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Menschgrenzen - Trial Version (von Sven Klöpping)

Date post: 28-Mar-2016
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Probeversion meines Storybandes "Menschgrenzen" mit den besten Storys aus zehn Jahren. Eine eBook-Version erscheint bald.
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Trial Trial Trial-Version Version Version umsonst & kostenlos umsonst & kostenlos umsonst & kostenlos Sven Klöpping MENSCHGRENZEN Sven Klöpping MENSCHGRENZEN Sven Klöpping MENSCHGRENZEN
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Wir alle haben es schon einmal ausprobiert: Ein Sprung über den Bauzaun – und eine ganz neue Welt steht einem offen. Aber auch als Erwachse-ner ist es immer wieder spannend, Grenzen zu überschreiten. Denn diese werden oft ja gerade deswegen überwunden, um weiter zu reifen, aber auch, um sich von alten, sinnlos geworde-nen Werten zu lösen und etwas Neues, Zukunfts-fähiges zu entwickeln. Vielleicht ein neues Auto … oder eine ganz neue Gesellschaftsform. Mein Buch widme ich allen Grenzgängern. Sven Klöpping, geb. 1979 in Herdecke/Westfalen, veröffentlicht deutsche und englische SF-Storys in Magazinen wie Nova, Internova, phantastisch!, c’t oder Planet Magazine. 2001 erschien sein ers-tes Buch mit SF-Kurzgeschichten (MegaFusion, G. Meyer Verlag). Er gewann einige Literaturprei-se (z. B. den Gerhard-Beier-Preis 2001). Derzeit schreibt er u. a. einen Roman, dem das MegaFu-sion-Konzept zugrunde liegt. Auch einige Storys aus dem vorliegenden Buch spielen in dieser W e l t . w w w . s v e n k l ö p p i n g . d e

Sven Klöpping MENSCHGRENZEN. SF-Storys AndroSF 10 ISBN 978 3 942533 09 6 EUR 11,90

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MENSCHGRENZEN Trial-Version

Die hier präsentierten Geschichten und Auszüge sind gratis und gewähren Ihnen einen Einblick in den Kurzgeschich-tenband »Menschgrenzen« des Autors Sven Klöpping, der im November 2010 erschienen ist.

Wenn Ihnen die Geschichten gefallen und Sie sich ent-schließen, das Buch zu kaufen, können Sie bei Amazon (siehe unten), überall im Internet und in allen Buchhandlun-gen bestellen.

Titelabbildung und Innenillustrationen (in Farbe) stam-men von Lothar Bauer.

Ein vollständiges eBook ist in Vorbereitung.

Der Verlag: www.pmachinery.de

Der Autor:

www.svenklöpping.de

Das Buch bei Amazon: MENSCHGRENZEN

Sven Klöpping

Menschgrenzen SF-Storys

AndroSF 10

Sven Klöpping Menschgrenzen SF-Storys AndroSF 10

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbiblio-thek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publika-tion in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bi-bliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © der Printausgabe: November 2010 © dieser Trial-Version: Januar 2012 Sven Klöpping & p.machinery Michael Haitel Titelbild & Illustrationen: Lothar Bauer Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda, Xlendi Lektorat: Michael Haitel Herstellung: Books on Demand GmbH, Norderstedt Verlag: p.machinery Michael Haitel Ammergauer Str. 11, 82418 Murnau am Staffelsee www.pmachinery.de für den Science Fiction Club Deutschland e.V., www.sfcd.eu ISBN der Printversion: 978 3 942533 09 6

Sven Klöpping

Menschgrenzen SF-Storys

Was ist MegaFusion? … 7

Ächzender Asphalt … 9 Die Stadt unter dem Meer … 14 (Auszug)

Alpha Centauri* … 20 Der Augenblick … 29

Der Ort ist abgelegen und es ist schon zu später Stunde* … 37

Der Technosurfer … 45 Brief an Tanja … 49

Mutantenlöscher** … 56 Clones’ Choice** … 59

Licensing Agent** … 80 Der abgerissene Arm … 85

2132 … 89 Entführt* … 91

Nach Deutschland … 108 Die Invasion der Sprachen … 111 (Auszug)

Werbepost … 120 GENOMA … 124

Ein ganz, ganz mieser Tag** … 133 Schon wieder Tag … 147

First Encounter of … … 150

Stirbt K.? … 156 Der Spürhund … 183

Death Junkies** … 189 Gothic Lovers** … 192

Dankeschön … 198

* MegaFusion »Space« | ** MegaFusion »Classic«

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Was ist MegaFusion? Stellen Sie sich eine Stadt vor, die sich fast über den gesam-ten Erdball ausdehnt und deren Häuser (zumeist Arkolo-gien) bis zu dreitausend Meter in die Höhe ragen. Versu-chen Sie sich auszumalen, wie das Leben in einem solchen Moloch aussehen könnte. Mutantenkiller, Lizenzjäger, Poli-zisten verfolgen den Abschaum der Gesellschaft, der sich im Underground tummelt, ein Gebiet mit vielen »Vorstadt-Gettos«, das sich weit unterhalb der Erdoberfläche befindet. Große Konzerne streiten sich darüber, wer welchen Teil der Stadt für sich beansprucht. Bisherige Länder werden nur noch »Gebiete« genannt und bisherige Großstädte werden zu »Stadtteilen«. Auch das Partyvolk findet jede Menge Möglichkeiten, seinen Freiheitsdrang zum Ausdruck zu bringen und die verschiedensten und neuartigsten Drogen und Getränke zu konsumieren. Kurz: ein interessanter Mix aus anarchistischer Wut auf das System und obrigkeitsgläu-biger Zuversicht und Vertrauen in die Zukunft der Mensch-heit, die immer wieder aufeinandertreffen und deutliche Spuren hinterlassen …

Wir schreiben das 5. oder 6. Jahrtausend nach Christus. MegaFusion malt das Bild einer Erde, wie sie in ein paar

tausend Jahren aussehen könnte – eine riesige Stadt bedeckt große Teile einzelner Kontinente, viele grüne Inseln befin-den sich zwar noch dazwischen, aber diese werden größten-teils wirtschaftlich genutzt. Nur in Südamerika, Afrika und Asien gibt es noch größere Naturreservate, wo die Natur ganz sich selbst überlassen ist. Viele Pflanzen befinden sich auf Dächern von Wolkenkratzern, wo sie als Parks, Naher-holungs- und Naturschutzgebiete, Zoos und Golfplätze ge-nutzt werden. Wetter entsteht unter anderem deswegen,

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weil es diese Dachbepflanzungen gibt. Lebensmittel werden überwiegend unterirdisch angebaut, in riesigen, »Seeding Hall« genannten Erdlöchern. Große Bauvorhaben wie zum Beispiel der Superspeedway, ein elektromagnetisches Tun-nelsystem, das der E-Machine, einem zugähnlichen Gefährt, ermöglicht, sehr schnell von einem Ende der Welt zum an-deren zu kommen, bilden das zentrale Nervensystem dieser Zivilisation. Das soziale Konzept bei MegaFusion tariert verschiedenste Gesellschaftsformen aus und erschafft ein Geisteskonglomerat aus Einstellungen, Religionen, politi-schen Systemen, die unterschiedlicher nicht sein könnten, die aber alle einem übergeordneten System des Profitden-kens und sogar einer gewissen Mitmenschlichkeit dienen. Da gibt es zum Beispiel die Palaverordnung, die allen vor-schreibt, welche Wörter man zu gebrauchen hat. Dadurch kann die Menschheit sich interkulturell und intellektuell sehr gut verständigen, weiß, was das Gegenüber für Proble-me hat und hilft ihm, weiter zu kommen, anstatt ihn zu ver-urteilen. Natürlich gibt es auch Verbrecher oder Terroristen, die von offizieller Seite gejagt werden, aber dies spielt sich größtenteils im von der Öffentlichkeit wenig rezipierten »Underground« ab, wo sich der sogenannte Abschaum der Gesellschaft sammelt und immer wieder schubweise nach oben drängt. Selten gibt der Autor auch Einblicke in die Welt außerhalb der Erdoberfläche, stellt verschiedene Pro-jekte vor, die für die Menschheit dieser Zeit wichtig sind, quasi als Reisebericht oder kurze Schilderung dessen, was noch so alles in den unermesslichen Weiten des Weltraums geschieht. Meistens jedoch bleibt er der Erdanziehungskraft treu und konzentriert sich auf die Geschehnisse auf unse-rem Heimatplaneten, die ja schon aufregend genug sind.

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Ächzender Asphalt

Die Zeit ist ihr eigener Zeuge. Bloßer Dunst, der zwischen Himmel und Erde schwebte, als wenn er den Erdboden verhüllen wollte vor etwas, dessen Name nicht ausgesprochen werden durfte. Dunst, der nie verweht werden würde. Ein schwebender Käfig aus Nebel-wänden. Ein Trugbild, das zwischen Himmel und Erde hing. Das waren die Träumereien der Menschen – ein sinn-loses, übel riechendes Trugbild. Ein Nichts, das man ohne zu zögern verleugnet hätte, sähe man nicht die eindeutigen Beweise vor sich liegen – das rostfreie Metall, oder der ver-einzelt auftretende, fleckengleiche Asphalt auf dem Boden. Asphalt. Er bedeckte vor unzähligen Zeiten wie ein Gitter-netz den gesamten Erdball. Damals erfüllte er noch einen Zweck, jetzt war er nutzlos. Endlich war er nutzlos. Das Git-ternetz war aufgebrochen, nur wenige Straßen und Plätze – die Kreuzwege alter Zeit – traten noch aus dem allgegen-wärtigen Schmutz hervor. Sie waren heilig – noch waren sie heilig. »Hüter der Geburt« nannte man sie. Doch auch das sollte vergehen. Alles, was je an den Menschen erinnert hat-te, sollte vergehen. Bald schon.

Unter den Überresten der asphaltierten Straßen von einst drängte sich in diesem Augenblick bereits die jüngste Nach-kommenschaft der fleischlosen Dynastie, um auch noch den Asphalt – dieses letzte Ding menschlicher Herkunft – aufzu-reißen, und so die humanoide Welt endgültig vergessen zu machen. Aufgeregt pochte der Nachwuchs an die Asphalt-decke, als könnten die Jungen es kaum erwarten, auf dieser Bühne zugleich Zeuge und Initiator eines der geschichts-trächtigsten Ereignisse der Welt zu werden. Sie versuchten

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nun immer wieder, mit ihren jungen Köpfen durch den As-phalt hindurch zu stoßen, als wäre er nur eine leicht einzu-reißende Wand aus Papier, die nutzlos das Gestern vom Heute trennt. Schon zogen sich etliche Risse durch den As-phalt und kündeten von der bevorstehenden Geburt der neuen Rasse.

Über all dem, auf dem großen »Platz der Geburt«, dem größten in dieser Region, lagen verschmutzte, verstümmelte Knochenskelette, die langsam – sehr langsam – verfaulten. Milliarden Tote – Säuger, Reptilien und Flugtiere – hatten auf der ganzen Welt einen Irrgarten aus Knochenteilen hin-terlassen, von der Sonne nicht vergilbt, sondern immer noch matt glänzend in der rußigen Atmosphäre des Planeten, auf einen Entdecker wartend, der wohl nie auftauchen würde. Inmitten dieses Labyrinths unbelebter Gebeine unterbra-chen andere Skelette die Monotonie – seltsame, auf uner-klärliche Art noch immer lebende Skelette. Es waren Dinge, die sich niemand so recht erklären konnte. Metallische Le-gierungen, die in unregelmäßigen Abständen den Erdboden säumten, hier und da ein mächtiges Knochengerüst zer-schmettert hatten und scheinbar ohne Wahrnehmung von Zeit existierten. Das Volk der dritten Generation wurde von diesen Dingen noch mehr verwirrt als von all den anderen, die es seit seiner Ast-Erweckung erblickt hatte. Die Metall-körper glänzten trotz der mageren Sonne und dachten nicht im Mindesten daran, zu verwesen. Seit Tausenden von Jah-ren. Ihre Schöpfer hatten sie in alter Zeit für die Ewigkeit ge-macht, doch sich selbst hatten diese Meister bei all ihrem Arbeitsaufwand wohl vergessen. Relikte einer Gegenwart, in der man noch daran geglaubt hatte, sich selbst unzerstör-bar zu machen, indem man die Werke seiner Hände unzer-störbar macht, das waren sie, und seltsamerweise steckte in ihnen immer noch ein gewisses Leben, das man hätte entfa-chen können, wenn man gewusst hätte wie. Noch immer waren diese Geräte und übrig gebliebene Androiden funk-tionsfähig – hätte man ihnen den Lebenssaft des Stromes zu

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trinken gegeben, vielleicht wären sie angesprungen und hät-ten den neuen Bewohnern der Erde eine erstaunte Ehrfurcht auf ihre knorrigen Gesichter gezaubert. Doch das Erdöl ge-hörte genauso wie die Nutzung und Ausbeutung von Ener-giequellen der Vergangenheit an. Also waren die Metalle – so formschön sie auch sein mochten – objektiv betrachtet tot, und nichts außer der dritten, fleischlosen Dynastie konnte jetzt noch existieren.

Ein großer Platz war es – eine Anhöhe auf der Erdober-fläche, nicht mehr als dreißig Meter darüber –, auf dem nun das Ritual des Generationenwechsels, der Einführung einer letzten, perfekten Rasse, die alles überstehen sollte, vollzo-gen werden sollte. Hiernach würde der Asphalt endlich auf-hören, nachzuwachsen. Dann wäre er aufgerissen, sinn- und existenzlos. Die letzte Bastion der Menschheit – sie sollte endgültig zerstört werden. Die nächsten Nachkommen wür-den den Asphalt nicht mehr zur Geburt benötigen – dank ergiebiger Anstrengungen in Genforschung und -manipula-tion war es nun endlich möglich geworden, sich mit Hilfe von Zellreproduktion zu vermehren. Der Asphalt wurde als Geburtshelfer nun nicht mehr benötigt, also brauchte er auch nicht länger nachzuwachsen. In früheren, äußerst schwierigen Zeiten hatte man immer wieder auf dieses graue Gemisch unter ständiger atomarer Bestrahlung zu-rückgreifen müssen, um neue Generationen zur Welt zu bringen – bis die Alten endlich ein Mittel gefunden hatten, mit dem sich diese Prozedur ersetzen ließ.

Ein Krachen und lautes Knarren unterbrach die Stille, kündigte den großen Augenblick an. Schnell, so schnell sie konnten, stürmten die Bewohner der Hauptstadt herbei und stellten sich in einem großen Kreis rings um den Platz auf, damit alle die Ankunft ihrer nächsten Verwandten mitver-folgen konnten. Sie selbst, die Beobachter und baldigen Vä-ter einer neuen Generation, würden aber dort stehen bleiben – bewusstlos verharren am Rande des Platzes, bis in eine spätere Zeit, in der sie vielleicht, wenn sie noch einmal ge-

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braucht würden, zu neuem, gentechnisch verändertem Le-ben gelangen würden. Jetzt standen sie da. Bald kämen die Neuen – ihre Söhne und Töchter, ihr ewiges Erbe –, um die Erde für immer in Besitz zu nehmen. Sie selbst hätten dann ausgedient. Ein ganzes Leben für Freiheit, für das Überleben gekämpft, geforscht, vorbereitet diese letzte Ankunft …

Ächzend und stöhnend hob sich der Asphaltboden an vielen tausend Stellen, und die Risse waren nun immer deutlicher zu erkennen. Das versammelte Baumvolk stimm-te einen Jubelgesang an, der auf Erden nicht mehr gehört worden war seit den alten Zeiten. Es rauschte, fröhlich be-schwingt tanzten die schlanken Körper mit dem Wind, wel-cher den grauen Sand um die zahlreichen Knochenreste feg-te, die ihre spitzen Rippen zum Himmel streckten, als er-hofften sie sich von ihm noch irgendeine Rettung aus ihrem Dilemma. Doch der Himmel schwieg. Das Rauschen ver-stärkte sich, wurde immer geräuschvoller, intensiver – in-mitten des wogenden, im trockenen Wind wehenden Lob-liedes konnte man vereinzelt auch das Wispern und er-staunte Schütteln eines Einzelnen vernehmen, doch die meisten fügten sich nahtlos in den Tenor der allgemeinen Begrüßungszeremonie.

Als sich leise knackend der erste Kopf aus dem Asphalt reckte, hätte man dies in dem vorherrschenden Lärm durch-aus überhören können. Aber den unzähligen Augenpaaren, die den Platz mit adleräugiger Genauigkeit beobachteten, entging nicht das geringste Detail. Und so wurde durch die Ankunft des ersten jungen Sprösslings noch einmal eine Welle der Begeisterung ausgelöst, deren Ausläufer bis zur grellen Sonne durch den dichten grauen Nebel hindurch-drangen.

Nun, da der Anfang gemacht war, kamen an vielen Stel-len weitere Wipfel der neuen Generation zum Vorschein, die sich zunächst hierhin und dorthin neigten, und, als sie erkannten, dass sie nicht alleine waren, immer höher hin-aufstiegen, um schließlich den Asphalt ganz zu durchbre-

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chen, und allein auf ihren dürren Wurzeln zu stehen, die aussahen wie Tentakel einer längst verstorbenen Art. Nach vielem Knacken, Ächzen, Stöhnen und applaudierendem Rauschen stand er dann endlich auf weicher Erde – ein jun-ger Wald der nächsten Generation, welche die Welt in Besitz nehmen und viele Nachkommen zeugen sollte, bis … Ir-gendwann würden wieder Dinosaurier, Reptilien oder Säu-ger – Menschen womöglich – aufstehen, die Erde zu bevöl-kern und ihrerseits Nachkommen hervorzubringen, neue Erben neuer Dynastien. Wie vor Millionen von Jahren, so würde es auch in weiteren Jahrmillionen sein. Ein ständiger Wandel von Leben, von Existenzformen – zweibeiniges Schreiten in Tälern, abgelöst vom geflügelten Aufstieg in kahle Felsregionen. Und dann die wandernden Wälder, her-vorgebracht aus dem Erbe der Menschheit. Da standen sie und schwiegen. Die Luft war weithin erfüllt vom Rauschen der Blätter, vom Knacken der Äste …

Das Jubelkonzert verebbte langsam, der Chor der Bäume versandete in den endlosen Weiten der Welt, und viele der Alten schliefen ein, um für etliche Jahre zu ruhen, bis sie wieder erweckt würden. Vielleicht geschah dies, um in einer neuen Zeit zu leben – vielleicht aber auch, um einer anderen Lebensform als Rohmaterial für den Fortbestand ihrer Zivi-lisation zu dienen. Wie dem auch sei – die Jubelrufe der Al-ten verstummten nicht ungehört. Die neue Hoffnung hatte sie vernommen – die graue Rasse, die nun mit ächzenden, schleifenden Schritten auszog in die Welt, sie in Besitz zu nehmen, um von ihr zu leben.

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Die Stadt unter dem Meer »Water, water, everywhere, And all the boards did shrink. Water, water, everywhere, Nor any drop to drink.«

(Samuel Taylor Coleridge, The Rime of the Ancient Mariner)

Wasser. Blubberndes, gurgelndes Wasser, das in seinen Ohren

prickelte und ihn nicht wieder losließ. Er versuchte zu schreien, seinen Mund zu öffnen, irgendetwas zu brüllen, bestialisch, lebensrettend, in Not geraten, brabbelnd – er brachte keine Silbe heraus. Würde er den Mund öffnen, hät-te das Wasser ihn geschluckt.

Oben, irgendwo da oben – aber es mochte auch unten sein –, glitzerte etwas wie ein Feuerball durch die Oberflä-che des Wassers. Es war Licht und hatte ein Zentrum, von dem Strahlen ausgingen, die sich bis hier unten über ihn ausbreiteten, durch die blaue Schönheit des Himmels, durch die tiefblauen Schrecken der nordischen Tiefsee, in die er gefahren war.

Hier würde er es finden: das Reservoir, den unerschöpfli-chen Vorrat an reinem, grünem Plankton, das den Men-schen wieder Hoffnung, Nahrung geben könnte, für … er wollte gar nicht daran denken. Geübterweise konnte er die Augen unter Wasser offen halten, ohne dass sie nach Was-ser schrien, um den Brand auf der Hornhaut zu löschen …

Er konnte also an sich, an seinem halbnackten Körper herab- oder heraufschauen – was er als ziemlich beschä-

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mend empfand, denn ein derart gekleideter Mensch gehörte nicht in die Natur – und war umso erstaunter, als er um sei-nen unteren Körper nicht etwa Wasser, sondern eine zäh-flüssige, silbrige Substanz fließen sah, die sich bei jeder Be-wegung, die er vollbrachte, auseinanderzog wie eine gelee-artige Masse, die sich ausdehnte, wieder zusammenzog, und wieder ausdehnte wie ein atmendes Organ, und sein Atem stockte, und das zischende Geräusch seines Sauer-stofftanks verstummte für eine Weile.

Aber als er wieder nach oben blickte, hinauf zu dem brennenden Feuerball, der sich über ihm in stolzer Pracht noch immer vor dem Blau des Himmels manifestierte, be-merkte er, als wenn er aus einem schlimmen Traum aufge-wacht wäre, dass sich nichts geändert hatte: über ihm war das Wasser noch blau. Unter ihm, das konnte kein Traum sein, denn er spürte es jetzt ganz deutlich, saugte die silbri-ge Masse bereits gierig an seinen Knochen. Sofort befahl ihm sein Instinkt: strample, bewege dich, reiß dich los, schwimm zur Sonne, flieg zur Sonne, zum Blau, zur Natür-lichkeit der Menschlichkeit über dem Wasser … Doch im nächsten Moment zwang ihn sein rationaler Menschenver-stand wieder auf den Boden der silbernen Tatsachen.

Denn es gab ein Problem. Ein letztes Mal schaute er nach unten – oder nach oben,

wenn man es genau nahm – zu seinen Fußknöcheln, die jetzt bereits ganz silbrig angelaufen waren vom Feuer des Wassers, vom eiskalten Feuer, und er versuchte, sich loszu-reißen, aber es funktionierte nicht, keinen Zentimeter konn-te er seine Füße aus den silbernen Flammen des Wassers herausbewegen … Das wabernde, unermesslich große Et-was schien von unten, aus der Tiefe zu strömen, eine immer nachströmende Masse, fast so wie die Sonnenstrahlen von oben herab schienen, und die Flüssigkeit vermengte sich mit den Strahlen genau in der Mitte – ungefähr da, wo sich sei-ne beiden Knie befanden. Aber so weit sollte es nicht kom-men, nahm er sich vor.

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Also strampelte er abermals, versuchte, sich wie ein klei-nes Kind von dem loszureißen, das ihn festhielt, das ihn mit seinen metallischen Klauen seiner Freiheit berauben wollte – erfolglos. Nichts war da, an dem er sich hätte festklam-mern können, kein Stab, Steg, schwimmendes Etwas, das ihn mitgenommen hätte nach oben – denn nur oben war die Welt, und sie funktionierte weiter wie bisher, egal, wie er-folgreich er hier unten um sein Leben kämpfen würde.

Und die Luft wurde langsam knapp. ...

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Der Augenblick Seine Erinnerung hätte er am liebsten vergessen. Doch aus-gerechnet sie war ihm als Einziges geblieben, lag vor ihm wie ein flammender Teppich. Er musste ihn beschreiten, wollte es aber nicht. Erinnerung – zerstörende, folternde Er-innerung war da, und gleichzeitig Schmerz, der in seinen Schläfen pochte. In immer heftigeren Ausbrüchen hatte die schlussfolgernde Vernunft von ihm Besitz ergriffen, und nichts anderes blieb ihm jetzt übrig, als machtlos zu regis-trieren, dass er nichts mehr besaß, wofür zu leben sich noch lohnte. Nichts hatte mehr Bedeutung. Und nichts würde je wieder Bedeutung haben. Alles hatte seinen Sinn an die Ver-gangenheit abgegeben, die höhnisch darauf nieder grinste.

Er glaubte es wäre Nacht, obwohl hier oben weder Nacht noch Tag existieren. Trotzdem war es dunkel. Stockdunkel. Sein ganzer Körper schien zu pulsieren. Er löste sich in Nichts auf – in ein von allem deprimiertes, hoffnungsloses Nichts –, nur um sich einen Augenblick später wieder Stück für Stück neu zu materialisieren, mit neuer Hoffnung zu fül-len, die er sich wohl einbilden, aber an die er nicht ernsthaft glauben konnte. Es schmerzte. Im Kopf schmerzte es und auch im Halsansatz. Außer dem Kopf schien von seinem Körper nichts mehr zu existieren. Nur sein Kopf, sonst nichts.

Er stieß sein ganzes Leben innerhalb von winzigen Se-kunden aus, immer aufs neue, sog es Augenblicke später wieder ein – nur um festzustellen, dass er lebte, immer noch lebte. Krampfhaft hing er an dem törichten, erdgebundenen Weltbild aus Schicksal und Allmacht, welches, wie er wohl wusste, keine bedeutende Rolle mehr spielte. In Wirklich-keit spielte hier gar nichts irgendeine Rolle seit diesem Au-

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genblick, der, wie er annahm, schon längst vergangen war. Doch ebenso, wie ein Moment des Hochgefühls und voll-kommenen Glückes zu etwas wird, das nie vergeht, zu ei-nem ewigen Bestandteil des eigenen Lebens wird, so war dieser melancholisch-zertrümmerte Zustand, dem er jetzt ausgeliefert war, etwas, das er am liebsten sofort hinter sich gebracht und vergessen hätte. Wie die ungezählten Runden in der Zentrifuge. Aber das funktionierte nicht. Immer noch war dieses Gefühl da, beherrschte ihn, vergewaltigte seine Seele mit unsäglicher Brutalität.

Das Leben war ungültig geworden. Für ihn bestand es nur noch aus ständiger Qual, in der die früheren Werte, Mo-ralgefüge und Tugenden, welche einmal in seiner Brust ge-wohnt hatten, in einem Sud aus Ungewissheit und Furcht untergegangen waren. Aber noch lebte er, noch konnte er seine Hoffnung, an die er sich erinnerte, nicht annullieren.

Dann spürte er es. Etwas, das ihn auf seiner langen Reise, die fast ein ganzes Leben gedauert hatte und wohl noch im-mer andauerte, begleitet hatte, streifte seine Haut, oder kam ihm das nur so vor? Etwas Gutes, wollte er glauben. Oder etwas, das ihn hoffen lassen würde. Vielleicht jener Hauch aus der Vergangenheit, der die Welt vor der ihr beschiede-nen, ultrakapitalistischen Zukunft retten könnte …? Viel-leicht. Aber nichts dergleichen geschah, lediglich heißer, nach erbärmlichem Leben stinkender Atem kam aus seiner Nase und streifte seine Oberlippe. Was war es, das er in die-ser schmerzenden, schier endlos währenden Prozedur ein- und wieder ausatmete? Luft etwa? Sauerstoff in diesem Nichts? Er glaubte, dass er sich schon verwandelt hatte – in ein Wesen, das keinen Sauerstoff mehr zum Überleben be-nötigte. War Luft in dieser Leere, oder würde er sie nie wie-der brauchen? Falls er aber immer noch ein Mensch war, könnte das alles hier nur eine Einbildung sein, die er sich aus der unheimlichen Vorahnung seines baldigen Todes er-schaffen hatte – eine Einbildung, die so real war, dass er sie auf seiner Lippe spürte.

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Noch wollte er nicht akzeptieren, dass die Mission, auf die man ihn geschickt hatte, unwiderruflich gescheitert war. Die Menschheit befand sich jetzt endgültig auf dem Irrweg und er selbst, dieses erbärmliche Ich, wartete hier in einer finsteren Nicht-Welt auf seinen schleichend nahen Tod.

Dabei hätte alles so herrlich sein können – da oben, auf dem widerstrahlenden Boden, der die Menschheit durch seinen Glanz zur Erfüllung ihres jüngsten Traumes geführt hatte. Ein Traumerfüller hätte er sein müssen – kein Traum-vernichter, der er nun geworden war. Er, der hier lag – wehrlos –, konnte sich nur an Letzteres, an die reale Kraft des Nichts, der Vernichtung, erinnern – eine zerstörerische, diabolische Kraft, die zuerst seine Fußknöchel gepackt, dann auch seinen ganzen Körper mit in den hämisch grin-senden Schlund der körperlosen Schwärze gerissen hatte. Von diesem Moment an, der wie eine rasende Welle der Zeitlosigkeit über ihn gekommen war, und der ihm seine tausend unsichtbaren Krallen zur eisigen Begrüßung entge-genstreckt hatte, verspürte er diesen Schmerz, der ihm durch Mark und Knochen ging. Ein Schmerz, der nicht en-den wollte. Ewiger Schmerz.

Eine Sekunde später, so schien es ihm – es mochten aber auch schon Tage vergangen sein in dieser schwerkraftge-minderten Nicht-Welt –, da vernahm er die Stimme zum ersten Mal. Anfangs klang sie fremd, verzerrt, wie aus wei-ter Ferne oder einem großen, widerhallenden Raum entflie-hend. Doch mit der Zeit gewöhnte er sich an den Klang, was jedoch nicht hieß, dass er ihm dadurch irgendwie angeneh-mer geworden wäre. Im Gegenteil. Es war ein metallisches, gurgelndes Stöhnen, wollte man es mit irdischen Worten be-schreiben. Ein außerirdisches Stöhnen. Waren es Sätze, die je-mand äußerte? Wenn ja, dann konnte er mit dieser Sprache nichts anfangen. Waren es hingegen unartikulierte Äuße-rungen eines wilden, chaotischen Wesens, das um ihn he-rumkreiste, so jagte ihm das nur noch mehr Furcht ein, vor dem, was ihn erwartete.

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Instinktiv versuchte er, die Quelle der Stimme ausfindig zu machen, drehte seinen Kopf hierhin und dorthin, um ei-nen Blick auf jenes Wesen, jene Gestalt werfen zu können, welche ihn an diesen unwirklichen Ort verschleppt hatte. Etwas anderes konnte er nicht bewegen. Sämtliche Glieder seines Körpers – mit Ausnahme des Kopfes – waren auf eine seltsame Art und Weise gelähmt worden. So sehr er ihn drehte und wendete – nach wie vor gähnten nur die Dun-kelheit und die daraus resultierende Leere auf seiner Horn-haut. Außer diesen beiden Dingen war nichts zu sehen, und wenn doch, so konnte es sich geschickt vor seinen Blicken verbergen.

Dann wurde die Stimme plötzlich ruhig, sie schwieg. In-mitten eines hellen Lichtes, das über ihm hing, glaubte er zu sehen, wie zwei Schatten sich über ihn beugten und ihn neugierig beobachteten. Sein eigener, wehrloser Körper wurde untersucht von zwei forschenden Augenpaaren. Lei-se fing die Stimme, die er vormals vernommen hatte, wieder an zu flüstern. Und diesmal antwortete eine zweite, etwas hellere Stimme – weiblicher als die erste? Vor seinen fest zu-sammen gepressten Augen bewegten sich die beiden ovalen Schatten – welche, wie er annahm, Köpfe waren –, um am Rande des gleißenden Lichterscheins aus seinem Sichtfeld zu verschwinden. Danach hörte er leise Schritte, die sich entfernten.

Obwohl er sich jetzt ziemlich sicher war, dass er hören und auch teilweise sehen konnte – beweisen würde es ihm niemand. Alles war wieder eintönig und leer um ihn. Die Leere war fast greifbar. Viel zu weit weg, aber auch unend-lich nah – ungreifbar und doch allgegenwärtig. Er wünschte sich weit fort von hier – zu seiner Familie, seinen Kindern auf der Erde. Sehnsucht packte ihn, die ihn nicht wieder los-ließ. Seine Gedanken flohen in eine andere Welt, in eine Scheinwelt, in die man sich hineindenkt, wenn es keinen Ausweg mehr gibt – wenn der Tod kurz bevorsteht und den Sinn noch einmal trügerisch verklärt.

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Das war’s dann also, sagte er sich selbst und machte sich bereit für den letzten stechenden Atemzug, der ihn aus die-ser dunklen in eine andere, bessere Welt fernab jeglicher Materie befördern sollte. Er wartete. Und atmete.

Kein Tod folgte, sondern Licht. Ähnlich gleißend wie das Licht zuvor, doch intensiver, und näher. Er konnte jetzt so-gar seine Augenlider spüren, wie sie tonnenschwer auf den Augäpfeln lasteten, und ihnen einen Durchblick in die Welt da draußen verwehrten, die, und darüber war er sich jetzt völlig im Klaren, Bewohner hatte und demzufolge auch von Menschen bewohnbar sein musste. Es gab um das Nichts also eine andere Welt – eine helle, von Licht erstrahlte Welt, die seinem deliranten Scheindasein in jedem Fall vorzuzie-hen war. Auch wenn das womöglich hieße, einer Realität in die Augen zu blicken, die ihn erschrecken würde – er muss-te es wagen. Er würde es wagen – für sich, seine Auftragge-ber, und den ganzen Rest der Menschheit. Sie hatten als ers-tes ein Recht darauf, zu erfahren, was mit ihm, dem Träger ihrer Hoffnungen, geschehen war. Behutsam versuchte er – zunächst ganz langsam, sodass kein Außenstehender etwas hätte bemerken können – durch ein Auge nach draußen zu blinzeln. Übervorsichtig versuchte er, das rechte Augenlid zu öffnen, doch es gab keine Reaktion in Hinsicht auf Farb-intensivierung oder Konturenwahrnehmung. In Wirklich-keit ließ sich das rechte Augenlid noch nicht einmal ansatz-weise hochziehen. Nach einem weiteren verzweifelten Ver-such wusste er, dass sich auch das linke Lid nicht bewegen ließ. Seine Gesichtsmuskeln entspannten sich, als wenn sie ihren letzten, erschöpfenden Kampf erfolglos bestritten hät-ten, und er sank abermals in die ungeheuren Tiefen seiner Wahrnehmung, seines bis in die Schläfen pochenden Schmerzes.

Das reichte für eine gewisse Zeit, um wenigstens seine schrecklichen Erlebnisse aus der Zeit vor dem Delirium zu vergessen. Dieses Neue, Seltsame hatte erst einmal Vorrang – das musste erst einmal verdaut werden, bevor er sich wie-

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der mit der Vergangenheit beschäftigen konnte. Er grübelte. Wo befand er sich? Immer wieder Stiche, die ihn beim Den-ken unterbrachen. Schmerz. Er musste sich irgendwo befin-den, sonst hätte er doch keine Stimmen gehört, keine Lichter gesehen. Er dachte weiter. Auch für das logische Denken in ungewöhnlichen Situationen hatte man ihn ausgebildet, wie für so viele andere Dinge, von denen die Öffentlichkeit nichts erfahren hatte. Es war ein unbedingtes Muss, weiter zu denken, nicht aufzuhören, sich Gedanken über alles zu machen, sollte er einmal in eine solch fremdartige Situation geraten, hatte man ihm gesagt. Das menschliche Denken geht allem anderen voraus, sogar den lebenserhaltenden Systemen. »Wenn kein Denken da ist, ist auch kein Leben da« – eine der vielen Weisheiten, die man ihm während der langen Ausbildung eingeschärft hatte. »Wenn kein Denken da ist, ist auch kein Leben da.« Eine umwerfend logische Schlussfolgerung, ganz gewiss. Angesichts der Aussichtslo-sigkeit, in der er sich nun befand, verkam dieser pseudo-weise Spruch aber wohl eher zu einer Floskel – eine Floskel, die nicht bis in die wahre Natur der Dinge vordrang. Sie mochte sich gut anhören, wenn man sie nicht brauchte. Wenn man dem, wovon sie sprach, aber gegenüberstand, konnte man sie nicht mehr anwenden.

Er wachte wieder auf, durchgerüttelt von einem heftigen Schock. Elektroschock, war sein erster Gedanke, und er schüttelte sich nochmals – als wenn er den Schreck, den er erlitten hatte, mit dieser Geste verbannen könnte. Und er wunderte sich. Denn noch vor Kurzem hatte er sich doch überhaupt nicht bewegen können – hatte nicht einmal ge-wusst, ob sein Körper noch da war. Wieso konnte er sich jetzt auf einmal wieder bewegen – wenn auch nur in be-grenztem Ausmaß? Und warum hatte er seinen Helm jetzt wieder auf dem Kopf? Ja, und wieso stand er? Tatsächlich – er stand plötzlich wieder auf der Leiter, ganz wie in dem Moment, in dem er mit rasendem Herzklopfen aus der Tür gestiegen war und sich mit tastenden Schritten Sprosse für

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Sprosse – langsam, beinah schwerelos – der letzten Stufe und somit der Oberfläche des Erdtrabanten genähert hatte. Der wichtigste Moment in seinem Leben stand bevor – der Moment, der ihn für alle Zeiten berühmt machen sollte. Doch da hatte es ihn gepackt, dieses Wesen. Mit einer un-glaublichen Härte hatte es seine Fußknöchel umkrallt, daran gezogen, um den Rest seines Körpers in einem furchtbaren Elektroschock – ähnlich dem, den er gerade erlitten hatte – mit sich in die Tiefe zu zerren. In die bodenlose Tiefe, in der er all den seltsamen Eindrücken jener ihm fremden Welt machtlos, körperlos ausgeliefert gewesen war, und schreien gewollt, aber es nicht vermocht hatte.

Auch jetzt wollte er schreien, konnte es aber nicht. Nicht richtig jedenfalls. Denn um sein Sichtfeld spannte sich das halbrunde, mit Gold veredelte Visier, das ihn vor Erblin-dung schützte und nun auf jene leicht hügelige, kraterbe-deckte Landschaft blicken ließ, welche ihm nach seinem lan-gen Aufenthalt in der mysteriösen Welt so vertraut erschien wie nur irgendetwas. Das lag aber nicht an der Mondober-fläche. Sie hatte sich kein Stück verändert. Wohl aber seine eigene Sichtweise derselben. Es war jetzt keine fremde, un-erschlossene Wildnis mehr, auf die er blickte – sondern bloß ihre Hülle, auf der er schritt.

Während er noch seinen Gedanken nachhing, war für Millionen von Menschen auf der Erde ihr ganz persönlicher Moment der Wahrheit gekommen – ein Moment, auf den sie stolz waren. Jetzt endlich – in diesem Augenblick setzte ihr Held seinen vom silbern glänzenden Stiefel verhüllten Fuß auf die Oberfläche des Himmelskörpers und vollbrachte so-mit das Wunder, das man so gespannt erwartet hatte. End-lich betrat der erste Mensch den Mond und eröffnete so der Menschheit völlig neue Möglichkeiten, eine völlig neue Welt.

Eine neue Welt?, fragte er sich insgeheim, denn er ver-mutete, dass mit diesem Schritt, den er jetzt mit von ihm kaum beachteter Leichtigkeit vollführte, keine neue Ära an-

gebrochen war, wie manche Menschen es vielleicht vermu-ten mochten, sondern dass nur die Erkenntnisse und die Sichtweise der Zeit in eine neue übergegangen waren – in eine neue Sicht, die, wie er selbst am besten wusste, nur ein Bruchstück von dem war, was die menschliche Rasse noch nicht erforscht hatte.

Bedächtig – zögerlich, wie es ihm schien – äußerte er die längst abgesprochenen Worte, die ihm nun wie ein einziger rauschender Hohn in den auf seine Ohren drückenden Kopfhörern klangen. Es waren Worte über Schritte – über kleine, unbedeutende Schritte.

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Licensing Agent in a world of brands

Alarmsignal. Ich seh’ noch, wie das hologene 3D-Logo auf seinem T-Shirt klebt, kurz bevor es in NanosekundenschneIIe beginnt, sei-ne Konturen zu verzerren, und seine Spuren verwischen ins Nichts. Der rötliche Schimmer um den weißen Schriftzug flackert kurz auf wie bei einer defekten Lichtröhre, bloß um Zeitbruchteile später in der unendlichen Hintergrund-Schwärze des realen T-Shirts zu versinken:

Scheiß Schmarotzer. Aber gerade hat ihm der Strahl des Gesetzes ‘n ver-

dammtes Loch in seine Arroganz gebohrt. Der hat wohl ge-dacht, mit ‘nem geklauten Cola-Schriftzug in 3D lassen sich die Weiber hier unten besonders gut abschleppen … Aber die Tour hab ich ihm gründlich versaut. Jetzt steht er da wie ‘n Exhibitionist ohne Weichteile und glotzt Löcher in die verblüfften Mädchengesichter um ihn herum. Wenn er ‘ne Waffe zieht, muss ich ihn löschen …

»Hey, kannste bei meinem Logo nich ma ‘ne Ausnahme machen? Morgen komm ich eh an Credits, dann ist alles wieder okay mit meinem Account, und ruf doch mal deine Virtual Memory Card ab, du …«

Von wegen. Der steckt bis zum Hals in Credits, das kauft ihm doch keiner ab. Verdammt. Soll er schwarz sehen, bis sein Account wieder sauber ist, Scheißkerl. Gar nicht drauf hören. Ich leg’ den ersten Gang rein, flieg‘ weiter, hör noch seine Argumente in meinen Arsch kriechen …

»Ja ja, ich zahl dir deine gottverdammten Royalties, mach doch nich so ‘n Umstand wegen dem beschissenen holografic problem, Alter …«

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Ich reih’ mich wieder in den Verkehr ein und fahr’ ein-fach weiter. Mittelfinger bringen nichts bei den Typen.

On the road again. Im Visual Sound Channel hinter meinem Lenkrad verrenken sich gerade ‘n paar intergalaktische Kometenschweifsurfer die Knochen, dazu spielen sie »Was ihr wollt« von den Sma-shers. Geht echt in die Beine, das Zeug, obwohl’s ja schon ziemlich alt ist …

Ich flieg’ bis zum Goethe-Schild, das schon seit ‘n paar Jahrzehnten da hängt und Werbung macht für irgendso’n After Shave, das es wahrscheinlich gar nicht mehr zu kau-fen gibt und nur noch aus Image-Gründen da in der Ge-gend rumhängt, was weiß ich – auf jeden Fall ist die Li-zenz in Ordnung und ich muss rechts ab, auf den High-way.

Im Vorbeischweben seh’ ich noch einen alten Bekannten: Stevie Notrix nennt er sich, hat seine Haare hochgestellt, Seiten abrasiert und aus dem voll lizenzierten Sound-Shirt dröhnen vergangene Melodien von Slime und den Sex Pis-tols in meine Richtung. Der Typ ist halt ‘n echter Nostalgi-ker.

»Hey, Agent, alles okay? Willste nich heute abend im ›Anarchy UK‹ mit deinem piekfeinen Alabasterschlitten mal aufkreuzen – denn heute ist mein erster Auftritt!«

Er grinst mich fett und flashig an, als ob er sich was von den neuen, frisch lizenzierten Mutter-Theresa-Pillen besorgt hätte, schraubt mit ungeheurem Taktgefühl weiter an dem glänzenden Stahlrundrohr, das den ganzen Highway er-leuchtet, und weiß ganz genau, dass ich mit meinem gestyl-ten Privatglider niemals in seiner Anarchospelunke auf-kreuzen würde, hab ja auch keinen Grund: da ist alles zu hundert Prozent lizenziert.

Zweites Alarmsignal.

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Verdammt, ausgerechnet jetzt. Ein knallroter Cursor blinkt irgendwo in der Naviga-

tionsleiste, da sind stark verkleinerte 3D-Hologramme, die sich bei der geringsten Berührung in ihre virtuellen Molekü-le zerstreuen und meinen aktuellen Standpoint anzeigen.

Per Touchscreen bestimme ich meine Route quer durch den Dschungel aus Straßen, Highways, Fluglinien, Seiten-straßen … bis ich innerhalb weniger Standardzeiteinheiten am Ort des Verbrechens eintreffe.

Schäbige Wohngegend, Vorstadtgetto, eintönige Fassa-den: Hinter der fünften Mülltonne hockt einer von diesen verlausten Sprayertypen und wartet auf sein Urteil.

So steht’s im Protokoll, das aber normalerweise viel schneller reagiert …

Und als ich mich umblicke, merke ich auch schon bald, was los ist: Der Typ hat doch tatsächlich die komplette Fas-sade des Buckingham Palace auf die schmierigen, verrußten Wände der ganzen verdammten Scheißstraße gesprayt!

Das gibt Ärger. Verdammt – warum bin ich über so eine Scheiße nicht

schon früher informiert worden? Das kann mich den Job kosten, verfluchte Scheiße …

Sorry, control system failed. Ja, ja, fail dich selbst, du beschissener Apparat. Ich kann jetzt sehen, wie ich aus dem Mist rauskomme, oder hast du ‘n besseren Einfall? Keine Antwort. Kurz noch mal checken, ob der Strahler richtig sitzt, dann gleitet die Tür zur Seite und ich marschiere direkt auf den verdammten Junkie zu und halt’ ihm meine Laserkanone in seine holografische Mozartfresse – ich wette, dafür hat er keine Lizenz.

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Allein das wär’ schon ein Grund, ihn mitzunehmen, aber ich hab’ noch was vor mit dem Wichser.

»Hey, Arschloch! Was hast du dir dabei gedacht?«, scheiß ich ihn an. Dabei muss ich mich noch kräftig zurück-halten, damit ich ihm nicht gleich hier und jetzt zur Begrü-ßung ein paar aufs Maul trete.

Der langhaarige, zottelige Typ stottert mit weit aufgeris-senen Augen durch die Gegend, fängt an zu winseln – an-scheinend weiß er, was für’n verdammten Mist er mit sei-nem verstrahlten Schädel gebaut hat: »B… b… bitte … A-a-agent …« Die Nadel steckt noch in seinem Arm, das Blech mit dem Stoff liegt neben ihm und glüht wahrscheinlich noch von der Flamme des burning tools.

Was soll ich nur der Zentrale melden, verdammt? ›Un-identifizierter Penner sprüht seine Junkie-Visionen an Get-tofassaden im 5. Bezirk‹? Klingt mehr wie aus’m schlechten 3D-ThriIIer, auch wenn’s leider wahr ist – verdammt! Viel-leicht ist dieser beschissene Bezirk sogar ‘n drittklassiger 3D-Thriller und ich merk’s nicht mal, wie die Quoten sich über mich schräg lachen und die touch rates den TKP10 in die Höhe treiben …

Die Zentrale meldet zwar, dass sie Bescheid weiß über den Ausfall des Kontrollsystems, aber trotzdem bin ich jetzt in einer beschissenen Scheißsituation und kann nix dagegen machen.

So eine heruntergekommene Sackratte, fast hätte ich ab-gedrückt.

Ich zittere, die Laserkanone kann jeden Moment losge-hen, private war against criminality oder wie war das – einer ge-gen alle. Nur ein unkontrolliertes Zeigefingerzucken reicht aus und die Strahlung würde diesem lebensmüden Chaoten das Gesicht zerfetzen wie ‘ner nordsibirischen Wassermelo-ne.

10 TKP = Tausender-Kontakt-Preis (Werbedeutsch).

»Du Wichser! Morgen ist das alles weg!«, brülle ich dem Typen mitten durch seine drogenvernebelten Wahnvorstel-lungen, mache eine ausholende Handbewegung, wobei der Penner zusammenzuckt, und drehe mich wutschnaubend zu meinem Glider.

Buckingham Palace, so ein Idiot. Talent hat er ja wenigstens, sonst hätt’ ich ihn schon längst abgeknallt.

Verdammt. Wenn er sich wenigstens ‘ne Lizenz dafür leisten könnte, gäb’s überhaupt keine Probleme und viel-leicht würde sogar ‘n verdammter Künstler aus ihm, mit ‘nem richtigen Markennamen auf seinem Identity-Chip.

Aber so … Eigentlich hätt’ ich ihn abknallen müssen.

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Die Invasion der Sprachen Als Frank um 10:23 Uhr Radioweckerzeit die Augen auf-schlug, spürte er die hinter ihm liegende Nacht in allen Kno-chen. Seine Arme waren taub und schmerzten, als er sie wieder rühren konnte. Aus seinem Mund roch es nach Knei-pe. Dann registrierten seine etwas weniger beschädigten Ge-hirnzellen, warum die letzte Nacht so hart und unbequem gewesen war, und jeder, der schon einmal in stabiler Seiten-lage auf doppelt gebrannten Fliesen in einem unbeheizten Flur mitten im Winter aufgewacht ist, sollte Franks exklusiv für diese Story gedachte Gedanken verstehen können.

Schlimmer kann ein Arbeitstag nicht beginnen. Frank rappelte sich auf, wobei er sich an einem hüftho-

hen Ikea-Schuhregal abstützte, das unter seinem Gewicht bedrohlich ins Schwanken geriet. Ein Paar stahlbeschlage-ner Winterstiefel flog aus dem Regal, erinnerte sich seines Herstellungszweckes und landete ausgerechnet auf dem Fuß, den Frank gerade wieder spüren konnte. Jaulend hum-pelte der Durchnächtigte mit seinem anderen, immer noch tauben Fuß ins Bad, wo außer einem Jahresvorrat Aspirin auch ein frisch parfümierter Armanidress zu finden war, der nur darauf wartete, Franks durchzechten Körper mit ei-ner CK-One-Duftwolke einzuhüllen. Nach viereinhalb Mi-nuten, in denen er ungeduscht in Hemd und Hose ge-schlüpft war und sich die von der zuvorkommenden Hertie-Verkäuferin vor zwei Monaten zurechtgebundene Krawatte hastig umgeworfen hatte, fühlte er sich wieder einigerma-ßen als Mensch und, was noch besser war, konnte sogar wie einer laufen. Zwar brummte sein Schädel noch gewaltig, und manchmal drehte sich die Welt um ihn ein bisschen im Kreis, aber im Großen und Ganzen war er bereit für einen

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erfolgreichen Arbeitstag, den er wie geplant im Zeichen seines vorletzten Managementseminars beginnen würde, das unter dem Motto »Führen mit Persönlichkeit« gestan-den hatte. Die Kernaussage hallte noch immer in Franks (wissenschaftlich nicht komplett erforschtem) Hippocampus wider. Entschlossenheit ist das A und O eines erfolgreichen Un-ternehmers. Wer zu allem entschlossen ist, setzt sich immer durch. Die Aktentasche im Anschlag verließ er seine Woh-nung in derselben 8-Uhr-Entschlossenheit wie immer und versuchte, nicht an die drei Stunden zu denken, die er zu spät kommen würde.

Hinter ihm fiel die Tür zum Treppenhaus ins Schloss. Vor ihm kämpfte Frau Ewers, die Stämmige aus dem dritten Stock, mit Schneebesen und Ignoranz bewaffnet gegen fünf Zentimeter Neuschnee. Der Anblick war schockierend und ernüchterte ihn. Typisch Hausfrau, ging dem Aktienhändler durchs Millionen-Dollar-leere Gehirn. Hatte die Alte nichts Besseres zu tun, als sich die ganze Zeit hinter ihrem Fenster warm zu sitzen, um beim ersten Anzeichen von Schneefall in einem Blitzstart nach unten zu stürzen und den unschul-digen Pulverschnee mit allen Mitteln vom Beton zu kratzen – Schnee, der nicht einmal richtig zu Ende fallen konnte? Er bemühte sich, noch unfreundlicher dreinzuschauen als zu-vor, was ihm auch irgendwie gelang. Jedenfalls murmelte das ansonsten so wortgewaltige Weibsbild nur Unverständ-liches in ihren Damenbart und fuhr ohne Pause fort, den rie-selnden Winter zu misshandeln. »Vielleicht kratzen Sie auch schnell noch meinen Wagen frei«, wollte Frank ihr wie ei-nen Schneeball ins Gesicht werfen. Statt dessen platzten Worte aus seiner Mundöffnung, die so klangen wie ein vom Pferd gefallener Mongole, der mitsamt seiner zu locker fest-geschnürten Jurte von dem unbehuften Tier zu Tode ge-schleift wird. Ein echt verbales Verhängnis:

»Stoiii kniekzitsch alposz gnieeäääsinskl.« Er konnte sich nicht erinnern, jemals derart gesprochen

zu haben. Vielleicht waren es nur Kater oder Trommelfell,

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die ihm einen Streich spielten. Ein wenig komisch kam er sich dabei schon vor. Zum Glück hatte Frau Ewers nichts mitbekommen. Sie hätte ihn womöglich mit einem Haus-frauenspruch à la »Alkohol macht Birne hohl« oder Ähnli-chem eingeseift, was er in diesem Moment zuallerletzt ge-brauchen konnte. Weitaus willkommener waren in seinem (wissenschaftlich ebenfalls nicht vollständig erforschten) Kleinhirn solch erbauende Sätze wie »Ein erfolgreicher Ge-schäftsmann hat immer vier offene Ohren für seine Mitarbeiter. Seine eigenen – und die seiner Sekretärin«. Zu neuer Höchst-leistung angespornt, rutschte er entschlossen auf dem spie-gelglatten Boden vorwärts, was ihm einen bösen Seitenblick von Frau E. bescherte. Das Gleichgewicht zurückerobert, stolzierte er schließlich aus dem hämischen Blickfeld der Femme banale in Richtung Auto.

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Werbepost »Sterben auch Sie einen glücklichen Tod«, steht auf dem Etikett, das neben der Adresse klebt. So ein Quatsch, denke ich mir. Aber ich hebe das Paket trotzdem vom Boden auf – so kann es da ja nicht liegen bleiben, direkt vor meiner Haustür. Was soll mein Besuch von mir denken? Schließlich will ich meine Freunde nicht bereits durch den Gestank vergraulen, der von meinen Paketen ausgeht.

Also beuge ich mich hinunter, staple die vielen kleinen bis mittelgroßen Päckchen in meinen Armen auf, und schwanke rückwärts zurück ins Haus. Doch da bemerke ich meinen Irrtum. Ich muss ja nicht ins Haus, sondern nach draußen, da stehen die Mülltonnen. Ich kann mich gerade noch fangen und stolpere wieder aus der Tür hinaus. Vor lauter Paketen kann ich kaum etwas sehen, zum Glück finde ich mit meinem integrierten Ortungssystem den Weg zu einer der großen, metallfarbenen Tonnen.

Dass ich das noch immer nicht gelernt habe! Pakete so-fort in den Mülleimer, das sagen sie doch schon im Info-TV. Obwohl man für diese Weisheit überhaupt nicht das Fernse-hen bräuchte. Das kriegt man spätestens heraus, wenn man vier Wochen hintereinander Dutzende von diesen Päckchen vors Haus gestellt bekommt. Einfach vors Haus, und man muss dann sehen, wie man mit den Dingern fertig wird. Entsetzlich stinken tun sie, wie gesagt, und wehe, man wirft unschuldigerweise einen Blick hinein. Die ersten paar Male hatte ich sie noch aufgemacht. Als ich den ekelhaften Ge-ruch, der aus ihrem Inneren herausströmte, behelfsmäßig mit der Hand vertrieben hatte, wollte ich schon gar nicht mehr hineingucken. Aber dann sah ich es doch, und ich wäre beinahe einem Kurzschluss erlegen. Von da an habe

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ich keins von diesen Päckchen mehr geöffnet, was, wie ich finde, eine kluge Entscheidung war.

Aber es soll sie ja geben, diese Typen, die das alles un-glaublich toll finden. Sterben auf Knopfdruck, Eindringen in die Welt nach dem Tod. Klick. Jede Woche sieht man so ei-nen Perversen auf dem Sofa bei X-Z-130 sitzen, und ich den-ke mir jedes Mal: Wieso lädt dieser Talkmaster eigentlich solche Leute ein? Nur wegen der Einschaltquote? Aber da lässt sich nicht meckern: Die Quoten schnellen nach oben, wann immer dieses brisante Thema im Fernsehen diskutiert wird. Kein Wunder, dass immer mehr seriöse Sendungen diesen Quatsch bringen. Ich persönlich finde das alles etwas makaber. Und diese Werbepost, die geht mir wirklich auf den Keks.

»Wir verwenden ausschließlich bestes Fleisch aus kon-trollierter Aufzucht.«

Fleisch! Ein kalter Schauer läuft über meinen Rücken, ich reiße das Etikett ab. Fleisch! Wenn ich auch nur daran denke, was in dem Paket alles verborgen sein könnte, befällt mich schon das schiere Grauen. Angeekelt lasse ich die Dinger fal-len, und da liegen sie genau richtig. In der Mülltonne. Ich muss mir mal wieder eine neue bestellen, denke ich, eine grö-ßere. Das werden aber auch immer mehr Pakete, die passen schon gar nicht mehr in den regulären Müll. Ist ja ganz nor-mal, dass die jetzt soviel verschicken. Wenn die Leute die Pa-kete wegwerfen, landen sie auf der Müllkippe. Die sieht na-türlich nicht ein, warum sie die ganzen scheußlichen Dinger lagern sollte, dafür hat sie erstens gar nicht den Platz, und zweitens: wie soll man das Zeug entsorgen? Der größte Teil geht deshalb wieder zum Institut zurück, und wird in der nächsten Aussendung, zusammen mit der neuen Produktion abermals versandt – zu den gleichen Empfängern. Ein Teu-felskreis. Aber was soll ich machen? Die ganzen Leichenteile bei mir im Vorgarten stapeln? Wie sieht das denn aus?

Als ich das erste Mal eines dieser Pakete geöffnet hatte, waren da zwei glasige Augen, die mich anstarrten. Tote Au-

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gen. An einem toten Kopf, dessen Wangen weit auseinan-dergezogen waren. Ein Lächeln. »Wir machen glückliche Tote« stand auf einem Etikett, das an einem Ohr festgeta-ckert worden war. Ich war zurückgeschreckt, und hätte ich nicht zufällig an der Türklinke Halt gefunden, ich wäre di-rekt von den Magnetschienen gefallen.

Natürlich hatte ich mit so etwas schon gerechnet, nach-dem sie im Fernsehen die ganze Zeit damit Werbung ge-macht hatten. Da hatte eine wohlklingende Frauenstimme gefragt: »Möchten Sie Ihren Verwandten nach Ihrem simu-lierten ›Tod‹ nicht ebenfalls eine solche Freude bereiten, wie unser Muster-Ehepaar?« Das ›Muster-Ehepaar‹ lächelte dann in die Kamera, mit seinen rosa Bäckchen, obwohl die beiden schon längst kalt wie Stahl waren.

Irgendwie musste man herausgefunden haben, dass die meisten Robots unter einem akuten Minderwertigkeitskom-plex leiden, was die Menschen betrifft. Sie glauben wahr-scheinlich, dass sie niemals so kreativ sein können wie die Menschen in alter Zeit. Unsinn, sage ich! Aber die Werbe-leute müssen ja aus allem Geld machen, und so hat man als besonderen Gag für die Simulator-Werbekampagne echte Menschen genommen – tote Menschen –, um die niederen Instinkte der Robots anzusprechen.

Das ist auch der Grund, weshalb sie die menschlichen Leichenteile per Post verschicken – ein Werbegag. Denn für echte Menschen ist es natürlich vollkommen unmöglich, diese Elektroschocksimulation zu überleben. Und gerade das ist der entscheidende Anreiz für viele Roboter, den Si-mulator einmal auszutesten. Denn dadurch können sie sich noch einmal beweisen, wie überlegen sie den Menschen doch sind. So ein Unsinn! Ich weiß auch ohne den Simula-tor, dass ich diesen Humanoiden weit voraus bin – geistig wie körperlich.

Die Mülltonne ist schon wieder fast voll. Und in fünf Ta-gen ist erst die nächste Müllabfuhr. Das kann ja wieder hei-ter werden. Vielleicht fange ich sie morgen ab, wenn sie

frühmorgens mit ihrem LKW kommen und die Pakete vor meine Tür stellen wollen. »Heute nicht, Jungs«, werde ich dann sagen. »Ihr könnt eure Leichen behalten. Legt sie bei euch in den Keller oder sonst wohin.«

Dann werde ich mir ihre unisolierten Arbeiterschaltkrei-se schnappen, ihnen direkt in die farbenblinden Augen schauen, und mit einer grauenhaften Stimme, die noch ir-gendwo bei mir im Hauptspeichersystem verborgen sein müsste, schimpfen: »Ich will diese beschissenen Werbesen-dungen nicht, und eure verdammte Tod-Simulator-Technik könnt ihr euch sonstwo hinstecken! Kapiert?«

Ja – so werde ich meinen Frust ablassen. Wie richtige Ro-bots das tun.


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