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MAX JOSEPH

Date post: 11-Mar-2016
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Nr. 3 2010/11 "Rebellen" Leseprobe
12
0 2 MAX JOSEPH unfrei frei BAYERISCHE STAATSOPER Vesselina Kasarova & Alexander Kluge über I Capuleti e i Montecchi La fedeltà premiata Haydn neu entdeckt BallettFestwoche: Sidi Larbi Cherkaoui kommt
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Max Josephunfrei frei

Bayerische staatsoper

Vesselina Kasarova & alexander Kluge

überI Capuleti e i Montecchi

La fedeltà premiata –

haydnneu entdeckt

BallettFestwoche:sidi Larbi cherkaoui

kommt

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E d i t o r i a l

Rebellen?„rebellen“ heißt das dritte thema unserer Beschäftigung mit dem Komplex „unfrei frei“, der diese Spielzeit an der Bayerischen Staatsoper und damit auch Max JoSEph prägt. Folgt nach „privat-vergnügen“ und „Kinderseele“ nun also die große politik?

Ein Blick in die Nachrichten scheint die Brisanz zu bestätigen: in tunesien, Ägypten oder im Jemen geht die Bevölkerung massenweise auf die Straße und will Veränderung. doch sind das ähnlich gepräg-te politische revolten, wie wir sie von 1789, 1848 oder 1918 kennen? Werden rebellen heute im inter-net – in Blogs und sozialen Netzwerken – gemacht? ist der Motor ihres Kampfes eher der Wunsch nach persönlichem Glück und Wohlstand als eine ideologie? ist es Freiheit?

Vielmehr als politische rebellen, die seit Jahrhunderten einen bedeutenden platz auf der opern-bühne haben, treffen wir in den kommenden premieren, Gastspielen und Konzerten Querdenker, deren Kampf mit gesellschaftlichen Normen, göttlichen plänen oder ästhetischen Kategorien mit anderen Mitteln als der großen Geste stattfindet.

romeo will seine Julia lieben, darf es aber nicht, die Figuren in haydns La fedeltà premiata müssen ihre liebe vor einem Seeungeheuer verbergen, um nicht dem brutalen Zorn der Göttin diana zum opfer zu fallen. der heilige Franziskus rebelliert gegen seine eigenen

ÄNGStE

und Grenzen, um die überindividuelle Erfahrung Gottes zu machen – heutige pilger tun es ihm nach und widersetzen sich der Geschwindigkeit unseres alltags. in der BallettFestwoche stehen zwei rebellen unterschiedlicher Generationen im Mittelpunkt: John Neumeiers Gegenentwurf zum klas-sischen Ballett ist längst klassisch geworden, Sidi larbi Cherkaoui experimentiert mit verschiedenen stilistischen und ästhetischen ansätzen und traditionen und überwindet so bestehende

GrENZEN

im zeitgenössischen tanz. auf paradox anmutende Weise rebellieren zeitgenössische japanische Komponisten, die im 6. akademiekonzert zu hören sind, indem sie sich auf die musikalische traditi-on ihres landes besinnen und damit die vorherrschende westliche Klangsprache in Frage stellen.

die rebellen dieses heftes zeigen individuelle hoffnungen und Wünsche. Vielleicht eine heutige perspektive auf rebellion.

Nikolaus Bachler

M A R T I N P E R E Z A G R I P P I N OT h E y E l l O w P A R c E l

A c R y l I c O N c A N v A s – 3 5 x 2 5 c M2 0 1 0

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Stil-Rebellin: Die rumänische Fotokünstlerin Alexandra Croitoru, von der das Titelmotiv stammt, lehnt sich in

ihren Bildern gegen Konventionen über Mode und Aussehen auf und kombiniert Sturmhaube zum Bikini.

03EDITORIAL

Rebellen? Von Nikolaus Bachler

08IN DIESER AUSGABE

Autoren und Künstler, die dieses Heft gestaltet haben

09ILLUSTRATIONvon Misaki Kawai

10MÜNCHNER FREIHEIT

Ingvild Goetz über eine Installation von Andro Wekua

12

LOB DER NÜCHTERNEN REBELLEN Essay von

Mathias Greffrath

20„REBELLISCH UND KÄMPFERISCH SEIN“

Vesselina Kasarova über I Capuleti e i Montecchi und wie man sich auf der Opernbühne durchsetzt

P–R–E–M–I–E–R–E24

HIMMELSMACHT VS.

FAMILIENMACHTBarbara Vinken schreibt die Geschichte der Liebe

28IM DIENSTE SEINER DURCHLAUCHT

Ein Besuch im Hause Esterházy, dem Arbeitgeber von Joseph Haydn

36„DIESES BALLETT GEHÖRT NACH MÜNCHEN“

John Neumeier über sein Ballett Illusionen – wie Schwanensee, das die BallettFestwoche eröff net

P–R–E–M–I–E–R–E

42Alexander Kluge über I Capuleti e i Montecchi

und die Freiheit in der Liebe

Premiere

46

WIDER DIE ZUMUTUNGEN UNSERER ZEIT: Saint FranÇois d’Assise oder

warum wir wieder pilgern

P–R–E–M–I–E–R–E

50OPERN‒COMIC

Madama Butterfl y, gezeichnet von Andy Rementer

60REVOLUTION DER KLEINEN SCHRITTEDer belgische Choreograph Sidi Larbi Cherkaoui

Gastspiel

64MONUMENTE IN GROSSER FERNE

Das geheimnisvolle japanische Blasinstrument Shō, das beim 6. Akademiekonzert zu erleben ist

68PORTFOLIO

Olaf Breunings Masken, hinter denen sich das Nichts verbirgt

78

GEGEN DEN STRICHModeschöpfer Christian Lacroix, der die Kostüme

für I Capuleti e i Montecchientwarf, über Mode, Liebe und Zorn

85

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K‒U‒L‒T‒U‒R‒T‒I‒P‒P‒S aus der Oper

89MEINUNGSAUSTAUSCH

Briefe an den Intendanten

90SPIELPLAN

95KURZPORTRÄT:

Meike Zopf, die das Plakat für I Capuleti e i Montecchi gestaltet

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P‒R‒E‒MI‒E‒R

I N H A L T M A X J O S E P HFo

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Fotografi e: Tatiana Lecom

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LOB DER NÜCHTERNEN REBELLEN

Ein Essay von Mathias Greffrath

b i l d e r d a n w i t z

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M a t h i a s g r e f f r a t h

„empört euch!“ Der aufruf des 93-jährigen ehemaligen Widerstandskämpfers stéphane hessel ist nur 33 seiten stark, aber in ein paar Wochen hat er sich mehr als eine Million Mal verkauft, weit über frankreich hinaus. Der Mitverfasser der UN-Menschenrechtserklärung ruft euro-pas Bürger, vor allem die Jungen, zum Widerstand auf: gegen die Diktatur der finanzmärkte, den raub der re-gierungen am Volkseigentum, den Konsumterror, den Wachstumswahn, die Naturzerstörung. alles konsensfä-hig, schreiben die nüchternen Kommentatoren, warum also die aufregung im feuilleton? aber zwischen den Zei-len steht: Welche rührende Naivität angesichts der sys-temzwänge. geht doch alles nicht.

in stuttgart gingen hunderttausende auf die straße – ge-gen eine politische elite, die nicht nur die Verwandlung ihres Bahnhofs in ein weiteres saturn-h&M-starbucks-Paradies für „alternativlos“ erklärt, sondern generell alle „Modernisierungsmaßnahmen“. Und weiteres Wachstum wie gewöhnlich sowieso. Die Kluft zwischen dem Bürger-willen und dem handeln der eliten wächst von Jahr zu Jahr. eine Zügelung des finanzkapitals, eine Besteuerung obszöner einkommen, eine Bildungsexplosion, ein soziales gesundheitssystem – für all das gibt es in Deutschland ver-fassungsändernde Mehrheiten. in der Demoskopie. Nicht im Parlament. stehen wir also dicht vor einer rebellion?

Die erste antwort lautet: Keine spur davon. Krise hin, Kli-ma her: in den entwickelten Konsumdemokratien verebben die revolten im schlick der Medien und der gewohnheiten. Wir nicken freundlich zustimmend, wenn ex-fußball-star eric Cantona uns aufruft, millionenfach am 7. Dezember unsere Konten leerzuräumen, um das teufliche finanzsys-tem endlich zum Kollaps zu bringen, aber natürlich bleibt es beim verbalen happening. Wo rebellentum den herr-schenden wirklich weh tut, wie im fall Wikileaks, schlagen die Blamierten hart mit Polizei und technik zurück, und die Öffentlichkeit nimmt eher am internet-superman Juli-an assange anteil als an den skandalösen Untergründen von Banking und Politik. an die gewöhnen wir uns gerade schleichend, mangels alternativer Mächte.

rebellionen, revolutionen gar brechen heutzutage allen-falls dort aus, wo die Bauern hungern, weil auf ihrem Land

futtergetreide für die schweine europas wächst; wo Des-poten auf Öl oder Uran sitzen und sich auf Kosten der Völker bereichern; wo die kapitalistische Modernisierung nachgeholt wird, mit all ihren Opfern, wie in China. in tunesien, wo eine gebildete Mittelschicht die Diktatur eines Clans abschüttelt, der Zorn sich effektiv über twit-ter und facebook organisiert und in den halbdespotien arabiens einen flächenbrand auslöst. in Ägypten steht das Volk auf und blamiert die westlichen Wirtschafsregie-rungen, die jahrzehntelang Diktatoren umschmeichelten. aber unsere spontane euphorie ist überschattet. erfahre-ne Zeitungsleser wissen: revolutionen sind nur noch siegreich, wenn die Börsen und die supermächte sie zu-lassen.

rebellionen finden statt, weil rebellen keine andere Wahl mehr haben. sie sind Befreiungsschläge, wenn alle einsprü-che, alle eingaben, alle argumente nicht geholfen, ja nicht einmal eine öffentliche stimme gefunden haben. etwas, das stärker ist als alle strategische Vernunft, treibt sie an: der hunger die schlesischen Weber 1844, die haitianer 2008; das verletzte rechtsgefühl die Bauernkrieger zur Luther-zeit und die Landlosen in Brasilien heute. Der freiheits-durst die Barrikadenkämpfer von 1848, die studenten auf dem Platz des himmlischen friedens, die Jugend Ägyp-tens.

Die rebellen in den geschichtsbüchern sind Verlierer: re-volutionäre, die nicht genug Bataillone auf ihrer seite hat-ten, um eine neue rechtsordnung zu gründen. „geschla-gen ziehen wir nach haus, die enkel fechten’s besser aus“, rief thomas Müntzers haufen. aber auch wenn sie zer-schlagen und in Blut erstickt werden, rebellionen wirken untergründig weiter – als ikonen eines unzerstörbaren na-turrechtlichen glaubens, der da sagt: Kein Mensch soll hungern und keiner soll getreten werden. so werden sie tradiert durch hollywood: spartacus, robin hood, gari-baldi, Zapata, solidarność. Und die fiktiven und gerechten supermänner aller Zeiten bevölkern die Comic-tagtraum-welten unserer Kinder.

Unter der milden und geregelten herrschaft von Kapital, Konsum und Partei-eliten sind rebellionen, groß und he-roisch geschrieben, kaum noch denkbar. seit wir im „Pro-zess der Zivilisation“ immer mehr Verantwortung in die hände von großunternehmern, Bürokratien, regierungen mit gewaltmonopol gelegt haben – und damit sicherheit und Wohlstand gemehrt –, wird der politische rebell zum irrläufer. Und wird als solcher behandelt. in Diktaturen verschwindet der Dissident, wenn nicht im folterkeller, dann in der Psychiatrie. in gesellschaften, in denen aus-beutung und Massenhedonismus eine geregelte Liaison mit demokratischen Verfahrensregeln und medialer Pro-grammierung eingegangen sind, versickert der rebellische impuls. Wenn keine starken handlungen möglich sind und die kulturindustriellen sedativa versagen, versteigt sich der Zorn in mörderische abstraktionen, explodiert in amok-

Der rebell von heute setzt nicht mehr Paläste

in Brand, sondern Parlamente instand. Mit der Verfassung in der hand kämpft er als

„Wutbürger“ um die Vollendung der Demokratie

in Deutschland.

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M a t h i a S G r E F F r a t h

läufen, oder – das ist die regel – führt als versteinerte Wut zu Vandalismus, hyperaktivität oder depression und wird dann ambulant von der pharmaindustrie versorgt. die Wohlstandsrebellionen der Jugend reagieren zwar seismo-graphisch auf globale Miseren – fernes Elend, sinnlose ar-beit, Unrecht, Unfreiheit und Naturzerstörung – aber erschöp-fen sich schnell im weiteren lebenslauf. ihre ästhetischen ausdrucksformen – ob Woodstock, punk oder Naturro-mantik – werden dankbar von textil-, Fahrzeug- und Ver-gnügungsindustrie weiterverarbeitet.

aber je starrer die flexiblen Verhältnisse werden, desto stärker die Sehnsucht nach Menschen, die den Gang der dinge nachhaltig unterbrechen. oder das zumindest for-dern. oder schreiben. oder singen. auf platz 1 und 2 bei Google stehen unter „rebellion“, noch vor der Begriffsklä-rung: eine power-Metal-Band und ein hersteller von Ge-waltspielen. Und in einem Chat dieser tage kann man lesen: „a: Keine meiner Freunde sind rebellen. darf ich mit dir über rebellentollfinden quatschen? B: ich habe hautnah Kontakt zu einem rebellen! ich habe schon erfahren, dass er öfters weint und gerade dabei ist, einen text über Quantenphysik zu verfassen. C: Einer meiner Freunde ist ein wahrer rebell. Er liebt opern.“

Wer es hierzulande, in Europa, noch ernst meint mit der rebellion, sollte abschied nehmen von opernhaften Bil-dern. Nur politische romantiker sehen in der seelischen Not der Vorstädte, in arbeitslosen Subkulturen, Vandalis-men, Krawallen oder plünderungen den rohstoff für revol-ten. Etwa die autoren des Manifests Der kommende Auf-stand, eines weiteren Bestsellers der intellektuellen Unbehagens-industrie. „die Gegenwart ist aussichtslos“, lautet das resümee ihrer mehr an heideggers Bauern- und handwerkerwelten als an Marx geschulter Zivilisa-tionskritik. das mag dem lebensgefühl zukunftsloser Jugendlicher, verzweifelter Ökologen und den Sinnkrisen angestellter Kulturträger poetischen ausdruck verleihen. aber das schöne pamphlet ruft nicht zur rebellion auf, sondern zum ausstieg aus der Gesellschaft, in kleinen Gruppen, die partisanenmäßig Sand ins Getriebe der Kri-senwelt streuen und sich mit Stromdiebstahl, hausbeset-zungen und Sozialtransvers über Wasser halten, bis zur Zeit nach dem „Crash“. oder das heil wird – bei einigen amerikanischen Fundamentalökologen – in der Sabotage von produktionsanlagen und infrastrukturen, pipelines, Versorgungsnetzen, Verkehrswegen, Medien gesehen. Je schneller Schluss ist mit all dem, desto eher kann das un-ausdenklich Neue anbrechen. Man möchte sich nicht ernst-haft vorstellen, wie ein Staat reagieren würde, in dem techno-rebellen solchen anregungen folgen.

der letzte Sieg der Freiheit wird trocken sein, schrieb der republikaner Gottfried Keller im 19. Jahrhundert, und die rebellen unserer tage finden wir nicht mit den phantom-bildern von damals. Sie wohnen nebenan und nirgendwo.

Zum Beispiel als „désobeisseur“, als Gehorsamsverweige-rer. Mehr als dreitausend französische lehrer haben sich so geweigert, eine dumme und diskriminierende Schulre-form umzusetzen. Sie wurden mit herabstufung und Ge-haltskürzungen bestraft. diese Bewegung des „ethischen Ungehorsams“ scheint um sich zu greifen: angestellte der Elektrizitätswerke stellen zahlungsunfähigen Kunden den Strom wieder an, ihre Kollegen in den arbeitsämtern soli-darisieren sich mit ihren Klienten, polizisten lehnen es ab, asylantenfamilien zum Flugzeug zu bringen. Nicht, dass sie es tun, sondern dass sie es öffentlich tun ist neu. Und es zeigt: der Virus der rebellion ist nicht ganz auszumerzen.

Noch einmal: Mexiko, China, Guinea, die arabische Welt haben andere probleme – auch wenn sie von unserer art zu leben und zu wirtschaften verursacht werden –, und deshalb sehen rebellionen dort gelegentlich immer noch wie früher aus. aber die revolte unter den Bedingungen der medialen Konsumdemokratie: das wäre die massive und massenhafte inbesitznahme unserer Bürgerrechte, die wir den gescheiterten rebellionen und gelungenen revo-lutionen der Vergangenheit verdanken.

„Wutbürger“ – das könnte ein anfang sein. aber nur die lange Wut verändert die Welt. der westeuropäische re-bell, will er wirklich wirksam sein, rennt nicht länger als Volksheld gegen die Bollwerke gieriger und gewalttätiger Eliten an, sondern kämpft als Staatsbürger gegen die Ent-eignung dessen, was seine Vorfahren errungen und wofür sie teuer bezahlt haben – ob er die Namen und Werke von Bebel und rathenau, von Büchner und Brecht oder den Fidelio nun kennt oder nicht. Und weil partisanen am bes-ten in heimischem Gelände kämpfen, geschieht das am aussichtsreichsten in ihrer region, ihrer Stadt: um ihr Wasserwerk, ihre Schulen, ihre arbeitsplätze. oder ihren Bahnhof. der rebell 2011 setzt nicht paläste in Brand, sondern parlamente instand. Fordert nicht mit dem de-gen, sondern mit der Verfassung in der hand die Vollen-dung der demokratie in deutschland. „Wir sind das Volk“, das war noch feudal: „Bitte bitte, liebe obrigkeit, hör uns an, setz dich mit uns an den runden tisch!“ die kommen-de rebellion ruft: „Wir sind der Staat!“

der letzte Sieg der Freiheit wird trocken sein – das ist nur halbwahr. denn möglich wird er nur durch die klein-gemünzte Energie starker Gefühle: von Mitgefühl und Zorn, liebe und Verachtung, heimatliebe und Freiheits-trieb. Ganz große Emotionen für ganz kleine Schritte. der weise Jacob Burckhardt schrieb in seinen Weltge-schichtlichen Betrachtungen: „Um relativ nur Weniges zu erreichen … braucht die Geschichte ganz enorme Veran-staltungen und einen ganz unverhältnismäßigen lärm.“ Sie braucht den rebellen. heute mehr als kürzlich noch: it’s a hard rain’s gonna fall …

Mehr über den autor auf S. 8 (Contributors)

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Die bulgarische Mezzosopranistin Vesselina

Kasarova feierte mit Partien von Mozart und Rossini auf den größten Bühnen

der Welt Erfolge und gilt als Spezialistin für

„Hosenrollen“ – wie den Romeo in Vincenzo Bellinis

I Capuleti e i Montecchi, mit dem sie in München

gastiert. Eine Künstlerin, die „Musik als das Ehrlichste, was

es gibt“ begreift und auch über den „Aff enzirkus Oper“

kein Blatt vor den Mund nimmt.

I N T E R V I E W

I N T E R V I E WC H R I S T I A N B E R Z I N S

F O T O G R A F I E A N N E M O R G E N S T E R N

M A X J O S E P H Frau Kasarova, ich habe vor kur-zem mit dem ehemaligen Zürcher Opernhausdirek-tor Christoph Groszer gefrühstückt …V E S S E L I N A K A S A R O V A … Oh, er lebt noch!

M J Sehr vergnügt sogar. Er wohnt mit Tochter und Enkel auf einem wunderschönen Landgut in Apulien und erzähl-te, wie er 1988 nach Bulgarien kam, Sie bei einem Galakon-zert hörte und auf der Stelle in Zürich unter Vertrag nahm. Für ihn war es ein Coup. Was war es für Sie – eine Flucht in den Westen?V K Nein, und dahinter stand auch kein lang gehegter Wunsch, ich hatte vielmehr große Bedenken. Meine Mutter fragte mich damals sorgenvoll: „Vesselina, weißt Du, was Du machst?“

M J Kein Gang von der Unfreiheit in die Freiheit?V K So habe ich nie gedacht, obwohl wir in Unfreiheit lebten und meine Familie indirekt gelitten hat. Bul-garien habe ich eine tolle musikalische Ausbildung zu verdanken. Zürich war eine Chance für meinen Beruf, für meine Persönlichkeit.

M J Sie wären dafür auch nach Moskau gegangen?V K Ja, wahrscheinlich, denn ich wollte singen. Viele Bul-garen sind nach Moskau gegangen, auch Nikolai Ghiaurov oder Ghena Dimitrova.

M J Kaum in Zürich richtig angekommen, waren Sie auch schon wieder weg. Über Salzburg und Wien ging’s in die große Opernwelt. Nicht alle können mit dem schnellen Erfolg umgehen. Wie haben Sie das gemacht? V K Ich habe dieses Leben genossen, aber längst nicht alles mitgemacht. Mir war bewusst, was mit mir passierte. Ich wollte kein Produkt werden, nicht zu sehr im Mittelpunkt stehen. Der Druck, schnell und auf Risiko zu arbeiten, war groß. Viele Sänger leiden darunter, viele können dem vorgegaukelten Niveau gar nicht entsprechen. Ich war stolz und ide-alistisch, wollte etwas erreichen, weil ich wusste: Ich kann etwas.

M J Haben Sie damals abends vor dem Zubettgehen dem Schicksal gedankt?V K Oft, denn von irgendwo hat man ja dieses Talent, diese Stimme. Aber ich hatte auch Antennen, die mir den richti-gen Weg wiesen. Ich begegnete Nikolaus Harnoncourt und Edita Gruberova, zwei einzigartig starken Persönlichkei-ten, die jahrelang für ihre Kunst gekämpft haben. Ich spür-te bei der Arbeit mit Edita Gruberova, dass ich meine Per-sönlichkeit entwickeln muss und sagte mir: „Sei individuell, kopiere nicht!“. Durch meinen Beruf habe ich gelernt, dass Leute nur von mir berührt sind, wenn ich ehrlich bin. Auch das Lächeln beim Applaus ist so ein Ding: Es gibt Sänger, die lächeln auf Knopfdruck. Für mich muss Kunst ernst sein.

M J Sie bewundern diese zwei Kämpfernaturen. Wurden Sie selbst zu einer Kämpferin, ja zu einer Rebellin?V K Ich habe immer gekämpft, aber auf eine gute Weise. Ich habe vor kurzem in Basel mit jungen Sän-

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MONTECCHI

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gern gearbeitet und sagte ihnen: „lasst keine bösen Gedanken gegen Konkurrenten zu. diese negative Energie zerstört euch!“ Erfolg macht unruhig. Manch-mal kommen junge Sänger zu mir, die schon bei die-ser und jenem waren. die sind völlig durcheinander – eine Qual. dann frage ich sie: „Warum haben Sie zu singen begonnen?“

M J Und wenn Sie diese Frage für sich selbst beantworten, was ist ihre antwort?V K ich wollte etwas ausdrücken.

M J Sie kämpften auch gegen den Betrieb, indem sie immer wieder rollen ablehnten.V K Ja, in dieser hinsicht musste ich rebellisch sein, obwohl es mit viel risiko verbunden war. ich habe immer wieder gedacht: Was passiert, wenn du das nicht annimmst? ich debütiere nächste Saison als Eboli, hätte die rolle aber schon 1989 singen sollen – vor 22 Jahren!

M J Wie konnten Sie den Wünschen der intendanten und dirigenten widerstehen?V K Mit tricks, mit diplomatie, mit viel hin und her. Wie oft sagte ich: „Eine wunderbare idee, aber ich bin noch nicht bereit.“ Brangäne, Venus, amneris – alles wur-de mir schon angeboten.

M J Kommt es auch vor, dass Sie gegen regisseure rebellieren?V K ich bin offen für vieles, es ist egal, ob ich ein mo-dernes oder ein traditionelles Kostüm trage. aber es ist nicht egal, mit wem ich spiele, denn manchmal stecke ich in einem Korsett: ich könnte spielerisch viel mehr machen, aber die regisseure und Kollegen wollen das nicht.

M J Geben Sie sich also manchmal zu früh geschlagen?V K Was soll ich tun? Mache ich zuviel, störe ich. ich habe schnell verstanden, dass ich mich anpassen muss. ich will mir mein leben nicht mehr so schwer machen. auf der Bühne bin ich das produkt eines regisseurs.

M J der aber vielleicht manchmal weniger weiß als Sie?V K ich habe auch respekt vor denen, die im Mo-ment noch nicht so viel wissen. Was bringt es, wenn ich sage „das ist Quatsch!“ und die produktion ver-lasse? ich gewinne, wenn ich weitermache. Bleiben und kämpfen – ein Kampf mit sich selbst. Wir Sän-ger müssen rebellisch und kämpferisch sein, aber im positiven Sinn. Mit diesem denken bin ich in den letzten Jahren ruhiger geworden, akzeptiere, was da kommt. Es bringt nichts, mit dem regis-seur zu streiten, auch wenn einige keine ahnung von oper haben. Manchmal müssen wir Sänger la-chen. Es kommt vor, dass eine neue produktion nur wenig Substanz hat (schaut sehr ernst). Finden Sie das nicht auch?

M J doch, ich habe es ja eben wieder bei der Saisoneröff-nung der Scala in der Walküre gesehen: die Sänger waren völlig auf sich allein gestellt, Waltraud Meier hat sich dann in der lokalpresse heftig darüber beklagt.

V K Sehen Sie! ich bin auch ehrlich, aber wer über das Geschehen hinter der Bühne die Wahrheit sagt, gilt sehr schnell als schwierig und kompliziert.

M J Sie sagten mal, dass die oper ein affenzirkus sei. Wer sind die affen?V K Wir alle, die Künstler: regisseure, dirigenten, Sänger. Was hinter der Bühne manchmal läuft, ist ein Zirkus.

M J Eine Show?V K Wir Sänger wechseln von einem Baum zum anderen, von einer produktion zur nächsten, anstatt nach einer pre-miere zur ruhe zu kommen. oft geschieht es auch, dass wir einen Monat lang ohne ein Konzept proben.

M J das muss frustrierend sein.V K Ja, deswegen spreche ich vom affenzirkus. Wir Sänger stehen oft blöd da und wissen nicht, war-

um. Man darf uns nicht unterschätzen. Wir bringen manchmal eine inszenierung, die nichts darstellte, auf ein gewisses Niveau.

M J Sie haben in einem interview mit der Zeit …V K immer wieder dieses interview! Was stand dort?

M J Sie sagten, wie fürchterlich ihr Beruf sei.V K das ist er manchmal – neben allen positiven dingen. allen geht es so.

M J Warum malen dann alle ihre Welt schön?V K Eigentlich wollen alle – regisseur, Sänger, dirigenten – etwas Gutes machen. aber manchmal sind wir opfer: Kann man proben, wenn man in einem großen leeren raum singen muss? das originaldekor sehen wir erst zehn tage vor der premiere, man kann sich dann nicht mehr wehren, wenn etwas nicht passt. dann kommt plötzlich noch ein lautes orchester hinzu. Was passiert? Es wird ge-klagt, die Sänger seien zu leise.

M J Was ist denn das Schönste an ihrem Beruf?V K (begeistert) das Singen! Musik ist für mich das Ehrlichste, was es gibt. durch die Musik verstehe ich die Welt. Beginnt die Vorstellung, ist die Musik über allem, egal, wie die inszenierung aussieht, wel-chen Blödsinn man auch immer auf der Bühne tut. Mozart ist so stark, dass man ihn mit keiner regie zerstören kann.

M J Und die tägliche arbeit an der Stimme?V K auch das ist sehr schön. aber je unsicherer ein Mensch ist, je egozentrischer, desto mehr leidet er in diesem Beruf. irgendwann stürzt man ab. Wenn man etwas erreicht hat,

i N t E r V i E WV E S S E l i N a K a S a r o V a

„Musik ist das Ehrlichste, was es gibt. Wenn die

Vorstellung beginnt, über-strahlt sie alles, egal, welchen Blödsinn man auch immer auf

der Bühne tut!“

i CapUlEti

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MoNtECChi

i CapUlEti

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darf man nicht immer gleich mehr wollen. Es gibt keine Stimme, die alles kann. Erfolge soll man genießen, aber dabei versuchen, die Qualität zu halten. Je länger ich dabei bin, desto kritischer werde ich.

M J Sind Sie dennoch eine glückliche opernsängerin?V K Was ist Glück? Momente, Sekunden? Beim Singen stimmt in kurzen Momenten alles. durch die Musik habe ich viel von den Menschen erfahren, aber das größte Glück ist meine Familie.

M J Könnten Sie morgen aufhören zu singen?V K ich wäre dazu in der lage, weiß aber nicht, wie weh mir das täte. ich hoffe, dass ich noch lange werde singen können.

M J als nächstes steht Bellinis I Capuleti e i Mon-tecchi an der Staatsoper in München an – Bellinis Vertonung des Stoffes Romeo und Julia. Mögen Sie diese Geschichte?V K Nicht so sehr (lacht erstaunlich laut)!

M J Mögen Sie Julia?V K ich weiß es nicht, ich bin schon ein romantischer typ, aber diese liebe? Naja. ich mag die tragik am Ende.

M J hätte romeo dieser unseligen liebe auswei-chen sollen?V K das wäre schade, dann würde uns das Finale verloren gehen (lacht) – meine große arie.

M J alleine wegen der Musik sollen romeo und Julia un-vernünftig sein?V K Ja! Ganz im Gegensatz zu mir: ich bin ein sehr ratio-naler Mensch. ich gehe kein risiko ein und experimentiere nicht mit meinem leben.

Der Zürcher Journalist Christian Berzins ist Kulturredakteur der Aar-gauer Zeitung und schreibt auch für das Schweizer Kulturmagazin DU und die Weltwoche.

Vesselina Kasarova wurde 1965 in Sta-ra Zagora (Bulgarien) geboren. 1989 schloss sie ihr Gesangsstudium ab und kam ans Opernhaus Zürich. 1991 de-bütierte sie bereits bei den Salzburger Festspielen und wurde kurze Zeit spä-ter Ensemblemitglied an der Wiener Staatsoper. Bald sang sie an den größ-ten Häusern und nahm zahlreiche CDs auf. Kasarova ist verheiratet, hat ei-nen zwölfjährigen Sohn und lebt bei Zürich.

CDs (Auswahl):Belle Nuit. Arien und Ouvertüren von Jacques Offenbach. RCA/Sony BMG 2008.Sento Brillar. Arien von Händel. RCA/Sony BMG 2008.Bulgarian Soul. RCA/Sony BMG 2003.

I Capuleti e i MontecchiTragedia lirica in zwei Akten von Vincenzo Bellini

Premiere am Sonntag, 27. März 2011, Nationaltheater

Weitere Termine im Spielplan ab S. 90.

M J Sind Sie im Unterschied zu romeo und Julia einmal der liebe ausgewichen?V K Nein, so weit ging ich dann doch nicht. ich kann mir diese Situation nicht vorstellen, da ich so gute Eltern hatte: ich habe auf sie, und sie haben auf mich gehört.

M J Folgen Sie allgemein eher dem Kopf als dem Bauch?V K Ja, aber ich handle auch mit dem Kopf intuitiv, intui-tion hat nämlich viel mit intelligenz zu tun.

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John Neumeier kehrt nach München zurück. im „ludwig-Jahr“ tanzt das Bayerische Staatsballett zur Eröffnung der

BallettFestwoche die von der tragödie des Bayernkönigs inspirierte tschaikowsky-adaption des hamburger tanzfürsten

Illusionen – wie Schwanensee

»dIeses balleTTgeHöRT

naCH MünCHen«

J O H N N E U M E I E R

M A X J O S E P H Fünf ihrer Ballette sind seit 1973 vom Bayerischen Staatsballett aufgeführt und ins re-pertoire übernommen worden, nur nicht Illusionen – wie Schwanensee.  Warum hat es seit dem erfolgrei-chen Gastspiel 1978 so lange gedauert, bis das Ballett endlich in München angekommen ist? J O H N N E U M E I E R Woran das genau lag, kann ich nicht sagen. Eine Ursache mögen die wechselnden Ballettdirektoren gewesen sein. ich versuche ja nicht, meine Ballette direkt zu verkaufen. ich warte auf eine Einladung oder einen einleuchtenden Grund, warum die Einstudierung einer meiner Choreografien ge-wünscht wird. als mich ivan liška vor zwei Jahren darum gebeten hat, konnte ich nur sagen: Selbstver-ständlich, dieses Ballett gehört nach München.

M J Könnte das Zögern nicht auch an ihrer für die Siebzi-gerjahre unkonventionellen Sicht des Königs gelegen ha-ben, den Sie als Künstlertypus und rebellen in politischer wie erotischer hinsicht zeichnen? J N Nein, das glaube ich nicht. Weil ich Ballett nicht als ein realistisches Medium sehe. Mein Ballett ist keine histori-sche dokumentation. die inspiration zu meiner Königsfi-gur, die ich bewusst nicht ludwig ii. nenne, habe ich zwar eindeutig durch den Bayernkönig. aber wichtig sind auch parallelen zwischen ihm, dem prinzen Siegfried im Ballett und dessen Komponisten peter tschaikowsky. ich wollte meiner zerrissenen Königsfigur etwas allgemeingültiges ge-ben und nicht behaupten: das ist wirklich ludwig ii., und die historische Geschichte war tatsächlich so. Es gab bei-spielsweise keine prinzessin Natalie aus polen. Man hätte sagen können: Ja, herr Neumeier haben Sie denn nie ein Buch über ludwig ii. gelesen? außerdem: das Kunstmedi-um tanz verlangt eine besondere dramaturgische Struktur. Und ich versuchte, meine mit dem ursprünglichen Konzept von reisinger* und tschaikowsky und vor allem natürlich

interview: Klaus Witzeling 

Von der revolution zum Klassiker: John Neumeier hat in seiner Version von peter tschaikowskys Schwanensee Ele-mente des tanzes und theaters innovativ verbunden. 1976  in hamburg uraufgeführt und nun selbst ein Klassiker im enormen Œuvre des Choreografen und Ballett-intendanten, steht Illusionen – wie Schwanensee exemplarisch für seine dramaturgie der Erinnerung und des traums in szenischen, filmartig geschnittenen rückblenden. in der durch die tra-gödie des Bayernkönigs ludwig ii. inspirierten adaption wandelt sich das romantische Märchenballett zur darstelle-risch wie stilistisch facettenreich getanzten Seelenstudie ei-nes innerlich zerrissenen Künstlers auf dem thron, in der sich Fantasie und Wirklichkeit durchdringen. die inszenie-rung in der opulenten ausstattung von Jürgen rose ist pa-radigmatisch für das von Geschichte, literatur, psycholo-gie und regietheater animierte und belebte Ballettdrama Neumeiers.

Kapitel einer einzigartigen Ballett-Geschichte: John Neumeier 1967 im Kostüm von Jeu de cartes von John Cranko.

Foto: Klaus Mocha

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der ivanow-Fassung* für den zweiten „weißen akt“ abzu-gleichen und diese einzubeziehen, so gut es möglich war.

M J Zur Zeit der Uraufführung hat Illusionen Furore gemacht, erntete Begeisterung und harsche Kritik. J N Mein Nussknacker war noch davor und wirkte schon revolutionär, weil er nicht zu Weihnachten spielt. aber Schwanensee war eine noch heiligere Kuh – ich wollte sagen: ein noch heiligerer Vogel. Mats Ek hat mir Jahre später gesagt, wie beeindruckt er von meiner produktion war, dass sie ihm den Mut für sei-ne gegeben hat. Es mag schon revolutionär gewirkt haben, war aber nie mein Wunsch, absichtlich etwas revolutionäres zu machen. ich war nur davon über-zeugt, dass ich Schwanensee nicht anders hätte insze-nieren können.

M J der Ballettkritiker horst Koegler spricht in seinem Buch über Sie im Zusammenhang mit den drei tschai-kowsky-Klassikern Nussknacker, Schwanensee und Dorn-röschen von einer hamburgischen dramaturgie des Bal-letts. Können Sie das Konzept skizzieren? J N Schön, dass herr Koegler das so sieht. Mir ging es bereits 1974 beim Meyerbeer – Schumann-abend einfach um meinen Versuch, die tatsache, dass ein Ballett ein Ballett ist, aufzubrechen und mir zu sagen: Ein Ballett ist auch eine Form von theater. das war vielleicht eine revolutio-näre ausgangsidee.

M J Was war denn das Neue an ihrem Meyerbeer – Schumann-Ballett? J N der Vorhang ging auf. im dunkeln hörte man eine alte originalaufnahme von Enrico Caruso, der eine arie aus Meyerbeers L’Africaine sang, wäh-rend Will Quadflieg Briefe von Schumann und Boy Gobert Briefe von Meyerbeer zitierten. dann, als das licht langsam kam, sah man zwei tänzer in trainingskleidern, die an der Stange ihr Exercise machten. auf der Bühne lagen Kleidungsstücke he-rum. Neugierig nahmen die tänzer sie auf, probier-ten, zogen sie an, schlüpften ins Kostüm – und da-mit in die Figuren, standen als Meyerbeer und Schumann da. das regietheater in der oper stellt die Frage: Warum singt einer? Warum höre ich Mu-sik? ich stellte die Frage: Warum tanzen wir? Bis

dahin stellte man die Frage nicht beim Ballett: hier war man im theater und das orchester spielte.

M J Geht es ihnen um einen gedanklichen oder emotiona-len Wendepunkt, an dem ein Sänger zu singen, ein tänzer zu tanzen beginnt? J N Genau. Meyerbeer – Schumann, Daphnis und Chloé und auch die Illusionen beginnen mit einem prolog in der Stille. Zwei Wachleute bringen den König in ein Gebäude, das ihm fremd, dem Zuschauer fremd ist. Erst als er das Schwanen-emblem auf seinem Kostüm zufällig berührt, es bewusst auf-nimmt, überwältigen ihn Erinnerungen, und wir hören die Musik seiner Emotion, seiner Erinnerung. das Ballett Schwanensee beginnt …

M J … in dem bei ihrer interpretation auch homose-xualität ein zentrales Motiv ist. Wir werden heute von schwulen Bürgermeistern regiert, aber 1976 war das noch undenkbar. hatten Sie in irgendeiner Form Schwierigkeiten damit? J N Wenn ich zurückdenke, war es auch damals kein problem für mich. in meinen ersten Vorstellungen vom Ballett sah ich einen prinzen am rand eines See-ufers gehen und hinter ihm einen schönen Mann in Schwarz. ich habe nicht gefragt: darf ich das machen? ich bin zwar nicht jemand, der auf dem Christopher Street day mitgeht, aber das Männer-duo habe ich nie in Frage gestellt. allerdings habe ich offen gelassen, ob der Mann im Schatten einen doppelgänger oder einen todesengel verkörpert, also den Wunsch nach einem liebhaber, die Schuldgefühle des Königs oder dessen todessehnsucht. ich will der Figur ihre Vielseitigkeit erhalten, sie nicht erklären und ihr die Magie nehmen. das hat mit derselben idee zu tun, warum ludwig schlicht „der König“ heißt.

M J Gab es für Sie bei der inszenierungskonzeption Einflüs-se oder Vorbilder von theaterregisseuren? J N als Jürgen rose und ich mit der großen Ballett-litera-tur des 19. Jahrhunderts experimentierten, waren wir stark von peter Stein geprägt. die Kostüme sollten bis ins letzte detail stimmen. Wir fragten uns, wie wir die magische rea-lität seiner Schauspiel-inszenierungen auf die Ballettbühne übertragen könnten, um Ähnliches zu erreichen wie Stein in seinem Peer Gynt. auch der französische regisseur patrice

Chéreau war mit seinem körperlich-sinnlichen inszenie-rungsstil sehr wichtig für mich. Er hat mich darauf gebracht, dass man einem klassischen Werk trauen und versuchen muss, dessen Wahrheit so intensiv zu begreifen, dass es in seiner eigenen Stimme neu klingt – auch im traditionsbela-denen Ballett.

M J Beide regisseure revolutionierten zu ihrer Zeit ähnlich wie peter Brook die internationale und deut-sche theaterszene. Welche rebellen waren in der tanzkunst für Sie richtungsweisend? J N Vaslav Nijinsky natürlich. Seine Kreativität und den Mut, dinge zu verlangen, die so außergewöhnlich und innovativ waren für die Menschen, mit denen er gearbeitet hat, empfinde ich als revolutionär. Man konnte damals doch noch keinen Vergleich zu arbeiten einer Martha Graham oder eines Merce Cunningham ziehen. Unter den amerikanischen zeitgenössischen Choreografen ist Jérome robbins ein Vorbild, vor al-lem die Konzepte für seine weniger bekannten Ballette The Guests oder auch The Age of Anxiety, die auf sei-ner Beschäftigung mit der psychoanalyse basieren, beeindruckten mich sehr, obwohl ich sie nicht gesehen hatte. Er war insofern rebellisch, als er eine seiner wichtigen Schaffensphasen unterbrochen hat, sich für zwei Jahre in ein Studio zurückzog, um wie in einem labor die choreografischen arbeitsmethoden auf die Entwicklung von neuen theaterformen anzuwenden.

M J in welchen arbeitsschritten entwickelt sich die Neu-einstudierung von Illusionen?J N Gebe ich ein größeres Werk an eine andere Compagnie, ist meine erste Frage: passt es zu ihr oder nicht? Was wer-den wir beide, die Compagnie und ich als Choreograf, vonei-nander lernen? Über die antwort entscheide ich eher intui-tiv, aber sie hängt auch von der Kapazität und Qualität des betreffenden Ensembles ab, welches das Werk einstudiert. im zweiten Schritt überprüfe ich die Besetzungen, mit de-nen meine assistenten zuerst Szenen und Schritte erarbei-ten. in der anfangsphase vermittle ich auch inspirationen zu den Charakteren und Situationen. in den letzten zwei oder drei Wochen bin ich wieder dabei, überprüfe die Büh-neneinrichtung und lasse mich auch zu Änderungen durch die neue Besetzung inspirieren.

M J haben Sie jemals davon geträumt, in einem Schloss zu wohnen?J N Ja, immer (lacht lauthals). tatsächlich träume ich immer wieder, dass ich in Schlössern wohne. Ein interessanter traum, weil ich weiß, es gibt räume in diesem haus, die ich noch nicht gesehen habe. das ist ein ganz aufregendes Gefühl.

M J Sie haben sich doch ihr Schloss gebaut, oder nicht?J N Nur ein ganz kleines, bescheidenes. Seit ich aus meinem Zuhause in amerika wegging, hatte ich nicht in einem haus gelebt. ich bin gewarnt worden: Warum wollen Sie in einem haus wohnen, normalerweise bewohnen die leute doch im-mer nur gewisse räume? ich mache das nicht. Seit drei Jah-ren wohne ich wirklich in meinem ganzen haus. Je nachdem, was ich mache, benutze ich verschiedene räume. ich bewohne dieses haus in seiner Fülle. ich sage das, auch wenn ich in Verdacht geraten sollte, größenwahnsinnig zu sein.

M J Mit dem Ballettzentrum – horst Koegler nennt es in seinem Buch ein Ballettimperium – haben Sie sich doch auch ein eigenes reich geschaffen?J N das sehe ich anders. das Ballettzentrum ist aus einem Kern entstanden. als ich nach hamburg gekom-men bin, wo ich übrigens anfangs nicht gewollt war, weil man nicht wusste, was dieser junge revolutionäre typ da anstellen würde, fing ich in einem kleinen Büro an, das ich mit meinem Ballettmeister teilte, weil es der einzige raum mit dusche war. als man den Erfolg bemerkte, musste man diesen Erfolg sichern, und es bedurfte auch der Vergrößerung, weil die anforderun-gen mit mehr Vorstellungen, Gastspielen und der Bal-lettschule gestiegen sind. das Zentrum ist da, weil die arbeit solche dimensionen angenommen hat. aber ich habe nie gesagt, ich komme nur nach hamburg, wenn ich ein Ballettzentrum erhalte.

M J Sie sind als revolutionärer typ gekommen und stehen jetzt als etablierter Ballettintendant auf der anderen Seite. Wie kommen Sie mit diesem Wechsel zurecht? J N ich empfinde das nicht so, ich habe mich nicht völlig verändert. Jedes Mal, wenn ich vor einem neuen Ballett ste-he, frage ich mich: Kann ich das überhaupt oder schaffe ich es? das Entscheidende ist noch immer die Kreativität. die potenz von Kreativität ist es, die den Garten wachsen lässt.

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Neuschwanstein an der Elbe: AlexandreRiabko als der von König Ludwig II. inspirierte „König“ im Jahr 2010 in der Hamburger Wiederaufnahmevon Illusionen – wie Schwanensee.

Foto: Holger Badekow

John Neumeier alsHortensio beider Premiere vonDer Widerspenstigen Zähmung von John Cranko imMärz 1969.

Foto: Jorge Fatauros

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Wenn das nicht mehr da ist ... ich glaube nicht, dass ich ein administrativer Ballettdirektor sein könnte, selbst wenn ich zwei Zentren hätte.

M J Wollen Sie neben ihrem Werk auch mit ihrer Sammlung etwas Bleibendes schaffen? J N Nicht jede privatsammlung beginnt mit dem Ge-danken, sie weiterzugeben. der anfang waren Neu-gier und Wissensdurst. ich habe mit Büchern begon-nen, lange bevor ich einen Stich, eine radierung oder ein Kunstobjekt gekauft habe. ich war zunächst an Büchern interessiert, weil ich informationen gesam-melt habe, um mein Wissen zu vergrößern. als ich den Nijinsky-Kopf ersteigert hatte, kam die Freude an Kunstwerken dazu und das Gefühl, unbewusste aspekte über diesen Künstler zu erfahren. langsam kommen die Gedanken: diese wunderbare Sammlung kann nicht nur für mich sein.

M J Verliert der rebell in der Vitrine nicht und wird zum denkmal? J N ich lebe mit meiner Sammlung. Sie ist ein lebendiger Schatz, der meine arbeit befruchtet. denn zur Freude und leidenschaft, sie auszuweiten, kommt später dann auch eine Verantwortung. Waren es anfangs die persönliche Fas-zination und mein Bedürfnis, mehr zu wissen, kann ich jetzt die Neugier anderer Menschen wecken und ihnen die Mög-lichkeit bieten, diese Werke im Zusammenhang kennen zu lernen. darum habe ich auch die John Neumeier Stiftung gegründet, um die Sammlung in ihrer Gesamtheit zu erhal-ten – nicht nur die Nijinsky-abteilung.

M J rebellion entzündet sich auch am Widerspruch gegen die tradition und die ältere Generation. haben Sie rebellion gegen sich erfahren? J N Schwer zu beantworten. ich weiß natürlich nicht, was jüngere Choreografen über mich denken. ich weiß nur von mir: Während ich John Crankos Romeo in Stuttgart tanzte, habe ich meinen eigenen geplant und die oberflächlichkeit kritisiert, mit der – wie ich „re-bell“ meinte – er das Shakespeare-drama gesehen hat. ich war schon rebellisch und hatte meine kleine Grup-pe um mich, die mir wie Jünger folgte. Wenn junge Choreografen meiner Compagnie so denken würden, hätte ich nichts dagegen und würde es verstehen. aber

wenn ich auf junge Choreografen treffe, begegnen sie mir mit großem respekt, mehr, als ich eigentlich er-warte. Was sie von einzelnen Werken halten, kann ich nicht sagen, das ist ihre eigene Meinung. aber ich fühle mich gut in der auseinandersetzung mit den neuen re-bellen dieser Zeit.

M J Sie haben sich mit dem Gewicht des Ehrenbürgers auch in die debatten um die Kultur in hamburg eingemischt und eine Form von Widerstand artikuliert. Macht sich der Unan-gepasste in ihnen so auch im reifen Künstler bemerkbar? J N Natürlich ergreife ich partei für die Kunst. aber vor allem dadurch, dass ich an ihr arbeite und mich ihr widme. ich bin hauptsächlich damit beschäftigt, an unseren nächs-ten Ballettabend zu denken und ihn möglichst gut über die Bühne zu bringen. ich denke an die Werke, die in dieser Spielzeit herauskommen: Sylvia in amsterdam, Die kleine Meerjungfrau in Moskau oder nun in München Illusionen – wie Schwanensee und vor allem die premiere der Zehnten Sinfonie von Gustav Mahler hier in hamburg. dafür muss ich präsent sein, um sie mit meinen heutigen augen auf den gegenwärtigen Stand zu bringen.

M J Werden Sie etwas an den Illusionen verändern? J N ich verspreche nichts. aber Veränderung ist der Grund, warum ich immer weiter arbeite. tanz ist Be-wegung – alles ist möglich.

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Weiße Akte, heilige Kuh? Mit Illusionen – wie Schwanensee revolutionierte John Neumeier den Klassiker des Hand-lungsballetts.

Foto: Holger Badekow

Klaus Witzeling ist Ballettkritiker des Hamburger Abendblattes

Illusionen – wie SchwanenseeEröffnung der BallettFestwoche am Donnerstag, 21. April 2011, Nationaltheater

Weitere Termine im Spielplan ab S. 90

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* Die erste Choreografie zu Schwanensee stammte von einem Choreografen namens Julius Wenzel Reisinger und wurde zum Desaster. Erst 1894 wurde durch Marius Petipa (1. und 3. Akt) und Lew Iwanow (2. und 4. Akt) zu Tschaikowskys Komposition eine ebenbürtige Choreografie erschaffen, die sich bis heute behauptet.


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