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Machenschaften mit der eigenen Seele

Date post: 20-Mar-2016
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Autorin Marija Jovanovic, Roman
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EDITION BRIDGES

FÜR MIONA, MEINEN ENGEL

MARIJA JOVANOVIĆ

MACHENSCHAFTEN MIT DER EIGENEN SEELE

AUS DEM SERBISCHEN VON TAMARA GOLUBOVIĆ UND SOPHIA WEISS

Marija Jovanović, Machenschaften mit der eigenen Seele Roman Deutschsprachige Ausgabe ©2011 GolubBooks, Karlsruhe Alle deutschsprachige Rechte vorbehalten Die Originalausgabe erschien unter dem Titel „Spletkarenje sa sopstvenom dušom“, Belgrad, 2000; ©Marija Jovanović Übersetzung: Tamara Golubović, Sophia Weiss Lektorat: Linda Schädler Autorenfoto: ©Marija Jovanović Logo: V-print B.V., Niederlande Umschlagillustration: Milica Jovičić Covergestaltung: Mathias Weise; net-Verlag, Hennef Satz: Kel, BG Druck: V. Lindemann, Offenbach ISBN 978-3-942732-01-7 Printed in Germany

Wenn die Seele sich selbst ken-nen soll, muss sie in eine andere Seele blicken: einen Fremden und einen Feind entdecken wir im Spiegel.

GEORGE SEFERIS

Eine Nacherzählung erhält immer eine Form von Intri-gen. Selbst wenn wir wahrlich ein Erlebnis genauso in unserer Erinnerung wiederbeleben wollen, wie es passiert ist, laufen wir in eine Falle der schlimmsten Art – in die Machenschaften mit der eigenen Seele. Der Anspruch auf „vollkommene Ehrlichkeit“ endet mit einem unbeabsich-tigten Geheimabkommen mit uns selbst; kriecherisch nehmen wir Details weg, fügen sie hinzu, gestalten um und schmeicheln uns selbst dann, wenn wir angeblich innerlich über uns selbst am meisten lästern.

Die Erinnerung ist keine versiegelte Konservendose, die wir je nach Bedarf öffnen können und in der wir im-mer den gleichen Inhalt vorfinden werden; sie wandelt die Vergangenheit um, indem sie ihr die heutige Kennt-nis, Erfahrung und Emotionalität zuschreibt. Deswegen sollten Geschichten über das Vergangene (wobei jeder Augenblick schon Vergangenheit ist; der Fluch der Zeit liegt genau darin, dass wir selten in der Lage sind, den Augenblick, die Unwiederholbarkeit und Fülle der Gegenwart, ohne die Bürde der Vergangenheit und die Ungewissheit der Zukunft festzuhalten und auszuleben), folglich, das Reden über allerlei, nur unter Vorbehalt aufgenommen werden, wie eine Mischung aus einem

Schuss unbeabsichtigter Lügen, einem Schuss tatsächli-chen Vergessens, einem Schuss der Unterwerfung vor der eigenen Eitelkeit und einem ganz kleinen Schuss Ehr-lichkeit, alle verschmolzen zu einer seichten Café Creme, in die wir statt Zucker einen Haufen Machenschaften hinzugeben.

DER ANFANG, DER SICH TEILT: „WANN HAST DU DIR ALLES VERMASSELT,

SAVALITA “ ODER

„WAS NÜTZT ES DEM MENSCHEN, WENN ER DIE GAN-

ZE WELT GEWINNT, ABER SEINE SEELE VERLIERT?“ (MT. 16,24)

Georg Wilhelm Friedrich Hegel ist ein Mann, der mich mit einem Gefühl des absoluten Respekts erfüllt. Auf die typische deutsche Art, akribisch und fleißig, hat er das größte System des Denkens entworfen. Kaum hatte er sich hingesetzt und die Ärmel hochgekrempelt, um sich in die Arbeit zu stürzen, war er mit einem Problem konf-rontiert, das mich derzeit auch quält. Das Problem des Anfangs. Er stellte sich selbst, und auch den Lesern, die Frage, wie man logisch in ein System eintreten solle. Das heißt, man kann nicht einfach so durch den Schornstein oder ein Fenster auf einen Sprung vorbeikommen, son-dern es muss gewisse Ordnung herrschen.

Nichts leichter, scheint es. Aber so ist es nicht. Ganz im Gegenteil, nichts ist schwerer. Das Problem erwies sich als sehr kompliziert und so

wichtig, dass sich sogar ein Hegel den Kopf darüber zer-brach. Er überlegte hin und her, und schließlich ließ er das Problem mit einer vagen und mehrdeutigen Lösung zurück. Es hat sich nämlich herausgestellt, dass es zwei

Anfänge gibt. Schon gut, die Rede ist von einem grandio-sen System und dementsprechend benötigt es wirklich zwei von denen. Aber lassen wir Hegel mal in Ruhe mit seinen Werken ohne richtiges Ende. Er ist nicht irgend-wer. Ich entschuldige mich für meine Unbescheidenheit, aber ich wollte ihn nur als Entschuldigung für meine anfängliche Bifurkation benutzen.

Methodologisch ungezügelt, könnte ich statt der Bi-furkation des Anfangs eine „Trifurkation“ oder „Quattrofurkation“ machen, weil es in der Geschichte immer etwas „davor“ gibt; eine endlose Reihe dieser „Davors“, unzählige Nebenflüsse, die sich gegenseitig erklären. Die Verkettung von Erzählungen ist ein Wirbel, der immer tiefer in die Regression zieht – böse Unend-lichkeit, die entschieden gestoppt werden sollte. Daher schneide ich, ohne weitere Vertiefungen in die „Furkationen“ und Konfabulationen, den Knoten im Ge-wirr ab und fange an.

Ein Segment des Anfangs trennt sich langsam ab, aber es ist ein klitzekleines Bisschen von diesem „Da-vor“, sodass man so tun kann, als gäbe es das nicht. Die-ses Segment bezieht sich auf die Erklärung, wieso ich meine Erzählung mit einem fremden Anfang beginne, warum ich Mario Vargas Llosa zur Hilfe rufe.

Es geht nicht darum, dass es mir unangenehm ist zu fluchen und ich deswegen jemand anderen zitiere und mich hinter einer unumstrittenen Autorität verstecke, sondern darum, dass Llosas Held, Santiago Zavala, eine unvermeidliche und unausweichliche Frage stellt, vor der alle stehen, wenn sie sich an der Schwelle zu den so ge-nannten mittleren, vierziger Jahren befinden und sich

selbst eine interne „Lebensbilanz“ aufstellen, in der die gesamten bisherigen Einnahmen und Ausgaben, Ver-pflichtungen und Forderungen einbezogen sind.

Weil diese Bilanz ein streng vertrauliches seelisch-geschäftliches Geheimnis ist (ganz anders als die Evidenz der laufenden Transaktionen von Erfolgen und Misser-folgen und periodische, gekürzte Testberichte oder Jah-resberichte, die wir anderen über uns geben), ist sie voll-kommen ehrlich und nicht gefälscht. Für diese Bilanz rechnet man nach den Regeln der persönlichen Mathema-tik, wobei jeder die beruhigende Unbekannte „x“, „y“ oder „z“ mit dem realen Wert ersetzen muss, damit die Gleichungen am Ende aufgehen.

Also, sich auf den Rücksitz seines Taxis zurückleh-nend, das durch das Elendsviertel von Lima fährt, stellt Santiago alias Zavalita mit Resignation fest, dass ganz Peru und er selbst irgendwann und irgendwo etwas ver-saut hatten.

Er fragt sich, wo und wann. Da ist er. Das ist der Anfang. Llosas Anfang. In meiner Version lautet er: Wann hast du dir alles versaut, Marina? Ich fand die Antwort in einer Höhe von etwa zehn-

tausend Metern, als das Flugzeug von „Olimpic Airways“ auf der Strecke Heraklion-Athen-Belgrad über Thessalo-niki flog.

Ich packte Vasilis‘ Geschenk aus und auf meine Handfläche rutschte ein antikes, goldenes Kreuz mit ei-nem Rubin in der Mitte.

Dann wurde mir klar. Wann und wo und warum. Ich gebe beschämt zu (weil mich jeder öffentliche,

geschweige denn hysterische Gefühlsausbruch, entsetzt), dass ich geweint habe.

Unkontrolliert. Der Tränenausbruch wurde von einer Flugbegleiterin

unterbrochen, die parallel zur unglücklichen Szene einge-troffen war, mit der Frage, was passiert sei und ob ich Hilfe brauche.

Ich hatte genug Verstand, ihr nicht zu antworten: „Meine Seele ist zu Tode betrübt“ (Was für eine Seele, welcher Kleinkram – wir sollen nicht auf der Schwelle zum zweiten Millennium zur Romantik zurückkehren und wollen nicht Verwirrung in unsere schöne, fröhliche, neue Weltordnung bringen, deren Augen auf den Pro-gress und nicht auf die Regression gerichtet sind). Aus Erfahrung wusste ich, dass die medizinische Terminolo-gie eine äußerst beruhigende Wirkung auf Menschen hat, weshalb ich sagte: „Don’t worry. I’m suffering from Slav Syndrome. Everything is under control“.

Es klappte. Die Flugbegleiterin setzte fröhlich ihren Spaziergang durch das Flugzeug fort. Dabei verteilte sie ihr glänzendes, professionelles Lächeln gleichmäßig auf alle Passagiere.

Obwohl das Syntagma „slawisches Syndrom“ ad hoc entworfen wurde, um die Situation zu beruhigen, hat es in der Tat meinen Zustand genau beschrieben. Bei allem Respekt gegenüber den anderen, nur einem Slawen könn-te es einfallen, dass der Mensch so breit ist, dass man ihn schmaler machen sollte. Er dachte nämlich an die Seele.

Zum Zeitpunkt der Erleuchtung brauchte ich wirk-lich eine schmalere Seele, weil weniger Schmerzen in sie hineingepasst hätten. Und so hat sie sich gefüllt und ge-füllt und gefüllt; sie schwoll immer mehr an, wie ein riesiger Zeppelin. Es bestand die Gefahr, dass die Seele einfach die Körperschale durchbricht und als unabhängi-ges Wesen weiterwächst.

Diese Vision hat mich mit schwacher Panik erfüllt, die aber schnell Platz für Erleichterung machte; nach langer Zeit hatte ich den unwiderlegbaren Beweis, dass ich meine Seele nicht verloren hatte.

Ich habe zwar nicht die ganze Welt gewonnen, aber ich habe mich auch nicht darum bemüht.

Im Gegenteil. Ganz im Gegenteil.

���� ����

1 Ihre Präsenz habe ich zufällig entdeckt, während ich als vierjähriges Mädchen unter dem Küchentisch spielte. Ich habe den Deckel, der die Kaminöffnung versteckte, ge-hoben und gesehen, wie sie kicherten, eingerollt, klein und süß, süßer als Lutscher, sogar süßer als die Zucker-watte, die ich auf dem Weihnachtsmarkt gegessen hatte. Sie waren glücklich, dass ich sie gefunden hatte und dass sie sich mir als nützlich erweisen konnten. Diese „Men-schlein“, diese Homunculi, habe ich „Schumschel“ ge-tauft. Diese Form des Namens, der unbestimmten Singu-lar-Plural-Zahl, bezog sich auf einen, aber genauso auch auf alle neun.

Lautlos und unsichtbar für alle außer für mich sind die „Schumschel“ meine treuen Assistenten geworden. Unter anderem gaben sie mir die Macht, den Lauf der Gedanken anderer zu beeinflussen.

Katharina, meine zwei Jahre ältere Schwester, die in dieses Geheimnis eingeweiht war, hat eine ungeheure Menge Energie darauf verwandt, mich zu überzeugen, dass „Schumschel“ nicht existieren und ich nichts und niemanden lenke, sondern die Dinge ihren eigenen Lauf nehmen. Katharinas Vernünftigkeit hat die Schlacht an-gesichts schlagender Beweise verloren. Es war genug, die Augen zu schließen und ihnen zuzuflüstern, was ich woll-te; und das hat sich, egal, wie unwahrscheinlich es sein mag, mit Hilfe der „Schumschel“ realisiert.

Am Anfang der sechsten Klasse zogen wir aus der alten Wohnung aus.

Die „Schumschel“ sind nicht in die neue Wohnung mitgekommen.

Der Zauber war weg. Der Goldstaub ist von mir abgefallen. Ich wurde ein ganz normales Mädchen.

2

Als meine Eltern mir und Katharina feierlich verkünde-ten, dass wir den Sommer 1975 in Griechenland verbrin-gen würden, war ich vor Freude und Aufregung sprach-los.

Die angekündigte Reise sah wie ein Geschenk des Himmels aus, so unerwartet und plötzlich, dass ich für einen Augenblick dachte, dass die „Schumschel“ aus meiner fernen Vergangenheit wieder zur Hilfe gekom-men seien, wieder mit Triumph ihren spitzbübischen Betrug vollgezogen und Mama und Papa meinen Wunsch als ihre unabhängige Entscheidung „eingepflanzt“ hatten. Natürlich gehörten die „Schumschel“ zu meiner fernen Vergangenheit – für ein sechzehnjähriges Mädchen ist die Zeit (ansonsten ein schwer fassbares Phänomen, des-sen Lauf mit den ausgewogenen Schlägen der Uhr scheinbar objektiv gemessen wird) eine willkürliche Ka-tegorie, eine völlig subjektive Wahrnehmung, weshalb auch die unmittelbare Vergangenheit im ontogenetischen Mesozoikum untergebracht wird.

Kurz davor habe ich einen Umwandlungsprozess durchgemacht. Ich war ungeduldig, die ganzen Geheim-

nisse zwischen den Reihen der gedruckten Zeilen zu ent-hüllen, lernte sehr früh lesen und entledigte mich damit der Abhängigkeit von der wankelmütigen Bereitschaft meiner bisherigen Vorleser und ihrer, meiner Meinung nach, untalentierten und wenig gewissenhaften Verrich-tung ihrer heiligen Pflicht. Die damalige Welt der Phan-tasie, deren Charaktere und Ereignisse mich überfluteten und dabei zuallererst aus Dutzenden von Bänden der Edition „Schönste Märchen des Welt“ herausquollen, bereicherte sich danach an meiner chaotischen Auswahl der Lektüre, die durch ihre ungewollte, aber unbestreitba-re Eigenartigkeit einen exzentrischen Bücherwurm aus mir machte – diese Welt, die als ungesund hungrige, fleischfressende Pflanze gewachsen war, habe ich mit der Liebe zu Hellas getauscht. Es war ein logischer und na-türlicher Ersatz, der im richtigen Moment erfolgte. Ich fühlte schon, dass mein Verhalten von dem meiner Al-tersgenossen abweichte. Absoluter Mangel an Realitäts-sinn machte mich wirr und lächerlich. Meine neuen Ob-sessionen, Athen und Sparta, hatten den Vorteil, dass sie keine Frucht der Phantasie waren. Sie existierten wirk-lich.

Wegen Athen und Sparta habe ich mich im Voraus und für immer, noch vor jeder Erfahrung und bevor ich den Fuß auf seinen Boden setzte, in Griechenland ver-liebt, auf eine solche Art und Weise, wie ein neurotischer Einzelgänger seinen einzigen Freund umarmt – hyste-risch und schmerzhaft.

3 In meinen Händen ist ein Schwarz-Weiß-Foto in kleinem Format.

Ein dünnes, hellhaariges Mädchen lächelt unsicher und schaut direkt in das magische schwarze Auge der Kamera und somit direkt in jeden künftigen Beobachter. In mich, jetzt.

Dieses Mädchen bin ich. Katharina hatte mich am ersten Tag, als wir in Mihanona, einem kleinen Dorf in der Nähe von Thessaloniki, angekommen sind, fotogra-fiert.

Ich beobachte es mit einer seltsamen Mischung aus Liebe, Wut und Mitleid, und zwar einer solchen Mi-schung, wie es bei Eltern die auffällige Unbeholfenheit ihres Kindes hervorruft. Gleichzeitig möchte ich die Haa-re dieses Schattens, der aus der Vergangenheit hervorge-holt worden ist, tätscheln und ihm aus sicherer Entfer-nung eines bereits durchlaufenen Lebensweges sagen: Fürchte dich nicht; all dies wird vorübergehen. Die Welt ist nicht so grauenhaft, wie du jetzt denkst. Und obwohl ich weiß, dass das Mädchen nicht schuld ist, weil es wirklich nicht anders kann, möchte ich meinem Zorn nervös freien Lauf lassen: Wach auf, um Gottes Willen, öffne dich, passe dich an; was macht dir so viel Angst…

Ich beobachte es wie gebannt, obwohl ich weiß, dass ich damit ein gut bekanntes, gefährliches Spiel anfangen werde, in dem ich ein ewiger Verlierer bin. Trotzdem stürze ich mich hinein, um das Spiel zu Ende zu spielen, wie ein leidenschaftlicher Spieler, der überzeugt ist, dass

er es genau dieses Mal schaffen wird, das Verlorene wiederzugewinnen.

Ich weiß, dass ich an den Tag im August ‘75 zurück-kehren werde; dass die Grenzen zwischen meinem Ich von jetzt und damals verschwinden werden; dass die Seele, die ich zusammen mit den alten Briefen sorgfältig vor mir selbst in der untersten Schublade verborgen habe, zum Leben erweckt werden wird und mich, gegen mei-nen Willen, als eine temporäre Wohnanlage besetzen wird. Ich weiß, dass ich sie bitten werde: Es reicht. Ich habe dich befreit, befreie du mich auch; komme nicht mehr zu mir; ziehe in den Traum um, dort wo Derjenige, dessentwegen sich Felsen bewegen, wohnt, und bleibt dort zusammen; besucht mich nur in Vollmondnächten. Und ich weiß, sie wird nicht weggehen.

Die Wahrheit ist, dass große Steine nicht bewegt werden sollten. Die Wahrheit ist, dass jeder, der sie an-packt, jeder, der ein eingesacktes Gewicht verrückt, untergeht. Ich habe es aber bewegt.

Ich werde wieder zu dem sechzehnjährigen Mäd-chen, das gleich bei der Ankunft auf die Terrasse des gemieteten Hauses in Mihanona hinausgegangen ist.

Da fing alles an.

4 Im schattigen Garten des Restaurants auf der anderen Straßenseite saß ein schwarzhaariger junger Mann, der mich unaufhörlich beobachtete. Man konnte sehen, dass er das natürliche Zentrum der lauten Gruppe war, die sich um den Tisch versammelt hatte; dennoch wirkte er unan-

tastbar – abwesend, wie dem Geschehen entrückt und losgelöst.

Die Wärme der ruhigen, großen Augen und das auf-dringliche, fast schon freche Temperament der vollen, betonten Lippen flossen auf seinem Gesicht harmonisch in eine Einheit, die eine aufregende und beunruhigende Schönheit ausstrahlte.

Ich rannte in seinen Blick wie in eine Umarmung. Unsere Geister flüsterten einander etwas zu, in einer An-sprache ohne Worte, berührten sich und verständigten sich, noch bevor wir uns dessen bewusst waren.

Ohne das Einfließen von Gedanken und Gesinnun-gen wurde mir in einem Augenblick wie ein wertvolles Geschenk, zu dem ich ohne Mühe und Arbeit kam, das Wissen zuteil, dass Er, der Unbekannte, mein Schicksal war.

Ich bückte mich, um etwas scheinbar vom Boden aufzuheben und konnte die bevorstehende Katastrophe fühlen, deren Verlauf mir gut bekannt war: Zuerst über-flutet mich ein Gefühl von Scham, und dann, als wäre es nicht genug des inneren Elends, bricht es triumphal an die Oberfläche – und zwar nicht der reizende rosarote Ton, der die Wangen umspielt, sondern die Glut und Brunst glühender Lava, „eine bäuerliche Röte von Zie-gelsteinen“, die vom Hals über das Gesicht klettert, bis auch der Scheitel im weißen Haar zu einer dünnen pur-purnen Faser wird.

Wie sehr habe ich mich deswegen gehasst, wie oft habe ich traurig, wütend, bitterlich geweint: Warum hast du dich nicht im Griff, dumme Gans, wie kannst du dich so blamieren, alle sehen dich an, deinetwegen ist es allen

unangenehm, sieh dich doch an, du hast auch nichts ande-res verdient. Wie oft bin ich plötzlich verschwunden, ohne Erklärung und Entschuldigung, ohne Rücksicht darauf, wer da war, nur um mein purpurnes Gesicht zu verstecken, auf dem die Spuren der verwilderten Schüch-ternheit stundenlang in Form von widerlichen, roten Stempeln bleiben würden, samt der lauten Verwunderung meiner Mutter: Ich weiß nun wirklich nicht, was mit die-sem Kind los ist, springt und verschwindet einfach so, rennt in die Tür so ungeschickt und verloren, wie sie ist, eines Tages wird sie sich den Hals brechen.

(Viel später, als sie schon nicht mehr verstand, was um sie herum passierte, hat sich ihre Prophezeiung er-füllt, fast ganz sogar.)

5 Ich rannte ins Zimmer. Ich hörte die Stimmen meiner Eltern, die aus der Küche kamen, bemerkte, wie die Son-ne ins Halbdunkel des Zimmers durch die schmalen hori-zontalen, löchrigen kleinen Öffnungen in den herunterge-lassenen Jalousien drang, sah die unausgepackten Koffer an und die gerade eben geöffneten, leeren Schränke, mit einer Reihe Aufhänger, die immer noch ein bisschen schaukelten, und all das wirkte auf mich wie ein unpas-sender und ärmlicher Rahmen, in dessen Zentrum sich mein Herz befand, das den ganzen Raum mit seinen stumpfen, starken Schlägen erfüllte.

Ich stahl mich zu den Jalousien und lugte durch die Löchlein. Er war immer noch im Garten. Er redete mit seinen Freunden und warf ab und zu einen Blick auf un-

sere Terrasse. Er wartet darauf, dass ich wieder heraus-komme, dachte ich mit einer Überzeugung, die drastisch von meiner allgemeinen Unsicherheit abwich. Kurz da-nach standen sie auf und gingen, womit sie aus meinem begrenzten, löchrigen Sichtfeld verschwanden. Beim Weggehen drehte er sich um, als würde er sich von mir verabschieden. Ich wusste, dass wir uns wiedersehen würden.

6 Am nächsten Tag, im selben Garten.

Alle waren am Strand außer mir, dem albino-hellhäutigen, gehorsamen Gefangenen der Sonne.

In ein Buch vertieft, hörte ich nicht das Geräusch der Schritte, die sich mir näherten.

„Hello, I am Vasilis. May I sit at your table?“, ließ mich eine tiefe, etwas heisere Stimme hochfahren.

Er. Vasilis, der Schöne, dachte ich. (Die Essenz der Märchenwelt, die Königin meiner

Kindheit war Wassilissa, die Schöne. Genau deswegen blieb ihr Charakter ein Geheimnis; das unergründliche Flackern. Wenn ich versuchte, sie mir vorzustellen, tauc-hte sie gleitend zu mir auf – und zwar zwingend gleitend, denn als die Schöne musste bei ihr alles anders sein, des-wegen schritt sie nicht, sondern glitt. Aber ihr Gesicht schimmerte in einem derartigen Glanz, dass es mir nie gelang, sie deutlich zu sehen.)

Statt Wassilissa, Vasilis. Gleich – der Schöne.

Er krönte meinen festen, kindlichen Glauben an die Wahrhaftigkeit der jungen, anmutigen Prinzen, goldenen Äpfel, guten Feen, Hexen und Drachen. Ein verspäteter, aber willkommener Beweis.

Ein letztes Geschenk der „Schumschel“, dachte ich. Ich hörte ihr fröhliches Lachen der Zustimmung.

7 Vasilis spazierte in mein Leben durch eine weit geöffnete Tür, die bisher für jeden verschlossen gewesen war. Der erste unbekannte Mensch, dessen Anwesenheit keine beängstigende Panik auslöste. Ich wurde nicht rot. Meine Handflächen wurden nicht schwitzig. Nur ein paar kleine Schmetterlinge flogen in meinem Bauch umher.

„Wie heißt du?“ „Marina“, sagte ich. „Marina, Marina, Marina“, sprach er es aus, als wür-

de er den Geschmack des Namens in seinem Mund zer-gehen lassen.

„Marina, wie das Meer. Passt zu dir.“ Bevor es mir gelang, etwas zu sagen, machte er das,

was mich beim ersten Mal überraschte, an das ich mich jedoch mit den Jahren gewöhnte. Er machte seine Augen zu und fing an, während ihm die Zigarette zwischen den Fingern verglühte, leise vor sich hin zu singen, so für sich, bis zum Ende hingebungsvoll. Dann machte er die Augen auf, wieder wach, und wiederholte: Marina, Mari-na, Marina…

Pythagoras stellte sich den Kosmos wie eine große Spieluhr vor. Die Planeten, nach den Gesetzen der musi-

kalischen Intervalle im Weltall verteilt, erstellen die Kon-sonanz der Sphären, eine Melodie, die der Mensch ledig-lich unterstützt. Vasilis wurde von der Musik der Sphären gerufen; er fand sie in sich.

Alles, was er ausdrücken wollte, alles, was er fühlte, übertrug sich durch sie. Er erkannte seinen Grundton und folgte ihm, wobei er eine harmonische Einheit erschuf, in die er jeden neuen Eindruck zurechtlegte.

(Auf Gottes unergründlichen Wegen erwachte die Musik, als Ruf und Lebensentwurf, durch Sarah, eine Person, der es gelang, mein Herz zu füllen wie damals Vasilis.)

Meinen Namen sang er wie eine modellierende Se-quenz, eine Brücke zwischen den Grundthemen; es war offensichtlich, dass ihm das Resultat gefiel und die The-men in ein kontrapunktisches Gefüge einflossen.

8

Wie alt bist du, sechzehn, sage ich, und du, frage ich, neunzehn. Schülerin, fragt er, ja, sage ich, ich bin gerade mit der zehnten Klasse des Gymnasiums fertig, schön, sagt er, er arbeitet als DJ, hat eine Band, sagt er, sie ha-ben schon ein Demoband gemacht, vielleicht wird etwas daraus. Magst du Rock’n’Roll, fragt er mich, magst du die Stones, fragt er. Nicht so richtig, stottert der kleine, ordentliche Abonnent der „Musikjugend“; wirklich, fragt Vasilis der Schöne, wirklich, sage ich, aber dafür liest du gerne, oder, stellt er fest, und blättert die Seiten des Bu-ches um (und im Augenwinkel funkelt nicht etwa Spott, sondern eine echte Zuneigung jemandem gegenüber, der

derart anders ist); ich nicke, und er, als würde er mir da-mit Vergebung gewähren, als hätten wir damit das Pro-blem meines Zutritts zu seiner Welt geklärt, sagt ok, Mu-sik, oder Bücher, Hauptsache du hast dein Versteck.

Was für ein göttliches Schlagwort! Jetzt hätte ich mit einer Antwort herbeieilen sollen, etwas Schönes und Schlaues sagen, was meine Originalität in vollem Glanz veranschaulichen sollte, was ihn von den Beinen reißen würde. Als ich jedoch versuchte, mein übliches Spiel zu verbalisieren, in dem ich geschickt und leicht mit einer Unmenge an fantastischen Vorstellungen und konkreten Fakten spielte, die sich in einem überfüllten, aber mit Gesprächen nie entleertem Kopf angestaut hatten, als ich die Gelegenheit bekam, diesen Galimathias über den schmalen Balken der Artikulation zu wuchten, bekam ich Panik. Ich buddelte hoffnungslos, hysterisch, nach einem passenden Thema suchend, aber mein Gehirn verwandelte sich in unfruchtbaren Wüstensand, ohne jede Spur von Leben, ohne irgendwas, was man aus ihm her-aus kramen könnte. Ich ließ den Kopf sinken, damit mei-ne langen Haare wie ein Vorhang fallen und mein Ge-sicht verstecken würden; ich drehte beharrlich und zielsi-cher eine Haarsträhne ein, als würde ich eine Arbeit erle-digen, von der mein Leben abhing. Und schwieg. Er wird gehen, dachte ich, er bereut es, dass er überhaupt zu so einer Vollidiotin gekommen ist. Aber er ging nicht. Offensichtlich störte ihn die Stille zwischen uns nicht.

Ich fasste Mut und sah ihn von unten an. Von der Sonne blinzelnd betrachtete er das Meer. Es sah so aus, als wäre er mit seinen Gedanken weit weg und sei sich meiner Existenz nicht bewusst. Dann drehte er sich um

und richtete sein aufmunterndes Lächeln an mich, voller Wärme – entspann dich, es ist alles ok.

Er wird nicht gehen, dachte ich, erleichtert. Und so begann es. Ich fragte ihn, viel später, eines Nachts auf Kreta,

warum er zu mir gekommen war; was er in mir, so wie ich damals gewesen war, gesehen hatte.

„Dich“, sagte er gelassen.

Marija Jovanović, Jahrgang 1959, hat Ihr Studium der Philosophie an der Philosophischen Fakultät in Belgrad abgeschlossen. Sie lebt und arbeitet in Belgrad.

Marija Jovanović hat bisher vier Romane veröffentlicht. Für den Roman

„Machenschaften mit der eigenen Seele“ hat sie den Literaturpreis „Frauenfeder“ erhalten. Sie ist mehrfache Gewinnerin des Preises für Kultur und Kunst „Der Goldene Hit Liber“. Der Roman „Machenschaften mit der eigenen Seele“ ist im Verlag L'Age d'Homme im2003 auf Französisch erschienen (fr. Quand j’intrigue avec mon âme).

, Jahrgang 1959, hat Ihr Studium der Philosophie an der Philo-sophischen Fakultät in Belgrad abgeschlossen. Sie lebt und arbeitet in Belgrad.

Marija Jovanović hat bisher vier Romane veröf-fentlicht. Für den Roman

„Machenschaften mit der eigenen Seele“ hat sie den Literaturpreis „Frauenfeder“ erhalten. Sie ist mehrfache Gewinnerin des Preises für Kultur und Kunst „Der Goldene Hit Liber“. Der Roman „Machenschaften mit

Jahr Quand j’intrigue


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