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Medizinrecht

Date post: 07-Feb-2017
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Nationaler AIDS-Beirat beim Bundesministerium für Gesundheit Strafrechtlichen Bewertung einer HIV-Übertragung bei einvernehmlichem Sexualverkehr Der Nationale AIDS-Beirat ist ein unabhängiges Beratungsgre- mium des Bundesministeriums für Gesundheit. Er ist interdis- ziplinär mit Expertinnen und Experten aus den Bereichen Forschung, medizinische Ver- sorgung, öffentlicher Gesund- heitsdienst, Ethik, Recht, Sozial- wissenschaften, sowie Personen aus der Zivilgesellschaft zusam- mengesetzt. Am 26.02.2013 hat der Natio- nale AIDS-Beirat folgendes Votum beschlossen: „Die  HIV-Infektion ist heute eine gut  behandelbare  chronische  Er- krankung. In Deutschland ist die  Lebenserwartung bei angemesse- ner  medizinischer  Versorgung  annähernd  normal.  Menschen  mit HIV erfahren jedoch nach  wie vor Einschränkungen vor al- lem im sozialen Alltag. Sie wer- den  nicht  selten  sowohl  in  der  Arbeitswelt als auch im privaten  Umfeld stigmatisiert und diskri- miniert. Auch strafgerichtliche  Urteile  und  deren  öffentliche  Wahrnehmung spielen in diesem  Zusammenhang eine wesentliche  Rolle.  I. Der Nationale AIDS-Beirat weist für die strafrechtliche Be- wertung auf folgende medizi- nische Gesichtspunkte hin: HIV ist im Vergleich zu an- deren  sexuell  übertragbaren  Krankheiten eine schwer über- tragbare Infektion. Die Über- tragbarkeit von HIV hängt in  erster Linie von der Virusmenge  (medizinisch: Viruslast) ab. Sie  ist in den ersten Wochen nach  der  Infektion  besonders  hoch  und kann bei mehreren Millio- nen Viruskopien pro Milliliter  Blut liegen. Das Immunsystem  schafft es jedoch in der Regel  nach einigen Wochen bis Mona- ten, die Infektion zu kontrollie- ren. Die Viruslast fällt dann ab  und kann über Monate bis Jahre  vom  Körper  niedrig  gehalten  werden, ohne dass Medikamen- te eingenommen werden müs- sen. In dieser Zeit ist die Anste- ckungsgefahr deutlich geringer  als in der frühen Phase der In- fektion. Wird das Immunsystem  schwächer, wird in der Regel mit  einer antiretroviralen Therapie  begonnen. Bei wirksamer The- rapie fällt die Viruslast bis unter  die Nachweisgrenze ab (< 50 Vi- ruskopien/ml Blut). Wenn die  Virusvermehrung  dauerhaft  vollständig unterdrückt ist, wird  HIV nach derzeitigem medizini- schen  Erkenntnisstand  nicht  mehr sexuell übertragen. Die Ri- sikoreduktion  einer  erfolgrei- chen antiretroviralen Therapie  entspricht mindestens der sach- gerechten  Anwendung  eines  Kondoms. Es ist davon auszuge- hen,  dass  ein  großer  Teil  der  HIV-Übertragungen in der frü- hen Phase einer HIV-Infektion  erfolgt, also zu einem Zeitpunkt,  zu dem die Betroffenen in der  Regel nicht von ihrer Infektion  wissen und auch gar nicht wis- sen können, da ein HIV-Anti- körpertest erst nach einigen Wo- chen  eine  erfolgte  Infektion  nachweisen kann. Insgesamt  wissen  schät- zungsweise 20% aller Menschen  mit HIV in Deutschland nichts  von ihrer Infektion.  II. Vor diesem Hintergrund be- tont der Nationale AIDS-Bei- rat: Grundlage einer strafrecht- lichen Bewertung einer HIV-In- fektion im Zusammenhang mit  einvernehmlichem  Sexualver- kehr ist eine angemessene Wür- digung der medizinischen Fak- ten.  Es  kann  nicht  schematisch  beurteilt werden, ob einem bzw.  einer HIV-Infizierten strafrecht- lich die Verantwortung für die  erfolgte  Weitergabe  der  Infek- tion zugewiesen werden kann.  Entscheidend sind vielmehr die  Umstände des jeweiligen Einzel- falls und dabei insbesondere die  berechtigten Erwartungen bei- der Sexualpartner. Jedenfalls in einer flüchtigen,  einvernehmlichen sexuellen Be- gegnung ist jeder und jede ver- antwortlich für die Anwendung  von Schutzmaßnahmen, unab- hängig von der Kenntnis oder  der Annahme des eigenen Sta- tus und des Status der anderen  Person. Eine Zuschreibung als  Gynäkologe 2013 · 46:528–529 DOI 10.1007/s00129-013-3232-9 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013 8 8 Jeder ist verantwortlich, Schutzmaßnahmen anzuwenden – vor allem in einer flüchtigen sexuellen Begegnung © Gina Sanders / fotolia.com Täter oder Opfer ist dabei nicht  angemessen. Strafverfahren  bezüglich  der HIV-Übertragung bei ein- vernehmlichem Sexualverkehr  leisten keinen Beitrag zur HIV- Prävention.  Sie  können  sich  sogar kontraproduktiv auf die  HIV-Testbereitschaft  und  die  offene Kommunikation von Se- xualpartnern auswirken. Dem- gegenüber liegt es im Interesse  des Einzelnen und der Gesell- schaft, die HIV-Testbereitschaft  zu erhöhen.“ Dieser Beitrag erschien be- reits in der Zeitschrift Medizin- recht MedR (2013) 31:362, DOI: 10.1007/s00350-013-3431-3 Medizinrecht 528 | Der Gynäkologe 8 · 2013
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Page 1: Medizinrecht

Nationaler AIDS-Beirat beim Bundesministerium für Gesundheit Strafrechtlichen Bewertung einer HIV-Übertragung bei einvernehmlichem Sexualverkehr

Der Nationale AIDS-Beirat ist ein unabhängiges Beratungsgre-mium des Bundesministeriums für Gesundheit. Er ist interdis-ziplinär mit Expertinnen und Experten aus den Bereichen Forschung, medizinische Ver-sorgung, öffentlicher Gesund-heitsdienst, Ethik, Recht, Sozial-wissenschaften, sowie Personen aus der Zivilgesellschaft zusam-mengesetzt.

Am 26.02.2013 hat der Natio-nale AIDS-Beirat folgendes Votum beschlossen:  „Die HIV-Infektion ist heute eine gut behandelbare  chronische  Er-krankung. In Deutschland ist die Lebenserwartung bei angemesse-ner  medizinischer  Versorgung annähernd  normal.  Menschen mit  HIV  erfahren  jedoch  nach wie vor Einschränkungen vor al-lem im sozialen Alltag. Sie wer-den  nicht  selten  sowohl  in  der Arbeitswelt als auch im privaten Umfeld stigmatisiert und diskri-miniert. Auch strafgerichtliche Urteile  und  deren  öffentliche Wahrnehmung spielen in diesem Zusammenhang eine wesentliche Rolle. 

I. Der Nationale AIDS-Beirat weist für die strafrechtliche Be-wertung auf folgende medizi-n i s c h e G e s i c h t s p u n k t e hin:  HIV ist im Vergleich zu an-deren  sexuell  übertragbaren Krankheiten eine schwer über-tragbare  Infektion.  Die  Über-tragbarkeit  von  HIV  hängt  in erster Linie von der Virusmenge (medizinisch: Viruslast) ab. Sie ist  in den ersten Wochen nach 

der  Infektion  besonders  hoch und kann bei mehreren Millio-nen Viruskopien pro Milliliter Blut liegen. Das Immunsystem schafft  es  jedoch  in  der  Regel nach einigen Wochen bis Mona-ten, die Infektion zu kontrollie-ren. Die Viruslast fällt dann ab und kann über Monate bis Jahre vom  Körper  niedrig  gehalten werden, ohne dass Medikamen-te eingenommen werden müs-sen. In dieser Zeit ist die Anste-ckungsgefahr deutlich geringer als in der frühen Phase der In-fektion. Wird das Immunsystem schwächer, wird in der Regel mit einer antiretroviralen Therapie begonnen. Bei wirksamer The-rapie fällt die Viruslast bis unter die Nachweisgrenze ab (< 50 Vi-ruskopien/ml  Blut).  Wenn  die Virusvermehrung  dauerhaft vollständig unterdrückt ist, wird HIV nach derzeitigem medizini-schen  Erkenntnisstand  nicht mehr sexuell übertragen. Die Ri-sikoreduktion  einer  erfolgrei-chen antiretroviralen Therapie entspricht mindestens der sach-gerechten  Anwendung  eines Kondoms. Es ist davon auszuge-hen,  dass  ein  großer  Teil  der HIV-Übertragungen in der frü-hen Phase einer HIV-Infektion erfolgt, also zu einem Zeitpunkt, zu dem die Betroffenen  in der Regel nicht von ihrer Infektion wissen und auch gar nicht wis-sen  können,  da  ein  HIV-Anti-körpertest erst nach einigen Wo-chen  eine  erfolgte  Infektion nachweisen kann.

Insgesamt  wissen  schät-zungsweise 20% aller Menschen mit HIV in Deutschland nichts von ihrer Infektion. 

II. Vor diesem Hintergrund be-tont der Nationale AIDS-Bei-rat:  Grundlage einer strafrecht-lichen Bewertung einer HIV-In-fektion im Zusammenhang mit einvernehmlichem  Sexualver-kehr ist eine angemessene Wür-digung der medizinischen Fak-ten. 

Es  kann  nicht  schematisch beurteilt werden, ob einem bzw. einer HIV-Infizierten strafrecht-lich die Verantwortung für die erfolgte  Weitergabe  der  Infek-tion  zugewiesen  werden  kann. Entscheidend sind vielmehr die Umstände des jeweiligen Einzel-falls und dabei insbesondere die berechtigten Erwartungen bei-der Sexualpartner.

Jedenfalls in einer flüchtigen, einvernehmlichen sexuellen Be-gegnung ist jeder und jede ver-antwortlich für die Anwendung von Schutzmaßnahmen, unab-hängig  von  der  Kenntnis  oder der Annahme des eigenen Sta-tus und des Status der anderen Person.  Eine  Zuschreibung  als 

Gynäkologe 2013 · 46:528–529 DOI 10.1007/s00129-013-3232-9 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

88 Jeder ist verantwortlich, Schutzmaßnahmen anzuwenden – vor allem in einer flüchtigen sexuellen Begegnung

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Täter oder Opfer ist dabei nicht angemessen.

Strafverfahren  bezüglich der  HIV-Übertragung  bei  ein-vernehmlichem  Sexualverkehr leisten keinen Beitrag zur HIV-Prävention.  Sie  können  sich sogar  kontraproduktiv  auf  die HIV-Testbereitschaft  und  die offene Kommunikation von Se-xualpartnern auswirken. Dem-gegenüber  liegt es  im Interesse des  Einzelnen  und  der  Gesell-schaft, die HIV-Testbereitschaft zu erhöhen.“

Dieser Beitrag erschien be-reits in der Zeitschrift Medizin-

recht MedR (2013) 31:362, DOI: 10.1007/s00350-013-3431-3

Medizinrecht

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Lesetipp

Weitere interessante Beiträge aus der Zeitschrift MedR Medizinrecht, Ausgabe 6/2013 finden Sie unter folgendem Link: http://link.springer.com/journal/350/30/9/page/1

9 Oder gehen Sie mit Ihrem Smartphone direkt auf dieHomepage der Zeitschrift MedR Medizinrecht!

Sachverständigenablehnung wegen Überschreitung des Gutachtenauftrages und kritischer Homepage

Das  OLG  Koblenz  (Beschl. v. 24.1.2013 – 4 W 645/12) hatte über  einen  Ablehnungsantrag wegen Besorgnis der Befangen-heit gegen einen ärztlichen Sach-verständigen  im Rahmen eines Haftungsprozesses zu entschei-den.

Der Sachverhalt:  Die Kl. unter-zog sich am 20.06.2011 in der Kli-nik der Bekl. zu 1. einem schön-heitschirurgischen  Eingriff  in Vollnarkose. Operateur war der Bekl. zu 2., als Anästhesist war der Bekl. zu 3. tätig und bei der Bekl.  zu  4.  handelt  es  sich  um eine Medizinstudentin, die in der Klinik den Nachtdienst verrich-tete. Die Kl. befindet sich seither im „Wachkoma“ und macht ins-besondere eine Verletzung von Organisations-  und  Überwa-chungspflichten geltend.

Das LG Mainz lud den ärztli-chen Sachverständigen Prof. Dr. A. zur mündlichen Verhandlung am  14.08.2012,  „damit  dieser Fragen stellen, aber gegebenen-falls auch bereits mündlich ein Gutachten  erstellen“  (könne). Ihm  wurde  die  gesamte  Ver-fahrensakte  überlassen  und mitgeteilt,  es gehe „um Fragen der  Anästhesie,  aber  auch  um Fragen  der  Krankenhausorga-nisation  wie  etwa  derjenigen, ob es zulässig sein könne, dass eine  Medizinstudentin  im  10. Fachsemester  mit  einer  frisch operierten Patientin alleine ge-lassen werden darf“. Im Termin erging ein Beweisbeschl. zu der Frage, ob die medizinische Be-handlung v. 20.06.2011 „in me-dizinisch-organisatorischer und anästhesiologischer  Hinsicht nicht dem medizinischen Stan-

dard  entsprochen“  habe.  Um Erstattung des mündlichen Gut-achtens wurde Prof. Dr. A. gebe-ten, der zu diesem Zweck bereits in Absprache mit dem Gericht eine  PowerPoint-Präsentation vorbereitet hatte.

Die Entscheidung des Ge-richts:  Eine  Besorgnis  der  Be-fangenheit folge zunächst aus den Ausführungen des Sachverstän-digen zu Fragen der Patienten-aufklärung und dies ungeachtet des Umstandes, dass sich aus der ihm überlassenen Verfahrensakte  bereits  ausdrücklich  erhobene Aufklärungsrügen der Kl. erga-ben. Gleiches gilt nach Meinung des OLG Koblenz für die Home-page des Sachverständigen, auf der dieser selbstverfasste Fachli-teratur,  Presseartikel,  die  auch seine Person betreffen, sowie Ge-richtsurteile sammelt. Auf diese Weise lasse der Sachverständige erkennen,  dass  es  nach  seiner Auffassung infolge einer zu miss-billigenden, am Gewinnstreben orientierten Organisation der Pa-tientenversorgung in Kranken-häusern und Arztpraxen zu Pa-tientenschädigungen  komme. Dies drücke eine Hinwendung zu Patienteninteressen bei gleichzei-tiger kritischer Distanz zu den Betreibern von Kliniken aus.

Anmerkung:  Die Entscheidung formuliert sehr strenge Maßstäbe an  die  spontane  Erfassung mündlicher  Beweisbeschlüsse durch  juristische  Laien.  Wäh-rend sich andere Gerichte eher für  eine  gesonderte  Belehrung durch den Vorsitzenden ausspre-chen,  zwingt  die  Ansicht  des OLG Koblenz ärztliche Sachver-

ständige dazu, vor ihrem Tätig-werden stets eine penible Erläute-rung des Gutachtenauftrags zu erbitten.  Besonders  kritisch  ist die  Bewertung  der  Homepage durch das OLG Koblenz zu be-urteilen. Wenn der Senat einer-seits  das  dort  zum  Ausdruck kommende Streben nach Patien-tensicherheit prinzipiell für „an-erkennenswert“ hält, andererseits aber eine Bewertung der einge-stellten  Veröffentlichungen  als wissenschaftliche Meinungsäu-ßerungen  nicht  einmal  in  Be-tracht zieht, dann könnte einer Vielzahl von Ärzten die Ableh-nung  als  Sachverständige  dro-hen, die sich außerhalb von Ge-richtsverfahren prononciert und öffentlich für die Interessen ihres Berufstandes engagieren. Inhalt-liche Überschneidungen dieses Engagements mit dem generellen Patientenwunsch nach einer si-cheren Behandlung liegen in der Natur des Arztberufes.

RA T. Neelmeier, Hamburg Prof. Dr. M. Lindemann, Augsburg

Zusammenfassung aus Neel-meier T und Lindemann M (2013) MedR 31:379−384,

DOI: 10.1007/s00350-013-3438-9

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