrige Folgezeiten T . S hlieÿli h hat ein aufmerksamer
Fahrer eine niedrige Reaktionszeit. Weitere Aspekte wie S hätzfehler
oder au h Episoden mangelnder Aufmerksamkeit werden hier ni ht
bespro hen, aber au h dafür gibt es Modelle (Treiber et al., 2006).
Wie viele andere Fahrzeugfolgemodelle (siehe z.B. das Lehrbu h
Treiber and Kesting (2013)) bes hreibt das IDM Autos und ihre Fah-
rer als Teil hen, wel he im Prinzip Newton's he Bewegungsglei hungen
der Art �Kraft glei h Masse mal Bes hleunigung� gehor hen, nur dass
die Masse =1 gesetzt wird und die physikalis hen Kräfte dur h soziale
4
vv
x
vv0
f free
lv x v
fv
s
i v
Abbildung 2: Die wi htigsten Ein�ussgröÿen der Längsdynamik (Be-
s hleunigen und Bremsen): Ges hwindigkeiten v und vv
des betra hteten und des Vorderfahrzeugs, Lü ke s zumVorderfahrzeug und Wuns hges hwindigkeit v0.
Kräfte ersetzt werden:
aIDM
= ffree
+ fv
= a
[
1−(
v
v0
)4]
− a(
s∗s
)2
. (1)
Die soziale Kraft ffree
ist die Triebkraft, um die Wuns hges hwind-
keit v0 zu errei hen. Sie resultiert bei freiem Verkehr anfängli h in
eine Bes hleunigung a, wel he erst kurz vor Errei hen der Wuns h-
ges hwindigkeit bis auf Null abnimmt. Bei gestauten Verkehr würde
dies natürli h zu Kollisionen mit dem Vorderfahrzeug v führen. Des-
halb bremst der zweite Summand fv
= −a(s∗/s)2 das Auto wieder
ab, so dass letztendli h ein Wuns habstand resultiert, der angenähert
dur h
s∗ = max
(
0, s0 + vT +v(v − v
v
)
2√ab
)
(2)
gegeben ist. Im Wesentli hen ist s∗ glei h dem aus der Folgezeit Tresultierenden Abstand vT . Hinzu kommt ein kleiner Mindestabstand
s0 und ein dynamis her Beitrag, der zu verstärkter Bremsung führt,
wenn das Vorderfahrzeug langsamer als das betra htete Fahrzeug ist.
Will man zusätzli h eine Reaktionszeit Trsimulieren, werden die re h-
ten Seiten der Glei hungen ni ht zur Zeit t, sondern zur vergangenen
Zeit t− Trbere hnet.
Um das Modell zu testen, zeigt Abb. 3 eine typis he innerstädtis he
Situation: Zur Zeit t = 0 wird die erste Ampel grün und die dahinter
wartende Kolonne setzt si h zur nä hsten roten Ampel in Bewegung.
Alle Fahrzeuge haben die Modellparameter v0 = 15m/s = 54 km/h,
5
3 2 1
0
10
20
30
40
50
0 30 60 90 120 150
Ges
chw
. [km
/h]
Kfz 1Kfz 5
Kfz 10Kfz 15Kfz 20
0
10
20
30
0 30 60 90 120 150
Net
to-A
bsta
nd [s
]
Kfz 1Kfz 5
Kfz 10Kfz 15Kfz 20
-2
-1
0
1
2
0 30 60 90 120 150
Besc
hl. [
m/s
2 ]
Zeit [s]
Kfz 1Kfz 5
Kfz 10Kfz 15Kfz 20
Abbildung 3: Modelltest des lei ht modi�zierten IDM na h den
Gln. (1) und (2) in einer innerstädtis hen Start-Stopp-
Situation.
6
−3
−2.5
−2
−1.5
−1
−0.5
0
0.5
1
1.5
−4 −2 0 2 4Pro
spek
ttheo
retis
che
Nut
zenf
unkt
ion
UP
T
a [m/s2]
Abbildung 4: Eine Realisierung der prospekttheoretis hen Funktion
von Kahneman und Twersky.
T = 1.2 s, s0 = 2m, und a = b = 1.5m/s2. Die rote Ampel wird
dur h ein stehendes virtuelles Fahrzeug auf der Position der Haltelinie
abgebildet. Eine Extra-Modellierung ist also ni ht nötig.
In der beiden obersten Zeitreihen sieht man, dass si h die Ges hwin-
digkeit auf die Wuns hges hwindigkeit und der Abstand auf s0+v0T =20m einpendelt, bevor vor der nä hsten Ampel abgebremst wird.
S hlieÿli h stehen die Fahrzeuge mit einer Lü ke s0 = 2m voneinander.
In der untersten Zeitreihe sieht man, dass die maximale Bes hleuni-
gung = a ist und die maximalen Bremsverzögerungen aller Autos in
etwa bei der komfortable Verzögerung b liegen. Das Modell bildet al-
so das Fahrverhalten hinrei hend realistis h ab und könnte au h als
Bes hleunigungsregler in autonomen Fahrzeugen verwendet werden.
3 Modellierung und Simulation von
Risikobereits haft und Aggressivität
Konventionelle Fahrzeugfolgemodelle berü ksi htigen zwar phänome-
nologis h einige Aggressivitätsmerkmale wie zu di htes Au�ahren, zu
hohe Ges hwindigkeit oder Bremsen im letzten Augenbli k. Sie enthal-
ten aber folgende wi htige fahrpsy hologis he Merkmale ni ht explizit:
• Nutzenbewertung einer langsameren oder s hnelleren Fahrt,
7
• Risikobewertung und Unsi herheit,
• Fehlende Objektivität (bounded rationality).
Um konventionelle Fahrzeugfolgemodelle auf eine empiris h-psy ho-
logis he Basis zu stellen, betra hten wir die Bes hleunigungsents hei-
dung (die au h negative Bes hleunigungen, also Bremsen enthält), als
eine Maximierung des Mittelwertes eines subjektiv empfundenen Nut-
zens bei zwei mögli hen Ausgängen (Hamdar et al., 2008):
1. Kein Crash: In diesem Fall resultieren hohe Bes hleunigungen
in hohe Ges hwindigkeiten und man kommt s hneller vorwärts.
Na h der Prospe t Theory von Tversky and Kahneman (1982)
ist der subjektiv empfundenen Nutzen allerdings ni htlinear: Ein
negativer Nutzen (negative Bes hleunigung) wird stärker gewi h-
tet als ein positiver. Zusätzli h ist die Sensitivität nahe der Re-
ferenz (Bes hleunigung glei h Null) am gröÿten. Der Nutzen die-
ses Szenarios als Funktion der Bes hleunigung sieht etwa wie in
Abb. 4 aus.
2. Crash: Hier gibt es einen hohen Zeitverlust und S haden, der
um den Faktor wc≫ 1 höher ist als eine dur h die Abbildung 4
de�nierte Nutzeneinheit (NE). Allerdings fällt dieser S haden
nur mit einer sehr kleinen Wahrs heinli hkeit p rash
≪ 1 an.
Diese Wahrs heinli hkeit steigt aber in di htem Verkehr stark
mit der Bes hleunigung a an.
Jedem der beiden Ausgänge wird eine subjektive Wahrs heinli hkeit
(1−p rash
) bzw. p rash
zugeordnet. Die in diesemModell angenommeme
Bes hleunigung entspri ht der Maximierung des erwarteten Nutzens
zuzügli h eines Zufallsnutzens ǫ:
U(a) = (1− p rash
)UPT
(a) + p rash
(a)wc+ ǫ = max! (3)
Nimmt man zur Bere hnung der Crash-Wahrs heinli hkeit einen
Zeithorizont von τ = 4 s an, in wel hem si h die Bes hleunigungen
aller beteiligten Fahrzeuge ni ht ändern, ferner einen S hätzfehler bei
der Ges hwindigkeitsbestimmung von α = 8%, eine S hadenshöhe
wc= 100 000Nutzeneinheiten (NE) und eine Standardabwei hung des
Zufallsnutzens in der Höhe 0.2NE, bekommt man erwartete Bes hleu-
nigungen und Bes hleunigungsverteilungen wie in Abbildung 5: Im
Plot (a) sieht man, wie aufgrund der hohen S hadensgewi htung wcder
8
a*PT [m/s2]
0 10 20 30 40
v [m/s]
−10
−5
0
5
10
15
20
∆v [m
/s]
−10
−8
−6
−4
−2
0
2
4
0 0.2 0.4 0.6 0.8
1 1.2 1.4 1.6 1.8
2 2.2 2.4 2.6
−6 −4 −2 0 2 4 6
Dic
htef
unkt
ion
f(a)
a [m/s2]
s=30 m, ∆v=0 km/h v=10 m/sv=20 m/sv=30 m/s
−50
−40
−30
−20
−10
0
10
−6 −4 −2 0 2 4 6
Sub
jekt
iver
Ges
amtn
utze
n U
a [m/s2]
s=30 m, ∆v=0 km/h v=10 m/sv=20 m/sv=30 m/s
(a)
(b)
(c)
Abbildung 5: Eigens haften des Prospekttheoretis hen Modells (3):
(a) Erwartungswert des Gesamtnutzens als Funktion der
Eingangsgröÿen; (b) Di htefunktion der aus der Maxi-
mierung des Gesamtnutzens resultierende Bes hleuni-
gung; ( ) Erwartungswert der Bes hleunigung als Funk-
tion von Ges hwindigkeit und Annäherungsrate ∆v bei
einem Abstand s = 30m.
9
Gesamtnutzen ab einer gewissen Bes hleunigung in den Keller geht.
Plot (b) zeigt, dass die Unsi herheit der resultierenden Bes hleunigung
nahe der Referenz a = 0 am geringsten ist. S hlieÿli h zeigt Plot ( ),
dass bei gegebenen Abstand die Bes hleunigung mit der Annäherungs-
rate und der Ges hwindigkeit abnimmt, was plausibel ist. S hlieÿli h
de�niert in diesem Plot die s hwarze Linie (Bes hleunigung Null) eine
nahezu konstante Folgezeit, wel he si h analytis h dur h
T ≈ ατ√
2 lnwc
annähern lässt. Je pessimistis her man ist (man kann während des
Zeithorizonts τ ni hts ändern), je unsi herer man seine S hätzfähigkei-
ten beurteilt (groÿes α) und je gröÿer der befür htete Unfall-S haden
ist (defensive Einstellung entspri ht hohem wc), desto höher ist die
Folgezeit. Umgekehrt führt Aggressivität (kleine Werte von τ , α und
wc) zu einer kleinen Folgezeit. Damit führt dieses Modell die beoba ht-
bare Gröÿe �Folgezeit� auf fahrpsy hologishe Attribute, insbesondere
Aggressivität, zurü k. Bei den angegebenen Parametern beträgt sie
1.5 Sekunden.
S hlieÿli h zeigt der selbe Modelltest wie beim �Intelligent-Driver
Model�, dass au h dieses Modell ein komplettes innerstädtis hes �Von
Ampel-zu-Ampel�-Szenario abbilden kann (Abb. 6).
4 Aggressivität bei Spurwe hsel und
anderen
diskreten Ents heidungen
Ein Autofahrer kann neben den kontinuierli hen Aktionen Bes hleuni-
gen und Bremsen au h diskrete Ents heidungen tätigen, insbesondere
• Spurwe hsel (Abb. 7): re hts, links oder gar ni ht we hseln,
• Annähern an eine gelb werdende Ampel (Abb. 8): weiterfahren
oder anhalten,
• Einbiegen in eine vorfahrtsbere htigte Straÿe oder eine sol he
queren: eine gegebene Lü ke nutzen oder warten (Abb. 8).
Sol he Ents heidungen hängen stark vom Verhalten beim Bes hleu-
nigen und Bremsen ab. Fährt man als aggressiver Fahrer di ht auf
10
3 2 1
0
10
20
30
40
50
0 30 60 90 120 150
Ges
chw
. [km
/h]
Kfz 1Kfz 5
Kfz 10Kfz 15Kfz 20
0
10
20
30
0 30 60 90 120 150
Net
to-A
bsta
nd [s
]
Kfz 1Kfz 5
Kfz 10Kfz 15Kfz 20
-2
-1
0
1
2
0 30 60 90 120 150
Besc
hl. [
m/s
2 ]
Zeit [s]
Kfz 1Kfz 5
Kfz 10Kfz 15Kfz 20
Abbildung 6: Modelltest des prospekttheoretis hen Modells im selben
Start-Stop-Szenario wie in Abb. 3.
11
s hl
hls
s h
s
ahl vl
v
vrhr
ha
s
Abbildung 7: Die im Spurwe hselmodell MOBIL betra htete Situati-
on. Je na h Hö�i hkeitsfaktor wird der eigene Vorteil
mit Behinderungen anderer Fahrer abgewogen
vvh
sh
betrachtetesFahrzeug
Fahrzeug h
??v
v=0
s
v
Grübel,grübel ...
Abbildung 8: Andere Ents heidungssituationen, deren Ausgänge von
der Aggressivität des Fahrers abhängen.
12
und bes hleunigt stark, wird man tendenziell au h kleinere Lü ken
nutzen sowie anderen Fahrern beim Spurwe hseln stärkere Bremsma-
növer abverlangen. Es liegt daher nahe, diskrete Fahr-Ents heidungen
auf Basis der Fahrzeugfolgemodelle zu formulieren. Auf diese Weise
überträgt si h der in den Folgemodellen dargestellte Fahrstil automa-
tis h au h auf die diskreten Ents heidungen.
Wir werden dies nun am Beispiel der wi htigsten diskreten Ents hei-
dung, dem Spurwe hsel, darstellen. Zunä hst ist ein Spurwe hsel ein
dreistu�ger Prozess:
• Strategis he Komponente: Die gewählte Route gibt vor, wo auf-
grund Ri htungsänderungen spurgewe hselt werden muss.
• Taktis he Komponente: Steht ein Spurwe hsel (strategis he Kom-
ponente) an bzw. geht auf dem eigenen Fahrstreifen zu langsam
voran, wird dieser dur h Su hen einer Lü ke sowie einem Koope-
rationswuns h (Blinken) vorbereitet.
• Operative Komponente: Dur hführung des We hsels, wenn die
in der taktis hen Phase gefundene Lü ke groÿ genug ist.
Wir betra hten nun nur die operative Phase in der in Abb. 7 skizzier-
ten Situation aus Si ht des Fahrers im roten Fahrzeug: Ist ein We hsel
auf die gestri helte Position si her und vorteilhaft? Im Spurwe hselm-
odell MOBIL (Kesting et al., 2007) wird, gemäÿ seinem Akronym Mi-
nimizing Overall Braking de elerations Indu ed by Lane hanges, ni ht
nur die Si herheit und der eigene Vorteil beda ht. Vielmehr führt das
Modell au h einen Hö�i hkeitsfaktor p ein, wel her die Situation der
von der Spurwe hsel-Ents heidung betro�enen Na hbarn berü ksi h-
tigt. ImModell MOBIL werden Spurwe hsel sofort dur hgeführt, wenn
folgende Kriterien glei hzeitig zutre�en:
Si herheitskriterium: Beim We hsel ergibt si h weder ein direkter
Crash (seitli he Kollision) no h wird der Folge-Fahrer auf der Zielspur
(im Bild hinten links, hl) so stark behindert, dass er mit mehr als
der kritis hen Verzögerung bsafe
bremsen muss. Die Verzögerung wird
dabei mit dem Fahrzeugmodell IDM bere hnet. Die kritisa he Verzö-
gerung kann als eigener Modellparameter aufgefasst werden, oder man
rezykliert den Parameter b des Folgemodells IDM, indem man bsafe
= bsetzt.
13
Wuns hkriterium: Zunä hst muss der We hsel für einem selbst vor-
teilhaft sein. Der Vorteil wird dabei dur h die Bes hleunigungsdi�erenz
gemäÿ dem IDM bere hnet:
V = a′IDM
− aIDM
wobei aIDM
und a′IDM
die IDM-Bes hleunigungen des betra hteten
Fahrzeugs vor und na h einem potenziellen We hsel (rote Pfeile in
Abb. 7) bezei hnen.
Egoistis hen Fahrer we hseln, wann immer das Si herheitskriteri-
um erfüllt und der Vorteil V positiv ist. Mehr oder weniger �hö�i he�
Fahrer hingegen wiegen den eigenen Vorteil mit dem � mit einem Höf-
li hkeitsfaktor p gewi hteten � Na hteil ab, wel her dur h den We h-
sel anderen Fahrern aufgezwungen wird. Der Na hteil N wird wieder
dur h die Bes hleunigungen der beteiligten Fahrer vor- und na h dem
We hsel quanti�ziert, z.B. für einen We hsel na h links wie im Bild:
N = aIDM
(h) + aIDM
(hl)− (a′IDM
(h) + a′IDM
(hl))
Der Na hteil ist also gegeben dur h die Di�erenz zwis hen den Be-
s hleunigungen vor und na h dem We hsel für die betro�enen Hinter-
fahrzeuge h und hl. Damit lautet das MOBIL-Wuns hkriterium
V − pN > 0.
Für eine konkreten Simulation werden auf die re hte Seite no h We h-
sels hwellen hinzugefügt, wel he ein zu hektis hes Hin- und Herwe h-
seln verhindern. Ferner gibt es eine Karenzzeit zwis hen zwei We hseln
und ein We hsel wird verboten, wenn das Vorderfahrzeug gerade we h-
selt. Au h Verkehrsregelungen wie das Re htsfahrgebot können dur h
einen weiteren Beitrag auf der re hten Seite (positiv für We hsel na h
links, negativ für re hts) modelliert werden.
Dieser Formulierung der operativen Spurwe hselents heidungen hat
zwei wüns henswerte Eigens haften:
• Der Fahrstil des Fahrzeugfolgemodells wird automatis h vom
Fahrzeugfolgemodell übernommen: Fahrer, wel he aggressiv be-
s hleunigen und bremsen, führen au h Spurwe hsel aggressiv
dur h.
• Die Ents heidung hängt automatis h ni ht nur von der Gröÿe
der Lü ke und der Ges hwindigkeit ab, sondern au h von Ge-
s hwindigkeitsdi�erenzen wie in Abb. 9 dargestellt.
14
n∆v =0
lane change
OK ?LIB
O
M snYes!
.
.
.
lane change
OK ?
M
LIBO
n∆v >0
snNo!
.
.
.
Abbildung 9: Die Spurwe hselents heidung hängt ni ht nur vom Ab-
stand und der Ges hwindigkeit, sondern au h vom Fahr-
stil und der Annäherungsrate des s hnelleren Hinterfahr-
zeugs ab.
S hlieÿli h erlaubt es der Hö�i hkeitsfaktor, ein ganzes Spektrum an
Stufen der Kooperation abzubilden, von egoistis h (p = 0) zu ver-
kehrsoptimal (p = 1) bis hin zu ausgeprägt altruistis h (p > 1) odersogar s hulmeisterhaft-bösartig (p < 0). In der Praxis ist man meist
do h si h selbst der Nä hste und gewi htet die anderen geringer, bei-
spielsweise mit p = 0.2.
5 Simulationen
Wir werden nun mittels Simulationen die Eingangsfragen beantwor-
ten, wel he wie folgt zusammengefasst werden können: Wie wirken
si h vers hiedene Dimensionen des Fahrverhaltens und insbesondere
Aggressivität auf die Stabilität und Leistungsfähigkeit des Verkehrs-
�usses aus?
Die Webseite tra� -simulation.de ermögli ht es, die vorgestellten
Modelle in se hs vers hiedenen Situationen (Symbole re hts oben)
interaktiv zu simulieren: Ringstraÿe, Straÿe mit Au�ahrt, Abfahrt,
stauverursa hende Baustelle, Steigung und eine Umleitungssituation.
Abbildung 10 zeigt einen S reenshot des Szenariums �Au�ahrt�. Die
Symbole �Autobahn +� und �Autobahn �� erlauben eine Änderung
der Fahrstreifenzahl. Der Nutzer kann au h zusätzli h Ampeln auf
die Straÿe setzen und diese s halten oder einzelne Fahrstreifen dur h
15
Abbildung 10: Simulation von dur h eine Zufahrt verur-
sa hten Stauwellen mit dem Online-Simulator
www.tra� -simulation.de. Je na h Einstellung
der Fahrverhaltensparameter verwandeln si h die
Stauwellen in glei hmäÿig gestauten Verkehr oder der
Stau vers hwindet sogar ganz.
16
Abbildung 11: Stop-and-Go-Wellen auf der Autobahn A5 bei
Frankfurt.
Baumas hinen sperren, um weitere Engstellen zu s ha�en (Ziehen der
Objekte von der Mitte der Simulation auf die Straÿe). S hlieÿli h er-
lauben es die S hieberegler, die Verkehrsstärke und -zusammensetzung
und vor allem das mittlere Fahrverhalten eins hlieÿli h der Aggressivi-
tät zu regeln und die Auswirkungen auf den Verkehrs�uss unmittelbar
zu sehen.
Abbildung 10 zeigt, wie in der Simulation rü kwärts si h ausbrei-
tende Stauwellen entstehen, die dur h die Störungszone auf Höhe der
Au�ahrt verursa ht werden. Das Ergebnis ist konsistent mit e hten
Autobahndaten, z.B. von der Autobahn A5 bei Frankfurt, Abb. 11:
Hier fungieren Ans hlussstellen und Autobahnkreuze bei Kilometer
468, 472, 480, 487 und 491 als ortsfeste Verursa her von Stauwellen,
genau wie die Au�ahrt in Abb. 10. In der Standardeinstellung der
Simulation entstehen die Stauwellen na h einiger Zeit. Mit Hilfe der
Regler kann man nun zeigen:
• Reduziert man die Zeitlü ke T oder erhöht die Wuns hges hwin-
digkeit v0, �ieÿen zwar mehr Fahrzeuge aus dem Stau aus (der
17
angezeigte Fluss am Detektor stromabwärts der Ausfahrt steigt),
die Stauwellen verstärken si h jedo h und der Verkehr wird ins-
gesamt unruhiger: Eine maÿvolle Erhöhung der Aggressivität
erhöht also die Leistungsfähigkeit des Verkehrs�usses, aber auf
Kosten von zunehmend hektis hen Fahrmanövern.
• Ähnli he Ergebnisse erhält man, wenn die Spurwe hselparame-
ter aggressiver eingestellt werden, v.A. dur h Reduktion des Höf-
li hkeitsfaktors und der We hsels hwelle.
• Erhöht man die Agilität der Fahrer dur h Erhöhung des Para-
meters a, erhält man neben einer Flusserhöhung au h ruhigeren
Verkehr: Bei weiterer Erhöhung vers hwinden zuerst die Stau-
wellen und dann der Stau als sol her sogar ganz.
Instruktiv ist au h das Szenario �Baustelle� (Baustellensymbol kli-
ken): Die Baustelle bewirkt eine Fahrstreifensperrung. Beim Start ist
ein Tempolimit von 80 km/h aktiv und alle Fahrer s ha�en es re ht-
zeitig, von der gesperrten auf die dur hgehende Spur zu we hseln.
Erhöht man hingegen mittels des S hiebereglers das Tempolimit oder
s ha�t �freie Fahrt�, wird es aufgrund der Ges hwindigkeitsdi�eren-
zen zunehmend s hwieriger, zu we hseln, bis es ein Fahrzeug ni ht
mehr s ha�t, hinter der Sperrung stehenbleiben muss und spätestens
beim Versu h, einzufahren einen Stau verursa ht. Au h hier hilft ei-
ne Erhöhung der Agilität, den Stau zu verzögern oder zu vermeiden.
Bei weniger Verkehrsaufkommen (obere S hieberegler herunterregeln)
hingegen kommt es unabhängig von Tempolimits ni ht zum Stau. Aus
Si ht der Stauvermeidung sind Tempolimits daher nur zu Zeiten er-
höhten Verkehrsaufkommens und vor Stör- und Engstellen wirksam.
6 S hlussbbemerkung
Wel her Fahrstil ist der beste? Was für Auswirkungen hat Aggressi-
vität auf den Verkehrs�uss und die Stauentstehung? Kann i h selbst
zur Stabilisierung des Verkehrs�usses und Stauvermeidung beitragen?
Wie werden autonome Fahrzeuge den Verkehr in Zukunft verändern?
Dieser Beitrag zeigt auf, wie man sol he Fragestellungen aus Si ht
des Verkehrs�uss-Modellierers mit Hilfe von Simulationen beantwor-
ten kann. Generell ist ein �agiler� Fahrstil, also eine s hnelle Reaktion
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auf si h ändernde Verkehrsverhältnisse und Vorwegnahme der Situa-
tion einige Sekunden voraus aus Si ht des Verkehrs�usses optimal.
Ferner sollte die Lü ke zum Vorderfahrzeug ni ht gröÿer als der erfor-
derli he Mindest-Si herheitsabstand sein. Eine gewisse Aggressivität
erhöht also die Leistungsfähigkeit des Verkehrs�usses. Die Simulatio-
nen zeigen aber au h, dass aggressive Spurwe hsel (Hö�i hkeitsfaktor
null, sehr kleine We hsels hwelle, sehr hohe kritis he Bes hleunigung
im Si herheitskriterium) starke Störungen na h si h ziehen, die letzt-
endli h zum Stau führen. Das Glei he passiert au h, wenn einzelne
Autofahrer unvermittelt kurzzeitig stark bremsen (Kli k in der Simu-
lation auf einzelne Autos). Das Tü kis he daran ist, dass der oder die
eigentli hen Stauverursa her (die na h dem Kli k markierten Fahr-
zeuge) in der Regel dem Stau entkommt, ja in den meisten Fällen die
Fahrer ni ht einmal mitbekommen, was sie �angeri htet� haben.
S hlieÿli h kann man mit den vorgestellten Methoden untersu hen,
ob (teil-)autonome Fahrzeuge den Verkehrs�uss positiv oder nega-
tiv beein�ussen und von wel hen Ein�ussfaktoren dies abhängt. Der
Längsregler des autonomen Fahrzeugs ersetzt dabei das bisherige Fahr-
zeugfolgemodell, und die Spurwe hselents heidungs-Heuristik das bis-
herige Spurwe hselmodell.
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