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Lothar Kabus Entmündigung derKrankenpflege - dieFormel von ... · 61 Lothar Kabus Entmündigung...

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61 Lothar Kabus Entmündigung der Krankenpflege - die Formel von Virginia Henderson ln ihrer Arbeit "Grundregeln der Krankenpflege" meint Henderson, die berufliche Tätigkeit der Krankenschwester auf folgende Formel bringen zu können: "Die besondere Funktion der Schwester besteht in Hilfeleistung für den einzelnen, ob krank oder gesund; in der Durchführung jener Handreichungen, die zur Gesundheit oder Ge- nesung beitragen (oder zu einem friedlichen Tod), welche der Kranke selbst ohne Unterstützung vornehmen würde, wenn er über die nöti- ge Kraft, den Willen und das Wissen verfügte. Diese Hilfeleistung hat in der Weise zu geschehen, daß der Kranke so rasch wie möglich sei- ne Unabhängigkeit wieder erlangt"." Die Übersetzung eines Textes in eine andere Sprache ist zwangsläu- fig mit der Gefahr von "Bedeutungsverschiebungen" oder ähnlichem verbunden. Aber wie auch immer der Originaltext von Henderson lautet, seine Übersetzung dokumentiert das Selbstverständnis der Krankenpflege in der BRD. Grauhan leitet aus dieser Formel folgende Aussage ab: "Pflegetä- tigkeit ist ... komplementär zur Autonomie des einzelnen Patienten. "2) D.h., sie ist der Meinung, diese Formel definiere Kran- kenpflege als patientenzentrierte Tätigkeit, und zwar insofern, als sie den Patienten als autonomes Wesen behandelt wissen möchte. Genau diese Frage soll im folgenden anband einer genauen Analy- se der Formel von Henderson/Fischer untersucht werden. 1. "Die besondere Funktion der Schwester besteht in Hilfeleistung far den einzelnen, ob krank oder gesund,' in der Durchfûhrung jener Handreichungen, die zur Gesundheit oder Genesung beitragen (oder ZU einem friedlichen Tod) ... It Eigentlich stellt die Aussage dieses Satzes eine Enttäuschung dar. Man erwartet Besonderheiten, denn er beginnt mit den Worten "Die besondere Funktion ... ". Dann aber folgen lediglich Trivialitäten und Selbstverständlichkeiten wie "Hilfeleistung" und "Durchführung je- ner Handreichungen, die zur Gesundheit oder Genesung beitragen". Auffällig ist lediglich: die überflüssige Akzentsetzung auf den "einzelnen, ob krank oder gesund". Ist Krankenpflege Einzelpflege? Warum ist sie Hilfeleistung auch für den Gesunden? die Benutzung des vorsichtigen Verbs "beitragen" anstelle eines solchen, das eine zielgerichtete Tätigkeit auszudrücken vermag, sowie ARGUMENf-SONDERBAND AS 107 e
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Lothar Kabus

Entmündigung der Krankenpflege -die Formel von Virginia Hendersonln ihrer Arbeit "Grundregeln der Krankenpflege" meint Henderson,die berufliche Tätigkeit der Krankenschwester auf folgende Formelbringen zu können: "Die besondere Funktion der Schwester bestehtin Hilfeleistung für den einzelnen, ob krank oder gesund; in derDurchführung jener Handreichungen, die zur Gesundheit oder Ge-nesung beitragen (oder zu einem friedlichen Tod), welche der Krankeselbst ohne Unterstützung vornehmen würde, wenn er über die nöti-ge Kraft, den Willen und das Wissen verfügte. Diese Hilfeleistung hatin der Weise zu geschehen, daß der Kranke so rasch wie möglich sei-ne Unabhängigkeit wieder erlangt"."

Die Übersetzung eines Textes in eine andere Sprache ist zwangsläu-fig mit der Gefahr von "Bedeutungsverschiebungen" oder ähnlichemverbunden. Aber wie auch immer der Originaltext von Hendersonlautet, seine Übersetzung dokumentiert das Selbstverständnis derKrankenpflege in der BRD.

Grauhan leitet aus dieser Formel folgende Aussage ab: "Pflegetä-tigkeit ist ... komplementär zur Autonomie des einzelnenPatienten. "2) D.h., sie ist der Meinung, diese Formel definiere Kran-kenpflege als patientenzentrierte Tätigkeit, und zwar insofern, als sieden Patienten als autonomes Wesen behandelt wissen möchte.

Genau diese Frage soll im folgenden anband einer genauen Analy-se der Formel von Henderson/Fischer untersucht werden.1. "Die besondere Funktion der Schwester besteht in Hilfeleistungfar den einzelnen, ob krank oder gesund,' in der Durchfûhrung jenerHandreichungen, die zur Gesundheit oder Genesung beitragen (oderZU einem friedlichen Tod) ... It

Eigentlich stellt die Aussage dieses Satzes eine Enttäuschung dar.Man erwartet Besonderheiten, denn er beginnt mit den Worten "Diebesondere Funktion ... ". Dann aber folgen lediglich Trivialitäten undSelbstverständlichkeiten wie "Hilfeleistung" und "Durchführung je-ner Handreichungen, die zur Gesundheit oder Genesung beitragen".Auffällig ist lediglich:

die überflüssige Akzentsetzung auf den "einzelnen, ob krankoder gesund". Ist Krankenpflege Einzelpflege? Warum ist sieHilfeleistung auch für den Gesunden?die Benutzung des vorsichtigen Verbs "beitragen" anstelle einessolchen, das eine zielgerichtete Tätigkeit auszudrücken vermag,sowie

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- die Ein- bzw. Ausklammerung eines "friedlichen" Todes.Nun muß Henderson/Fischer allerdings zugestanden werden, daß

sie damit keineswegs etwas absolut Falsches sagen: Die Schwester hates nun einmal mit dem Menschen als einem Individuum zu tun, dasfaktisch vereinzelt ist, zumal in seinem Kranksein. Und sie ftlhrt nuneinmal Handreichungen durch, die jeweils nur am einzelnen durch-führbar sind. Und daß die Schwester es faktisch nicht nur mit Kran-ken, sondern hin und wieder auch mit Gesunden zu tun hat, ist auchnicht falsch. Bleibt die merkwürdige In-Klarnmersetzung des friedli-chen Todes, welche zu der Frage ftlhrt: Besteht die "besondereFunktion der Schwester" eher in "Hilfeleistung" für den Gesundenals für den Sterbenden?

Andererseits kann natürlich nicht geleugnet werden, daß es dasZiel der Schwester sein muß, in erster Linie "zur Gesundheit oderGenesung" beizutragen. Und mehr als "beitragen" kann sie ja nunwirklich nicht, denn Behandeln ist Sache des Arztes und Gesundwer-den Sache des Patienten.

Fazit: Henderson/Fischer beschränken sich auf die Darstellungvordergründiger Richtigkeiten und Selbstverständlichkeiten, die esfraglich erscheinen lassen, ob sie eine "besondere Funktion" recht-fertigen.

,2."Handreichungen, ... welche der Kranke selbst ohne Unterstützungvornehmen würde, wenn er über die nötige Kraft, den Willen unddas Wmen verjügte. H

Die Formulierung "Handreichungen, welche der Kranke selbst oh-ne Unterstützung vornehmen würde, " ist im Grunde genommensprachlicher Unsinn, weil das Wort "Handreichungen" - verstan-den als "Hilfeleistung", oder Geben von Hilfestellung - lediglichauf die Schwester bezogen werden kann, nicht auf den Patienten.Wer reicht sich denn schon selbst die Hand? Die gleichberechtigteAnwendung dieses Wortes sowohl auf das, was die Schwester fak-tisch tut, als auch auf das, was "der Kranke" (angeblich) .selbs: oh-ne Unterstützung vornehmen würde", bedeutet aber zweierlei: ein-mal die gedankliche Verschmelzung von handelndem Subjekt - alsoder Schwester - mit dem zu behandelnden Objekt - dern Patien-ten. Zum anderen die qualitative Gleichsetzung der Tätigkeit derSchwester mit der des Patienten, wenn man "Handreichungen ...vor-nehmen" als Hilfestellung geben bei fremder Tätigkeit versteht, -den Patienten also als handelndes Subjekt begreift, nicht als passivenArbeitsgegenstand, worauf es Henderson/Fischer wahrscheinlich an-kommt. Nur tun sie hier des Guten zu viel, indem sie - durch dieBenutzung des gleichen Worts - so etwas wie Identität vorgaukeln:

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das, was die Schwester tut, ist im Prinzip das gleiche, was der Patienttut.

Nahe liegt die Vermutung, daß Henderson/FIscher mit dem Be-griff "Handreichungen" die Absicht verbinden, Krankenpflege ab-solut wasserdicht als patientenzentrierte Tätigkeit zu definieren, Da-bei würden sie zunächst davon ausgehen, daß das Individuum in derRegel sich selbst hilft. Dies jedenfalls könnte m.E. eine nochhalbwegs sinnvolle Interpretation der Formulierung "Handreich-ungen, ...welche der Kranke selbst ohne Unterstützung vorneh-men würde", darstellen. Nun bildet der Kranke hier aber eineAusnahme, insofern er auf fremde Hilfeleistung angewiesen ist.Krankenpflege wäre also so etwas wie Hilfe zur Selbsthilfe. Auch sokönnte man Henderson/Fischer verstehen. Hilfe zur Selbsthilfe aberwiederum setzt voraus, daß zwei tätige Individuen, das helfende unddas sich selbst helfende, die Grenzen ihrer jeweiligen Eigentätigkeitmiteinander aushandeln müßten. Es scheint nun aber so zu sein, daßHenderson/Fischer dieses individuelle Aushandeln zu überspringenbeabsichtigen, weil es ihnen nicht patientenzentriert genug ist, weildamit die alleinige Souveränität des Patienten angetastet werdenkönnte. Statt dessen, so ist zu vermuten, verschmelzen sie gedanklichdie Tätigkeit der Schwester mit der des Patienten und setzen auf ab-solute Handelseinigkeit: Die "Handreichungen, die zur Gesundheitoder Genesung beitragen (oder zu seinem friedlichen Tod)", werdenzu "Handreichungen, ... " welche der Kranke selbst ohne Unterstüt-zung vornehmen würde."

Das aber wiederum würde bedeuten, daß Henderson/Fischer mitihrer Wortwahl die Absicht signalisieren, praktischer Krankenpflegeerst dann das Gütesiegel "patientenzentriert" zu verleihen, wenn dieTätigkeit der Schwester nicht mehr als Eigentätigkeit erscheint, son-dern als Tätigkeit des Patienten. Wahrlich, patientenzentrierter gingees nimmer. Denn dieser wäre nicht nur alleiniger "Arbeitgeber" derSchwester - einen anderen läßt der Wortlaut der Formel nicht zu -sondern auch der alleinig Arbeitende.

Wie erreichen nun Henderson/Fischer das Ziel absoluter Patien-tenzentriertheit? Sie erreichen es zunächst einmal dadurch, daß siedas Verhältnis Patient-Schwester mystifizieren, indem sie Kranken-pflege als ein mystisches Eins-Sein des Pflegenden mit dem Krankendefinieren. Das aber kann doch nur heißen, daß sie die Grenzen auf-lösen, welche die menschliche Autonomie, nun einmal setzt, ganzgleich, was man darunter nun verstehen mag, und wem man sie zu-billigt: dem Patienten, der Schwester oder beiden.

Henderson/Fischer erreichen absolute Patientenzentriertheit wei-ter dadurch, daß sie der Schwester die Fähigkeit zu absoluter Empa-

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thie unterstellen. Sie gehen also über das hinaus, was Rohde fordert,"nämlich empathisches Eingehen auf die jeweilige Problemlage desPatienten "31. Es stellt sich die Frage, wie HendersonIFischer sich dieRealisierung dessen vorstellen, was sie als scheinbare Selbstverständ-lichkeit postulieren. Konkretisieren läßt sich ihre absolute Handelsei-nigkeit eigentlich nur auf zweierlei Weise, zum einen als absoluteHerrschaft entweder des Patienten über die Schwester oder umge-kehrt, und zum anderen als banale Intimität. Letzteres würde aller-dings bedeuten, daß Krankenpflege nicht nur als eine Tätigkeit zu be-greifen sei, die notwendig mit Eingriffen in den Intimbereich desKranken einhergeht, sondern daß Krankenpflege als solche Intimitätsei. Es hat den Anschein, als ob Henderson/FIscher die Illegalitätkrankenpflegerischer Tätigkeit" dadurch aufheben wollen, daß siedas Verhältnis Patient-Schwester zum legalen Intimverhältnis erklä-ren.

Es hat weiter den Anschein, daß sie Herrschaft durch Intimitätverschleiern wollen, und daß sie zu diesem Zweck die BeziehungMann-Frau als ein Modell benutzen, das sowohl Herrschaft als auchIntimität beinhaltet. Nicht von ungefähr folgen Henderson/FIscherallzu bereitwillig dem allgemeinen Sprachgebrauch: Der HilfeleistungEmpfangende ist der Kranke, also ein Mann, während sie im Erbrin-gen der Hilfeleistung die besondere Funktion der Schwester sehen.Krankenpflege hat für sie also einen deutlich weiblichen Akzent, ob-gleich es auch den männlichen Krankenpfleger gibt.

Können HendersonIFischer, die so Unglaubliches definieren wieHerrschaft durch Hilfsbedürftigkeit, absolutes Eingehen usw., viel-leicht nur dadurch Glaubwürdigkeit erlangen, daß sie auf das Ste-reotyp der scheinbar selbstverständlichen Unterordnung der die-nenden Frau unter den herrschenden aber dennoch hilflosen Mannzurückgreifen? Offensichtlich knüpfen HendersonlFischer hierhintergründig an die herrschende Vorstellung an, daß wahre Hu-manität nur in einem privaten Rawn realisierbar sei, und das zwingtsie, Krankenpflege als pseudoprivate Idylle zu definieren, also nichtals Inanspruchnahme einer öffentlichen Dienstleistung bzw. alsLohnarbeit im öffentlichen Dienst. Das wiederwn führt zu der Fra-ge, ob sie Krankenpflege überhaupt als Berufsarbeit begreifen kön-nen. Ist das, was sie definieren, nicht vielmehr Privattätigkeit, alsobestenfalls Privatpflege? Wollen sie vielleicht Krankenpflege alsPrivattätigkeit neben der Berufsarbeit der Schwester verstandenwissen als etwas, das zusätzlich geleistet werden muß und aufgrundseiner Geringfügigkeit auch geleistet werden kann? In der Tat kanndie infrage stehende Formulierung auch als der Versuch einerkonsequenten Herabwertung praktischer Pflegetätigkeit verstan-

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den werden. Dieser Verdacht läßt sich an zwei Punkten festma-chen: ~a. Mit dem Gebrauch des Wortes "Handreichungen" vermitteln

HendersonIFischer- die Vorstellung, Krankenpflege sei leichte Handarbeit, also

nicht Knochenarbeit, die den ganzen Körper beansprucht wieHeben, Stützen, Tragen eines Patienten ganz gleich welchenGewichts;

- die Vorstellung leichter Hilfstätigkeit. Die eigentliche Arbeitmacht ein anderer, also der Patient;

- die Vorstellung von Geringfügigkeit und Unerheblichkeit.Krankenpflege" wäre somit eine Tätigkeit, bei der es auf eineHandreichung mehr oder weniger nicht ankäme;

- die Vorstellung von Diffusität, Unberechenbarkeit und Zer-splittertheit. Krankenpflege wäre also keine zielgerichteteTätigkeit, die auf die Hervorbringung eines Produktes alsGanzem abstellte. Sie wäre vielmehr eine Tätigkeit, die sichan einem vorgegebenen Ganzen zu orientieren hat und dar-über die eigene Ganzheit verliert. Krankenpflege hätte alsonichts Handwerkliches" an sich, sondern bestünde ledig-lich in einer Handreichung hier und einer Handreichungdort.

Zusammenfassend kann gesagt werden, daß Henderson/FIschermit dem Gebrauch des Wortes "Handreichungen" die Vorstellungvermitteln, Krankenpflege sei keine richtige Arbeit, ja eigentlich so-gar Nichtarbeit. Allerdings muß man ihnen zugute halten, daß sichdiese Vorstellung der Schwester selbst auch vermittelt, nämlich ausder Erfahrung ihres beruflichen Alltags, aus der Art ihrer Beschäfti-gung als "Mädchen für alles" und "für jedermann". Nur lassen esHenderson/Fischer ja damit nicht bewenden. Sie gehen einen Schrittweiter.b. Indem sie mit dem Wort "Handreichungen" sowohl die faktische

Tätigkeit der Schwester als auch die fiktive des Patienten bezeich-nen - beide Tätigkeiten also gedanklich verschmelzen - bagatel-lisieren sie nicht nur die Arbeit der Schwester. Vielmehr gehen sieden Weg der Abwertung weiter bis zur letzten Konsequenz, dervölligen Entwertung:- Krankenpflege verliert ihren Wert als Berufstätigkeit: Patien-

tenzentrierte Pflege im Sinne von Henderson/Fischer unter-scheidet sich nicht von den banalen "Aktivitäten des täglichenLebens?", die "der Kranke selbst ohne Unterstützung vorneh-men würde."

- Krankenpflege verliert ihren ideellen Wert als Hilfeleistung,

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und zwar insofern, als diese gedanklich überflüssig gemachtwird.

- Krankenpflege verliert ihren Wert als Arbeit. Denn der Patientals fiktiver Arbeitgeber, als "obersterDienstherr" nimmt nichtnur die Dienstleistungen der Schwester allein für sich in An-spruch, vielmehr verleibt er sich diese quasi ein. Er verkörpertalso krankenpflegerische Arbeit, nicht die Schwester. Auf die-se Weise wird deren Tätigkeit zur Nichtarbeit, zwn bloßenDienen aufgrund eines fiktiven Herrschaftsverhältnisses.

- Krankenpflege verliert ihren materiellen Wert, denn derSchwester wird das Recht auf angemessene materielle Entloh-nung abgesprochen, indem die Schwester zwn Schuldner desPatienten erklärt wird.

- Krankenpflege verliert ihr Recht auf immaterielle Gratifika-tion, denn sie wird gedanklich zur Bedürfnisbefriedigung nichtetwa des Patienten sondern der Schwester: Aufgrund des my-stischen Eins-Seins mit dem Kranken hat diese nämlich nichtnur Teil an dessen BedOrfnissen, sondern auch an deren Be-friedigung. Darüberhinaus aber schuldet sie dem PatientenDank, denn er ist es ja, der für sie arbeitet und der ihr hilft.Und deshalb kann es eigentlich nur ihr BedOrfnis sein, wennman bereit ist, dieser abstrusen Logik zu folgen, dem Patien-ten zu helfen, um damit ihre Schuld abzutragen.

Wie erreichen Henderson/Fischer also absolute Patientenzentriert-heit? Offensichtlich nur dadurch, daß sie den Wert pflegerischer Tä-tigkeit gedanklich auf Null bringen. Die Frage ist nur, von wem füh-len sie sich beauftragt: Vom Arbeitgeber Patient oder vom eigentli-chen Arbeitgeber der Schwester? Denn eines dürfte doch einleuchten,die Leistung eines Lohnarbeitenden, der seine Arbeit als Nichtarbeit,ja als private BedOrfnisbefriedigung zu begreifen gelernt hat, muß alsgrenzenlos steigerbar erscheinen. Wollen Henderson/Fischer absolu-te Patientenzentriertheit dadurch realisieren, daß sie der Schwesterein tendenziell grenzenloses Quantum von Mehrarbeit abnötigen?

Bei dem letzten Teil des zu analysierenden Satzgebildes handelt essich formal um einen Konditionalsatz etwa folgenden Inhalts: DerKranke würde die Handreichungen selbst vornehmen, wenn er überdie nötige Kraft, den Willen und das Wissen verfügte.

"Kraft, Wille, Wissen" des ideell "unabhängigen" Patienten alsVoraussetzung dafür, daß dieser diffuse Handreichungen an sichselbst vorzunehmen vermöchte, sind vornehmlich motivationaleKonzepte. Die Schwester hat nach dem Übertragungsmodell stellver-tretend zu agieren. Die Absurdität der Formel ist verdoppelt: sie be-stimmt den Patienten völlig inhaltslos-negativ als jemanden, der un-

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abhängig handeln würde, wenn er es könnte, die Schwester als Per-son, die handelt, obwohl sie unabhängig Kraft, Willen' und W1SSennicht realisieren kann. HendersonlKlein setzen an die Stelle einerplausiblen Definition der Akteure ein Übertragungs-, ein Interak-tionsmodell. Das ermöglicht es ihnen auch, den unspezifischenHandlungs- und Modivationsbegriff gegen den der Arbeit auszu-wechseln: das erklärt, warwn von Arbeit und Kônnen der Schwesternicht die Rede ist. Sie wird ihrer praktischen Kompetenzen enteignet.

3. "Diese Hilfeleistung hat in der Weise zu geschehen, daß der Kran-ke so rasch wie môglicn seine Unabhangigkeit wiedererlangt. H

Gegenüber dem vorausgegangenen Satzgebilde hat diese Formulie-rung den Vorteil, daß sie eine eindeutige Aussage wagt: Der Krankesoll mithilfe der Schwester "seine Unabhängigkeit" wiedererlangen,und zwar "so rasch wie möglich". Warwn eigentlich "rasch"? Wa-rum nicht so bald wie möglich? Soll hier jemand zur Eile angetriebenwerden? Und wenn ja, wer? Der Patient, die Schwester oder beide?

Und warwn das Wiedererlangen von Unabhängigkeit und nichtvon Gesundheit oder Genesung oder das Ermöglichen eines friedli-chen Todes? Vielleicht deshalb, weil dies trotz der Möglichkeiten dermodernen Hochleistungsmedizin nicht so ohne weiteres "rasch" ge-schehen kann. Wenn aber gefordert wird, daß etwas so rasch wiemöglich geschieht, dann kann mit Recht erwartet werden, daß diesauch rasch möglich ist, andernfalls beinhaltete diese Forderung eineUnmöglichkeit und wäre deshalb sinnlos. Das aber wiederum hieße,daß der Klient der Schwester lediglich der Kranke ist, bei, dem dasWiedererlangen von Unabhängigkeit, ganz gleich, was man darunterzunächst verstehen mag, zu erwarten ist. Chronisch Kranke und Ster-bende fielen also nicht unbedingt unter die "besondere Funktion derSchwester". Folgerichtig müßte der "friedliche Tod" ein- bzw. aus-geklanunert werden.

Oder aber, Klient der Schwester ist lediglich der Kranke, bei demrasches Wiedererlangen von Unabhängigkeit zu erwarten ist, alsobeim Leicht- und Kurzkranken bzw. beim therapiefähigen Kranken.

Abgesehen davon, daß HendersonlFischer möglicherweise Kran-kenpflege nicht als Pflege des Kranken schlechthin verstehen, gebensie einem weiteren Verdacht Raum, nämlich dem, daß sie Krankheitund Unabhängigkeit durch die Brille des Oberflächlich-Faktischensehen, des mediziilisch "rasch" Machbaren. Krankheit wäre thera-pierbare Krankheit und Unabhängigkeit faktische Unabhängigkeitvon der Hilfeleistung der Schwester bzw. der Institution Kranken-haus. Damit bekäme aber der letzte Satz der Formel folgenden bana-len Inhalt: Die Hilfeleistung der Schwester hat in der Weise zu ge-

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schehen, daß der Kranke so rasch wie möglich aus dem Krankenhausentlassen werden kann. Und dieses "so rasch wie möglich" wärenicht so sehr Ausdruck humanen Helfens und totaler Empathie, wieHendersonIFischer vordergründig glauben machen möchten, son-dern vielmehr Ausdruck institutioneller Zwänge wie der Notwendig-keit von Bettenauslastung, von Steigerung des Patientendurchlaufs,von Auslastung der diagnostisch-therapeutischen Kapazitäten desKrankenhauses usw.

Dies hieße aber doch letztlich, daß die "Unabhängigkeit" desKranken sich von der Autonomie des Krankenhauses herleitete undsomit gar nicht "seine" eigene wäre, wie HendersonlFischer es be-haupten. Es scheint so zu sein, daß sie einen Begriff benutzen, dersich in doppelter Weise verwenden läßt, einmal als Ausdruckmenschlicher Wertvorstellungen und zum anderen als Ausdruck vonZwängen und Notwendigkeiten. Und in der faktischen Situation desKrankenhauspatienten scheinen sich nun beide Möglichkeiten inglücklicher Weise zu vereinen: Der Zwang zur raschen Herstellungder Entlassungsfähigkeit aus Gründen der Effektivität des Kranken-hausbetriebs und der Wunsch des Patienten, wieder in seine gewohn-te Umgebung - seine Unabhängigkeit - zu gelangen, denn einKrankenhausaufenthalt ist ja alles andere als angenehm.

Dies hieße aber, daß Henderson/Fischer rohe Faktizität und Not-wendigkeit mit einem scheinbar humanen Wert vergolden, und inso-fern erscheint es fraglich, ob ihre Forderung an die Schwester dafürzu sorgen, daß der Kranke so rasch wie möglich seine Unabhängig-keit wiedererlangt, rein humanen Erwägungen entspringt. Es scheintauch möglich, daß ganz einfach das Arbeitsternpo der Schwester er-höht werden soll, und zwar auf zweierlei Weise, einmal durch einenAppell an ihr humanes Engagement, zum andern durch das Inaus-sichtsteIlen von Arbeitsentlastung. Die Grundlage in beiden Fällenwäre aber die faktische Inhumanität der Institution Krankenhausund die Not des Patienten, welche als Medium zur Durchsetzung in-stitutioneller Interessen benutzt würde.

4. Kritische WertungDaß nach HendersonlFischer der Kranke nicht einfach nur seine Ge-sundheit, sondern vor allem seine Unabhängigkeit wiedererlangensoll, kann nicht nur als ein Hinweis dafür angesehen werden, daßdiese sich der Effektivität des Krankenhausbetriebs verpflichtet füh-len, wonach Krankenpflege so rasch wie möglich zu einem greifbarenErgebnis zu führen hat. Vielmehr kann dies auch so verstanden wer-den, daß Unabhängigkeit für sie der übergeordnete humane Wert ist,dem sie Gesundheit, Genesung und friedlichen Tod unterordnen,

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was gedanklich durchaus möglich ist: Gesundheit als Unabhängig-keit, Krankheit als Verlust von Unabhängigkeit und Genesung alsZwischenstadium auf dem Wege zur vollen Unabhängigkeit. Dochwas ist mit dem "friedlichen Tod"?

Natürlich kann man auch ihn als eine besondere Form von Unab-hängigkeit begreifen, nämlich als absolute Unabhängigkeit von men-schlicher Hilfe. Und wenn man bedenkt, daß letztlich auch der völligGesunde nicht unabhängig ist von mitmenschlicher Hilfe, sei es nunim beruflichen Alltag von der Hilfe der Kollegen oder im Privatlebenvon der Hilfe der Angehörigen und Freunde, dann dürfte auf maka-bre Weise klar werden, daß sich dieser humane "Wert" in seinerVerabsolutierung eigentlich nur am Toten konkretisieren läßt. Inso-fern wäre es eigentlich nicht so ganz verständlich, weshalbHendersonlFischer den "friedlichen Tod" ausklammern.

Aber vielleicht tun sie es deshalb, weil es ihnen nicht um Unabhän-gigkeit an sich geht, sondern weil sie diesen Wert am aktiven - unddas heißt natürlich am lebenden - Individuum konkretisieren wol-len. Wie wichtig ihnen der eigenaktive Patient ist, zeigen sie ja da-durch, daß sie dessen zwangsläufig eingeschränkte Aktivität dadurchaufzubessern versuchen, daß sie ihm die Fremdaktivität der Schwe-ster als Teil seiner Eigenaktivität unterschieben. Nur, wenn das aktiveIndividuum so wichtig ist, warum muß es dann auch noch unabhän-gig sein? Setzen HendersonlFischer mit ihrer Wortwahl nicht wiedereinmal eine Oktave zu hoch an, wenn sie fordern, der Kranke solleseine Unabhängigkeit so rasch wie möglich wiedererlangen? Würdenicht die volle Handlungsfähigkeit genOgen? Denn wer ist schon un-abhängig aufgrund eigener Aktivität? Offenbar geht es Hender-sonlFischer um mehr als nur partiale Werte wie einfache Unabhän-gigkeit oder Aktivität. Es geht ihnen um das Wesen des Menschen,welches sie in seiner Autonomie erblicken, menschliche Autonomiealso - vgl. Grauhan - als Ergebnis individueller Aktivität. Insofernist es verständlich, daß sie sich gezwungen sehen, auch dem abhängi-gen, hilfsbedürftigen Kranken so etwas wie Unabhängigkeit überzu-stülpen. Täten sie es nicht, dann - so meinen sie wohl - sprächensie ihm die Menschlichkeit ab.

Patientenzentrierte Pflege zu definieren heißt deshalb für Hender-sonlFischer, das autonome Individuum zum zentralen Wert zu ma-chen, zum Ausgangspunkt aller Überlegungen, um überhaupt Pflegeals menschliche zu definieren,

Insofern dürfte die Vermutung richtig sein, daß der letzte Satz derFormel der eigentlich wichtige ist, weil er deren Zentralwert nennt,nämlich "Unabhängigkeit" verstanden als individuelle Autonomie.Nun können HendersonlFischer sicher sein, einen gesellschaftlich-

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gültigen Wert benutzt zu haben. Aber die Frage ist doch: Kann manmit seiner Hilfe patientenzentrierte Pflege definieren? Einiges solltebedenklich stimmen:- Die Formel offeriert das Bild des Menschen als eines autonomen

Individuums in doppelter Form: Da ist einmal der Kranke, derkraft "Willen" und "Wissen" - zumindest ideel - handlungs-fähig und damit unabhängig ist und bleibt, trotz offensichtlicherHilfsbedürftigkeit. Und da ist der andere Kranke, der durch "Hil-feleistung" "seine Unabhängigkeit" erst wiedererlangen soll.

- die Formel offeriert das durch Eigenaktivität autonome Individu-um lediglich als Fiktion oder Ideal. Man denke an den fragwürdi-gen Konjunktiv der Formel.

- Die Formel beginnt mit den Worten: "Die besondere Funktionder Schwester besteht in Hilfeleistung für den einzelnen, ob krankoder gesund, .... " D.h., sie unterstellt auch dem Gesunden Hilfs-bedürftigkeit und damit Abhängigkeit.

Die Formel definiert die Tätigkeit der Schwester als "Funk-tion", die sich in totaler Handelseinigkeit mit dem Patientenvollzieht, so daß ideell die Handreichungen der Schwester zu de-nen des Patienten werden. D.h. aber, daß sie neben den unab-hängigen Patienten die total abhängige Schwester stellt, sozusa-gen als dessen natürliche Ergänzung.

Das fordert zu folgender Frage heraus: Läßt sich Krankenpflegemit dem gesellschaftlich-gOltigen Wert individueller Autonomie defi-nieren, ohne daß nicht stillschweigend ein weiterer "Wert" vorausge-setzt wird, nämlich der individueller Abhängigkeit, welcher sich wie-derum in zweierlei Weise manifestiert, in individueller Hilfsbedürftig-keit und in dem individuellem Bedürfnis zu helfen?

Um Klarheit zu gewinnen, dürfte eine gedankliche Auseinander-setzung mit dem gültigen Wert "individueller Autonomie" nicht zuumgehen sein.

Wenn man - Henderson/Fischer folgend - patientenzentrier-te Pflege von dem vermeintlichen Grundwert individueller Auto-nomie abzuleiten versucht, dann muß man sich zunächst einmaldarüber im klaren sein, daß dieser Wert nicht eindeutig ist. SchonAristoteles meint: " ... wer keine Gemeinschaft halten kann oderwer nichts braucht, weil er sich selbst genug ist, der ist nicht Glieddes Staatswesens sondern entweder Tier oder Gott' '8). Für ihn wä-re individuelle Autonomie als Selbstgenügsamkeit kein menschli-cher Wert, und die Alternative "Tier oder Gott" deutet an, wie ereinen solchen Wert beurteilen würde, nämlich als tierisch-natürlich oder als übermenschlich-göttlich. Der Mensch aber istfür ihn "von Natur ein staatsbildendes Geschöpf"?', also Sozial-

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wesen, ein Gedanke, dem man wohl auch heute noch beizupflich-ten bereit ist.

Wie ist es nun aber zu erklären, daß "individuelle Autonomie"zum menschlichen Wert werden konnte? Mészäros, ein Schiller Ge-org Lukàcs', macht dafür die Entwicklung der kapitalistischen Pro-duktionsweise verantwortlich, deren gewaltiger Dynamik die "Über-windung der unmittelbaren menschlichen Naturabhängigkeit'v' zuverdanken sei. D.h. menschliche Autonomie läßt sich zunächst nurgedanklich realisieren als Unabhängigkeit von der rohen Natur. Erstwenn diese gewissermaßen "real" erreicht ist, ist der nächste gedank-liche Aufschwung möglich, nämlich das Denken individueller Auto-nomie bzogen auf die Gesellschaft. Nun ist aber diese vermeintlicheindividuelle Autonomie keineswegs eine individuelle sondern eine ge-sellschaftliche Leistung. Sie ist nämlich das Ergebnis gesellschaftlicherArbeit. Insofern steckt in diesem Wert ein Unwert, denn gesellschaft-liche Leistung muß in individuelle umgelogen werden. Dieser Unwertist auch in der Formel von HendersonlFïscher zu entdecken: Sie ver-kaufen nämlich die Handreichungen der Schwester und damit auchdie Leistung des Krankenhausbetriebs als Handreichungen des Pa-tienten, als seine Unabhängigkeit".

Nun steckt in dieser Umwertung gesellschaftlicher Arbeit in indivi-duelle Leistung aber durchaus ein rationaler Kern, nämlich insofern,als die kapitalistischen Verhältnisse diese Umwertung nicht nur er-möglichen, sondern geradezu erzwingen: Der Kapitalbesitzer kannsein Kaptial nur verwerten, indem er sich gesellschaftliche Arbeit an-eignet, indem er fremde Arbeitskraft kauft und ausbeutet. DerNicht-Kapitalbesitzer, der allein von seiner Arbeit Lebende kann nurexistieren, indem er seine Arbeitskraft individuell produziert, ver-kauft und verausgabt im Dienste des Kapitals.

Mészäros bezeichnet zwar Ausdrücke wie "einsame Masse" und"erzwungene Privatisierung" als "Schlagworte" der "neueren sozio-logischen Literatur" 9). Doch wird er wohl kaum damit den Orund-widerspruch des kapitalistischen Systems leugnen wollen, nämlichden zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung.Insofern beinhaltet der Wert "individuelle Autonomie" so unter-schiedliche humane Werte wie einerseits den Luxus einer gesellschaft-lichen Elite, gewonnen durch Herrschaft und Enteignung, und ande-rerseits das erzwungene menschliche Elend, die Vereinzelung, die Re-duktion auf "abstrakte Arbeit" und auf "einen Bauch'" 0), d.h. denZwang, durch sinnentleerte Arbeit und den Kauf wertloser Oüter seinLeben fristen zu müssen.

D.h. aber: Der Wert "individuelle Autonomie" ist gespalten unddoppeldeutig. Ja noch mehr, er ist ein Wert, der seine eigene Nega-

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tion beinhaltet: Die scheinbare Unabhängigkeit des einen wird zurreellen Abhängigkeit ds anderen. Das aber wiederwn heißt, er ist keinallgemeiner menschlicher Wert, und es stellt sich die Frage, wie wol-len Henderson/Fischer mit ihm Krankenpflege allgemeinverbindlichdefinieren? Sie können es nur, indem sie eine gehörige Portion Zynis-mus in ihre Formel einfließen lassen:

Da wird dem Kranken "seine Unabhängigkeit" vor die Nase ge-halten, die er "so rasch wie möglich" wiedererlangen soll. Wasverbirgt sich denn schon dahinter als der Zang, ihn "so raschwie möglich" in seine private Abhängigkeit zu entlassen, damiter der öffentlichen Ökonomie nicht über Gebühr auf der Tascheliege, denn Humanität ist ja Sache des "autonomen" Individu-ums und damit Privatsache.Da wird dem Kranken eine pseudofamiliäre Idylle vorgegaukelt,aus der er aber "so rasch wie möglich" wieder hinausgestossenwerden soll, um einem anderen Platz zu machen.Da wird dem Patienten seine Mündigkeit vorgehalten ("Kraft, ""Wille" und "Wissen"), aber nur deshalb, um ihn damit zuentmündigen, weil es nun einmal "nötig" ist.Und da wird der hilfsbedürftig Kranke zum selbständigen We-sen hochstilisiert, aber nur deshalb, damit er sich mit seiner Hei-lung beeilt und sein Bett für den nächsten Patienten freimacht.

Soll das patientenzentrierte Pflege sein - umfassend und indivi-duell, eine Ergänzung der einseitig naturwissenschaftlich orientiertenMedizin?

Was Henderson/Fischer definiert haben, ist einerseits Privatpfle-ge, andererseits Krankenpflege, die als Krankenhausarbeit in dieStrudel der kapitalistischen Ökonomie geraten ist, und das heißt nunallemal: Soviel Ökonomie wie möglich und so wenig Humanität wiegerade erträglich. Die Bewahrung der notwendigen Resthumanitätaber wird insofern zur alleinigen Aufgabe der Schwester erklärt, alssie zu ihrer privaten Herzensangelegenheit gemacht wird, die sie ne-ben ihrer Lohnarbeit - quasi unbezahlt - zu leisten habe. Auch fürsie wird also Humanität zur Privatsache und damit zur Unverbind-lichkeit, dienur durch ideologischen Druck in moralische Pflicht um-gemünzt werden kann. Ist dies das Anliegen der patientenzentriertenPflege, nämlich moralischen Druck auf die Schwester auszuüben,damit auch bei ständig steigender Auslastung ihrer Arbeitskraftdurch patientenferne, funktionale Aufgaben das Krankenhaus seinhumanes Gesicht nicht vollständig verliert?

Gerade am Beispiel der Schwester aber zeigt sich deutlich die ten-dienzielle Inhumanität der Formel und des ihr zugrunde liegendenWertes: Was dem Patienten, wenn auch nur scheinbar und vorder-

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gründig, zuerkannt wird an humanen Werten wie Autonomie undMündigkeit, das wird der Schwester radikal abgesprochen. Sie fmdetAutonomie nur im Patienten. Offensichtlich können HendersonlFi-scher sich Humanität nur vorstellen als ein Produkt, daß durch Herr-schaft und Zwang dem anderen abgenötigt werden muß, und umdies als "natOrlich" zu rechtfertigen, benutzen sie als "humanes"Modell die Intimbeziehung Mann-Frau. Das mag ein Ausdruck vonVerlegenheit sein. Möglicherweise stellt es aber auch den Versuchdar, die Quelle aller Arbeitskraft, die ja die Frau als Erzeugerinmenschlichen Lebens darstellt, unmittelbar anzuzapfen, also unterUmgehung lästiger Vermittlungen wie Arbeitsrecht usw .. Das hieße,weibliche Arbeitskraft ihres Warencharakters tendenziell zu entklei-den und diese als "natOrlichen" Rohstoff zu verwerten. Dem Patien-ten käme in diesem Falle eine wichtige Rolle zu, denn ohne die Ver-mittlung seiner Hilflosigkeit könnte dieser Verwertungsprozeß nichtingang kommen. Ist. das vielleicht das eigentliche Anliegen desmodernen Konzepts der patientenzentrierten Pflege? Die restlose

. Auslastung der Schwester als Arbeitskraft mithilfe des Patienten?Um zu einer abschließenden Wertung zu gelangen, ist es notwen-

dig, sich der Ausgangsfrage zu erinnern: Haben HendersonIFischerpatientenzentrierte Pflege defmiert?Der Verfasser möchte seine Antwort kurz fassen: Die Frage erübrigtsich und somit auch die Antwort. Eine weitere Frage, welchen Werthat die Formel? Auch diese Antwort kann in einem Satz gegebenwerden; Sie ist ein Konglomerat von oberflächlichen Richtigkeiten,blankem Opportunismus und moralischem Rigorismus.Die notwendige Frage, nämlich die nach einem alternativen Wert,mit dem sich patientenzentrierte Pflege tatsächlich defmieren ließe,bleibt dem Verfasser im Halse stecken, denn es scheint so zu sein,daß die HendersonIFischer'sche Formel nicht nur "innerhalb derPflegeberufe Zustimmung findet"!" sondern daß sie auch für das ge-halten wird, für das ihre Autoren sie halten, nämlich als Definitionpatientenzentrierter Pflege.Drei Dinge scheinen den "Zustimmenden" immer noch nicht ins Be-wußtsein gedrungen sein:

1. Krankenpflege ist Lohnarbeit.2. Krankenpflege ist öffentlicher Dienst.3. Die ökonomische Basis von beruflicher Krankenpflege bilden öf-

fentliche Mittel, insbesondere die Beiträge der Solidargemein-schaft der versicherten Arbeitnehmer.

Den Grundwert Solidarität aber mag der Verfasser diesen "Kolle-gen" nicht mehr vermitteln, denn ihr Arbeitsplatz scheint nicht mehr

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der am Krankenbett zu sein. Es bleibt ihm nur noch eines, nämlichRohde zuzustimmen, welcher feststellt:"So fördern und bewirken-unbewußt-gerade diejenigen solche inhu-manen Tendenzen, welche Humanität, nämlich empathisches Einge-hen auf die jeweilige Problemlage des Patienten, im Unterricht undin der Unterweisung predigen. "12

Anmerkungen1) Henderson, V.: Basie Principles of Nursing Care, in der Übersetzung von Edith

FISCher, zitiert nach Antje Grauhan: Ausbildung als Vorbereitung auf die prak-tische Tätigkeit aus der Sicht der Pflegeberufe, in: Deutsche Krankenpflegezeit-schrift Nr. 9, 1979, S. 444 ff

2) Grauhan, A.: Ausbildung als Vorbereitung auf die praktische Tätigkeit aus derSicht der Pflegeberufe, in: Deutsche Krankenpflegezeitschrift, Nr. 9, 1979, S.444

3) Rohde, J. J.: Strukturelle Momente der Inhumanität einer humanen Institu-tion, in: Schwitajewski, H., Rohde, J. J. (Hrsg.): Berufsprobleme der Kran-kenpflege, München-Berlin-Wien, 1975

4) Grauhan, A., ebenda5) Roper, N.: A Modell of Nursing and Nursology, in: Journal of Advanced Nur-

sing, 1976, S. 219/1966) Aristoteles: Politik, Buch I. Kap. 2, zitiert nach Mészaros, I.: Der Entfrem-

dungsbegriff bei Marx, München 1973, S. 3227)ebenda8) Mészâros, J.: Der Entfremdungsbegriff bei Marx, München 1973, S. 3289) Mészâros, I.: a.a.O., S. 323

10) Marx, K.: Texte zu Methode und Praxis II, Reinbeck 1966Il) Grauhan, A.: ebenda12) Rohde, J. J.: ebenda

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