Sonntag, 27. Juli 2014 (20:05-21:00 Uhr), KW 30
Deutschlandfunk / Abt. Musik und Information
FREISTIL
‚Spaß statt Zukunft - Jugendkultur im Deutschland der 90er Jahre’
Eine Sendung von Meinhard Stark
Regie: Nikolai von Koslowski
Redaktion: Klaus Pilger
[Wiederholung einer Co-Produktion mit dem RBB 2011]
M a n u s k r i p t
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©
- ggf. unkorrigiertes Exemplar -
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O-Ton – Collage
1. O-Ton Jugendliche auf dem Alexanderplatz (Gesang)
„So ein Tag, so wunderschön wie heute...“
2. O-Ton Oskar Lafontaine
„Die Sozialdemokratische Partei hat vielfältig dazu aufgefordert, dass die Bundesregierung die
Kosten der deutschen Wiedervereinigung beziffert.
3. O-Ton Umfrage auf dem Alexanderplatz
Reporter: Wieso seid ihr heute auf dem Alexanderplatz gekommen?
Mädchen: Weil wir das miterleben wollen, ja. Die D-Mark ist gekommen, wollen wir miterleben
was so passiert hier, wa.
Frau: Das ist die Stunde Null für uns. Es beginnt ein neues Leben. Das ist schön, da haben wir
vierzig Jahre drauf gewartet
Musik – Paul van Dyk (darüber)
ANSAGE: Spaß statt Zukunft
Reporter: Frau Sachse, McDonalds kommt jetzt auch in die DDR. Warum so spät?
ANSAGE: Jugendkultur im Deutschland der 90er Jahre
Musik: Scooter - Hyper Hyper
ANSAGE: Feature von Meinhard Stark
Musik: Ende
O-Ton Helmut Kohl:
Also wir warten lieber ab was da kommt, und man weiß nicht wie es weiter geht und bevor es
nicht weitergeht, erkennbar wie wir es wünschen, tun wir am besten gar nichts.
Musik: Paul van Dyk – Seven ways (darüber)
[Einführung, Vorstellung und The Wall in Berlin, Juli 1990]
O-Ton Linda
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Der Anfang der 90er war so ‘ne Aufbruchsstimmung. (...) Dann, (...) hieß es, war ‘s das Ende der
Geschichte, weil dieser große Konflikt, (...) dieser Kalte Krieg, der war vorbei. (...) Und diese gan-
zen 90er Jahre, ja, gab es kein eindeutiges Gut und Böse.
O-Ton Oliver
Dieses Hineinleben (...) in den Kapitalismus, das Erfahren und Zurechtkommen in dieser neuen
Gesellschaftsform - das war im Prinzip das Prägende der 90er, ja.
O-Ton Chris
Die 90er warn ‘ne harte Zeit. (...) Ich hatte viel Ärger mit Gangs, weil die irgendwie Schwarze und
Amerikaner nicht mochten. (...) Hab mich nicht sicher gefühlt in der Zeit.
Musik: Ende
O-Ton Sebastian Krumbiegel
Was damals passiert ist, Anfang der 90er Jahre, ha ‘m wir - glaub ich - damals gar nicht so richtig
mitgekriegt, weil das alles ein unglaublicher Film war, in dem wir warn.
Musik: Pink Floyd – The Wall, darüber
OT-1 Pink Floyd – The Wall in Berlin, 21.07.1990
Moderator: Rockshow der Superlative mitten in Berlin, früher Potsdamer Platz, dann Niemands-
land und Todesstreifen. The Wall, diesmal eine ganz und gar künstliche Mauer, die am Ende fällt,
so wie die wirkliche Mauer im November.
O-Ton Pink Floyd – The Wall in Berlin, 21.07.1990
Jugendlicher II: Ja, ich bin begeischtert, hab noch nichts Besseres gehört, nix in der Dimension.
Musikwechsel: Pink Floyd – We don`t need no education, darüber
O-Ton: Konzert „The Wall von Pink Floyd in Berlin, 1990-07-22
O-Ton Moderator:
Im Fernsehen sicherlich eine gute Show mit starker Message, auf dem Platz ein Riesenflop der
beinahe im Staub untergegangen wäre.
Musikwechsel: Kris Kross – „Jump, Jump“, darüber
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O-Ton Hannah
Es geht nicht darum, dem Mainstream zu entsprechen, oder ‘nem bestimmten Schönheitsideal
zu entsprechen. Also, das war ganz wichtig. Und das ist immer noch wichtig.
O-Ton Linda
Über Zukunft ham wir nie geredet, so. (lacht)
O-Ton Moritz
Ja, also ich hatte nie konkrete Zukunftspläne, wie mein Leben aussehen wird, in einer bestimm-
ten Zeit. Sondern, ich hab das immer so genommen, wie es kam.
Musik: Ende
O-Ton Sebastian Krumbiegel
Für mich war immer klar: Musik! Was anderes gibt ‘s gar nicht. Ich kann auch nichts anderes.
Musik: Die Prinzen – „Schwein sein“, darüber:
O-Ton Chris
High, mein Name ist Chris. Ich bin 1978 in Texas geboren, bin seit 1983 in Berlin zuhause und
war in der Hip-Hop-Szene von Anfang an mit dabei.
O-Ton Hannah
Also, ick bin Hannah. Ick kam 1978 in Ostberlin zur Welt, war erst Punk und später Skingirl.
O-Ton Oliver
Ich heiße Oliver, bin Jahrgang 72, geboren in Schwerin und war unterwegs in der Szene für elekt-
ronische Musik.
O-Ton Moritz
(lacht) Also mein Name ist Moritz. Ich bin 1975 in Ostberlin geboren und würde mich eher so
der Punk-Rock und Grunge-Musik-Szene zuordnen.
O-Ton Linda
Ich bin Linda, ich bin 1972 in Westberlin geboren. Und ich hab mich eigentlich nie richtig festge-
legt, sondern mir so alle Szenen mal angeschaut.
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Musik: Die Prinzen „Break“
O-Ton Sebastian Krumbiegel
Ich bin Sebastian Krumbiegel und ich singe seit 20 Jahren bei meiner Lieblingsband, den Prinzen.
(Lachen)
Musik, wieder hoch: Die Prinzen – „Schwein sein“, Ende
[Wiedervereinigung]
Musik: Paul van Dyk – „Seven Ways“, darüber:
O-Ton CNN:
Reporter: You are looking at Berlin...live. In Berlin that in nine minutes time will again be the cap-
itol of the reunified Germany
O-Ton Oliver
Ellenbogengesellschaft, Konsum, was da alles über uns hereinbrach, für mich.
O-Ton: Helmut Kohl, am Abend des 02.10.1990:
Liebe Landsleute, in wenigen Stunden wird ein Traum Wirklichkeit. Nach über vierzig bitteren
Jahren der Teilung ist Deutschland, unser Vaterland wieder vereinigt.
O-Ton Moritz
Also, ich hab die Wiedervereinigung aus damaliger Sicht, nicht als ein positives Ereignis wahrge-
nommen.
O-Ton: Lothar de Maziere, am Abend des 02.10.1990:
Es ist ungewöhnlich, dass sich ein Staat freiwillig aus der Geschichte verabschiedet.
Musik: Ende
O-Ton: Reportage von der Einheitsfeier am Reichstag am Abend des 02.10.1990:
(mit Feuerwerk) Richard von Weizsäcker: In Feierstimmung wollen wir die Einheit von Deutsch-
land vollenden. Für unsere Aufgaben sind wir uns der Verantwortung vor Gott und den Men-
schen bewusst. Wir wollen in einem vereinten Europa in Frieden der Welt dienen.
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Atmo: Gesang der Nationalhymne auf der Feier zur Wiedervereinigung
O-Ton Linda
Der 3. Oktober 1990, den erinner’ ich als sehr goldenen Oktobertag. Und wir war’n auf dieser
Demonstration gegen die Wiedervereinigung, weil wir uns ja auch anderes erhofft hatten. Wir
hatten Angst vor dem Nationalismus, wir hatten Angst vorm Großdeutschland. Ich weiß nicht
mehr genau, wo die lang führte, aber sie endete, glaub ich, am Alex. Und dann kamen die Was-
serwerfer und dann bin ich ganz schnell verschwunden. (lacht)
Atmo: Gegendemo zur Wiedervereinigung
O-Ton Frau:
Mit der Ausweitung des Bullenapparates auf DDR- Territorium fielen auch unsere Freiräume. Für
die Nacht vom zweiten auf den dritten Oktober verordneten die alten neuen Herren über Groß-
deutschland im Herzen Berlins, darüber:
Zwischen Reichstag, Brandenburger Tor und Alexanderplatz sollte der endgültige Sieg der
Marktwirtschaft mit Deutschlandfahnen, Nationalhymnen und, und Volksfest begossen werden.
Rufe & Punkmusik: „Nie wieder Deutschland!“
O-Ton Sebastian Krumbiegel
Unterm Strich mit allen Für und Wider – erst mal Wiedervereinigung Klasse.
Wunderbar, dass es die DDR so nicht mehr gibt.
O-Ton Hannah
Bedingt, denk ich ooch, durch mein Elternhaus hatte ich persönlich keine Angst davor, sondern
eher so, ach jetzt wird ‘s jut. Det wird schon alles, hm.
O-Ton Linda
Ja, es muss meine erste Wahl gewesen sein. Ich war wahnsinnig sauer auf die Ossis. (lacht) Ich
glaube, Helmut Kohl wäre ohne Wiedervereinigung nicht wiedergewählt worden, ohne die Stim-
men der Ostbürger.
[Musik]
Musik: Paul van Dyk – Seven ways & Bodycount - Copkiller
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O-Ton Chris
Musik hat für mich ne Riesenrolle gespielt, weil ich das Gefühl habe, die Musik hat meinen Cha-
rakter geprägt.
O-Ton Hannah
Wat letztendlich immer da war, ist die Musik und zwar Punkrock. Die janze Wut und so, die da
hinter is. Bis heute, also später, heute. (lacht)
OT-28 Chris
Meine Mutter hat das Fuck-Musik genannt, weil jedes dritte Wort „fuck“ war.
(Seine Mutter karikierend) Mach die Fuck-Musik aus! (lacht)
Musik: Cop-Killer - Ende
Musik: Thomaner-Chor Leipzig, „Komm, Jesu, komm“, darüber:
O-Ton Linda
Am Anfang hab ich dunkle Sachen gehört, schnelle harte Sachen, also Bad Religion und New
Model Army und Pixies. Das war’n noch so Sachen, die aus ‘n 80er so rüber kamen. Dann kam
Grunge.
O-Ton Chris
Laut, jedes Lied auswendig gelernt. Nur Ärger mit den Nachbarn. Das war ne Superzeit, also.
O-Ton Sebastian Krumbiegel
Thomaner-Chor, klassische Ausbildung, Johann Sebastian Bach zwei Stunden am Tag gesungen.
Die beste Schule, die man haben kann, um Musik in irgend ‘ner Weise zu lernen.
Musik: Thomaner-Chor - Ende
O-Ton Linda
Ich hatte das Gefühl, alle Musik ist eigentlich schon erfunden worden. Da kann eigentlich nichts
neues mehr komm.
Musik: Die Prinzen: „Millionär“, darüber:
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O-Ton Sebastian Krumbiegel
Du schreibst eben die Texte, die die in den Sinn kommen. Gerade damals „Ich wär’ so gern Mil-
lionär“. Das war eben Anfang der 90er Jahre. Da ging ‘s uns finanziell wirklich nicht gut. Und da
war das sozusagen ein aus dem Leben gegriffener Aufschrei, der in irgend ‘ner Weise natürlich
lustig war, aber der trotzdem auch sehr ernst gemeint war.
O-Ton Oliver
Musik war mein Lebensinhalt.
O-Ton Sebastian Krumbiegel
Hits funktionieren, Hits sind ein Geschenk, Hits sind großartig.
O-Ton Linda
Hauptsache die Musik war nicht Mainstream. Keine Chart-Scheiße.
O-Ton Sebastian Krumbiegel
Hej, „Millionär“, ist schon ganz cool. (Lacht)
Musik Millionär: Ende
[Golfkrieg]
Musik: New Model Army – “Here Comes The War”
O-Ton ARD-Nachricht
Sprecherin: Guten Abend meine Damen und Herren. Nur wenige Stunden nach dem Scheitern
der Gespräche zur Beilegung des Grenzkonflikts, haben irakische Truppen heute Kuwait überfal-
len und das kleine Scheichtum am persischen Golf besetzt.
O-Ton Linda
Ich erinnere mich an diesen Einmarsch von Saddam Husseins Armee nach Kuwait. Und ich fand
das sehr zwiespältig, weil einerseits wusst’ ich, Saddam Hussein ist n Diktator (...) und anderer-
seits, dass sich plötzlich die Amerikaner so fürchterlich darüber aufregen, wo sie doch Saddam
Hussein vorher unterstützt haben. Ja, also es war ganz klar, dass es ums Öl ging.
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O-Ton Oliver
(Atmer) Die ham dem doch ‘ne Deadline gesetzt, bis da und da müssen se irgendwas machen.
Es gab so ’n Ultimatum und das ham die dann verstreichen lassen, dann lief doch richtig die Uhr
runter. Und morgens um vier oder so war das ausgelaufen, wir waren vielleicht einhundert Leute
und schon waren wir ne Demo.
Joseph Brodsky: A Tune for Bosnia / Lied für Bosnien
As you pour yourself a scotch,
crush a roach, or scratch your crotch,
as your hand adjusts your tie,
people die.
In the towns with funny names,
hit by bullets, caught in flames,
by and large not knowing why,
people die.
Sprecher (Übersetzung)
Trinkst du einen Whiskey pur,
Zerdrückst ‘nen Fisch, schaust nach der Uhr,
Richtest deinen Schlips dir heute, sterben Leute,
Städte mit obskuren Namen, bombardiert, gehen auf in Flammen,
Niemand weiß um das warum, doch die Menschen kommen um
O-Ton Sebastian Krumbiegel
Das hat mich auch beängstigt in irgend ‘ner Weise. Und ich fand eigentlich fast noch schlimmer
dann wirklich den Jugoslawienkrieg. Weil, erstens weil wir mit drin hingen als Deutsche, als
Deutschland. Und zweitens, weil ‘s eben auch so nah dran war. Dass wir da selbst ne Rolle ge-
spielt haben als Deutsche. Das hat mich wirklich immer, also, das hat mich beschämt. Das hat
mich irgendwie wütend und traurig und irgendwie beschämt.
[Club- und Konzert-Szene]
Musik: Who is Elvis, darüber
O-Ton Linda
Die meisten Clubs zeichnen sich ja dadurch aus, dass sie gewandert sind, also WMF. Ja, der Ur-
sprungsnahme kommt ja auch daher, dass es im WMF-Gebäude war, von dieser Besteckfirma
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(lacht). Und immer wenn der Mietvertrag gekündigt wurde, haben sich diese Betreiber was ande-
res gesucht.
O-Ton Oliver
Und dazu kam halt, nach der Wende diese ungeklärten Besitztums-Verhältnisse mit diesen gan-
zen Locations, irgendwelche Industrieanlagen, die nicht mehr genutzt wurden, wo dann illegal
Partys stattfanden. Das ist n ganz wichtiger Faktor, weil dadurch hatte das auch ‘n gewisses Flair.
O-Ton Moritz
Das ging über Mundpropaganda rum. Und da ist man hingegangen übern Hinterhof, da standen
dann drei Kerzen auf irgend ‘ner Treppe, die nach unten führte. Das war dann das Zeichen, da ist
der Club.
O-Ton Linda
Die Musik spielte gar nicht so ‘ne große Rolle. Es war (eigentlich) eher das Geheimnisvolle, die-
sen Ort zu finden und dabei gewesen zu sein. Weil man nie weiß, wann ‘s geschlossen wird,
wann die Baupolizei kommt. Sie war ’n ja auch alle nicht unbedingt so sicher die Clubs.
Musik: Die Prinzen: „Irgendwo auf der Welt“
O-Ton Sebastian Krumbiegel
Unsre allererste Tour, die wir gemacht haben, haben wir zusammen mit Lindenberg gemacht.
War damals, glaub ich, auch ne sehr exzessive Zeit für ihn, weil er damals-. Also, wenn man ihn
heute nach dieser Zeit fragt, nach der Tour, sagt er (Lindenberg imitierend): Ach weißt du, 90er
Jahre, kann ich mich eigentlich gar nicht mehr so genau dran erinnern.
Musik: Udo Lindenberg: „Irgendwo auf der Welt“
O-Ton Sebastian Krumbiegel
Wir warn da nicht Vorband, sondern wir warn Gäste in diesem Programm. Warn nach 20 Minu-
ten das erste mal dran. Und wir sind damals extrem wohlwollend von den Leuten aufgenommen
worden. Erstens mal lag das an der Fairness von Lindenberg, dass er uns nicht als Vorband ver-
braten hat, sondern dass er irgendwann dann eben sagte (Lindenberg imitierend): Und jetzt
meine Freunde aus der ehemaligen DDR. Und eben die Prinzen und dann war da große Freude
im Publikum. Und das war für uns der Hammer, vor 8.000 Leuten die Sachen singen zu können,
die wir eben gemacht haben.
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Musik: Udo Lindenberg: „Irgendwo auf der Welt“ - Ende
O-Ton Chris
Die Hip-Hop-Klubszene in Berlin hab ich von Anfang an miterlebt. Ganz am Anfang gab ‘s das
„Starlight“, auf der Kaserne. Da gab ‘s in Berlin öffentlich noch überhaupt gar keine Hip Hop
Klub. Der erste Hip Hop Club war dann das „Studio 56“, danach kam das „Future“, danach kam
das „Afro Negro“, was dann „One Way“ hieß und dann explodierte es.
Musik: KRS-One
Musik: The Opressed, darüber
O-Ton Hannah
Wir warn definitiv oft off Konzerten. Ich glaub, in der „Kulturbrauerei“ waren relativ häufig Sa-
chen, gerade Richtung SKA und off so kleeneren Punk- und Skinkonzerten. „Wild and Hard“ war
damals ooch schon, jenau. „SO 36“ off jeden Fall ooch.
O-Ton Linda
Rückblickend für mich erinner’ ich die 90er als sehr dunkel, weil man immer in irgendeinem Kel-
ler war.
[Tanzstil]
MU: Tocotronic – „Ich werd mich nie verändern“
O-Ton Moritz
Der „Knaak“ hatte die Besonderheit, dass man unten in der „Damenwäsche“ richtig harte Musik
hörn konnte und oben auf der obersten Tanzfläche war dann so Pop und Rock, ganz normal.
Und so ham wir immer gewechselt. Unten haben wir den Boden sauber gemacht mit ‘n Head-
banging und oben konnte man sich ‘n bisschen ausruhen.
O-Ton Hannah
Beim Punkrock na klar, pogst de als Frau ooch mit ordentlich. Bein Skingirls, gloob ich nicht, die
standen immer irgendwie apart, mit so ‘ner Handtasche (lachend) und ham im Takt geklatscht.
Musik: Tocotronic, Ende
Musik: Technodrome - Tony H.: “Sicilia… You Got It!”, darüber
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O-Ton Oliver
Techno ohne Tanzen geht nicht.
O-Ton Linda
Auf irgendwelchen Raves da hat man zusammen getanzt, mit Arme hoch.
O-Ton Oliver
Rhythmisch gezappelt, abgezappelt.
Das ist auch nicht so wie bei anderen Diskotheken oder Konzerten oder so, wo man eben mal für
ne halbe Stunde auf die Tanzfläche geht, sondern da hat ‘s auch Leute gegeben, die mal zehn
Stunden am Stück durchgetanzt ham.
Wenn man ne irgendwie ne interessante Frau, ich jetzt ‘ne interessante Frau gesehen hab, dann
(bin ich) hab ich mich auch in der Richtung bewegt und hab die halt auch angetanzt und hab halt
mein Balztanz klargemacht...
O-Ton Linda
Jeder hat für sich getanzt.
O-Ton Oliver
...aber nicht zwingend.
O-Ton Linda
Ich will (auch) nicht angebaggert werden beim Tanzen.
Anbaggern kann man dann am Tresen, wenn man sich was zu trinken holt. Oder an der
Kloschlange (lachend) oder so.
O-Ton Wolf Biermann (Vortrag):
Locken sie mich nicht in Maulschlachten, sie wissen doch, ich kann es.
O-Ton Moderator:
In seiner Rede kam Biermann dann, nach längeren Ausführungen über Büchner und Brecht, auf
die Situation in Deutschland nach der Einigung.
Musik: Technodrome - Tony H.: “Sicilia… You Got It!”, Break
O-Ton Wolf Biermann
Ich sah dieser Tage im Fernsehen Dokumentaraufnahmen von einem Aufmarsch in Dresden. Ein
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Nazi-Lied wurde gebrüllt “Sieg heil, Sieg heil” und immer wieder der Hitlergruß. Vorneweg Frisch
bundesrepublikanisierte VP- und Stasibullen mit ihren nagelneuen Westhelmen und Plastikschil-
den und Knüppeln. Sie eskortierten die johlenden Heil-Hitler-Sachsen. Warum bloß schreiten sie
nicht ein? Fragte verzweifelt der Fernsehreporter aus Köln den Einsatzleiter der Polizei. Wieso?
Widersprach der Beamte und Ritter des Knüppelkampfes in seinem gemütlichsten Sächsisch.
“Die Demonstration dieser Bürger ist ordentlich angemeldet und wir schützen sie.” Aber die
rufen doch faschistische Losungen und machen den Hitler-Gruß. So, sagte der Oberbulle, ich
sehe nüscht.
Musik: Technodrome - Tony H.: „Sicilia… You Got It!“, hoch, dann Ende
[Rechtsradikalismus]
O-Ton Rostock Lichtenhagen, 1992
Polizeisprecher per Megaphon: Achtung, hier spricht die Polizei. Ich fordere Sie nochmals auf,
alle unbeteiligten Personen, entfernen Sie sich vom Ort des Geschehens. Bitte behindern Sie uns
nicht und unsere Arbeit.
O-Ton Oliver
Das war für mich das Erschreckende, dass das Leute warn, die da gelebt ham.
O-Ton Hannah
Kann mich erinnern, dass die Dinger warn und dass ich se mitjekricht habe. Dass ich das auf
jeden Fall widerlich fand. Dieses berühmte Bild mit diesem Mann mit der bepinkelten Jogging-
hose, da Rostock-Lichtenhagen.
O-Ton Oliver
Und das war nicht irgendwie der Nazi-Mob, sondern das war der ganz normale Mensch von ne-
benan, ne. Hm.
Musik: Technodrome - Tony H.: “Sicilia… You Got It!”, darüber
O-Ton Rostock Lichtenhagen, (NDR Schwerin, Jahresrückblick, 31.12.1992)
Sprecher: Nach etwa eineinhalb Stunden zogen sich die Polizeikräfte zurück. Den Randalierern
bot sich plötzlich die Chance zur Stürmung des Heimes. Gegen 22.00 Uhr flogen Molotowcock-
tails in die Fenster des Gebäudes. Ein harter Kern von etwa 70 Radikalen setzte zahlreiche Woh-
nungen in Brand. Die Polizei war weit und breit nicht zu sehen.
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O-Ton Rostock Lichtenhagen, 1992
Frau: Dann kamen Vietnamesen und haben gerufen, die Faschos sind im Haus, die Faschos sind
im Haus. Daraufhin sind die Frauen und Kinder übers Dach. Und die Leute unten haben ge-
schrien: springen, springen! Und die Polizei war nicht da. Wir haben zwei Stunden versucht, 110
in Rostock, 112 anzurufen. Es kam keine Hilfe. Man hat uns da allein gelassen, regelrecht allein-
gelassen. Schwangere Frauen, Babys, kleine Kinder, alles Vietnamesen, alle haben geweint.
Musik, darüber
O-Ton Chris
OK in Rostock, da war ‘n Angriff, OK und hier und da. Irgendwie hat ich das Gefühl, OK es gibt
noch Angriffe, aber vereinzelt. Wie es manchmal ältere Menschen waren, die mich irgendwie so
angeguckt, dass ich gemerkt habe, dass ich schwarz bin, oder anders aussehe. Aber ich hatte
nicht das Gefühl, dass die Gesellschaft an sich noch rassistisch ist irgendwie.
O-Ton Brandanschlag in Mölln I (MDR Wochenrückblick vom 29.11.1992)
Sprecher: Die neue Woche war eine halbe Stunde alt, da wurde der Feuerwehr in Mölln ein Brand
gemeldet. Nichts Ungewöhnliches, doch der Anrufer verabschiedete sich mit Hitler-Gruß.
O-Ton Brandanschlag in Solingen
Junge Frau: Ich hab geschlafen und bin durch irgendwas aufgewacht. Hab da raus geguckt und
da hab ich geseh’n, dass das Haus in Flammen stand.
Sprecher: Vier alkoholisierte junge Männer stecken in Solingen ein Wohnhaus in Brand, in dem
Türken leben. Zwei Frauen und drei Kinder sterben in den Flammen. Mehrere Menschen erleiden
schwerste Verbrennungen.
O-Ton Oliver
Na ja, da gab ‘s halt diese ganzen Scheißnazis, ne. Die ham da an so ‘ner Straßenbahnhaltestelle
gesessen und wenn da irgendwelches alternatives Publikum in der Straßenbahn gesessen und
dann ham se die rausgezerrt. Oder sind mehrere Mann eingestiegen und ham die aufm Weg zur
nächsten Haltestelle erst mal vertrimmt in der Bahn. Und da hat keiner was gemacht. Das war
schon nicht lustig.
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O-Ton Moritz
Unsere alltäglichen Probleme warn, uns mit den Nazis auf der Straße auseinander zu setzen, die
wir als eher stumpfsinnig und dumm empfunden haben, aber von denen keine politische Gefahr
in dem Land ausging.
O-Ton Sebastian Krumbiegel
Rechtsradikalismus hat meiner Ansicht nach immer was damit zu tun mit sozialer Schieflage,
mit, dass die Leute n Feindbild suchen oder n Schuldigen suchen, dafür dass es ihnen eben nicht
gut geht. Und dann merken wir doch, wie das alles funktioniert.
O-Ton-Collage (deutsche Politiker, mit Musik)
... Kassen der Arbeitslosenversicherung: 9,2. ...
... die gesetzlich vorgeschriebene Schwankungsreserve von einer Monatsausgabe...
... aber das ist nicht der richtige Zeitpunkt...
... ihre Koalition handelt nicht nach der Staatsräson...
... aber nicht in dieser Legislaturperiode...
... gehen sie nicht so läppisch an diese Fragen heran....
... aufgrund der weiter schwachen Einschätzung...
... 1.8 Milliarden dazu...
... Wir sind im Osten...
... aber nicht in dieser Legislaturperiode...
Musik: Scooter – “Move your Ass!”, darüber:
[Techno]
O-Ton Linda
Und Hedonismus war das Schlagwort, also feiern, nicht drüber nachdenken. Ich hab dann immer
an die 20er Jahre gedacht.
Musik: Scooter – Move your Ass!
O-Ton Oliver
In den 90ern war diese Techno-Bewegung, das hatte so ‘ne Aufbruchsstimmung, so dieses Love,
Peace and Unity - ganz wichtig. Die Leute, die auf der Party warn, die warn ein Partycrowd.
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O-Ton Chris
Für mich war Techno ‘ne krasse Drogenmusik.
Musik: Scooter – Move your Ass!
O-Ton Oliver
Wenn ‘s da jemanden von irgendwelchem Konsum nicht gut ging, dann wurde sich halt ooch um
den gekümmert. Dann ist man hingegangen und hat gesacht, hej alles klar bei dir? Geht ‘s dir
gut, muss man sich um dich kümmern? Brauchst du was zu trinken? Man hat gerne was zu trin-
ken abgegeben. Man hat mit den Leuten alles geteilt, (um) damit alle zusammen Spaß haben.
O-Ton Hannah
Die sind doof, die sind Scheiße, mit den woll’n wa nischt zu tun haben. Die nehm’ Drogen und
hörn elektronische Musik, ganz schrecklich.
Musik: Technodrome - Lexy & K-Paul: „The Greatest“ DJ
O-Ton Oliver
Für eine Ecstasy-Tablette hast du so 30, 40 DM bezahlt. Ist natürlich auch ne Frage, wie viel du
abgenommen hast. Hast du mehr abgenommen, ist natürlich der Preis gesunken.
O-Ton Techno-Szene
SWR/BAD, Schwerpunktthema: XTC-Ecstasy – Der neue Rausch, 09.06.1995
Moderator: Viele halten Ecstasy für ungefährlich, aber immer mehr und immer öfter sterben da-
ran Jugendliche. Vorgestern erst in Baden-Baden ein 19jähriger.
Musik: Daft Punk – „Around the world“, darüber
O-Ton
Die 68er- Generation ist ne Generation auf die ich auch immer stoße, in meiner Generation stößt
man pausenlos auf 68er- Veteranen, die dann immer unserer Generation erzählen „ja das kennen
wir schon, das haben wir schon, ja ja das haben wir damals auch gemacht, ich war auch dabei,
ich hab mit dem Rudi zusammen, ich habe mit Rainer Langhans und ich hab mit dem Teufel, ja,
ja das kenn ich, und so.“ Und wenn ihnen gar nichts mehr einfällt, denn reden sie von Surrea-
lismus oder Dadaismus und alles andere ist praktisch besetzt.
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O-Ton Shell-Studie 1997
SWR/BAD, Radiothema: Shell-Studie über die Jugend, 27.05.1997
Moderator: Die gesellschaftliche Krise hat die Jugend erreicht. So lautet das Fazit der kürzlich
vorgelegten 12. Shell-Studie über die Jugend. Befragt nach ihrem größten Problem, nannten die
meisten Jugendlichen folgerichtig die Arbeitslosigkeit an erster Stelle.
O-Ton Chris
Ja, meine Generation hatte wenig Perspektive was Zukunft und Job angeht.
O-Ton Hannah
Aber ich weiß ooch, dass damals mit 15 schon für mich relativ klar war, weil ich ja viel mich im
Jugendhilfekontext bewegt habe, dass ich eigentlich in dem Bereich arbeiten möchte. Und zwar,
weil die Sozialarbeiter damals total mit uns überfordert warn, ja. (lacht) Das war dann so ‘n
Punkt. Ich hab nämlich auch gleich nach der Lehre mein Abitur nachgemacht.
O-Ton Oliver
Ich hab meine Ausbildung beendet, so 92. Dann hab ich ‘n bissel halbes Jahr in der Luft gehan-
gen und dann hab ich, glaub ich, Zivildienst gemacht. Und dann hab ich noch ne Ausbildung
versucht als Krankenpfleger, die ich allerdings dann abgebrochen hab. Und dann hab ich ange-
fangen mich durchs Leben durchzuschlagen, unter anderem als Zimmerer, oder als Zimmerer-
gehilfe besser gesagt.
O-Ton Chris
Ich hatte keine Ahnung, was ich mit meinem Leben anfangen soll. Und als ich dann herausge-
funden hab, dass man auch Kunst studieren kann, so was wie Sounddesign oder Filme machen,
da ist mir erst n Licht aufgegangen, dass ich was mit meinem Leben anfangen kann.
Musik: Peter Licht – „Ihr lieben 68er“, darüber:
OT-88 Jugendarbeitslosigkeit
SWR/STG, Journal a. Morgen: Die wahren Ängste der jungen Generation, 14.3.1997
Moderatorin: Ungefähr 1,5 Millionen Jugendliche und Erwachsene zwischen 15 und 25 Jahren
erhalten entweder erst gar keine Ausbildung oder anschließend keinen Arbeitsplatz.
Musik: Peter Licht – „Ihr lieben 68er“
[Grunge]
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Musik: Nirvana – „Smells Like Teen Spirit“, darüber
O-Ton Linda
Durch die Massenarbeitslosigkeit haben wir gelernt, dass wir flexibel sein müssen. Dass man
sich halt nicht auf einen Job festlegen kann sein ganzes Leben. Diese Generation Praktikum fing
einfach an. Das ging da los, dass man Jobs ohne Ende gekriegt hat, für die man nicht bezahlt
wurde. War schon die Angst da, keinen Job zu kriegen später.
Musik: Nirvana – “Smells Like Teen Spirit”, darüber
O-Ton Liedtext von Nirvana
SWR/STG Tragisch: Nirwana-Sänger Cobain nimmt sich das Leben, 28.12.1994
(Nirvana-Titel „Smells Like Teen Spirit“ freistehend und liegt dann drunter) Sprecher: Zieh dich
hoch an den tollen Typen, die du kennst. Es macht Spaß, der Verlierer zu sein und zu heucheln.
Sie hier, ist so was von gelangweilt, so selbstsicher. Und alles was ich raus bringe ist ordinäres
Gerede. Das was wir sind, wie wir sind, so wollen wir auch bleiben, bis zum Schluss.
Musik: Nirvana – “Smells Like Teen Spirit”
O-Ton Moritz
Ich fand das sofort total toll und dann haben wir das hoch und runter gehört. Sind über den
Schulhof gesprungen mit unseren Walkmanns und haben da Headbanging zu Nirvana gemacht.
O-Ton Sebastian Krumbiegel
Dem hast du’s angehört, dass er’s ernst gemeint hat, und ja. Fand ich ganz großartig.
O-Ton Moritz
Und alle haben uns n bisschen schief angeguckt, weil keiner kannte Nirvana und alle fanden die
Musik schrecklich. Und uns hat das total erfüllt.
Musik: Hole – „Good Sister, Bad Sister“, darüber
O-Ton Linda
Grunge war vielleicht ne weichgespülte Variante des Punk. Also, das NO FUTURE weichgespült.
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O-Ton Moritz
Eigentlich nicht. Es kommt natürlich auf die Band an.
O-Ton Linda
Dreckige, melodische Gitarren - verbinde ich damit.
O-Ton Moritz
Drückte vielleicht auch so ‘n Lebensgefühl aus, was wir damals hatten, so was. So ‘ne ungewisse
Zukunft, vielleicht auch so ‘n gewisser Pessimismus, so ‘ne Melancholie, die in dem Grunge
mehr zum Ausdruck kommt als im Punk. Der Punk ist ja doch mehr so ‘n, auch so ‘n ablassen
von Energie, von angestauter Aggression. Das hat der Grunge auch, aber der Grunge ist noch s
‘n bisschen, so n bisschen nachdenklicher und so ‘n bisschen vielleicht romantischer.
[Handy]
Musik: Tocotronic – „Wir kommen um uns zu beschweren“, darüber:
O-Ton Werbung für Handy
(Handyklingeln) Mann I: Ist das deins? Mann II: Das ist nicht meins, das ist deins. Mann I:
Meins? Nein.
Mann II: Dann ist es seins! Mann I: Nein, das ist deins. (anderer Handyklingelton) Mann II: Das
ist jetzt meins...
O-Ton Linda
Die ersten Handys warn auch eher so was für - also dadurch, dass die so teuer warn - warn die ja
eher was für Snobs. Ich hatte so ‘n Scall, wo man mich anrufen konnte und dann konnt’ ich die
Telefonnummer sehen, so ‘n Pieper.
O-Ton Chris
Es gab ne ganz bestimmte Art, sich mit ‘n Pieper zu bewegen. Und wie man den Pieper von der
Hüfte nimmt und den sich anguckt. Man musste den Pieper so von der Hüfte nehmen, dass
Leute, die in deiner Nähe warn gesehen haben, dass du jetzt irgendwas wichtiges zutun hast.
Und dann hat man so auf die Nummer, auf den Pieper geguckt. Falls jemand nicht bemerkt hat,
dass du gerade deinen Piper von der Hüfte nimmst, dann weiß er auf jeden Fall JETZT, dass du
gerade ‘n Anruf bekommen hast und mein erstes Handy war glaub ich die Nokia-Banane.
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O-Ton Linda
Ach so, dieses große Ding, ja.
O-Ton Chris
Die Nokia-Banane, das war so ‘n Handy, das so leicht gekrümmt war und das konnte man raus-
ziehen und dann war ‘s halt so groß wie ne Banane und auch gekrümmt.
O-Ton Sebastian Krumbiegel
Ich hatte n Handy. Wie hieß n das damals, so ‘n E-Netz-Teil, so ‘n riesiger Kasten. Wo ich dann
raus gefahren bin an See und Leute angerufen hab. Und hab gesagt, weiß du wo ich gerade bin?
Nee, wo bist n du gerade? Ich sitze am See. Hej, wie geht n das?
O-Ton Chris
Und damals gab ‘s halt noch diese Kühlschrank-Handys, also die so groß warn wie ‘n Kühl-
schrank. Und wenn man dann so mit der schmalen Nokiabanane kam, dann war das schon auf
jeden Fall ein fortschrittlicher Anblick, so.
Musik: The Opressed, darüber
O-Ton Hannah
Abjelehnt ohne Ende. Handy wollt ick nie haben. Schnickschnack, den man nicht braucht und
den man ooch nicht will. Und ach.
[Punks und Skins]
O-Ton Moritz
Da gab ‘s rechtsradikale Skinheads und linksradikale Skinheads. Und dann gab ‘s Punker, die
sich als Punker geoutet ham. Dann gab ‘s Punker, die nur im Geiste Punker warn.
O-Ton Hannah
Und ick gehörte mehr zu diesen, zu diesen ganz schrecklichen Assel-Punks.
O-Ton Sebastian Krumbiegel
Ich hab Punk früher nicht verstanden.
O-Ton Hannah
Es gab schon so die Edel-Punks und Oi-Punks
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O-Ton Oliver
Also, Skins und Punks die hängen ja zusammen.
O-Ton Hannah
Und bei Assel-Punks war eigentlich wirklich diese Grundaussage war, also dieses Sozialschma-
rotzer sein,
O-Ton Sebastian Krumbiegel
Punk war für mich immer zu dreckig oder zu wild. Ich weiß es auch nicht.
O-Ton Hannah
Also ihr müsst mir Jeld geben, ist mir egal ob ihr arbeitet oder nicht. Ick werd ‘s bestimmt nich’
tun.
O-Ton Oliver
Also, für mich waren zum Anfang, warn für mich Skinheads auch alles Nazis.
O-Ton Linda
Es gab schon gute und böse Skins.
O-Ton Oliver
Da hab ich dann ziemlich schnell gelernt, dass einer der ne Glatze hat und Stiefel anhat, nicht
gleich ‘n Nazi ist.
O-Ton Hannah
Hauptbeschäftigung war saufen und zwar extrem.
O-Ton Linda
Ich erinnere mich an die Pfarrstraße.
O-Ton Hannah
Wir haben bestimmt gekifft.
O-Ton Linda
Die besetzten Häuser in der Pfarrstraße. Da war ‘s, glaub ich, eine Seite warn die linken und die
andere Seite warn die rechten Skins.
22
O-Ton Hannah
Ja, viel saufen, viel grölen.
O-Ton Linda
Und da gab ‘s schon sehr viele Auseinandersetzungen.
O-Ton Hannah
Ich denk, die Leute mit denen ich wirklich viel zu tun hatte, mit denen ich och gut ausgekommen
bin, warn auf jeden Fall nicht rechts. Und das war auch immer schwierig damit umzugehen. Ich
glaube, dass man damals schon damit gespielt hat, mit diesem Äußeren. Ich kann mich dran
erinnern, wir sind mal als Gruppe in eine Straßenbahn eingestiegen. Wir war’n so acht Leute.
Woraufhin wirklich alle, die vorne saßen, nach hinten geflüchtet sind. War natürlich n tolle Ge-
fühl für ‘n Jugendlichen. Also, so dieses „Macht haben“.
Musik: Paul van Dyk – „Seven Ways“, darüber:
O-Ton Giovanni Trappatoni (damaliger Fußballbundestrainer)
(Regt sich über die Unfähigkeit der deutschen Nationalmannschaft auf, sehr schwer verständ-
lich) „Es gibt Spieler...die fallen schwach, wie eine Flasche leer... .“
[Politik: Kohl bzw. Rot-Grün]
O-Ton Wahlwerbung der CDU, 1994 (CD Die 90er Jahre I, 14)
Gesang: Was man will, das muss man wählen. Was man will, das muss man...
O-Ton Wahlwerbung der CDU, 1994
Gesang: Was man will, das muss man wählen.
Sprecher: Was ich will? Ich will, dass unsere soziale Sicherheit erhalten bleibt. Rentenversiche-
rung, Erziehungsgeld und jetzt die Pflegeversicherung. Alle großen sozialen Leistungen hat doch
die CDU beschlossen.
Gesang: Was man will, das muss man wählen.
Musik: Vangelis – „Conquest of Paradise“, darüber
O-Ton Moritz
Ich hatte immer ‘n Problem mit Parteien.
23
O-Ton Chris
Na, damals war für mich so die politische Richtung, was meine Mutter gut fand. Und das war’n
hauptsächlich die Grünen.
O-Ton Linda
Eigentlich konnte man nur noch gegen alles sein.
O-Ton Shell-Studie 1977 (WDR, Abwasch – Das Frauenmagazin, 06.09.1997)
Autor der Shell-Studie: Nicht die Jugend ist Politik verdrossen, sondern im Gegenteil, die Jugend-
lichen glauben, dass die Politik Jugend verdrossen ist.
O-Ton Oliver
Na ja, Kohl war ja (war ja) n richtiges Feindbild für uns ne, Birne. Birne ham wir ja abgelehnt.
Fußballreportage: Deutschland wird Europameister nach Golden Goal (1992)
O-Ton Helmut Kohl, 1992
Die Mannschaft hat eine gewaltige Anstrengung vollbracht. Wenn sie mal sehen wie viele doch
mit Verletzungen in dieses Endspiel gegangen sind und wenn sie aus einem Land kommen, wo
manch einer der ne Husten hat sich sofort krank meldet. Die sind stehen geblieben, die haben
nicht darüber überlegt, ich könnt ich die Sache wegdrücken, sondern haben Mannschaftsgeist,
Kampfmut bewiesen. Tolle Tugenden.
O-Ton Gerhard Schröder, 1998
Schröder: Danke Helmut, es reicht!
Musik: Snap, darüber
O-Ton Gerhard Schröder, (Rede G. Schröders nach Wahlsieg der SPD, 27.09.1998)
Reporter: So, da hat Oskar Lafontaine schon das Zeichen gegeben.
G. Schröder: Meine Damen und Herren, liebe Freundinnen, liebe Freunde, nach 16 Jahren ist
heute die Ära Helmut Kohl zu Ende gegangen. (Massenapplaus)
O-Ton Hannah
Da gab‘s ‘ne Hoffnung, die aber relativ schnell enttäuscht wurde.
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O-Ton Oskar Lafontaine
Der Grund meines Rücktrittes ist das schlechte Mannschaftsspiel, das wir in den letzten Mona-
ten geboten haben. Wenn die Mannschaft nicht mehr gut zusammen spielt, muss man eine neue
Mannschaftsaufstellung suchen, dazu ist mein Schritt die Voraussetzung gewesen. Die neue
Mannschaftsaufstellung ist bekannt, ich wünsche der neuen Mannschaft mit Gerhard Schröder
Erfolg bei ihrer Arbeit. Und eines sollt sie nicht vergessen, das Herz wird noch nicht an der Börse
gehandelt, aber es hat einen Standort, es schlägt links.
Musik: „Rammstein“, darüber:
O-Ton Sebastian Krumbiegel
Ja, wenn man zulange an der Macht ist, ist ‘s - glaub ich - immer schädlich. Für alle, egal von
welcher Seite sie kommen.
Bericht: Abschaltung des Jugendsenders DT64
Reporter: 20. Juni 1993, Protestfete im Knaak-Club, Greifswalder Straße und eine fast menschen-
leere Sendebaracke von DT64. Zwei Orte, ein Ereignis, denn der Jugendsender DT64 wird in der
Nacht zum ersten Juli endgültig von seiner UKW-Frequenz verbannt.
Musik: „Rammstein“, hoch, dann darüber
O-Ton Hannah
(lachend) Alte Feindschaft. Ich denke, da gibt ‘s immer noch ne echt Grenze irgendwie zwischen
dem Ost und dem West wat och immer, gerade in diesen Subkulturen. Irgendwie vermischt sich
das nicht so richtig.
O-Ton Chris
Ich hatte halt nicht viel mit Jugendlichen aus‘m Osten zu tun, es sei denn sie kamen zum Hip-
Hop-Klub und haben mich kennen gelernt. Das ist, äh, ja. Warum habe ich nicht mehr Leute
aus‘m Osten kennen gelernt?
[Ost-West-Annäherungserfahrungen]
O-Ton Sebastian Krumbiegel
Das war „Küssen-verboten-Tour“ ‘92 oder ‘93. Wann war das? Lange Tour mit 60 Konzerten. Und
eines abends warn wir dann eben wieder auf eine Bühne gegangen. Und ich hab die Leute be-
grüßt, hej schön hier, wir freuen uns heute in Hannover zu sein. Wir war’n aber in Braunschweig.
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Musik: The Prodigy, darüber
O-Ton Shell-Studie, (Jugendliche in Ost- und in Westdeutschland, 1992-11-03)
Moderatorin: Junge Ostdeutsche werden früher erwachsen als ihre westdeutschen Altersgenos-
sen. Zu diesem Ergebnis kommt die 11. Shell-Studie, die am Mittag in Berlin vorgestellt wurde.
O-Ton Sebastian Krumbiegel
Die Frage nach den Unterschieden zwischen Osten und Westen kriegen wir ja immer wieder ge-
stellt. Und ich glaube, dass das doch von meiner Seite aus sehr einfach zu sagen ist. Dass es
diese Unterschiede so im Publikum aus unserer Wahrnehmung gar nicht gegeben hat.
O-Ton Linda
Für mich so unter Freunden oder so, gab ‘s keine Ossis und Wessis, sondern beim Studium war
es einfach so, das war die Gesine (lachend) und das war der Gunnar und die Yvonne. Das spielte
keine Rolle.
O-Ton Sebastian Krumbiegel
Also, ich denke, dass es auf jeden Fall so war, dass uns damals der Fakt, dass wir aus‘m Osten
warn, durchaus geholfen hat. Dass viele Journalisten, für die war das n gefundenes Fressen, die
konnten sagten, hej guckt mal hier, die Ossis, wenn die sich n bisschen Mühe geben, es geht
doch, funktioniert doch. Und die Leute im Osten ham gesagt, unsere Jungs.
Beitrag DT64, Dope Beats
Moderator: Und los geht’s zu zwei Stunden Dope Beats hier auf DT64, ihr hört eine updatet Hip-
Hop-Transmission auf Astra 1B. Ja, spreading the dopest beats all over Europe auf 10.44 khz.
Musik: „Outkast – Player’s Ball“, darüber:
O-Ton Moritz
Man kam unglaublich schnell in Kontakt mit Leuten aus‘m Westteil der Stadt, viel schneller als
mit Leuten aus‘m Ostteil. Weil, die Ossis glucken immer in so Klicken zusammen und da kommt
man ganz schwer rein. Und wenn man erst mal drin ist, dann lassen die einen nicht wieder los.
Aber die Westberliner - hatte ich damals den Eindruck - pflegen eher so oberflächlich ihre Bezie-
hungen, die aber auch schneller zustande kommen. Und dadurch konnte man sehr viele Leute
ganz schnell kennen lernen, aber die Beziehungen haben sich dann oftmals nicht entwickelt.
26
O-Ton Oliver
Hab schon eigentlich hauptsächlich mit meinen Homis, also mit meinen Leuten aus meiner
Stadt abgehangen, mit meinen Freunden aus meinem Umfeld.
O-Ton Linda
Es wurde immer gesagt, die Ostdeutschen sind solidarischer. Das fand ich jetzt überhaupt nicht.
(lacht) Also, ich hab eigentlich so für mich so manchmal sogar die Beobachtung gemacht, dass
manche eigentlich karrieregeiler warn.
Musik: Public Enemy – Fight the Power
O-Ton Chris
Also Anfang, Mitte der 90er Jahre war einfach die beste Zeit des Hip Hop überhaupt.
Ich war immer in der Hip Hop Kultur. Ich weiß auch nicht wie, es war einfach automatisch, dass
ich Hip-Hop-Kultur war. Und es war irgendwie n Lebensgefühl, diese Musik, die damals raus
kam.
Musik: Public Enemy
O-Ton Chris
Hip Hop an sich hat nichts mit Gewalt zu tun, weil das ne Kunstform ist. Aber Hip Hop ist auch
ne Straßenkultur und deshalb, viele die zum Hip Hop kommen, kommen von der Straße. Auf der
Straße gibt es auch viele die in der Gewalt sich wiederfinden und das dann auch wiedergeben in
ihren Songs. Und, es ist indirekt, es hat indirekt was mit Gewalt zu tun, aber nicht direkt, würde
ich sagen.
Musik: „Dr. Der – Aftermath“
O-Ton Moritz
Solange die Hip-Hop-Musik englischsprachig war, hab ich sie im Radio gehört, aber ich hab sie
mir nicht gekauft, um sie zu hörn. Und dann wurde der Hip-Hop-Rap deutscher und damit auch
für mich interessanter.
Musik: „2Pac – Pain2, darüber
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O-Ton Chris
Da hab ich mich mit den Kumpels im Zimmer eingeschlossen. Wir haben das Lied „Pain“ ange-
macht, ham n Joint angemacht. Und wenn irgendeiner während dem Lied geredet hat, ham wir
beides ausgemacht. Musik und Joint. Der Typ ist rausgeflogen. Da ham wir das Lied noch mal
von vorne angemacht und diesen Moment noch mal neu erlebt. Das Lied „Pain“ war damals für
uns unsere Religion.
O-Ton Oliver
Ich hatte relativ früh begriffen, dass es nicht gute Musikrichtungen, sondern dass es in jeder Mu-
sikrichtung gute Sachen gibt.
O-Ton Hannah
Ansonsten warn alle andern Jugendkulturen, oder viele der andern Jugendkulturen, unter andern
och Hip Hop einfach eher Feindbilder.
O-Ton Chris
Und ab Mitte der 90er da sagt die ganze Hip Hop Welt, ging ‘s mit dem Hip Hop abwärts. Mit
der Blink-Blink-Ära, da ging ‘s im Hip Hop nicht mehr darum, um das Lebensgefühl auf der Stra-
ße. Da ging ‘s nicht mehr um die Geschichten, die im Leben passieren und die da im Rap erzählt
werden, sondern es ging dann um das Geld, um die Frauen, und um die Hintern, um die Ärsche.
Und es ging da einfach nicht mehr um das Leben, sondern es ging dann darum, was stell ich mit
meinem Geld an und wie schmeiß ich‘s aus‘m Fenster.
Musik, darüber
O-Ton Graffiti (SWR/STG, S2 Spielzeit: Der Sprayer Alf, 15.09.1993)
Jugendlicher (im Hintergrund leise U-Bahn-Atmo): Hier geht es jetzt los mit den Bildern. Vorne
das ist nicht fertig, weil das n bisschen zu heikel war. Hier geht ‘s weiter, hier die nächsten Pieces
gleich wieder.
O-Ton Chris
Ich war nicht gut darin. Und hab ‘s sein lassen. Hab gesagt, ich kann rappen. Jemand der Graffi-
tis malen kann, soll Graffitis malen. Und ist nix für mich.
Musik: Paul van Dyk – 2Seven ways“, darüber
[Tattoos, Piercing]
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O-Ton (SR, Kultur in der Region: Gezeichnete Haut. Tätowierungen, 12.12.1994)
(Atmo Tätowieren steht frei dann unter Moderatorin) Moderatorin: Tätowieren ist in. In der Mu-
sik-Szene von Heavy-Metal bis Techno, überall bieten Tattoo-Studios ihre Dienste an. Dort wer-
den Tattoo-Magazine und Fotobände gewälzt, Motive ausgewählt und Bilder in Menschenhaut
gestochen. Der Trend geht zu großen Motiven nach japanischem Vorbild.
O-Ton Hannah
Meine ersten war’n so Dämonen und dann so was merkwürdiges, selbstentworfenes, n Tribal.
War damals ja noch janz in.
O-Ton Chris
Tätowierung wollt ich immer haben, aber hat mir noch keiner gemacht.
O-Ton Linda
Ich hab mich sehr lange damit beschäftigt, was ich für ‘n Tattoo haben könnte
O-Ton Hannah
Also tätowiert sein war toll und tätowierte Männer warn auch toll, ja.
O-Ton Linda
Und ich konnt’ mich nicht entscheiden.
O-Ton Hannah
Tätowierte Frauen war’n, glaub ich, nicht so toll.
O-Ton Linda
Da war ich weitsichtig genug, zu denken, das willst du vielleicht mit 40 nicht mehr haben. (lacht)
O-Ton Hannah
Ich hab ja erst mit 17 anjefangen, aber jetzt keene Skinheadmotive oder so.
Es ging ja ganz eindeutig darum zu sagen, ich bin anders und werde och für immer anders blei-
ben. Also, das war ne ganz wichtige Aussage. So ‘n bisschen ‘ne Selbststigmatisierung, aber och
mit so ‘m Stolz.
Musik: Paul van Dyk – “Seven Ways”
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O-Ton Tätowierstudio (DRA, Zeitgeist: Gespräch im Tätowierstudio, 1991-06-20)
(Atmo Tätowieren drunter) Reporter: Ein Ring durch die Brustwarze, was muss ich dafür bezah-
len? Tätowierer: Na, so was sag ich nich.
O-Ton Chris
Piercings hab ich drei, zwei im linken Ohr und eins im rechten.
O-Ton Hannah
Hat ick immer. Als Punk natürlich janz, oh Gott, also da mit Sicherheitsnadeln permanent ir-
gendwie selber durchgemacht oder mit so ‘m Stecker, betrunken auf der Wagenburg.
O-Ton Oliver
Ich hab n Piercing, ja. Aber ich find ‘s unpraktisch, im Gesicht zum Beispiel.
O-Ton Linda
Und nach jeder enttäuschten Liebe einen neuen Ohrring oder ein neues Ohrloch.
O-Ton Hannah
Ich hatte och mal zwölf Ohrringe hier drinne und ach überall irgendwat. Det war denn, bein
Skinhead hab ich die, glob ick, rausjenommen. Hm, das hat nich jepasst dazu.
O-Ton Linda
Fünf und sechs oder so. Tja. (lacht)
Musik: Snap, darüber:
[Kleidung]
O-Ton Oliver
Jeans, Kapuzenpullover, Sonnenbrille, fertig.
O-Ton Linda
Ich hab meine Klamotten am liebsten in Secondhand-Läden gekauft. So in der „Garage“: „kauf ‘s
im Kilo“. 25 Mark das Kilo, glaub ich.
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O-Ton Sebastian Krumbiegel
Wir hatten niemals irgendwie n Imageberater oder so was. Jetzt könnten böse Zungen sagen, ja,
hat man (lachend) auch gemerkt.
O-Ton Linda (verschränkt mit O-Ton Chris)
Und da hab ich dann meine Vorliebe für Synthetik-Hemden aus ‘n 50er, 60er Jahren entdeckt,
was ich jetzt noch trage. Die sind nämlich schön leicht (lacht) und wiegen 100 Gramm oder so
und sind dementsprechend bunt und billig.
O-Ton Chris
Jacken warn ganz wichtig, Sportjacken hauptsächlich von Teams, war sehr populär,
O-Ton Sebastian Krumbiegel (verschränkt mit O-Ton Chris)
Wir hatten schräge Leggins an, wir hatten irgendwie ganz komischen Klamotten an. Wir wollten
anders sein. Und das war natürlich durchaus (lachend) gewagt.
O-Ton Chris
Amerikanische Football-Teams, Basketball-Teams, Baseball-Teams. Diese Jacken war‘n extrem
populär. Und da durfte man eigentlich auch nicht zweimal hintereinander die gleiche anhaben in
der Schule.
Musik: Kris Kross – „Jump, Jump“, darüber
O-Ton Chris (verschränkt mit O-Ton Oliver)
Alles musste in Übergröße sein. Übergröße, weite Klamotten, runter hängen lassen, lässig aus-
sehen.
O-Ton Oliver
Na, irgendwann in den 90ern ging ‘s dann los mit so Camouflage-Klamotten, so Tarnhosen und
Tarnjacken. Jeans, Turnschuhe, also Markenklamotten halt.
O-Ton Chris
Ne Mütze rückwärts, schief. Angezogen irgendwie außerhalb der Norm. Wenn es zu normal
wurde, dann hat man ‘s abgelehnt.
O-Ton Moritz (verschränkt mit O-Ton Chris)
Ich hab relativ verschlissene Sachen angehabt, um auch zum Ausdruck zu bringen, dass mir
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Kleidung nicht so wichtig ist. Wir haben dann klar Lewishosen getragen, aber eben nicht die rich-
tigen, sondern die (ausm) aus der zweiten Wahl, wo das Schild abgeschnitten war. Und die wur-
de solange getragen, bis sie Löcher hatte und zerrissen ist und dann hab ich mir ne neue Jeans
gekauft, zweite Wahl.
O-Ton Chris
Man hat auf jeden Fall immer ne Boxershorts angehabt. Über der Boxershorts ne normale Shorts
und über diese Shorts kamen dann die Hosen. Dass also praktisch, wenn jetzt die Hose in den
Kniekehlen hing, noch ne Hose drunter war. Dass jetzt nicht die Unterhose schon raus hing,
sondern dass halt dann da noch ne Hose war.
O-Ton Linda
Alle hatten schwarze Lederjacken, ich hatte natürlich ne graue Lederjacke. Ich glaube, die hab ich
in Amsterdam gekauft. Und die war auch sehr billig. Die sah auch, ehrlich gesagt, die hatte halt
kein Stil. (lachend) Also der Stil war eigentlich, kein Stil zu haben.
Musik: Scooter – Hyper Hyper, darüber
[Love-Parade]
O-Ton Love-Parade (DRK, Feuerleiter: Love-Parade – live, 14.07.1996)
Dr. Motte: Ihr steht für Liebe, Respekt, Toleranz, Spaß, für Friede, Freude, Eierkuchen. (Atmo
Geschrei) Die Love-Parade steht auch für Völkerverständigung durch Musik. (Atmo Geschrei)
Musik: Scooter – Hyper Hyper
O-Ton Oliver
Es war herrlich. Da warn super viele interessante Leute, interessante Outfits, ja, dieses nett mit-
einander umgehen, zusammen abfeiern, einfach ne Demonstration für Liebe und Musik war‘s.
O-Ton Chris
Ja, war’n viele nackte Menschen. Das war super.
O-Ton Linda
Es hat Spaß gemacht. Es war auch n schöner Sommertag, die Leute warn bunt angezogen, hat-
ten bunte Haare, ham sich gefreut. Wenn man in der Masse ist, ist Techno auch mitreißend.
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O-Ton Moritz
Ich war auf der Love-Parade erst, als sie schon n Riesenmegaevent war, um mal so ‘n bisschen
die Love-Parade-Luft zu schnuppern. Und das hat mich eher davon abgehalten, da noch mal hin-
zugehen.
O-Ton Hannah
Uah! (lacht)
O-Ton Sebastian Krumbiegel
Nee, Love-Parade hat mich wirklich nie gekickt.
O-Ton Hannah
Ick glob, wir warn eenmal da. Und sind och relativ schnell empört gegangen. Nee, das war‘s, wat
ma einfach - icke zumindest, die andern ooch - abgelehnt ham, ja, ganz doll abgelehnt.
O-Ton Oliver
Ich war dann auch auf einer mal, wo dann schon ne Million da war. Das fand ich dann nur noch
furchtbar. Das war dann gruselig. Und da war das auch schon kommerzialisiert. Da haben auch
schon viele Firmen da rein gedrängt und ihre eigenen Wagen gemacht und da war nicht mehr
dieser, dieser ursprüngliche Flavour da am Start. Das war dann irgendwie verfälscht.
O-Ton Love-Parade (RBB, Love-Parade 1997, 13.07.1997)
(Trocken) Reporter: Auch in diesem Jahr hängt am Tag nach der Supersause beißender Urin-
Gestank über dem gesamten Tiergarten. Polizei und Berliner Stadtreinigung setzen Wasserwerfer
ein. Die Wasserschauer sollen die Natur retten, den Boden reinigen. Heute jedoch breitete sich
die Nachricht von der Gratiserfrischung schneller als ein Lauffeuer aus. Plötzlich waren sie wie-
der da, die Raver, dankbar für die Dusche umsonst und draußen.
Musik: Faithless – God is a DJ, darüber:
[Resümee]
O-Ton Chris
Wir sind die Spaßgeneration? Äh - Ja.
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O-Ton Sebastian Krumbiegel
Ich glaub schon, dass die 90er Jahre irgendwie auch oberflächlich warn, oder oberflächlicher.
Oder lieg ich da falsch?
O-Ton Oliver
Ich würd’ eher sagen nicht, also eher nicht. Obwohl, für mich eher nicht, aber für das Gros der
Masse vielleicht doch schon.
O-Ton Moritz
Was gibt ‘s schöneres als Spaß zu haben.
O-Ton Oliver
Na ja, wir ham uns schon ziemlich viel Spaß gemacht. Aber wir ham uns auch für Politik interes-
siert, hatten schon auch ne Meinung dazu.
O-Ton Linda
Ich hab das auch als Spaßgeneration gesehen.
O-Ton Hannah
Ick glob, ick hab‘n Bild, wat damit jemeint ist, mit diesem Begriff Spaßgeneration. Aber, ich hätte
mich dadurch nicht unbedingt angesprochen gefühlt, durch den Begriff.
O-Ton Moritz
Dass es da ne Generation gibt, die völlig frei von äußeren Beschränkungen groß wird, denen
keine Vorschriften gemacht werden von der älteren Generation und die keine Moralvorstellungen
erfüllen müssen, sondern die einfach sich so geben können und ausleben können, wie sie sind.
Das verstehe ich unter Spaßgeneration. Das ist aber nichts Negatives.
Musik: Die Prinzen – „Der letzte Schrei“, darüber:
O-Ton Sebastian Krumbiegel
Als wir’s erste mal wirklich die großen Hallen bespielt haben. Und als wir’s erste mal - ich glaube
- es war Deutschlandhalle in Berlin, die wir zweimal hintereinander ausverkauft hatten. Und wir
warn hinter der Bühne, in dieser riesigen Halle. Du kommst aus den Katakomben raus und
kommst dann eben hinter die Bühne, die da aufgebaut ist und siehst eigentlich nichts. Siehst nur
backstage die ganzen Kisten und die Bühne von hinten und hörst eben dieses Brodeln der 10.000
Leute. Und dann geht irgendwann das Licht aus und es geht ein Kreischen los. Wo ich noch ge-
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nau weiß, dass das unglaublich war. Dass das ne Gänsehaut war, die, ja, die ich nicht vergesse.
Musik: Die Prinzen – „Der letzte Schrei“, darüber:
O-Ton Sebastian Krumbiegel
Es war immer ‘n Thema, dass wir gesagt haben, hej, wir dürfen jetzt gar nicht abheben, wir müs-
sen irgendwie cool bleiben und dürfen das alles nicht so ernst nehmen. Das kann man sich theo-
retisch alles vornehmen, aber trotzdem bin ich mir sicher, dass wir damals alle in irgend ‘ner
Weise an der Uhr gedreht haben. Also, es macht irgendwas mit dir, wenn so was mit dir passiert.
Musik: Die Prinzen – „Der letzte Schrei“, Ende
Musik: David Bowie, darüber:
ABSAGE: Spaß statt Zukunft
O-Ton Hannah
Also, ick weeß, dass die 90er für mich ganz wichtig warn. Man ist so aufjebrochen, man hat wat
Eigenes gefunden, ne eigene Identität gehabt. Viel selbst gemacht, selbst bestimmt.
O-Ton Chris
Ich mach Musik noch. Ich drück mich aus in meiner Musik. Ich schreib Texte. Geb mir die Gele-
genheit meine Meinung zu sagen. Geb mir die Gelegenheit zu erzählen, was ich gerade durch-
mache. Geb mir die Chance zu sagen, wer ich heute bin, wer ich vielleicht damals war. Welche
Fehler ich gemacht habe. Das gibt mir einfach, das ist sozusagen, kann man sagen, meine Welt.
O-Ton Linda
Leg dich nicht fest! Also, ich find das prägte meine Generation, dass sich keiner so richtig auf
irgendwas festlegt, auf keine politische Meinung, auf keinen Job, auf keine Partnerschaft.
O-Ton Oliver
Die Generation, die kein eigenes Gesicht hat oder wie.
O-Ton Moritz
Die 90er Jahre haben mich dahingehend geprägt, dass ich ganz sicher bin, dass man Dinge
ständig verändern muss, um sich selber treu zu bleiben. Und auch die Möglichkeit hat, Dinge
ständig zu verändern. Und dass man sich niemals in Dinge ergeben brauch’ und sich damit ab-
finden muss, dass Dinge so sind.
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O-Ton Linda
Ich glaub, meine Generation hatte keine Vision. Es war einfach die Zeit nach der Vision.
Musik: David Bowie, darüber:
ABSAGE: Jugendkultur im Deutschland der 90er Jahre
Feature von Meinhard Stark
Mit Chris, Hannah, Linda und Moritz aus Berlin, Oliver aus Schwerin,
sowie Sebastian Krumbiegel von den „Prinzen“.
Ton: Bernd Bechtold, Venke Decker, Sabine Gorny
Regie-Assistenz: Roman Neumann
Regie: Nikolai von Koslowski
Redaktion: Dieter Jost
Eine Produktion des Rundfunk Berlin-Brandenburg mit dem Deutschlandfunk
2011.
Musik: David Bowie
ENDE