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Liturgiewissenschaft im Kontext der Theologie€¦ · lateinischen Modellbücher (editio typica)...

Date post: 19-Oct-2020
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EINFÜHRUNG IN DIE LITURGIEWISSENSCHAFTWINTERSEMESTER 2011/2012 DR. ALEXANDER SABERSCHINSKY 0. Liturgiewissenschaft im Kontext der Theologie Theologie – eine Wissenschaft Dass Theologie eine Wissenschaft ist, war über Jahrhunderte unbestritten. Seit dem 14. Jahrhundert ändert sich der Wissenschaftsbegriff: Wissenschaft geht empirisch vor und forscht voraussetzungslos. Theologie ist jedoch nicht voraussetzungslos, sondern die wissenschaftliche Suchbewegung wird vom Glauben angestoßen und hat die rational nicht ableitbare Offenbarung zum Gegenstand. Dennoch ist Theologie eine Wissenschaft. Zwar ist die Erfahrung Gottes und seine Offenbarung nicht ableitbar und kann nicht rational abschließend erfasst werden, doch kann wissenschaftlich-kritisch nach den Bedingungen der Möglichkeit der Transzendenzerfahrungen gefragt werden. Mehr noch: Es ist gerade der Glaube, der die wissenschaftliche Reflexion seinerselbst herausfordert, und zwar nach den Maßstäben des rationalen Denkens. Theologie will den Glauben verstehen, den sie voraussetzt. Augustinus: „So also wollen wir suchen: als solche, die finden werden, und so wollen wir finden: als solche, die suchen werden.“ Anselm von Canterbury: fides quaerens intellectum – der Glaube, der Einsicht sucht Glaube und wissenschaftliche Reflexion in der Theologie schließen sich nicht aus, sondern bedingen einander. Die biblische Fächergruppe umfasst die Fächer jeweils der Exegese der Neuen und Alten Testaments sowie die Einleitung hierein. Diese exegetischen Fächer fragen nach der Möglichkeit des Verstehens biblischer Texte. Die historische Fächergruppe beziehungsweise Kirchengesichte erforscht die Veränderung und Entwicklung des kirchlichen Lebens, beispielsweise in der Kunst (Christliche Kunst). Die systematische Fächergruppe setzt sich mit der inneren Logik des theologischen Denkens im Gegenüber von Bibel, kirchlichem Bekenntnis und gesellschaftlich- kulturellem Leben auseinander. Die praktische Fächergruppe widmet sich den unterschiedlichen kirchlichen Handlungsfeldern. Dabei ist wichtig zu beachten, dass die praktische Theologie nicht nur eine Umsetzungs- oder Anwendungslehre der übrigen theologischen Disziplinen in die Praxis ist. Es geht vielmehr um die „Praktikabilität“ des Glaubens im Sinne einer „praktischen Verwirklichung des Glaubens in der jeweiligen Gegenwart“. Wissenschaftlich reflektiert wird die „Verwirklichbarkeit“ des Glaubens in der Praxis Die Entstehung der Liturgiewissenschaft als theologischer Disziplin Die Liturgiewissenschaft zählte lange nicht zum Fächerkanon der Theologie, sondern tritt erst die letzten Jahrhunderte in Erscheinung und erhielt auch erst seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil den Rang eines theologischen Hauptfaches zuerkannt (vgl. SC 16). Die einzigen Liturgieerklärungen aus dem christlichen Altertum sind Katechesen für die Täuflinge. Als die Riten später komplizierter wurden und Latein nicht mehr die Volkssprache war, bedurfte es vermehrt der Liturgieerklärungen. Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Liturgie setzt im Kontext der Reformation seitens der Humanisten ein. In der Barockzeit des 17. und 18. Jahrhunderts erreichten die Erforschung der historischen Quellen der Liturgie einen Höhepunkt. Seit dem 18. Jahrhundert kommt es zu ersten pastoraltheologischen Ansätzen.
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  • EINFÜHRUNG IN DIE LITURGIEWISSENSCHAFT“ WINTERSEMESTER 2011/2012 – DR. ALEXANDER SABERSCHINSKY

    0. Liturgiewissenschaft im Kontext der Theologie

    Theologie – eine Wissenschaft

    • Dass Theologie eine Wissenschaft ist, war über Jahrhunderte unbestritten. Seit dem 14. Jahrhundert ändert sich der Wissenschaftsbegriff: Wissenschaft geht empirisch vor und forscht voraussetzungslos. Theologie ist jedoch nicht voraussetzungslos, sondern die wissenschaftliche Suchbewegung wird vom Glauben angestoßen und hat die rational nicht ableitbare Offenbarung zum Gegenstand.

    • Dennoch ist Theologie eine Wissenschaft. Zwar ist die Erfahrung Gottes und seine Offenbarung nicht ableitbar und kann nicht rational abschließend erfasst werden, doch kann wissenschaftlich-kritisch nach den Bedingungen der Möglichkeit der Transzendenzerfahrungen gefragt werden. Mehr noch: Es ist gerade der Glaube, der die wissenschaftliche Reflexion seinerselbst herausfordert, und zwar nach den Maßstäben des rationalen Denkens. Theologie will den Glauben verstehen, den sie voraussetzt. Augustinus: „So also wollen wir suchen: als solche, die finden werden, und so wollen wir finden: als solche, die suchen werden.“ Anselm von Canterbury: fides quaerens intellectum – der Glaube, der Einsicht sucht

    • Glaube und wissenschaftliche Reflexion in der Theologie schließen sich nicht aus, sondern bedingen einander.

    • Die biblische Fächergruppe umfasst die Fächer jeweils der Exegese der Neuen und Alten Testaments sowie die Einleitung hierein. Diese exegetischen Fächer fragen nach der Möglichkeit des Verstehens biblischer Texte.

    • Die historische Fächergruppe beziehungsweise Kirchengesichte erforscht die Veränderung und Entwicklung des kirchlichen Lebens, beispielsweise in der Kunst (Christliche Kunst).

    • Die systematische Fächergruppe setzt sich mit der inneren Logik des theologischen Denkens im Gegenüber von Bibel, kirchlichem Bekenntnis und gesellschaftlich-kulturellem Leben auseinander.

    • Die praktische Fächergruppe widmet sich den unterschiedlichen kirchlichen Handlungsfeldern. Dabei ist wichtig zu beachten, dass die praktische Theologie nicht nur eine Umsetzungs- oder Anwendungslehre der übrigen theologischen Disziplinen

    in die Praxis ist. Es geht vielmehr um die „Praktikabilität“ des Glaubens im Sinne einer „praktischen Verwirklichung des Glaubens in der jeweiligen Gegenwart“. Wissenschaftlich reflektiert wird die „Verwirklichbarkeit“ des Glaubens in der Praxis

    Die Entstehung der Liturgiewissenschaft als theologischer Disziplin

    • Die Liturgiewissenschaft zählte lange nicht zum Fächerkanon der Theologie, sondern

    tritt erst die letzten Jahrhunderte in Erscheinung und erhielt auch erst seit dem Zweiten

    Vatikanischen Konzil den Rang eines theologischen Hauptfaches zuerkannt (vgl. SC 16).

    • Die einzigen Liturgieerklärungen aus dem christlichen Altertum sind Katechesen für die

    Täuflinge. Als die Riten später komplizierter wurden und Latein nicht mehr die

    Volkssprache war, bedurfte es vermehrt der Liturgieerklärungen.

    • Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Liturgie setzt im Kontext der

    Reformation seitens der Humanisten ein. In der Barockzeit des 17. und 18. Jahrhunderts

    erreichten die Erforschung der historischen Quellen der Liturgie einen Höhepunkt. Seit

    dem 18. Jahrhundert kommt es zu ersten pastoraltheologischen Ansätzen.

  • Saberschinsky: Einführung in die Liturgiewissenschaft, S. 2

    Liturgiewissenschaft im Kontext der Theologie

    • Trotz dieser stark historischen Ausrichtung wurden auch innerhalb der

    wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Liturgie Überlegungen angestellt,

    inwieweit es sich bei der Liturgiewissenschaft um eine eigenständige Wissenschaft

    handele. Die Standortbestimmung der Theologie hinsichtlich ihres Selbstverständnisses

    und ihres Eigencharakters geschieht im Kontext der Theologie und im Hinblick auf die

    übrigen theologischen Disziplinen.

    • Der historische Zugang zur Liturgiewissenschaft führte zu einer deutlichen Zuordnung

    der Liturgiewissenschaft zur Kirchengeschichte und einem Verständnis der

    Liturgiewissenschaft vor allem als Liturgiegeschichte.

    • Eine als Rubrizistik verstandene Liturgiewissenschaft beschreibt anhand der

    Rechtsquellen der Rubriken der liturgischen Bücher und der Erlasse der

    Ritenkongregation den Ablauf der Liturgie. Eine so verstandene Liturgiewissenschaft

    weist eine große Nähe zum Kirchenrecht auf.

    • Oftmals wird die Liturgiewissenschaft zur praktischen Theologie gerechnet und in

    großer Nähe zur Pastoraltheologie gesehen. Die Pastoralliturgik fragt nach der Rolle der

    Liturgie im kirchlichen Leben als einem der zentralen Handlungsfelder von Kirche, und

    zwar konkret vor Ort in der Gemeinde.

    • Die Liturgiewissenschaft ist jedoch vor allem ein eigenständiges Fach. Als solches ist ihr

    Gegenstand die Kirche, und zwar wie sie sich im Gottesdienst als betende Kirche

    darstellt. Es geht dabei nicht um die pastoraltheologische Perspektive des

    Gottesdienstes als seelsorgliches Handlungsfeld, sondern um die Feier des Glaubens in

    der Liturgie.

    „Der Gegenstand der Liturgiewissenschaft ist kein anderer als der eine Gegenstand der

    Theologie überhaupt: der Glaube. Die Besonderheit der Liturgiewissenschaft besteht

    darin, daß sie den Glauben im Medium seiner gottesdienstlichen Realisierung

    reflektiert.“1

    „Die Liturgiewissenschaft als eigenständiges theologisches Fach kann kein anderes

    Thema haben als die Theologie insgesamt: den Glauben der Kirche oder die Kirche als

    glaubende. Die Besonderheit der Liturgiewissenschaft besteht darin, daß sie das

    Glaubensgeschehen aus der Quelle der gottesdienstlichen Versammlung erschließt, in

    denen es konkrete Gestalt annimmt. Die Liturgiewissenschaft reflektiert also mit

    1 Reinhard MEßNER, Einführung in die Liturgiewissenschaft (utb 2173), Paderborn 2001, S. 21.

    wissenschaftlichen Methoden den gestalteten, in Gebet und rituellen Handlungen

    verleiblichten Glauben.“2

    Theologische Zugänge zur Liturgiewissenschaft: systematisch, historisch, praktisch

    • So wichtig und unerlässlich die Unterscheidung der einzelnen theologischen Disziplinen

    sein mag, darf sie doch nicht zu der irrigen Annahme führen, die verschiedenen Fächer

    der Theologie ständen beziehungslos nebeneinander. In welcher Beziehung steht die

    Liturgiewissenschaft also jeweils zu den verschiedenen theologischen Disziplinen, und

    was bedeutet dies jeweils für die verschiedenen Teilaspekte der Liturgiewissenschaft?

    • Die systematische Liturgiewissenschaft fragt nach dem Beten der Kirche als einem ihrer

    Grundvollzüge: So wie die Dogmatik nach der Martyria und die theologische Ethik nach

    der Diakonia fragt die Liturgiewissenschaft nach der Leiturgia. Diese Frage kann nicht

    nachgeordnet werden und gehört mit ins Zentrum der Theologie. Sie macht zugleich

    den Kern der Liturgiewissenschaft aus, der keiner anderen theologischen Disziplin

    zugeordnet werden kann.

    • Liturgiewissenschaft ist ohne historische Forschung nicht denkbar. Da Liturgie

    ‚gewordene Liturgie‘ ist, sind auch die derzeitigen Formen der liturgischen Feiern nur zu

    begreifen, wenn man weiß, wie sie sich entwickelt haben. Im Hinblick auf zukünftige

    Entwicklungen ist es weiterhin wichtig zu verstehen, warum sie sich in einer bestimmten

    Weise entwickelt haben. Drei Ansätze:

    (1.) Die vergleichende Liturgiewissenschaft sucht die zugrundeliegenden Grundsätze zu

    erforschen, indem sie die verschiedenen Entwicklungslinien der Liturgie vergleicht und

    sich um eine Zusammenschau bemüht.

    (2.) Die historisch-genetische Liturgiegeschichtsforschung zeichnet die Entstehung der

    Liturgie nach und gelangt so zu einem Verständnis ihrer Struktur.

    (3.) Die geistesgeschichtliche Methode untersucht die Einflüsse, die sich nicht unmittelbar in

    den schriftlichen Quellen niederschlagen, aber die Liturgie beeinflussen, wie der Wandel

    der Frömmigkeit oder die kirchlichen, sozialen und kulturellen Voraussetzungen.

    • Liturgiewissenschaft steht in enger Beziehung zur Pastoraltheologie. Diskutiert wird

    jedoch: Handelt es sich um einen Bereich der Pastoraltheologie oder einen Zweig der

    Liturgiewissenschaft? A. Wintersig versteht die Pastoralliturgik als dritten,

    nachgeordneten, aber gleichberechtigten Bereich neben der historischen und

    systematischen Liturgiewissenschaft. Hier geht es nicht um die seelsorgliche

    2 R. MEßNER, Einführung, S. 26.

  • Saberschinsky: Einführung in die Liturgiewissenschaft, S. 3

    Nutzanwendung der einzelnen Gottesdienste, sondern um die Frage, welche Frucht die

    Gottesdienstfeier im Leben der Gemeinde bringt.

    • Weitere, aber nicht vergleichbar zentrale Facetten der Liturgiewissenschaft sind etwa das

    liturgische Recht und die Liturgiespiritualität.

    • Welche Akzente man auch im Einzelnen in der Liturgiewissenschaft setzen will –

    generell ist zu bedenken, dass keiner verzichtbar ist. Wichtig ist darüber hinaus

    aufzuweisen, wie die unterschiedlichen Zugangsweisen zur Liturgie – historisch,

    systematisch, pastoral und so weiter – in der Liturgiewissenschaft als einer theologischen

    Disziplin ineinander greifen.

    Quellen und Arbeitsmittel

    • Zwar sind schriftlichen Quellen die wichtigsten Bezugspunkte für die Erforschung des

    Gottesdienstes, doch ist zu bedenken, dass Liturgie nicht nur aus Texten besteht,

    sondern auch nichtsprachliche und musikalische Elemente zu berücksichtigen sind, und

    zudem Liturgie nicht immer genau in der Weise gefeiert wurde, wie sie in den Büchern

    festgehalten worden ist.

    • Liturgische Bücher sind präskriptive Quellen, die den Soll-Zustand, nicht den Ist-

    Zustand beschreiben. Wie der Gottesdienst tatsächlich ausgesehen hat, geben

    deskriptive Quellen eher wieder, die wiederum oft keine Texte und Gesänge beinhalten.

    • Wichtige Quellen sind:

    - Kirchenordnungen: 1.-3. Jh., regeln Gemeindeleben, also präskriptiv; z.B.: Diadache bzw.

    Zwölf-Apostel-Lehre, Didaskalie, Tradition Apostolica

    - Peregrinatio Egeria: 4. Jh., Bericht einer Nonne über Gottesdienste in Jerusalem, also

    deskriptiv

    - Mystagogische Katechesen: um 400, geistliche Erläuterungen für Neugetaufte

    - Sakramentare: erste liturgischen Bücher im Frühmittelalter; Gebetssammlungen für den

    Vorsteher, also Rollenbücher; z.B.: Gregorianum (Papstgottesdienste im Lateran),

    Hadrianum (Variante die unter Hadrian I. ins Karolingerreich gelangte), Gelasianum

    (zum Gebrauch der römischen Presbyter)

    - Ordines Romani: Beschreibungen des Ablaufs der Gottesdienste in Rom, sowohl

    präskriptiv wie deskriptiv, Grundlage für spätere Rubriken

    - Rollenbücher werden zu Büchern für die einzelnen Feiern vereinigt, Missale entsteht

    beispielsweise aus Sakramentar, Lektionar und Evangeliar, Graduale; ähnlich

    Entstehung des Brevier

    - Pontifikale: enthält Gottesdienste, deren Leitung dem Bischof zukommt (Ordinationen,

    Firmung usw.); Rituale: entsprechende Buch für Priester mit Segens- und

    sakramentlichen Feiern

    • Die nach dem Trienter Konzil im 16. Jahrhundert erarbeiten liturgischen Bücher

    wurden – dank der neuen Möglichkeiten durch den Buchdruck – schnell rezepiert und

    fanden große Verbreitung, so dass das Erscheinungsbild der römischen Liturgie seit

    Beginn des 17. Jahrhunderts bis zur Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils

    weitgehend einheitlich war. Die derzeit geltenden liturgischen Bücher sind die

    lateinischen Modellbücher (editio typica) mit den dazugehörigen landessprachlichen

    Versionen.

    1. Liturgie – Feier des Glaubens

    • In der Gestalt von Gottesdienst-Feiern zeigen sich Phänomene des Festes.

    • Gottesdienste sind besondere Zeit-Räume, die den Alltag unterbrechen und den wahren

    Sinn unseres Daseins offenbaren.

    • Gottesdienste vergegenwärtigen den Anlass zum Feiern. So stärken sie die Identität der

    Feier- und Erzählgemeinschaft.

    • Gottesdienste heben die Zeit auf und verbinden mit Ursprung und Ziel des Lebens.

    • Die Eucharistiefeier als zentrales gottesdienstliches Fest ist in ihrem Kern wesentlich

    Festmahl.

    2. Die Feier der Liturgie

    – zwischen Privatgebet und amtlichen Ritus

    • Nach der Annäherung an das Anliegen und Selbstverständnis der Liturgiewissenschaft

    im ersten Kapitel ist es nahe liegend, auch ihren Gegenstand – die Liturgie – in einer

    ersten Bestimmung näher zu fassen.

    Bestimmungen: Bedeutung – Begriff – Merkmale

    • In der Liturgiekonstitution heißt es, dass „die Liturgie der Höhepunkt [ist], dem das Tun

    der Kirche zustrebt, und zugleich die Quelle, aus der all ihre Kraft strömt“ (SC 10). Hier

    wird der Liturgie nicht nur große Bedeutung zugeschrieben, mehr noch: Liturgie wird

    als Ausgangs- und Zielpunkt in das Zentrum des Seins der Kirche gerückt. Um die

    Aussage recht zu verstehen, ist der zugrundeliegende Liturgiebegriff zu klären: Es geht

    nicht um die äußerliche Feier des Gottesdienstes, sondern vielmehr darum, was in der

    Liturgie gegenwärtig wird – Gottes erlösendes Handeln im Pascha-Mysterium.

  • Saberschinsky: Einführung in die Liturgiewissenschaft, S. 4

    • Der Liturgie kommt ein unerreichter Rang im kirchlichen Leben zu, weil in ihr sich das

    ein für alle Mal erwirkte Heilsgeschehen in Christus vergegenwärtigt. Insofern die

    Liturgie das Pascha-Mysterium fortwährend repräsentiert, dem die Kirche sich selbst

    verdankt, kann es in der Tat nichts Wichtigeres für die Kirche geben als die Liturgie.

    Wenn Kirche Liturgie feiert, dann ist dies keine Leistung, die sie Gott gegenüber

    schuldet und erbringt, sondern Christus selbst wirkt hier, in Gemeinschaft mit der

    Kirche als seinem Leib.

    • Zum Begriff „Liturgie“: synonym für den Begriff ‚Gottesdienst‘ verwendet; erst in der

    Auseinandersetzung mit der Reformation in der Westkirche seit dem 16. Jahrhundert

    rezepiert; zuvor verschiedene lateinische Ausdrücke in Gebrauch, wie cultus, mysterium,

    sacramentum u.a.m. Das griechische Wort selbst ist aus dem Adjektiv lšitoj (zum

    Volk gehörig) und dem Substantiv œrgon (Werk) zusammengesetzt und beschrieb zum

    Wohl des Volkes geleistete Dienste und öffentliche Dienstleistungen.

    • Welche Merkmale unterscheiden Liturgie von anderen kirchlichen Wirkformen und

    christlichen Tätigkeiten? Unterscheidung zwischen Haupt- und Nebenmerkmale:

    Hauptmerkmale sind verbindliche Kriterien, die im Wandel der Liturgie im Verlauf der

    Zeit ihren Bestand haben. Basis dieser Hauptmerkmale der Liturgie ist der Charakter des

    Feierns. Auf dieser Basis sind die drei Hauptkennzeichen der Liturgie: Auftrag, Leitung,

    Ordnung. Von diesen Hauptmerkmalen sind die Nebenmerkmale des Gottesdienstes zu

    unterscheiden. Sie sind keineswegs unwichtig für eine würdige Feier der Liturgie, doch

    insofern sekundär, als sie einem zeitlichen Wandel unterworfen sein können und somit

    veränderlich sind.

    Spannungen: offiziell – universal – gegliedert

    Liturgie im Spannungsfeld von offiziellem Gottesdienst mit amtskirchlicher Bestätigung und

    dem Gebet Einzelner sowie dem gemeinschaftlichen Gebet

    • Eine schwierige Frage ist die Abgrenzung von offizieller Liturgie der Kirche zu

    außerliturgischem Beten. Fragt man nach dem Verhältnis des privaten und kirchlichen

    Gebets, so ist für das frühe Christentum festzuhalten, dass das private Gebet im

    Vordergrund stand, jedoch in das kirchliche Beten in der Liturgie einmündete. Nach der

    konstantinischen Wende und mit der gesellschaftlichen Etablierung des Christentums

    konnte die Liturgie ihrerseits auch für die Gemeinde eine Schule des Gebets werden und

    auf das Gebet der einzelnen Gläubigen zurückwirken.

    • Privates und liturgisches Gebet sind aufeinander verwiesen und leben voneinander:

    Ohne Gebet des Einzelnen gibt es kein Gebet der Kirche, und ohne Gebet der Kirche

    kann es kein christliches Gebet des Einzelnen geben. Doch bei aller Verwiesenheit

    aufeinander müssen doch liturgisches und privates Beten voneinander unterschieden

    werden.

    • Lässt sich die Unterscheidung zwischen Liturgie und Privatgebet noch relativ einfach

    vornehmen, ist dies im Hinblick auf die gemeinschaftliche Gebetsformen der

    Volksfrömmigkeit schwieriger. Konkret: Sind Andachten Liturgie? Ist nur Liturgie was

    in den amtlichen liturgischen Büchern steht?

    • Das Direktorium über die Volksfrömmigkeit und die Liturgie der

    Gottesdienstkongregation vom 17. Dezember 2001 gibt als wesentliches Kennzeichen

    der Liturgie an, dass sie Feier des Pascha-Mysteriums ist. Doch dies geschieht auch,

    wenn sich die Gläubigen zu einer Andacht versammeln, die womöglich sogar von einem

    Priester geleitet wird. Andererseits nimmt sowohl das Konzil wie auch das Direktorium

    solche Gottesdienste von der Liturgie aus. Bereits 1969 hat Heinrich Rennings im

    Hinblick auf die Konzilsaussage in SC 13 festgehalten, dass die Unterscheidung

    zwischen Liturgie und sacra/pia exercitia von der Sache her willkürlich erscheinen muss. „Sie hat zum Beispiel zur Folge, daß das Breviergebet eines einzelnen Priesters in einem Eisenbahnabteil ‚Liturgie‘ ist, während die öffentliche Fronleichnamsprozession mit Teilnahme eines Bischofs, vieler Kleriker und Laien, keine ‚Liturgie‘ ist, sondern ‚nur‘ ein ‚sacrum exercitium‘ einer Teilkirche! Sachlich wäre wohl der ganze Bereich des ‚öffentlich-kirchlichen gottesdienstlichen Handelns‘ einschließlich der gottesdienstlichen Versammlungen zur Feier der Sakramente, Aufgabengebiet der kritisch-normativen Liturgik, wobei es unerheblich ist, ob diese Gottesdienste in liturgischen Büchern, die von Rom, den Bischöfen oder niemand

    approbiert sind oder auch nicht in liturgischen Büchern [...].“3

    • Adolf Adam plädiert dafür, „die Frage, was als Liturgie, also als kirchlicher Gottesdienst,

    angesehen werden darf, nicht zu eng und ängstlich an[zu]gehen“. Immer wenn eine

    Gruppe in Übereinstimmung mit der Lehre der Kirche zum Hören des Wortes Gottes

    und zum gemeinsamen Beten zusammenkommt, ist Christus als Hohepriester

    gegenwärtig (vgl. Mt 18,20). „Darum ist auch ein solcher Gottesdienst durchströmt vom

    Pascha-Mysterium und geschieht zur Verherrlichung Gottes und zum Heil derer, die ihn

    feiern. Warum sollte auf ein solches gottesdienstliches Geschehen nicht die

    Wesensbestimmung von Liturgie zutreffen?“ 4

    Liturgie im Spannungsfeld von Universal- und Ortskirche

    • Welche Berechtigung haben jeweils die zentral von Rom anerkannten liturgischen

    Formen mit dem Anspruch auf weltweite Geltung einerseits und die unterschiedlichen

    lokalen Ausprägungen und Besonderheiten des Gottesdienstes andererseits, und in

    welchem Verhältnis stehen sie zueinander?

    3 Heinrich RENNINGS, Über Ziele und Aufgaben der Liturgik, in: Concilium 5 (1969), S. 128-135, S. 133.

    4 Adolf ADAM, Grundriß der Liturgie, Freiburg i.Br.–Basel–Wien 1985 , S. 17.

  • Saberschinsky: Einführung in die Liturgiewissenschaft, S. 5

    • Innerhalb der Liturgie sind verschiedene Ebenen unterscheidbar, die die Abstufung von

    der Regelung der Gottesdienstfeier der Gesamtkirche bis hin zur konkreten Feier vor

    Ort anzeigen. Die gleichsam oberste Ebene ist diejenige der gesamtkirchlichen Liturgie

    auf weltweiter Ebene. Die Einheitlichkeit der liturgischen Regelungen auf dieser Ebene

    bringt die weltweite Zusammengehörigkeit der Kirche zum Ausdruck. Doch daneben

    existiert die Ebene der teilkirchlichen Liturgie. Sie betrifft markante Teilbereiche der

    Gesamtkirche (Sprachgebiet, einheitliches Kulturerbe), innerhalb derer sich gemeinsame

    teilkirchliche Formen der Gottesdienstfeier finden. Ortskirchliche Liturgie meint die

    tatsächliche Gottesdienstfeier in bestimmten Gemeinden.

    • Diese Ortskirchen sind theologisch qualifiziert und wichtig, weil sie die größere

    Gemeinschaft der Gesamtkirche vor Ort repräsentieren. Einerseits ist die Ortskirche

    vollgültig Kirche, andererseits ist sie es niemals losgelöst von der gesamtkirchlichen

    Gemeinschaft und nur in Rückbindung an sie.

    • Insofern die Einheit im Glauben entscheidend ist für die Einheit der Kirche, muss es

    auch eine Einheit der Liturgie geben, die ja Feier des gemeinsamen Glaubens ist.

    Allerdings ist zu klären, welchen Freiraum diese Vorgaben den jeweiligen Teilkirchen für

    die Inkulturation einräumt. Das Zweite Vatikanische Konzil hat gegenüber der sehr

    formalen und auf Rom zentrierte Sicht der Liturgie in seiner Liturgiekonstitution

    klargestellt, dass die Gottesdienstfeier der Ortskirche mit ihrem Bischof in der Mitte

    wahre Liturgie der ganzen Kirche ist (vgl. SC 41f.). Darüber hinaus wird ausdrücklich

    einer „starren Einheitlichkeit der Form“ auch im Gottesdienst eine Absage erteilt. Im

    Gegenteil soll das Erbe der verschiedenen Völker gepflegt werden und – sofern

    vereinbar – auch Eingang in die Liturgie finden (vgl. SC 37). Den verbindlichen Rahmen

    für die Anpassung bildet der römische Ritus, der im Wesentlichen einheitlich erhalten

    bleiben muss, um auch der universalkirchlichen Dimension der Liturgie gerecht zu

    werden. Auf diese Weise ist auch in der Liturgie das ekklesiologische

    Spannungsverhältnis von Universal- und Ortskirche gewahrt, ohne es die Problematik

    verkürzend in eine Richtung aufzulösen.

    • Die Spannung zwischen Freiheit und Bindung, in der die gottesdienstlichen Feiern

    stehen, spiegelt sich in der differenzierten Kompetenzzuweisung in liturgierechtlichen

    Fragen wieder, die der Codex iuris canonici von 1983 in can. 838 im Unterschied zur

    zentralistischen Sicht des can. 1257 CIC/1917 vornimmt.

    • Der Apostolische Stuhl gibt für die römischen Riten die einzelnen liturgischen Bücher

    als eine editio typica heraus. Die Bischofskonferenzen veranlassen eine Übersetzung in

    die jeweiligen Landessprachen und nehmen die notwendigen Anpassungen vor, und

    approbieren die Bücher für ihren Rechtsbereich als „auctoritates territoriales“.

    Allerdings müssen diese Bücher anschließend noch in Rom von der zuständigen

    Kongregation überprüft und bestätigt werden. 2001 hat es eine einschneidende

    Änderung gegeben, als die Gottesdienstkongregation erklärte, dass die Zeit

    Erprobungen beendet sei und die revidierten Texte zur endgültigen Approbation

    vorzulegen seien.5

    • Am 28. März 2001 erschien die „Fünfte Instruktion ‚zur ordnungsgemäßen Ausführung

    der Konstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils über die heilige Liturgie‘ (zu Art.

    36 der Konstitution)“ der Kongregation für den Gottesdienst und die

    Sakramentenordnung. Die Instruktion, nach ihren programmatischen Anfangsworten

    „Liturgiam authenticam“ genannt, hat den „Gebrauch der Volkssprache bei der

    Herausgabe der Bücher der römischen Liturgie“ zum Gegenstand. Ihrem

    Selbstverständnis nach markiert diese Instruktion einen neuen Abschnitt der liturgischen

    Erneuerung. Auch wenn die Instruktion sich zur Unversehrtheit der teilkirchlichen

    Traditionen bekennt, ist doch nicht zu übersehen, dass es ihr Grundanliegen ist, die

    lateinischen Originaltexte zu stärken, indem eine größere Nähe der Übersetzungen zu

    ihnen eingeklagt wird und sehr detaillierte Bestimmungen hierfür getroffen werden.

    • Die Authentizität der Liturgie ergibt sich nach Liturgiam authenticam aus deren

    Übereinstimmung mit der römischen Liturgie. Doch darf nicht übersehen werden, dass

    es nicht Liturgie an und für sich gibt, sondern sie sich immer nur in der

    Gottesdienstfeier einer Gemeinde konkretisiert. Hier muss ein gewisser Spielraum

    möglich sein, ohne dass die reine Subjektivität das Letzte Wort haben darf. Der

    entscheidende Punkt ist, dass nicht die formale Übereinstimmung die Einheit und den

    Zusammenhalt der Universalkirche garantieren, sondern die Übereinstimmung im

    Glaubenszeugnis, dass sich in der Feier des Glaubens unterschiedliche, wenn auch nicht

    beliebige, Ausdrucksformen verschaffen kann.

    Liturgie im Spannungsfeld von Vorsteher und Volk

    • Heute gilt Liturgie als die Feier der ganzen Kirche als mystischen Leib Christi mit Haupt

    und Gliedern, also auch des ganzen, hierarchisch gegliederten Gottesvolkes. Das aber

    schließt die so genannten Laien, die ‚einfachen Gläubigen‘, als Träger der Liturgie mit

    ein.

    • Das hier zu Grunde liegende Kirchenverständnis ist bereits von Pius XII. in seiner

    Enzyklika Mystici Corporis 1943 wieder in Erinnerung gerufen worden: Die Kirche ist

    5 KONGREGATION FÜR DEN GOTTESDIENST UND DIE SAKRAMENTENORDNUNG, Der

    Gebrauch der Volkssprache bei der Herausgabe der Bücher der römischen Liturgie. Liturgiam authenticam – Fünfte Instruktion „zurordnungsgemäßen Ausführung der Konstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils über die heilige Liturgie“ (zu Art. 36 der Konstitution); lateinisch - deutsch (= Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, Bd. 154), Bonn 2001, n. 77 (S. 71).

  • Saberschinsky: Einführung in die Liturgiewissenschaft, S. 6

    der mystische Leib Christi (vgl. Kol 1,18). Auf diese Weise wird die Einheit und

    Unteilbarkeit der Kirche betont. Doch zu einem Leib gehören auch Glieder. So bringt

    das Bild des Leibes die Vielfalt der Kirche hinsichtlich ihrer Glieder zum Ausdruck, die

    verschieden, aber doch eng miteinander verbunden sind. Ausdrücklich betont Pius XII.,

    dass keineswegs allein der Klerus zu den Gliedern zählt, sondern ebenso

    uneingeschränkt die Laien.

    • Die Enzyklika Mediator Dei von 1947 versteht Liturgie als „den gesamten öffentlichen

    Kult des Mystischen Leibes Jesu Christi dar, seines Hauptes nämlich und seiner

    Glieder“.6 Die aktive Rolle der Gläubigen in der Liturgie der Eucharistie wird nun

    ausführlich dargelegt.7 Ausdrücklich heißt es: „Auch die Riten und Gebete des

    Eucharistischen Opfers bringen nicht weniger klar zum Ausdruck, daß die Darbringung

    des Opfers durch die Priester zusammen mit dem Volke geschieht.“8

    • Auch das Zweite Vatikanische Konzil stellt heraus, dass das ganze Volk Gottes, nicht

    nur die Kleriker, Träger und Akteure der Liturgie sind, und zwar in Verbindung mit

    Christus als ihrem Haupt.

    • Damit wird klar: In der Kirche haben zwar alle die gleiche Würde, sind jedoch zugleich

    nach Ämtern und Aufgaben unterschieden. Diese gegliederte Gemeinschaft der Kirche,

    die sich auch in der Hierarchie ausdrückt, spiegelt sich in der Liturgie wider. Konkret: In

    der Liturgie tun nicht alle das Gleiche, sondern wirken entsprechend ihres Amtes und

    ihrer Aufgabe mit – unbeschadet dessen, dass alle Träger der Liturgie sind.

    • Der Priester steht der Feier der Liturgie vor, doch es sind die Gebete der Gemeinde, die

    er an Gott richtet. Diese Unterscheidung zwischen Laien und Priestern bei gleichzeitiger

    Verwiesenheit ist in der Differenzierung zwischen allgemeinen und besonderem

    Priestertum grundgelegt.

    • Doch worin wird deutlich, dass auch ‚einfache Gläubige‘ Träger der Liturgie sind. Hier

    sind an erster Stelle die liturgischen Dienste zu nennen, die Laien übernehmen können.

    Dass Laien Träger der Liturgie sind, wird auch deutlich, wenn die „actuosa participatio“,

    die tätige Teilnahme, gefordert wird. Damit ist keineswegs gemeint, dass die Gläubigen

    sekundär sich dem anschließen sollen, was primär der Priester vollbringt, womit ihre

    Teilnahme nur akzidentell wäre, sondern sie ist vom „Wesen der Liturgie selbst

    verlangt“ (SC 14).

    6 PIUS XII., Litterae Encyclicae De Sacra Liturgia. Die XX novembris MCMLVII: „Mediator Dei“ –

    Rundschreiben über die Heilige Liturgie. 20. November 1947: „Mediator Dei“, Freiburg i.Br. 1948, S. 22f.

    7 Vgl. PIUS XII., Mediator Dei, S. 72-77.

    8 „Eucharistici quoque Sacrificii ritus ac preces haud minus clare significant atque ostendunt victimae

    oblationem una cum populo a sacerdotibus fieri.“ PIUS XII., Mediator Dei, S. 76f.

    3. Gottesdienst - Feier Ostergeheimnisses

    Das Pascha-Mysterium im Alten Testament

    • Beim Jahwisten erfolgt die kultische Erinnerung an die Befreiung durch Gott durch die

    Umdeutung des apotropäischen Blutritus der Nomaden. Das Fest wird mit einem Mahl

    verbunden.

    • Im Deuteronomium erhält das Mahl einen Opfercharakter. Denn den Blutritus konnten

    die sesshaften Stämme nicht mehr deuten.

    • In der Priesterschrift wird der sühnende Charakter Blutritus bezeugt. Den Hintergrund

    hierfür bildet die Situation des Exils. Ziel ist die Erneuerung des Bundes durch Jahwe.

    Lesehinweis: Peter Laaf, Die Pascha-Feier Israels. Eine literarkritische und

    überlieferungsgeschichtliche Studie (= Bonner Biblische Beiträge, Bd. 36), Bonn 1970.

    Das christliche Pascha-Mysterium vor dem Hintergrund des Alten Testaments

    • Die alttestamentlichen Lesungen der Osternacht legen das neutestamentliche Ostern

    aus. Also nicht nur die neutestamentlichen Lesungen sind eine rückblickende Deutung

    des AT.

    • Während im AT das Pascha die Kultgemeinde Israels konstituiert, vollendet im NT

    Pfingsten das Pascha; Pfingsten begründet die Entstehung der Kirche.

    • Im AT ist das Pascha ein Kompendium der Heilsgeschichte: Der Auszug aus der

    Gefangenschaft (Ex 12) und der Einzug ins gelobte Land (Jos 5) gehören zusammen.

    • Das NT bezeugt: Das christliche Pascha nicht nur Gedächtnis des Pascha (1.

    Sinnschicht), sondern auch im verheißenen Land liturgisch wiederholtes Pascha (nach

    40tägiger Bußzeit analog zur Wüstenwanderung)

    Lesehinweis: Georg Braulik, Überlegungen zur alttestamentlichen Ostertypologie, in: Archiv

    für Liturgiewissenschaft 35/36 (1993/94), S. 1-18.

    Die Feier des Paschas in der Liturgie

    • Parallelen zwischen AT und NT:

    * Es besteht eine von Gott gewählte Lebensgemeinschaft, die die Menschen annehmen

    können.

    * Erlösung wird begründet durch Gründungsereignis.

    * Erlösung ist ein Transitus-Geschehen.

  • Saberschinsky: Einführung in die Liturgiewissenschaft, S. 7

    * Erlösung ist ein geschichtliches Ereignis.

    * Erlösung wird in einer rituellen Abbildhandlung vergegenwärtigt.

    • Das Neue des NT:

    * Erlösung wird personal vermittelt in der Person Jesu (statt reines Blutritual).

    * Es gibt nur eine einzige Opfergabe.

    * Der Begriff „Mysterium“ bringt die Einzigartigkeit zum Ausdruck.

    • Das Opfer Jesu …

    * … ist in der Selbsthingabe (im Durchgang) ein „Für uns Sein“ (Kenosis).

    * … ist als Hingabe Jesus ein Transparent der Hinwendung Gottes zur Welt.

    * … wird in der Gedächtnisfeier vergegenwärtigt, so dass sich die Gläubigen davon

    erfassen lassen können und daran Anteil erhalten.

    Lesehinweis: Irmgard Pahl, Das Paschamysterium in seiner zentralen Bedeutung für die

    Gestalt christlicher Liturgie, in: Liturgisches Jahrbuch 46 (1996), S. 71-93.

    4. Gottesdienst – Dialog zwischen Gott und Mensch

    4.1 Wort Gottes

    • „Die Kirche hat die Heiligen Schriften immer verehrt wie den Herrenleib selbst, weil sie,

    vor allem in der heiligen Liturgie, vom Tisch des Wortes Gottes wie des Leibes Christi

    ohne Unterlaß das Brot des Lebens nimmt und den Gläubigen reicht. In ihnen

    zusammen mit der Heiligen Überlieferung sah sie immer und sieht sie die höchste

    Richtschnur ihres Glaubens, weil sie, von Gott eingegeben und ein für alle Male

    niedergeschrieben, das Wort Gottes selbst unwandelbar vermitteln und in den Worten

    der Propheten und der Apostel die Stimme des Heiligen Geistes vernehmen lassen.“

    (Dei verbum 21)

    • „Auf dass den Gläubigen der Tisch des Gotteswortes reicher bereitet werde, soll die

    Schatzkammer der Bibel weiter aufgetan werden, so dass innerhalb einer bestimmten

    Anzahl von Jahren die wichtigsten Teile der Heiligen Schrift dem Volk vorgetragen

    werden.“ (Sacrosanctum Concilium 51)

    • „Gott, der ‘will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit

    gelangen’ (1 Tim 2,4), ‘hat in früheren Zeiten vielfach und auf vielerlei Weise durch die

    Propheten zu den Vätern gesprochen’ (Hebr 1,1). Als aber die Fülle der Zeiten kam,

    sandte er seinen Sohn, das Wort ...“ (Sacrosanctum Concilium 51)

    • „Die wunderbaren Taten, die Gott einst auf vielfältige Weise in der Heilsgeschichte

    gewirkt hat, werden unter den Zeichen gottesdienstlichen Feierns geheimnisvoll, aber

    wirklich gegenwärtig.“ (Pastorale Einführung in das Messlektionar 7)

    • „Das Wort Gottes selbst aber, das bei der Feier der heiligen Geheimnisse verkündet

    wird, gilt nicht nur der gegenwärtigen Situation; es blickt auch zurück auf die

    vergangenen Dinge und schaut mit Sehnsucht und Hoffnung aus nach den kommenden,

    damit unsere Herzen im Wechsel der Dinge dort verankert seien, wo die wahren

    Freuden sind.“ (Pastorale Einführung in das Messlektionar 7)

    • „Denn in der Liturgie spricht Gott zu seinem Volk; in ihr verkündet Christus noch

    immer die Frohe Botschaft. Das Volk aber antwortet mit Gesang und Gebet.“

    (Sacrosanctum Concilium 33)

    4.2 „Von Gott her zum Menschen hin und vom Menschen her zu Gott hin“

  • Saberschinsky: Einführung in die Liturgiewissenschaft, S. 8

    5. Gottesdienst – Gedächtnis und Verheißung

    6. Gottesdienst – Glaubensfeier unter heiligen Zeichen

    Liturgie in Werden und Wandel – Einblicke in die Liturgiegeschichte • Die Liturgiegeschichte zeigt, daß die Geschichte der Liturgie nicht nur eine Geschichte

    des Werdens in den ersten Jahrhunderten ist, sondern auch durchweg eine Geschichte

    des Wandels. Es gibt zahlreiche Liturgiereformen über Jahrhunderte hinweg vor dem

    Zweiten Vatikanischen Konzil. Neben der Erkenntnis, daß es einen Wandel in der

    Liturgie gibt, hilft die Liturgiegeschichte auch zu verstehen, wie der Wandel motiviert

    ist.

    Die Anfänge: Die Zeit des Neuen Testaments und der Apostel

    • So wie die nachösterliche Gemeinde insgesamt erst zu ihrer Identität finden mußte,

    mußte sich auch erst der spezifisch christliche Gottesdienst herausbilden. Dies geschah

    vor allem in Absetzung beziehungsweise durch eine neue Verhältnisbestimmung zum

    jüdischen Gottesdienst.

    • Einerseits brachen zumindest die Christen jüdischer Herkunft nicht sofort mit dem

    ursprünglichen Kult. Andererseits zeigen sich die Differenzen und Spannungen

    zwischen Judentum und Christentum. Die Christen verstanden sich anfänglich

    keineswegs im Gegenüber zum Judentum, sondern gingen von der Bekehrung des

    erwählten Volkes aus. Erst die jüdische Ablehnung und der Zuwachs an sogenannten

    Heidenchristen lies die Christen eigene Wege gehen. Vor allem die Zerstörung des

    Jerusalemer Tempels 70 n.Chr. schuf vollendete Tatsachen, die den Christen deutlich

    machte, daß sich ihre Naherwartung der der unmittelbar bevorstehenden Wiederkunft

    Christi nicht erfüllt. All dies machte es erforderlich neue und eigene Formen des

    Gemeindelebens generell und des Gottesdienstes speziell zu finden.

    • Grundsätzlich ist die Tatsache festzuhalten, daß sich die Christen versammelten. Der

    hohe Stellenwert der gottesdienstlichen Versammlung ist geradezu ein Kennzeichen der

    christlichen Gemeinde. Die Versammlung in privaten Wohnhäusern gewann an

    Bedeutung.

    • Die Versammlungen gestalten sich in Anlehnung an die Begegnungen mit dem

    Auferstandenen, wie sie in den Evangelien und in der Apostelgeschichte berichtet

    werden: Zusammenkommen, Wiedererkennen des Auferstandenen, Verkündigung

    seines Wortes, Empfang seines Geistes, Brotbrechen und Mahl, Aussendung der Jünger.

    Doch insgesamt läßt sich keine festgelegte Ordnung des Gottesdienstes ausmachen,

    ebenso wenig wie die liturgische Funktion der einzelnen Ämter genau geklärt ist.

  • Saberschinsky: Einführung in die Liturgiewissenschaft, S. 9

    • Eine wichtige Rolle spielte in neutestamentlicher Zeit die Taufe, von der oft berichtet

    wird, allerdings ohne ihren liturgischen Verlauf zu überliefern. Es geht um mehr als um

    eine rituelle Waschung, wie sie etwa die Juden als Zeichen der Buße und Reinigung

    praktizierten.

    • Neben dem Brotbrechen und der Taufe sind noch andere Riten überliefert, die hier nur

    kurz genannt seien. Verbreitet war das Auflegen der Hände, etwa damit der Neugetaufte

    den Heiligen Geist empfängt (Apg 8,15-17) oder zur Heilung von Kranken (Apg

    9,12.17; 28,8). Auch bei der Aussendung zu Missionsreisen wurden die Hände aufgelegt

    (Apg 6,6; 13,1-3; 1 Tim 4,14; 5,22; 2 Tim 1,6). Außerdem wird die Salbung der Kranken

    mit Öl erwähnt (Mk 6,13; Jak 5,14-16).

    Die Grundlegung: Das zweite und dritte Jahrhundert

    • Angesichts der nicht erfüllten Naherwartung der Wiederkunft Christi wurde es

    unumgänglich, Institutionen zu schaffen, die für eine dauerhaftes Bestehen einer

    Gemeinschaft unverzichtbar sind. So mußten beispielsweise Vorsteher für die

    Gemeinde und Leitungspersonen gefunden werden, nachdem die Apostel nicht mehr

    unter den Gläubigen weilten. In diesem Zusammenhang entwickelte sich auch die

    Ämterstruktur weiter, was wiederum die Gottesdienstfeier beeinflußte. Neben der

    äußeren Bedrohung durch die Verfolgung mußten die Christen mit dem Aufkommen

    von Irrlehren auch Gefahren für den Glauben inhaltlicher Natur abwehren.

    • Mit der Ablehnung durch die Juden verstärkt sich die Heidenmission. Da jedoch

    einerseits das Christentum zutiefst aus den jüdischen Wurzeln und biblischen Schriften

    lebt, andererseits eben diese Grundlagen den Heiden völlig unbekannt waren, bedurfte

    es für sie einer intensiveren Glaubensunterweisung.

    • Aus dem zweiten und dritten Jahrhundert sind mehre Quellen überliefert, die auch

    Auskunft über das liturgische Leben geben:

    * Die „Didache“ beziehungsweise „Zwölfapostellehre“ überliefert Informationen über

    das liturgische Leben in den Jahren zwischen 80 und 130, näherhin zur Taufe, zu Fasten

    und Gebet, zur Feier der Agpage und der Eucharistie.

    * Der sogenannte „Clemens-Brief“ aus dem Jahr 96, ein Brief des Papstes Clemens an

    die Gemeinde in Korinth, bezeugt die Aufnahme jüdischer Gebetstexte in den

    christlichen Kontext.

    * Um 110 entstanden sieben Briefe des Bischofs Ignatius von Antiochien. Was sich

    bereits in den Pastoralbriefen abzeichnete, nämlich die oben schon erwähnte Sorge um

    die Reinerhaltung des Gottesdienstes gegenüber Irrlehren, ist hier eine deutliche Sorge.

    * Auskunft über den Gottesdienst erteilt auch die erste Apologie des Philosophen und

    Märtyrer Justin um 150.

    * Gegen Irrlehren wendet sich auch die Kirchenordnung aus der Zeit um 215, die

    Hippolyt zugeschrieben wurde.

    * Die Didaskalie ist ebenfalls eine Kirchenordnung aus der ersten Hälfte des dritten

    Jahrhunderts, allerdings sind die Ausführungen zur Liturgie kürzer, da es vor allem um

    die Amtsführung der Bischöfe geht.

    • Die verfolgten Christen mußten sich im Verborgenen zu ihren Gottesdiensten

    versammeln. Die Christen waren nicht an ein bestimmtes Gebäude gebunden, wie etwa

    einen Tempel. Entscheidend ist nicht der Kultort, sondern die Versammlung.

    • Wichtige Hinweise zum Gottesdienst finden sich in der Apologie des Justin. Hier wird

    auch der Aufbau der Eucharistiefeier, der sich im wesentlich erhalten hat,

    wiedergegeben.

    • Neben der Eucharistie spricht die Apologie des Justin auch über die Taufe. Besonders

    ausführlich informiert hierüber jedoch die Traditio apostolica. In der frühen Kirche war

    vor der Taufe eine mehrjährige Vorbereitungszeit, das sogenannte Katechumenat,

    üblich.

    • In apostolischer Zeit war von Sündenvergebung nur in Zusammenhang mit der Taufe

    die Rede gewesen. Doch im dritten Jahrhundert stellte sich verschärft die Frage, wie mit

    den Sünden nach der Taufe umzugehen sei.

    • Die Christen nutzten das Jahrgedächtnis der Märtyrer dazu, ihren Glauben an die

    Auferstehung auszudrücken.

    • Insgesamt kann man für die Zeit des zweiten und dritten Jahrhunderts feststellen, daß

    fast alle liturgischen Einrichtungen im Wesentlichen schon grundgelegt waren. Die

    christlichen Gemeinden hatten sich vom Judentum gelöst, ohne mit dem

    alttestamentlichen Erbe zu brechen. Zugleich fließen neue, nichtjüdische

    Kulthandlungen ein, wie die Beispiele der Taufsalbungen und der Jahrgedächtnisse für

    die Verstorbenen zeigen. Die zahlreichen Bekehrungen von Heiden führte zur

    Intensivierung der christlichen Lehre und zu einer Unterweisung im Katechumenat.

    Die Entfaltung: Die Liturgie der christlichen Staatsreligion

    • Im Hinblick auf den Gottesdienst hatte die konstantinische Wende offensichtliche

    Auswirkungen. Der Wandel zeigt sich schon allein äußerlich am Ort des Gottesdienstes:

    Es war von nun an nicht mehr erforderlich, die Gottesdienste im Verborgenen zu

    feiern. Mehr noch: In den großen Städten kam den Gottesdiensten des Christentums als

    Staatsreligion repräsentativer Charakter zu; entsprechend wurden sie in prächtigen

    Basiliken gefeiert. Die neuen räumlichen Gegebenheiten wirkten sich auch auf die

    Liturgie selbst aus. Verstärkend kam hinzu, daß die Bischöfe nun im Rang der höchsten

  • Saberschinsky: Einführung in die Liturgiewissenschaft, S. 10

    Reichsbeamten standen. In der Folge fanden Elemente des kaiserlichen

    Hofzeremonielles Eingang in die Liturgie.

    • Die festliche Feier des Sonntagsgottesdienstes wurde dadurch gefördert, daß Konstantin

    durch ein weltliches Gesetz 321 den Sonntag zum Ruhetag erklärte.

    • Diese Beispiele zeigen deutlich, wie die äußere Umstände – näherhin die

    Religionsfreiheit für das Christentum und seiner Förderung als Staatreligion – die

    Entwicklung des Gottesdienstes beeinflußten. Was in der Zeit der Apostel grundgelegt

    wurde, entfaltete sich nun. Doch die neuen Entwicklungen, die das Christentum

    äußerlich begünstigten, wirkten sich nicht nur positiv aus. Durch die Privilegierung der

    Kirche und ihre Erhebung zur verpflichtenden Staatsreligion strömten nun die breiten

    Massen in die Kirche. Dies barg die Gefahr der Verflachung in sich.

    • Je leichter das Bekenntnis zum Christentum wurde und damit vielleicht auch weniger

    ernsthaft, umso wichtiger wurde das Gedächtnis der Märtyrer, also jener Zeugen, die mit

    ihrem Leben ihren Glauben bekannten. Die Bedeutung der Märtyrer wurde auch im

    Kirchenbau deutlich (Errichtung der Basiliken über den Gräbern; Confessio).

    • Auch das Katechumenat blieb von den äußeren Entwicklungen nicht unbeeinflußt. In

    der Zeit nach der Erhebung des Christentums zur Staatreligion stieg die Zahl der

    erwachsenen Taufbewerber. Als die Bevölkerung des Römischen Reichs nach dem 5.

    Jahrhundert jedoch zum größten Teil christlich war, wurden die Erwachsenentaufen

    seltener. Das Katechumenat wurde kaum noch gebraucht und einige seiner Riten

    überlebten nur als funktionslose Zeugnisse der Vergangenheit.

    • Die Tendenz zur Feierlichkeit im Rahmen des repräsentativen Charakter der

    Gottesdienste wurde durch eine Abwehrreaktion gegenüber der Irrlehre des Arianismus

    verstärkt. Um die Bestreitung der Gottheit Christi durch den Arianismus zu

    entkräftigen, wurde im Gottesdienst die Gottheit Christi nun besonders betont (Gebete

    richteten sich direkt an Christus; Gegenwart des wesensgleichen Gottessohnes in der

    Eucharistie). An den Reaktionen auf Irrlehren erkennt man den Zusammenhang

    zwischen gelehrtem und gefeiertem Glauben, zwischen Lehre und Liturgie, zwischen lex

    credendi und lex orandi erkennen.

    • Allerdings sind die genannten Entwicklungen nicht in der Gesamtkirche einheitlich

    verlaufen. Im Gegenteil, in der Zeit des vierten bis sechsten Jahrhunderts differenzierte

    sich aufgrund der äußeren Umstände die Liturgie in verschiedene Traditionen aus. Die

    große Ausbreitung des Christentums als Staatsreligion machte es notwendig, daß die

    Kirche auch ihre Organisation neu strukturierte. So entstanden fünf große Patriarchate

    (Rom, Alexandrien, Antiochien, Jerusalem, Konstantinopel), die nicht nur für die

    Kirchenorganisation maßgeblich waren, sondern auch für die Entwicklung der Liturgie.

    Denn die Kirchen einer Provinz richteten sich auch in der Feier des Gottesdienstes nach

    den Traditionen ihrer jeweiligen Metropolitankirche.

    • Aufgrund der Teilung des römischen Reichs in Ost- und Westrom 364 nehmen ab dem

    fünften Jahrhundert die byzantinische und römische Liturgie eine je eigene Entwicklung.

    • Weder innerhalb der Ostkirche noch innerhalb der Westkirche verlief die Entwicklung

    einheitlich. In der Ostkirche spalteten sich nach dem Konzil von Chalcedon die Kirchen

    von Ägypten und Syrien mit den Patriarchaten Antiochien, Alexandrien und Jerusalem

    ab. Während Konstantinopel der griechischen Kultur verpflichtet blieb, entwickelten die

    getrennten Kirchen eigene Traditionen in ihren Lokalsprachen (koptisch, syrisch,

    armenisch). Den Anspruch, alleiniger Garant der Orthodoxie, also der Rechtgläubigkeit,

    zu sein, erhob jedoch Konstantinopel, während die anderen Kirchen als nicht-orthodox

    galten.

    • Wenig im Bewußtsein ist, daß es auch in der Westkirche verschiedene Liturgiefamilien

    gab und auch heute noch teilweise gibt. Von der römischen Liturgie ist die altspanische

    beziehungsweise mozarabische, die altgallische, die keltische Liturgie sowie die Liturgie

    von Mailand (ambrosianische Liturgie) zu unterscheiden.

    Wechselseitige Beeinflussung: Liturgie im Mittelalter

    • Angesichts der Langobardeneinfälle begab sich Rom bewußt unter den Schutz der

    Franken und erkannten im Gegenzug deren Autorität durch Königskrönung (Pippin

    III., 754) und Kaisersalbung an (Karl der Große, 800).

    • Die Frankenherrscher verfolgten mit ihrem klaren Bekenntnis zum Christentum

    durchaus auch ein politisches Programm. Nach dem Zerfall der Merowingerreiche

    bemühten sich Pippin und Karl der Große um die Neuorganisation ihres

    Herrschaftsbereiches. Dabei mußten sie unterschiedliche Bevölkerungsgruppen in einem

    Reich vereinen. Zu diesem Zweck sollte das Christentum dienen: Die Einheit des

    Glaubens sollte die Einheit des karolingischen Reiches stützen. In der Folgezeit

    verschmolzen abendländisches Christentum und karolingisches Reich im Bewußtsein zu

    einer untrennbaren Einheit, die ein Teil der Identität der westlichen Kirche wurde,

    mittels derer man sich nicht zuletzt von der Ostkirche absetzte. Vor diesem Hintergrund

    ist auch der Umstand zu deuten, daß Pippin 754 die römische Liturgie für sein Reich

    vorschreibt und Karl der Große von Papst Hadrian I. ein römisches Sakramentar

    erbittet. Weniger die Sorge um die Liturgie an und für sich als um die politische Einheit

    des Reiches wird die Motivation hinter den Bestrebungen gewesen sein, die römische

    Liturgie im Reich einheitlich zu etablieren.

  • Saberschinsky: Einführung in die Liturgiewissenschaft, S. 11

    • Bereits im siebten Jahrhundert hat nördlich der Alpen ein Verschmelzungsprozeß

    zwischen gallisch-fränkischer und römischer Liturgie stattgefunden. Das Sakramentar,

    das Papst Hadrian I. an Karl den Großen auf dessen Anfrage sandte (s.o.) und letzterer

    in Aachen vervielfältigen ließ, berief sich auf Papst Gregor den Großen, der als einer der

    bedeutendsten Päpste galt, was wiederum dem Sakramentar Autorität als liturgisches

    Muster verlieh. Allerdings diese Funktion konnte das Sakramentar kaum erfüllen, weil es

    sich um das Buch für die Papstliturgie mit den verschiedenen Stationsgottesdiensten

    handelte. Dies war für die fränkische Situation unzureichend, so daß Benedikt von

    Aniane eine verbesserte und erweiterte Fassung des Sakramentars mit einem Anhang

    erstellte. Nachdem es sich im fränkischen Reich verbreitet hatte, wurden die Vorgaben

    aus dem Sakramentar römischen Ursprungs mit lokalen Traditionen vor Ort vermischt.

    • Diese Mischbücher gelangten im 10. Jahrhundert nach Rom – in seiner Zeit als sich das

    kirchlich-kulturelle Leben dort in einem desolaten Zustand befand. Die Bücher wurden

    gerne rezipiert, da man vermeindlicherweise authentische römische Liturgie vor sich zu

    haben glaubte; doch statt dessen kehrte die römische Liturgie mit gallisch-fränkischen

    Elementen versetzt zurück. In dieser Form wurde sie zur Grundlage, als Papst Gregor

    VII. im 11. Jahrhundert im Rahmen seiner Kirchenreform die liturgische Einheit

    propagierte. Die Päpste, die ehemals die lokalen Traditionen respektierten, erhoben nun

    den Anspruch auf die liturgische Kompetenz für die gesamte Kirche. Dabei verstanden

    sie unter Einheit Homogenität, wie die Verdrängung von lokalen Traditionen zeigt.

    • Die Liturgie jener Zeit ist entscheidend von den geistesgeschichtlichen Entwicklungen

    der Gotik beeinflußt. Das Denken dieser Epoche zeichnet vor allem aus, daß nun das

    Individuum verstärkt in den Blick rückt. Entsprechend gewinnen auch in der Liturgie

    individualistische und subjektivistische Tendenzen Raum. So wird die Gottesdienstfeier

    nicht mehr als Gemeinschaftshandlung verstanden, sondern neu entstehende

    Vollmissalien ermöglichen es dem Priester die Messe als ‚Privatmesse‘ alleine zu feiern.

    • Die neue Wertschätzung des Individuums schlägt sich nicht nur in einer gewissen

    ‚Vereinzelung‘ nieder, sondern auch in der liturgischen Spiritualität. So tritt neben die

    universelle Dimension des Heilsgeschehens das individuelle Bedürfnis, sich in die

    Betrachtung des Heilsereignisse zu versenken. Besonders trifft dies auf die Passion

    Christi zu. Angestrebt wird eine com-passio, ein Mitleiden, mit dem Herrn, indem man

    die Leiden des Schmerzenmannes nachzuempfinden sucht (devotio moderna; Mystik).

    • Weniger erfreulich waren die Konsequenzen aus einer gesteigerten Vorliebe für das

    Realistisch-Konkrete, die geistesgeschichtlich durchaus auf der Linie der

    subjektivistischen Tendenz jener Zeit liegen und sich in der Frömmigkeit in einem

    großen Schauverlangen des Heilig-Göttlichen niederschlugen.

    • Fragt man nach der Verhältnisbestimmung von Liturgie und Frömmigkeit, fällt das

    Urteil zwiespältig aus: Einerseits ist ein Zusammenhang zwischen Liturgie und

    Frömmigkeit nicht zu leugnen, wie das Beispiel des Fronleichnamsfestes zeigt.

    Andererseits haben sich Frömmigkeit und Liturgie stellenweise auseinander entwickelt

    und sind trotz unmittelbarer Nachbarschaft fast beziehungslos geworden (geistliche

    Kommunion, stille Messe, Klerusliturgie, Privatmesse).

    Vereinheitlichung und neue Kräfte: Liturgie zwischen dem Konzil von Trient und dem Zweiten Vatikanischen Konzil

    • Theodor Klauser nennt die Periode zwischen dem Konzil in Trient (1545-1563) und

    dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1961-1965) „die Zeit der ehernen Einheitsliturgie

    und Rubrizistik“. Damit deutet er an, daß im Gefolge des Trienter Konzils die

    liturgischen Bücher für die römische Kirche vereinheitlicht wurden und Änderungen

    nicht mehr vorgesehen waren. Allerdings sollte dies nicht zur Annahme verleiten, die

    Liturgie wäre vierhundert Jahre lang keinerlei Einflüssen ausgesetzt gewesen.

    • Die Erneuerung der Liturgie war erst Thema auf der letzten Sitzungsperiode des

    Trienter Konzils. Eine Kommission erstellte eine Liste von bestehenden Mißständen.

    Das Konzil selbst konnte aus Zeitgründen die Themen der Liste nicht mehr abarbeiten

    und beauftragte es daher den Papst, mit Hilfe einer Sachverständigen Kommission einen

    neuen Katechismus zu erstellen und alle liturgischen Bücher neu herauszugeben. Auf

    diese Weise wurde die Liturgiereform eine Möglichkeit, den römischen

    Kirchenleitungsanspruch eindrücklich zu dokumentieren und zu manifestieren. Daß dies

    tatsächlich gelang, dazu hat der Buchdruck als neue technische Möglichkeit beigetragen,

    ohne den die neu zu erarbeitenden liturgischen Bücher nicht die notwendige

    Verbreitung gefunden hätten und eine einheitliche Liturgie nicht zu realisieren gewesen

    wäre.

    • Mit der Errichtung der Ritenkongregation unter Papst Sixtus V. 1588 beginnt der

    Aufschwung der sogenannten Rubrizistik, das heißt er Rechtskunde darüber, wie die

    Liturgie im formalrechtlichen Sinne richtig zu feiern ist.

    • Das Konzil von Trient räumte Irrtümer über die Sakramente aus, doch hinsichtlich der

    konkreten Gottesdienstfeier fällt die sehr einseitig Perspektive der liturgischen Bücher

    auf: Die Liturgie wird in ihnen ganz aus dem Blickwinkel des Priesters als Vorsteher

    beschrieben.

    • In Frankreich, das sich in vorangegangenen Jahrhundert oft gegen eine römische

    Vereinnahmung gewehrt hat, war kein massiver Widerstand zu verzeichnen, wohl auch

    deshalb, weil man die Einschnitte nicht als so massiv empfand. Denn viele Diözesen

  • Saberschinsky: Einführung in die Liturgiewissenschaft, S. 12

    konnten auf eine über zweihundertjährige liturgische Eigentradition zurückblicken, so

    daß sie ihre gallische Liturgie beibehalten konnten. Erst in der ersten Hälfte des 17.

    Jahrhunderts besann man sich wieder stärker auf die gallischen Traditionen und forderte

    bischöfliche Freiheiten in der liturgischen Gesetzgebung ein.

    • Die Entwicklungen spiegeln bereits die Einflüsse der Aufklärung wider. Der Barock als

    Epoche vor der Aufklärung zeichnet sich hingegen durch große Prachtentfaltung auch

    in den Gottesdiensten aus. Die festlichen Barockkirchen tragen dazu ebenso bei wie der

    mehrstimmige Gesang und die Instrumentalmusik. Die Aufklärung hingegen legt den

    Akzent vor allem auf ein besseres Verständnis der Liturgie – auch seitens der Gläubigen.

    Sie sollen verstehen, was in der Liturgie gefeiert wird. Daher ist es das Bestreben, die

    Gläubigen über die ‚Liturgie‘ aufzuklären.

    • Ein Ergebnis der Bemühungen der Aufklärer ist die Betsingmesse in Deutschland: Dies

    ist eine Messe nach den tridentinischen Rubriken und mit den lateinischen Texten, die

    der Priester still spricht. Während dessen singen oder beten die Gläubigen auf Deutsch.

    Auf diese Weise versuchte man die lateinische Liturgie nach Vorgabe zu feiern und

    zugleich dem Wunsch nach tätiger Teilnahme der Gläubigen entgegenzukommen,

    freilich unter Inkaufnahme einer gewissen Inkonsequenz durch die Dopplung.

    • Auf die Reformbemühungen der Aufklärung folgten erneute

    Restaurationsbestrebungen. Auch Dom Prosper Guéranger war nicht frei von solchen

    Motiven, als er die verfallene Abtei Solesmes wiederbesiedelte, um hier eine ideale,

    lateinische Liturgie wiederentstehen zu lassen. Angeregt durch ihren Aufenthalt in

    Solesmes gründen die Brüder Maurus und Placidus Wolter die Abtei Beuron, die

    ihrerseits zu einem Zentrum Erforschung und Feier der Liturgie wurde. Von hier ging

    wiederum die Gründung der Abteien Maria Laach und indirekt Kaisersberg (Mont-

    César) bei Löwen aus, die bemerkenswerterweise bedeutende Zentren der Liturgischen

    Bewegung im 20. Jahrhundert wurden, die – anders als die Intentionen des Gründers

    von Solesmes – durchaus nicht restaurativ war. Doch diese Verbindung ist nicht zufällig:

    Wenn auch die katholische Restauration – anders als die Liturgische Bewegung – vor

    allem bestrebt war, die lateinische, römische Liturgie zum alleinigen Ideal zu stilisieren,

    so hat sie doch zwei Grundsteine für die Liturgische Bewegung gelegt: die Besinnung

    auf das Studium und die Erforschung der Quellen der Liturgie und die Übersetzung des

    römischen Meßbuches, deren bekannteste die des Beuroner Benediktiners Anselm

    Schott ist. Diese Volksmeßbücher waren ein erster und sehr wirksamer Schritt zu einem

    besseren Verständnis und intensiveren Mitfeier der Liturgie.

    Liturgische Bewegung und Liturgiereform des Zweiten Vatik. Konzils

    • Der Liturgischen Bewegung geht es um mehr, als um eine äußere Umgestaltung der

    Liturgie. Zunächst geht es um die Erneuerung des kirchlichen Lebens durch die

    Liturgie; in einem zweiten Schritt kann daraus der Wunsch auch nach einer Erneuerung

    der Liturgie resultieren.

    • Das „Mechelner Ereignis“ gilt als Geburtsstunde der klassischen Liturgischen

    Bewegung: Der belgische Benediktiner Lambert Beaudin aus der Abtei Kaisersberg

    forderte auf dem Katholikentag der Erzdiözese Mecheln 1909, „die Liturgie zu

    demokratisieren“, also zu einer Sache des ganzen Volkes zu machen, um den einfachen

    Gläubigen die spirituellen Reichtümer der Liturgie nicht vorzuenthalten.

    • In Deutschland wurden diese Anliegen vor allem durch die Abtei Maria Laach und

    deren Abt Ildefons Herwegen (seit 1913) gefördert. Dabei wand man sich zunächst an

    Akademiker. 1921 wurde erstmals in Maria Laach die sogenannte Krypta-Messe gefeiert:

    Der Priester zelebrierte versus populum, während die Gläubigen um den Altar herum

    standen und lateinisch antworteten. Doch die Liturgische Bewegung erfaßte bald weitere

    Kreise. Vor allem Romano Guardini sprach die studierende Jugend an, die sich im Bund

    „Quickborn“ unter seiner Leitung auf der Burg Rothenfels zusammenfand. Von

    besonders großer Breitenwirkung war die volksliturgische Arbeit von Pius Parsch, einem

    Chorherrn aus Klosterneuburg.

    • Von den 40er Jahren spricht man als der „Krise der Liturgischen Bewegung“. Allerdings

    ist diese Krise als ein Übergang von privaten Initiativen zu kirchenamtlichen

    Maßnahmen zu verstehen ist. 1950 erscheint die deutsche „Collectio rituum“, und 1951

    wurde durch ein Dekret Pius XII. die Osternacht wiederhergestellt.

    • Am 25. Januar 1959 beruft Papst Johannes XXIII. das Zweite Vatikanische Konzil ein.

    Das erste Schema, das beraten wurde, ist das über die Liturgie. Die in der Konstitution

    getroffenen Aussagen zum Wesen und zur Bedeutung der Liturgie müssen im Hinblick

    auf die damaligen Verhältnisse als revolutionär gelten, die entscheidende

    Weichenstellung für nachkonziliare Liturgiereform beinhalten. Im ersten Abschnitt der

    Liturgiekonstitution wird als das Ziel genannt, „das christliche Leben unter den

    Gläubigen mehr und mehr zu vertiefen“ (SC 1). Grundaussagen:

    * Die Liturgie hat für die Kirche höchste Bedeutung. Sie ist „der Höhepunkt, dem das

    Tun der Kirche zustrebt, und zugleich die Quelle, aus der all ihre Kraft strömt“ (SC 10).

    * Weil alle Christen aus dieser Quelle schöpfen sollen, ist die „volle, bewußte und tätige

    Teilnahme an den liturgischen Feiern“ wichtig (SC 14).

    * Damit die Erneuerung des Glaubens aus der Liturgie gelingen kann, ist liturgische

    Bildung wichtig (SC 15-19).

    * Aus all dem ergibt sich, daß auch die Liturgie selbst erneuert werden muß (vgl. SC 21-40).


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