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Maihold, G., & Brombacher, D. (Hrsg.). (2013). Gewalt, organisierte Kriminalität und Staat in...

Date post: 23-Dec-2016
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REZENSION Z Außen Sicherheitspolit DOI 10.1007/s12399-014-0393-0 © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014 Prof. Dr. K. Bodemer () GIGA, Institut für Lateinamerika-Studien, Neuer Jungfernstieg 21, 20354 Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected] Maihold, G., & Brombacher, D. (Hrsg.). (2013). Gewalt, organisierte Kriminalität und Staat in Lateinamerika. Opladen-Berlin-Toronto: Barbara Budrich, 398 S., ISBN: 978-3847400196, € 36,- Klaus Bodemer Der lateinamerikanische Subkontinent gilt heute als die gewalttätigste Region des Glo- bus. Die Formen der Gewalt, bereits um die Jahrtausendwende in einer Studie der Inter- amerikanischen Entwicklungsbank als „Angriff auf die Entwicklung“ apostrophiert, sind vielfältig und reichen von Alltagskriminalität über die verschiedenen Formen der organi- sierten Kriminalität (Drogenhandel, Waffen- und Menschenhandel) bis hin zu „weiche- ren“ Formen der Gewalt wie Korruption, Geldwäsche, Erpressung, illegaler Autohandel und Schwäche des Justizsystems. Nach Umfragen des Latinobarómetro sieht eine Mehr- heit der Menschen in Lateinamerika die alltägliche Gewalt und organisierte Krimina- lität inzwischen als größere Gefahr in ihrem Leben als drohende Arbeitslosigkeit. Der Staat und seine Sicherheitsorgane sind überfordert; das Militär wird häufig zum zentralen Akteur der Verbrechensbekämpfung. Mit dem Versprechen einer starken Hand lassen sich heute von Mexiko bis Argentinien erhebliche Wählerstimmen mobilisieren, obwohl diese Strategie der Null-Toleranz bislang durchweg versagt hat. Die bisherigen Erfolge der von den lateinamerikanischen Regierungen verfolgten Strategien der Gewaltbekämpfung sind mehrheitlich eher bescheiden, dies nicht zuletzt auch deshalb, weil der Staat, dem de jure das Monopol der Gewaltausübung zusteht, entweder zur Durchsetzung des Rechts zu schwach ist, eine falsche Strategie verfolgt oder sogar selbst Teil des Problems ist, d. h. in Teilen mit der organisierten Kriminalität auf das Engste verstrickt ist. An dem geschilderten Sachverhalt setzt der von dem Politikwissenschaftler Günther Maihold, Stellvertretender Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik und gegen- wärtig Inhaber des Alexander von Humboldt-Lehrstuhls am Colegio de México in Mexiko, und Daniel Brombacher, Berater bei der Deutschen Gesellschaft für Interna- tionale Zusammenarbeit (GIZ), herausgegebene Sammelband an. Er ist einzuordnen in das Forschungsprogramm des an der Freien Universität Berlin angesiedelten Sonderfor-
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Rezension

Z Außen SicherheitspolitDOI 10.1007/s12399-014-0393-0

© Springer Fachmedien Wiesbaden 2014

Prof. Dr. K. Bodemer ()GIGA, Institut für Lateinamerika-Studien, Neuer Jungfernstieg 21, 20354 Hamburg, DeutschlandE-Mail: [email protected]

Maihold, G., & Brombacher, D. (Hrsg.). (2013). Gewalt, organisierte Kriminalität und Staat in Lateinamerika. Opladen-Berlin-Toronto: Barbara Budrich, 398 S., ISBN: 978-3847400196, € 36,-

Klaus Bodemer

Der lateinamerikanische Subkontinent gilt heute als die gewalttätigste Region des Glo-bus. Die Formen der Gewalt, bereits um die Jahrtausendwende in einer Studie der Inter-amerikanischen Entwicklungsbank als „Angriff auf die Entwicklung“ apostrophiert, sind vielfältig und reichen von Alltagskriminalität über die verschiedenen Formen der organi-sierten Kriminalität (Drogenhandel, Waffen- und Menschenhandel) bis hin zu „weiche-ren“ Formen der Gewalt wie Korruption, Geldwäsche, Erpressung, illegaler Autohandel und Schwäche des Justizsystems. Nach Umfragen des Latinobarómetro sieht eine Mehr-heit der Menschen in Lateinamerika die alltägliche Gewalt und organisierte Krimina-lität inzwischen als größere Gefahr in ihrem Leben als drohende Arbeitslosigkeit. Der Staat und seine Sicherheitsorgane sind überfordert; das Militär wird häufig zum zentralen Akteur der Verbrechensbekämpfung. Mit dem Versprechen einer starken Hand lassen sich heute von Mexiko bis Argentinien erhebliche Wählerstimmen mobilisieren, obwohl diese Strategie der Null-Toleranz bislang durchweg versagt hat. Die bisherigen Erfolge der von den lateinamerikanischen Regierungen verfolgten Strategien der Gewaltbekämpfung sind mehrheitlich eher bescheiden, dies nicht zuletzt auch deshalb, weil der Staat, dem de jure das Monopol der Gewaltausübung zusteht, entweder zur Durchsetzung des Rechts zu schwach ist, eine falsche Strategie verfolgt oder sogar selbst Teil des Problems ist, d. h. in Teilen mit der organisierten Kriminalität auf das Engste verstrickt ist.

An dem geschilderten Sachverhalt setzt der von dem Politikwissenschaftler Günther Maihold, Stellvertretender Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik und gegen-wärtig Inhaber des Alexander von Humboldt-Lehrstuhls am Colegio de México in Mexiko, und Daniel Brombacher, Berater bei der Deutschen Gesellschaft für Interna-tionale Zusammenarbeit (GIZ), herausgegebene Sammelband an. Er ist einzuordnen in das Forschungsprogramm des an der Freien Universität Berlin angesiedelten Sonderfor-

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schungsbereichs 700 – Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit.1 Im Zentrum des Bandes steht die Frage nach den Verbindungen zwischen organisierter Kriminalität und den lateinamerikanischen Staaten sowie der Gewalt, die von diesen ausgeht. In ihrem einleitenden konzeptionellen Beitrag begründen Maihold und Brombacher überzeugend, warum der Staat nicht lediglich als Kontextvariable und als Gegenüber der organisierten Kriminalität begriffen werden kann, sondern vielmehr als Teil des Problems zu begreifen ist. Organisierte Kriminalität zeichne sich nämlich dadurch aus, „dass sie in der Lage ist, staatliches Handeln zu unterminieren oder dieses sogar für ihre eigenen Zwecke dienstbar zu machen; sie lebt von ihrer gleichzeitigen Tätigkeit im legalen und illegalen Bereich“ (S. 19). In den folgenden 15 Einzelbeiträgen, allesamt verfasst von ausgewie-senen ExpertInnen mit einschlägigem Forschungshintergrund, werden die verschiedenen Facetten der organisierten Kriminalität und ihre Verflechtung mit staatlichen Sektoren und transnationalen Netzwerken im Detail behandelt. Dies reicht von 1) der Analyse der Handelsrouten und Strukturen der organisierten Kriminalität über 2) den Menschen-, Waffen- und Drogenhandel bis zu 3) den Beschränkungen transparenten und demokra-tisch verantwortlichen staatlichen Handelns in Gestalt von Korruption und Straflosigkeit sowie der staatlichen Bevorzugung repressiver Gegenstrategien bzw. zu kurz greifender Reformen des Sicherheitsapparats, verdeutlicht an jüngst implementierten Polizeirefor-men in Mexiko und Brasilien. Wo der Staat als Inhaber des Gewaltmonopols versagt oder gar selbst als Akteur organisierter Kriminalität handelt, bilden sich, wie die Fallstudien im Detail nachweisen, Räume strategischer (Un-)Sicherheit heraus, die kriminelle Orga-nisationen dazu nutzen, um neben der Regulierung illegaler Aktivitäten auch staatliche Funktionen wahrzunehmen. Der organisierten Kriminalität gelingt es damit nicht nur, staatliches Handeln zu unterminieren oder für eigene Zwecke zu nutzen, sie lebt darüber hinaus von ihrer gleichzeitigen Tätigkeit im legalen und illegalen Bereich.

Die von Maihold und Brombacher eingenommene Governance-Perspektive erlaubt es, den Blick jenseits der Fixierung auf den Staat auch auf nicht-staatliche und externe Akteure zu öffnen. Damit gelingt es überzeugend, die vielschichtige Verflechtung von Gewalt, organisierter Kriminalität und Staat in Lateinamerika analytisch zu erfassen und darauf aufbauende konstruktive Vorschläge der Gewalt- und Kriminalitätsbekämpfung in Richtung einer security governance zu unterbreiten. Der Staat müsse, so Maihold im Schlusskapitel, Präsenz dadurch erlangen, dass er eine Art Modus Vivendi mit den Verbrecherakteuren nach dem Prinzip des „leben und leben lassen“ organisiert – eine provokante, rechtsstaatlich problematische, aber angesichts der Macht des organisierten Verbrechens in Lateinamerika wohl leider realistische Empfehlung. Dies gilt zumindest für Mexiko, das Maihold wohl in erster Linie als Anschauungsobjekt seiner These dient. Hier hat die Macht der rivalisierenden Drogen-Kartelle inzwischen einen Grad erreicht, der manchen Beobachter – in der Einschätzung Maiholds „fälschlicherweise“ – von einem gescheiterten Staat (failed state) sprechen lässt.

Insgesamt werden die Erfolgsaussichten einer wie auch immer gewandeten staatlichen Strategie gegen das organisierte Verbrechen angesichts der „begrenzten Staatlichkeit“ in der Subregion und der symbiotischen Beziehung zwischen organisierter Kriminalität und

1 Mehr Informationen zu dem Forschungsprogramm können unter www.sfb-governance.de ein-gesehen werden.

Maihold, G., & Brombacher, D. (Hrsg.). (2013)

Institutionen des Staates eher skeptisch beurteilt. Konstruktiv gewendet geht es letztlich, wie Günther Maihold im Schlusskapitel unterstreicht, um die Durchsetzung von akzep-tierten und auch implementierten Regeln, die zusätzlich Vertrauen schaffen sowie um die Einübung einer verantwortlichen demokratischen Kultur auf der Basis einer aktiven Bür-gergesellschaft. Diese Einübung kann, so wäre zu ergänzen, jedoch nur da gelingen, wo bereits ein Mindestmaß an Sicherheit vor alltäglicher und organisierter Gewalt gewähr-leistet ist – womit wir letztlich bei der Frage landen, was zuerst da war: die Henne oder das Ei.

Insgesamt schließt der Sammelband mit seiner Fokussierung auf die (beschränkte) Leistungsfähigkeit des lateinamerikanischen Staates und seine ambivalenten Beziehungen zur organisierten Kriminalität ohne Zweifel eine Forschungslücke. Er hebt sich wohltu-end ab von manch anderer Veröffentlichung, die im Gefolge einer oft reißerisch auf-gemachten Medienberichterstattung die komplexen Gewaltphänomene in Lateinamerika (und anderswo) monokausal verkürzt und der Versuchung populistischer Patentrezepte erliegt. Sowohl die konzeptionell weiterführende Einleitung wie auch die mehrheitlich theoretisch gehaltvollen und empirisch fundierten Einzelanalysen zu den verschiedenen Ausprägungsformen organisierter Kriminalität in Lateinamerika und ihrer innerstaatli-chen und transnationalen Verflechtungen sind wichtige, weitere Forschungen anregende Beiträge zur nationalen und internationalen security governance – einer Thematik, die angesichts des transnationalen Charakters der untersuchten Gewaltphänomene auch über Lateinamerika hinaus von wachsender politischer und wissenschaftlicher Bedeutung ist.


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