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Literatur und Komik (Zur Theorie literarischer Komik und zur deutschen Komödie im 18. Jahrhundert)...

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2. Zur deutschen Komödie im 18. Jahrhundert „Comedy is tragedy plus time.“ (Steve Allen) In den folgenden Kapiteln soll das entworfene Modell literarischer Komik in der Ana- lysepraxis erprobt werden. Gegenstand des Praxistests werden deutschsprachige Komö- dien aus der Zeit zwischen 1760 und 1800 sein. Die Wahl dieses Gegenstands für die Erprobung des Modells dürfte zwar nahe liegend, aber doch wenig einleuchtend er- scheinen: Sie liegt nahe, weil die Komödie eine der literarischen Gattungen ist, in der das Komische zentrale Bedeutung besitzt. Und sie mag gleichwohl wenig einleuchten, weil das deutschsprachige Lustspiel und insbesondere seine Entwicklung von Gotthold Ephraim Lessing bis zu Ludwig Tieck von der Literaturwissenschaft in den zurücklie- genden Jahrzehnten keineswegs stiefmütterlich behandelt worden ist. 1 Neben einer Rei- he grundlegender Überblicksdarstellungen zur Geschichte der deutschen Komödie und ihrer Stellung innerhalb der europäischen Komödienliteratur sind seit den 1960er Jahren zahlreiche Einzeluntersuchungen ebenso zu Autoren, Phasen, Traditionen und Texten der Gattung vorgelegt worden wie zu Fragen ihrer Poetik. 2 Dass es im Folgenden den- 1 Wie in der Forschung üblich, werden die Ausdrücke ‚Lustspiel‘ und ‚Komödie‘ im Folgenden als gleichbedeutend behandelt, vgl. dazu Hans Joachim Schrimpf, „Komödie und Lustspiel. Zur termi- nologischen Problematik einer geschichtlich orientierten Gattungstypologie“, in ZfdPh 97 (1978), 152–182 und Ulrich Profitlich/Frank Stucke, „Art. Komödie“, in RLW 2 (2000), 309–313 2 Vgl. etwa Walter Hinck, Das deutsche Lustspiel des 17. und 18. Jahrhunderts und die italienische Komödie. Commedia dell’arte und théatre italien, Stuttgart 1965, Helmut Prang, Geschichte des Lustspiels von der Antike bis zur Gegenwart, Stuttgart 1968, Walter Hinck (Hg.), Die deutsche Ko- mödie. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Düsseldorf 1977, Horst Steinmetz, Die Komödie der Aufklärung, 3., durchg. u. bearb. Aufl., Stuttgart 1978, Eckehard Catholy, Das deutsche Lustspiel. Von der Aufklärung bis zur Romantik. Stuttgart u.a. 1982, Bernhard Greiner, Die Komödie. Eine theatralische Sendung: Grundlagen und Interpretationen, 2., aktual. Aufl., Tübingen/Basel 1992, Ulrich Profitlich (Hg.), Komödientheorie. Texte und Kommentare vom Barock bis zur Gegenwart, Reinbek bei Hamburg 1998, Franz Norbert Mennemeier (Hg.), Die großen Komödien Europas, Tübingen/Basel 2000, Ralf Simon, Theorie der Komödie – Poetik der Komödie, Bielefeld 2001, Volker Klotz, Bürgerliches Lachtheater. Komödie, Posse, Schwank, Operette, 4., aktual. ud erw. Aufl., Heidelberg 2007, Georg-Michael Schulz, Einführung in die deutsche Komödie, Darmstadt 2007 oder Andrea Bartl, Die deutsche Komödie. Metamorphosen des Harlekin, Stuttgart 2009. Brought to you by | provisional account Unauthenticated | 155.97.178.73 Download Date | 7/5/14 4:21 AM
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2. Zur deutschen Komödie im 18. Jahrhundert

„Comedy is tragedy plus time.“(Steve Allen)

In den folgenden Kapiteln soll das entworfene Modell literarischer Komik in der Ana-lysepraxis erprobt werden. Gegenstand des Praxistests werden deutschsprachige Komö-dien aus der Zeit zwischen 1760 und 1800 sein. Die Wahl dieses Gegenstands für dieErprobung des Modells dürfte zwar nahe liegend, aber doch wenig einleuchtend er-scheinen: Sie liegt nahe, weil die Komödie eine der literarischen Gattungen ist, in derdas Komische zentrale Bedeutung besitzt. Und sie mag gleichwohl wenig einleuchten,weil das deutschsprachige Lustspiel und insbesondere seine Entwicklung von GottholdEphraim Lessing bis zu Ludwig Tieck von der Literaturwissenschaft in den zurücklie-genden Jahrzehnten keineswegs stiefmütterlich behandelt worden ist.1 Neben einer Rei-he grundlegender Überblicksdarstellungen zur Geschichte der deutschen Komödie undihrer Stellung innerhalb der europäischen Komödienliteratur sind seit den 1960er Jahrenzahlreiche Einzeluntersuchungen ebenso zu Autoren, Phasen, Traditionen und Textender Gattung vorgelegt worden wie zu Fragen ihrer Poetik.2 Dass es im Folgenden den-

1 Wie in der Forschung üblich, werden die Ausdrücke ‚Lustspiel‘ und ‚Komödie‘ im Folgenden alsgleichbedeutend behandelt, vgl. dazu Hans Joachim Schrimpf, „Komödie und Lustspiel. Zur termi-nologischen Problematik einer geschichtlich orientierten Gattungstypologie“, in ZfdPh 97 (1978),152–182 und Ulrich Profitlich/Frank Stucke, „Art. Komödie“, in RLW 2 (2000), 309–313

2 Vgl. etwa Walter Hinck, Das deutsche Lustspiel des 17. und 18. Jahrhunderts und die italienischeKomödie. Commedia dell’arte und théatre italien, Stuttgart 1965, Helmut Prang, Geschichte desLustspiels von der Antike bis zur Gegenwart, Stuttgart 1968, Walter Hinck (Hg.), Die deutsche Ko-mödie. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Düsseldorf 1977, Horst Steinmetz, Die Komödie derAufklärung, 3., durchg. u. bearb. Aufl., Stuttgart 1978, Eckehard Catholy, Das deutsche Lustspiel.Von der Aufklärung bis zur Romantik. Stuttgart u.a. 1982, Bernhard Greiner, Die Komödie. Einetheatralische Sendung: Grundlagen und Interpretationen, 2., aktual. Aufl., Tübingen/Basel 1992,Ulrich Profitlich (Hg.), Komödientheorie. Texte und Kommentare vom Barock bis zur Gegenwart,Reinbek bei Hamburg 1998, Franz Norbert Mennemeier (Hg.), Die großen Komödien Europas,Tübingen/Basel 2000, Ralf Simon, Theorie der Komödie – Poetik der Komödie, Bielefeld 2001,Volker Klotz, Bürgerliches Lachtheater. Komödie, Posse, Schwank, Operette, 4., aktual. ud erw.Aufl., Heidelberg 2007, Georg-Michael Schulz, Einführung in die deutsche Komödie, Darmstadt2007 oder Andrea Bartl, Die deutsche Komödie. Metamorphosen des Harlekin, Stuttgart 2009.

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noch um die Analyse deutscher Lustspiele des ausgehenden 18. Jahrhunderts gehenwird, rechtfertigt sich durch die Perspektive, aus der die Texte in den Blick genommenwerden. Bei aller Unterschiedlichkeit im Detail verbindet die zahlreichen vorliegendenForschungsbeiträge, dass sie der Frage, die hier im Zentrum stehen wird, in der Regelkeine angemessene Beachtung schenken – der Frage nach den Formen und Funktionendes Komischen in der Komödie.3 In den nachfolgenden Untersuchungen kanonischerund nicht-kanonischer Lustspiele aus der Zeit von Lessing bis zu Tieck soll auf dieseFrage eine zumindest exemplarische Antwort gewonnen werden.4

Dass das Komische in der literaturwissenschaftlichen Komödienforschung allenfallsam Rande Beachtung findet, ist aus wissenschaftshistorischer Perspektive betrachtetnicht erstaunlich. Seit dem 19. Jahrhundert hat sich die enge Verschränkung von Ko-mik- und Komödienforschung, die für beide Bereiche von der Antike an prägend gewe-sen ist, nach und nach gelöst. Die Komikforschung wird spätestens in der zweiten Hälf-te des Jahrhunderts von einer Entwicklung erfasst, die sich innerhalb der vergangenenJahrzehnte noch entschieden verstärkt hat – sie verwandelt sich zusehends in einen Be-reich der Theoriebildung, an dem unterschiedliche Wissenschaften wie die Philologie,Philosophie, Soziologie, Psychologie oder Biologie beteiligt sind, zumeist ohne dabeimiteinander im Austausch zu stehen.5 Im Zuge dieser Entwicklung wird das Lustspielimmer weniger als ein Gegenstand wahrgenommen, an dem das Komische in gleichsamparadigmatischer Form zur Erscheinung kommt; in verschiedenen Feldern der Humo-rologie dienen vielmehr recht unterschiedliche Ausprägungen des Komischen als Aus-gangspunkt der Theoriebildung; der einzige Gegenstand, der noch immer in vielen Fä-chern und Zusammenhängen als Muster des Komischen und mithin als Modellfall derKomikforschung gilt, ist offenkundig der Witz.6

Umgekehrt zeigt die Komödienforschung seit rund eineinhalb Jahrhunderten nurnoch selten größeres Interesse an den je aktuellen Debatten der Komikforschung.7 AlsBereich der Literaturwissenschaft, die sich im 19. Jahrhundert als historische Disziplin

3 Auch diese Regel wird selbstverständlich durch Ausnahmen bestätigt, vgl. etwa Walter Hinck, Dasdeutsche Lustspiel, Reinhold Grimm/Klaus L. Berghahn (Hg.), Wesen und Formen des Komischenim Drama, Darmstadt 1974 oder Daniela Weiss-Schletterer, Das Laster des Lachens. Ein Beitragzur Genese der Ernsthaftigkeit im deutschen Bürgertum des 18. Jahrhunderts, Wien u.a. 2005.

4 Angesichts der immens großen Zahl deutschsprachiger Komödien, die im 18. Jahrhundert entstan-den sind, besteht im vorliegenden Zusammenhang zu einem exemplarischen Vorgehen keine Alter-native. Eine Ahnung der Zahl vermittelt: Reinhart Meyer (Hg.), Bibliographia dramatica et drama-ticorum. Kommentierte Bibliographie der im ehemaligen Reichsgebiet gedruckten und gespieltenDramen des 18. Jahrhunderts. I. Abteilung: Werkausgaben, Sammlungen, Reihen, 3 Bde., Tübin-gen 1986, II. Abteilung: Einzeltitel, Bde. 1-30 (1700–1789), Tübingen 1993–2009.

5 S. oben insbes. 1.1–1.4. Vgl. auch Georg-Michael Schulz, Einführung, 35f.6 So spätestens seit Sigmund Freuds wirkungsmächtiger Studie und noch in den Beiträgen von Vic-

tor Raskin und Salvatore Attardo zu einer allgemeinen Theorie sprachlichen Humors, s. dazu oben1.2.3 und 1.4.1.

7 Zu einer Skizze der Forschungsgeschichte vgl. Georg-Michael Schulz, Einführung, 21–28.

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Einleitung 161

konstituiert und etabliert,8 ist Komödienforschung in der Regel Gattungsgeschichts-schreibung. Als solche kann sich die wissenschaftliche Beschäftigung mit Lustspielenschlicht an die Einordnung von Dramen durch Autoren oder Rezipienten halten undalso grundsätzlich ohne einen expliziten Begriff der Komödie und auch ohne konkreteVorstellungen von deren möglichen Konstituenten wie etwa dem Komischen auskom-men. Doch selbst wenn Komödienforschung mit eingehenderen Überlegungen zumKomödienbegriff verbunden wird, führt das oftmals nicht dazu, dass sie in differenzier-ter Form humorologische Reflexionen einbezieht und die analysierten Dramen unter ko-miktheoretischer Perspektive betrachtet. Das liegt einerseits daran, dass keineswegsausgemacht ist, welche Rolle das Komische im Rahmen einer Bestimmung des Begriffsder Komödie spielen sollte. Nimmt man die Geschichte des Genres und seiner Theorieetwas genauer in den Blick, stellt man fest, dass sich viele Autoren finden lassen, „inderen Komödien-Verständnis das Element Komik überhaupt nicht oder jedenfalls nichtan prominenter Stelle vorkommt“.9 Von der Antike bis zum 20. Jahrhundert wird derAusdruck ‚Komödie‘ in recht unterschiedlicher Weise verwendet und bestimmt – nichtselten eben auch in Formen, die ohne Bezugnahme auf das Komische auskommen, etwazur Bezeichnung aller Dramen mit einem guten Ende, als Oberbegriff für Stücke mitniedrigem Personal oder als Gattungsname für solche mit einer bestimmten Adressaten-gruppe.10 In Reaktion auf diese Beobachtung widmet sich die Literaturwissenschaftzwar des Öfteren der ‚Stigmatisierung des Komischen‘11 oder auch der ‚Etablierung desErnsten‘12 in Komödie und Komödientheorie, nur selten aber der Komiknutzung undihrem Wandel in unterschiedlichen konzeptionellen und historischen Kontexten. DieKomödienforschung schenkt dem Aspekt des Komischen andererseits aber auch des-halb nur wenig Beachtung, weil sie ihm für die Evolution des Genres und die Interpre-tation einzelner seiner Exemplare gemeinhin nur nachgeordnete Bedeutung zumisst –und dies gilt für gattungsgeschichtliche Studien ganz unabhängig davon, ob sie Komikals zentrales Genreelement ansehen oder nicht. In komödienhistorischen Studien geht esschwerpunktmäßig um andere Fragen als die nach dem Verhältnis von Komödie und

8 Vgl. dazu den Überblick in Tom Kindt/Hans-Harald Müller, „Historische Wissenschaften – Gei-steswissenschaften“, in Handbuch Fin de Siècle. 1885-1914, hg. v. Sabine Haupt u. Stefan BodoWürffel, Stuttgart 2008, 662–679.

9 Ulrich Profitlich, „Komödien-Konzepte ohne das Element Komik“, in Theorie der Komödie, 13–30, 13. Hervorhebung im Original. – Dies wird bisweilen nicht hinreichend beachtet, vgl. etwaRainer Warning, „Elemente einer Pragmasemiotik der Komödie“, in Das Komische, hg. v. Wolf-gang Preisendanz u. R. W., München 1976, 279–333, 279, András Horn, Das Komische im Spiegelder Literatur. Versuch einer systematischen Einführung, Würzburg 1988, 263–265 oder Helmutvon Ahnen, Das Komische auf der Bühne. Versuch einer Systematik, München 2006, 55.

10 Vgl. dazu Bernhard Asmuth, Einführung in die Dramenanalyse, 5., aktual. Aufl., Stuttgart/Weimar1997, 24–36, Ulrich Profitlich, Komödientheorie, 37–39, „Komödien-Konzepte“, 15–23 sowie U.P./Frank Stucke, „Art. Komödie“, 310.

11 Vgl. dazu zuletzt Daniela Weiss-Schletterer, Das Laster des Lachens.12 Vgl. hierzu grundlegend Christian Neuhuber, Das Lustspiel macht Ernst. Das Ernst in der deut-

schen Komödie auf dem Weg in die Moderne: von Gottsched bis Lenz, Berlin 2003.

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Komik, etwa um die Stellung des Lustspiels im System der Gattungen und insbesonderein Relation zum Trauerspiel, um epochen- und autorenspezifische Probleme oder umden Zusammenhang von Komödientheorie und Komödienpraxis.13

Die folgenden vier Fallstudien zum deutschsprachigen Lustspiel in der zweiten Hälf-te des 18. Jahrhunderts versuchen Komödien- und Komikforschung wieder stärkermiteinander ins Gespräch zu bringen.14 Sie sollen neben der Erprobung des entwickel-ten Komikmodells der Verdeutlichung der Perspektiven und des Potenzials einer Zu-sammenarbeit zwischen beiden Forschungsbereichen dienen. In Auseinandersetzungmit Dramen und Dramenpoetologien von Lessing über Lenz und Kotzebue bis zu Tieckwerde ich vorzuführen versuchen, wie eine fruchtbare Verbindung von komiktheo-retisch informierter Komödienforschung und komödienhistorisch perspektivierter Ko-mikforschung aussehen könnte: Von der Ausrichtung der meisten vorliegenden Beiträgezur Komödienforschung werde ich in den folgenden Fallstudien nicht allein insofern ab-weichen, als ich dem Komischen, seiner Modellierung und Funktionalisierung im Gat-tungszusammenhang größere Beachtung schenke; ein wesentlicher Unterschied zumMainstream der Lustspielgeschichtsschreibung wird sich zudem dadurch ergeben, dassim Rahmen der Analysen nicht nur mit einem historischen, sondern auch mit einemsystematischen Komikbegriff gearbeitet werden soll, auf dessen Basis sich die ge-schichtliche Wirkungsdisposition der untersuchten Texte herausarbeiten lässt. Die Be-stimmung dieses transhistorischen Begriffs des Komischen, dessen Verwendung freilichan historische Bedingungen gebunden ist, habe ich oben im Einzelnen entwickelt.15

Doch auch von der Mehrzahl der Studien im Feld der Komikforschung werden sich dievorgesehenen Falluntersuchungen abheben, und zwar durch die Fokussierung der Ge-schichtlichkeit des Komischen. Während die Historizität von Komik in humanwissen-schaftlichen Studien zumeist keine oder nur eine untergeordnete Rolle spielt,16 wird sieim kulturwissenschaftlichen Kontexten zwar oft behauptet, aber kaum einmal näherbetrachtet, geschweige denn veranschaulicht.17 In Auseinandersetzung mit Komödiendes 18. Jahrhunderts möchte ich in Abgrenzung von beiden Tendenzen zu verdeutlichen

13 Eine Ausnahme bilden – wenngleich eher dem Programm als den Textanalysen nach – literatur-wissenschaftliche Studien zur Tradition des sogenannten ‚Lachtheaters‘, vgl. dazu Volker Klotz,Lachtheater, 15–17.

14 Eine Art ‚Pilotstudie‘ zu einigen der folgenden Kapitel ist Tom Kindt, „Wo der Spaß aufhört. ZurRolle des Komischen in der deutschen Komödie des 18. Jahrhunderts“, in Komik als Institution.Ergebnisse des Kasseler Komik-Kolloquiums, hg. v. Friedrich Block u. Rolf Lohse, Bielefeld 2011(im Druck).

15 S. dazu insbesondere 1.2 und 1.4.16 Eine Ausnahme sind die verschiedenen, insbesondere von Willibald Ruch vorgelegten psychologi-

schen Studien zum Zusammenhang von Charakter und Humor, vgl. für eine Übersicht W. R. (Hg.),The Sense of Humor. Explorations of a Personality Characteristic, Berlin/New York 1998.

17 Das gilt nicht für Susanne Schäfers theoretische Reflexionen zu Komik in Kultur und Kontext(München 1996), die bislang allerdings nicht Grundlage für weitere historische oder empirischeStudien geworden sind. – S. zum Zusammenhang allgemein oben 1.1.

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versuchen, dass die Geschichtlichkeit des Komischen in der Transformation seiner Ge-staltung und Nutzung in unterschiedlichen Kontexten besteht. Die Fallstudien sind mit-hin nicht nur als alternativer Blick auf die Geschichte einer Gattung, sondern zugleichals exemplarischer Beitrag zum wechselhaften Umgang mit einer Schreibweise zu ver-stehen.18 Wie im Fall des Komikkonzepts werde ich auch in dem des Komödienkon-zepts mit zwei Begriffen arbeiten: Historisch wird das jeweilige Verständnis von Ko-mödie zu bestimmen sein, das für das Lustspielschaffen der betrachteten Autoren mehroder weniger ausdrückliche Leitidee ist; systematisch wird davon ausgegangen, dass derKomödienbegriff im Sinne Wittgensteins als ‚Familienähnlichkeitskonzept‘ zu fassenist.19 Im Anschluss an Ulrich Profitlich nehme ich also an, dass es sich beim Lustspielum ein Genre handelt, „bei dem die einzelnen Exemplare wie auch die einzelnen histo-rischen Typen, auch wenn kein Merkmal sie verbindet, doch ein und derselben Familie[…] angehören, einem Kollektiv von Werken, deren Gemeinsames ihre Geschichteist“.20

Konkret erfolgt die Analyse des Verhältnisses von Komödie und Komik in der zwei-ten Hälfte des 18. Jahrhunderts in vier Kapiteln: Am Beginn der Rekonstruktionen wirddie Beschäftigung mit Lessings Komödienkonzeption sowie seiner Komödie Minna vonBarnhelm stehen, dem vermutlich ersten deutschsprachigen Lustspiel, dem ein Litera-turverständnis zugrunde liegt, wie es noch heute maßgeblich ist – die Einschätzungnämlich, Literatur sei nicht als „Thesen-Verkündigungsanstalt“, sondern als „Organonder Problemreflexion“21 zu verstehen. Um den Umbruch zu verdeutlichen, der sich mitLessings Œuvre in der Geschichte der Komödie ebenso wie in ihrer theoretischen Ref-lexion ereignet, werde ich seine Position in Abgrenzung von der für die Frühaufklärungparadigmatischen Lustspielpoetik Johann Christoph Gottscheds erläutern (2.1 Komi-sche Ungereimtheiten). Ein zweiter Teil wird sich dem Zusammenhang von Theorieund Praxis der Komödie bei Lenz widmen. Vor dem Hintergrund einer Analyse seiner

18 Zum Begriff der ‚Schreibweise‘ und zur Beziehung zwischen Gattungen und Schreibweisen vgl.Rüdiger Zymner, Gattungstheorie. Probleme und Positionen der Literaturwissenschaft, Paderborn2003, 172–190 und „Texttypen und Schreibweisen“, in Handbuch Literaturwissenschaft, 3 Bde.,hg. v. Thomas Anz, Stuttgart/Weimar 2007, Bd. 1, 25–80, 25f. – Vgl. zur Vernachlässigung diesesZusammenhangs in der Komödienfoschung Georg-Michael Schulz, Einführung, 36.

19 Vgl. dazu Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (1953), Frankfurt a.M. 2003, §§66f. Zur Nutzung des Modells mit Blick auf literarische Genres vgl. Werner Strube, „Die komplexeLogik des Begriffs ‚Novelle‘. Zur Problematik der Definition literarischer Gattungsbegriffe“, inGermanisch-Romanische Monatshefte 32 (1982), 379–386.

20 Ulrich Profitlich (Hg.), Komödientheorie, 13. Hervorhebung im Original. Vgl. zu diesem Vor-schlag im Einzelnen Ulrich Profitlich, „Geschichte der Komödie. Zu Problemen der Gattungsge-schichte“, in ZfdPh 116 (1997), 172–208. – Vgl. zur Diskussion um die Bestimmung des Begriffsder Komödie etwa auch Wolfgang Trautwein, „Komödientheorien und Komödie. Ein Ordnungs-versuch“, in Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 27 (1982), 86–123 und Uwe Japp, „Ko-mödie“, in Handbuch der literarischen Gattungen, hg. v. Dieter Lamping, Stuttgart 2009, 413–431.

21 Karl Eibl, Die Entstehung der Poesie, München 1995, 87.

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Stellungnahmen zur Konzeption des Lustspiels sollen Formen und Funktionen des Ko-mischen in seinem Drama Der Hofmeister untersucht werden, dessen Einordnung alsKomödie bis heute Gegenstand von Diskussionen ist (2.2 Komik und Erziehung). Ineinem dritten Abschnitt werde ich der Inszenierung und Funktionalisierung des Komi-schen in den Lustspielen Kotzebues nachgehen. Nach einer Rekonstruktion seinerÜberlegungen zu den Aufgaben und Möglichkeiten des Dramas im Allgemeinen undder Komödie im Besonderen soll anhand seines frühen Stücks Die Indianer in Englandbeispielhaft untersucht werden, welche Formen von Komik Kotzebue in seinenLustspielen einsetzt, in welcher Weise er dies tut und welche Ziele er dabei verfolgt(2.3 Komische Zweideutigkeiten). Der vierte und letzte Teil wird sich mit Tiecks Ko-mödie Der gestiefelte Kater befassen und dabei zu verdeutlichen versuchen, wie dasvon ihm selbst als „Kindermärchen in drei Akten“ eingestufte Werk seine ‚Poetik desUnsinns‘ und das Modell des Aufklärungslustspiels in eine spannungsreiche Verbin-dung bringt (2.4 Komik und Konfusion).

Die vier Fallstudien werden sich, dies bedarf vermutlich keiner ausdrücklichen Beto-nung, nicht zu einer Geschichte des deutschsprachigen Lustspiels in der Zeit zwischen1760 und 1800 fügen. Mit ihnen ist aber durchaus der Anspruch verbunden, einen Bei-trag zur Analyse der Gattungsentwicklung zu leisten, der in zukünftigen Komödien-geschichten für den fraglichen Zeitraum zu berücksichtigen ist. Was die exemplarischenUntersuchungen konkret leisten werden, ist im besten Fall dreierlei: Sie werden ein ge-naues Bild von typischen und zugleich komplexen Formen der Gestaltung und Nutzungdes Komischen in der Literatur zeichnen, einen Überblick über markante Tendenzen derGattungsgeschichte in den betreffenden Dezennien geben und einige Bausteine zurphilologischen Rekonstruktion des Schaffens von vier maßgeblichen Autoren des aus-gehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts beitragen, deren Werke als musterhaftund mithin aufschlussreich für maßgebliche Strömungen, Prozesse und Konstellationenin der Dichtung der betrachteten Zeit gelten können.22 Sollte dies im Rahmen der fol-genden Kapitel gelingen, werden sie zugleich einen anschaulichen Eindruck vom heuri-stischen Potenzial des oben entworfenen Modells literarischer Komik vermitteln.23

22 Auf Fragen der Periodisierung der Literaturgeschichte im fraglichen Zeitraum und der Modellie-rung von Grundkonzepten der Literaturgeschichtsschreibung kann dabei nicht eingegangen werden,vgl. hierzu Michael Titzmann, „Skizze einer integrativen Literaturgeschichte und ihres Ortes in ei-ner Systematik der Literaturwissenschaft“, in Modelle des literarischen Strukturwandels, hg. v. M.T., Tübingen 1991, 395–438.

23 Zum zugrunde liegenden Verständnis von Interpretationsheuristik vgl. am Beispiel der Erzähltheo-rie Tom Kindt/Hans-Harald Müller, „Narrative Theory and/or/as Theory of Interpretation“, in WhatIs Narratology? Questions and Answers Regarding the Status of a Theory, hg. v. T. K. u. H.-H.M., Berlin/New York 2003, 205–219.

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Komische Ungereimtheiten: Lessing 165

2.1 Komische Ungereimtheiten:Zur Komik in Lessings Minna von Barnhelm

Gotthold Ephraim Lessings Lustspiele bilden eine markante Zäsur in der Geschichte derdeutschsprachigen Kömodie. Dies gilt zweifellos schon für seine frühen sogenannten‚Problemkomödien‘24 wie die Dramen Der Freigeist und Die Juden, auch wenn sienoch in mancherlei Hinsicht Positionen und Traditionen verpflichtet sind, die im An-schluss an Johann Christoph Gottscheds Beiträge zur Literatur- und Theaterreform diedeutschsprachige Dramenproduktion in der Mitte des 18. Jahrhunderts insgesamt prä-gen. Bereits in den zwischen 1746 und 1750 entstandenen Problemkomödien lässt sichjedoch der Versuch erkennen, sich vom bestimmenden Muster der sächsischen Typen-komödie zu lösen, dem die deutschen Lustspiele der Zeit in aller Regel folgen.25 Les-sings frühe Stücke entfernen sich von diesem Modell der Komödie, indem sie andereTraditionen des Lustspiels wie etwa die Commedia dell’arte einbeziehen, zentrale Gat-tungsvorgaben nicht oder nur in ungewöhnlicher Weise einlösen und in der intendiertenWirkung deutlich über die in Gottscheds Versuch einer critischen Dichtkunst kodifi-zierten Ideen hinausgehen.26 Lessings maßgeblicher Beitrag zur Erneuerung der Komö-die besteht aber natürlich in seinem Lustpiel Minna von Barnhelm oder das Solda-tenglück, das Mitte der 1760er Jahre entsteht und 1767 sowohl erstveröffentlicht alsauch uraufgeführt wird.27 An die ungeheure Wirkung, die das Lustspiel schon auf vieleZeitgenossen hatte, erinnerte sich Goethe im Gespräch mit Eckermann ein halbes Jahr-hundert später: „Sie mögen denken […], wie das Stück auf unsere jungen Leute wirkte,als es in jener dunkelen Zeit hervortrat. Es war ein glänzendes Meteor. Es machte unsaufmerksam, daß noch etwas Höheres existierte, als wovon die damalige schwache lite-rarische Epoche einen Begriff hatte.“28

24 Vgl. zu dieser Bezeichnung Karl S. Guthke, „Lessings Problemkomödie Die Juden“, in Wissen ausErfahrung. Festschrift für Herman Meyer zum 65. Geburtstag, hg. v. Alexander von Bormann, Tü-bingen 1976, 122–134 und Klaus Bohnen, „Nachwort“, in Gotthold Ephraim Lessing, Der Frei-geist (1749), Stuttgart 1980, 101–117. – Zitate aus den Werken Lessings werden nachgewiesennach der Ausgabe des Deutschen Klassiker-Verlags (Werke und Briefe in zwölf Bänden, hg. v.Wilfried Barner et al., Frankfurt a.M. 1985–2003) unter Angabe der jeweiligen Bandnummer.

25 Vgl. dazu grundlegend Horst Steinmetz, Die Komödie der Aufklärung, Kap. II.26 Vgl. mit vielen Hinweisen auf weitere Literatur Wolfgang Albrecht, Gotthold Ephraim Lessing,

Stuttgart/Weimar 1997, 3–11, Wilfried Barner et al., Lessing. Epoche – Werk – Wirkung, 6. Aufl.,München 1998, 123–134, Agnes Kornbacher-Meyer, Komödientheorie und KomödienschaffenGotthold Ephraim Lessings, Berlin 2003, 221–223 und Monika Fick, Lessing-Handbuch. Leben –Werk – Wirkung, 2., durchg. u. erg. Aufl., Stuttgart/Weimar 2004, 59–74.

27 Vgl. Monika Fick, Lessing-Handbuch, 242f.28 Goethe 39, 475 (27.3.1831). – Zitate aus den Werken Goethes werden nachgewiesen nach der Aus-

gabe des Deutschen Klassiker-Verlags (Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche in 40Bänden, hg. v. Henrik Birus et al., Frankfurt a.M. 1985–1999) unter Angabe der jeweiligen Band-nummer.

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Zur deutschen Komödie im 18. Jahrhundert166

Für die immense Wirkung und literarhistorische Bedeutung von Minna von Barn-helm hatte Goethe bereits vor seiner Bemerkung gegenüber Eckermann eine Erklärunggeliefert, die bis heute die Deutung und Einordnung des Stücks ebenso in der Lessing-Philologie wie in der Kömodienforschung prägt. Das Lustpiel sei, so heißt es in Dich-tung und Wahrheit, die im deutschsprachigen Raum „erste, aus dem bedeutenden Lebengegriffene Theaterproduktion, von spezifisch temporärem Gehalt“.29 Im Sinne dieserBeobachtung sieht die Literaturwissenschaft Lessings entscheidenden Beitrag zur Ent-wicklung des Lustspiels noch immer vor allem darin, dass er der Gattung eine ‚Ver-ankerung im Geschichtlichen‘30 und damit einen „Zugewinn an Realitätshaltigkeit“31

beschert habe: In Fortführung der Problemkomödien wird in Minna von Barnhelm demGattungsmuster der Typenkomödie endgültig der Garaus gemacht, Lessing setzt an dieStelle karikaturhaft gezeichneter Charaktere historisch situierte und psychologisch pro-filierte Figuren und gestaltet so die satirische Verlachkomödie Gottsched’scher Prove-nienz in eine liberale Lachkomödie um, die den Ideen der Toleranz und Integration ver-pflichtet ist.32

Gegen diese hier nur umrisshaft paraphrasierte Auffassung lässt sich aus gattungs-historischer Sicht wenig einwenden, sie ist in den letzten Jahrzehnten in zahlreichenUntersuchungen erhärtet und zugleich verfeinert worden.33 Doch so angemessen dievorliegenden Rekonstruktionen zu Minna von Barnhelm aus komödiengeschichtlicherPerspektive sein mögen, so unbefriedigend fallen sie zumeist in komikgeschichtlicherHinsicht aus. Wie verändert sich das Verhältnis von Komödie und Komik im Zeichender Lessing’schen Neuausrichtung des Lustspiels? Auf welche Formen des Komischengreift das Stück in welcher Funktion zurück? Worin besteht das Spezifische und dasInnovative seiner Komiknutzung? Wie verhalten sich in Minna von Barnhelm Pro-gramm und Praxis des Lustspiels zueinander? Abgesehen von wenigen Ausnahmenfinden Fragen dieser Art in der Forschung zu Lessings Lustspiel allenfalls am RandeBeachtung.34 Und das gilt keineswegs nur für die Untersuchungen zu Minna von Barn-helm, die das Stück im Anschluss an Karl S. Guthke als ‚Tragikomödie‘35 oder in der

29 Goethe 14, 307.30 So Walter Hinck, Das deutsche Lustspiel, 256.31 Monika Fick, Lessing-Handbuch, 242. Vgl. zu den zahlreichen Zeitbezügen, die sich in dem Stück

finden lassen, zuletzt Hugh Barr Nisbet, Lessing. Eine Biographie, München 2008, 444–449.32 Vgl. hierzu grundlegend schon Walter Hinck, Das deutsche Lustspiel, 287–301. Zu einer Übersicht

über einige Zusammenfassungen der Lessing’schen Leistung vgl. Michael Böhler, „Lachen oderVerlachen? Das Dilemma zwischen Toleranzidee und traditioneller Lustspielfunktion in der Ko-mödientheorie“, in Lessing und die Toleranz, hg. v. Peter Freimark, Franklin Kopitzsch u. HelgaSlessarev, München 1986, 245–262, 252.

33 Vgl. dazu zusammenfassend Agnes Kornbacher-Meyer, Komödientheorie und Monika Fick, Les-sing-Handbuch.

34 Zu den Ausnahmen s. unten 2.1.2.35 Vgl. Karl S. Guthke, Geschichte und Poetik der deutschen Tragikomödie, Göttingen 1961. Vgl. da-

zu zuletzt Andrea Bartl, Die deutsche Komödie, 79f.

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Komische Ungereimtheiten: Lessing 167

Nachfolge Helmut Arntzens als ‚ernste Komödie‘36 verstehen. Auch die Literaturwis-senschaftler, die in ihren Interpretationen darauf eingehen, dass dem Komischen inLessings Überlegungen zur Komödie einige Bedeutung zukommt, legen über die Ko-mik des Dramas selten eingehender Rechenschaft ab.

Im Folgenden soll in zwei Schritten versucht werden, die vernachlässigte Frage nachder Komik in Minna von Barnhelm ansatzweise zu klären: In einem ersten Abschnittwird zu diesem Zweck die Konzeption der Komödie nachgezeichnet, die Lessing imJahr der Erstveröffentlichung und Uraufführung des Lustspiels in seiner Hamburgi-schen Dramaturgie ausführt.37 Zwar liegen auch zu diesem Aspekt von Lessings Theo-rie des Dramas verschiedene Studien vor, das Verhältnis zwischen Komödie und Komikwird in den betreffenden Untersuchungen aber selten näher betrachtet.38 Ein zweiterTeil soll sich dann dem Problem widmen, ob und inwiefern Minna von Barnhelm alsUmsetzung der nachgezeichneten Komödienpoetik zu verstehen ist; im Zuge der ent-sprechend perspektivierten Analyse wird eine Deutung des Dramas skizziert, die gegen-über den kaum mehr zu überblickenden vorliegenden Untersuchungen einen neuen Ak-zent zu setzen versucht. Die Betrachtungen werden als historisch orientierte Analysedes Textes einsetzen, nach und nach aber verschiedene Ergebnisse der oben erfolgtensystematischen Reflexionen zur Komik einbeziehen. Ihr Ziel besteht in einer Erkundungder Beziehungen zwischen der Theorie und der Praxis des Lustspiels bei Lessing; siewerden darum einerseits nach den komischen Elemente in Minna von Barnhelm fragen,die komödienkonzeptionell ohne Funktion sind, und anderseits nach den komödienkon-zeptionell gerechtfertigten Aspekten, die sich aus systematischer Perspektive nicht alskomisch einstufen lassen.

2.1.1 Konzeptionelles: Hamburgische Dramaturgie

In der Hamburgischen Dramaturgie entfaltet Lessing, so kasuistisch und rhapsodischder Gang seiner Argumentation auch sein mag, die Theorie zu der Erneuerung des Dra-mas, an der er in der Praxis schon seit seinen frühen Stücken arbeitet.39 In vielen wich-tigen Fragen entfernt sich die Dramenpoetik, die er in 104 Stücken zwischen dem Mai

36 Vgl. Helmut Arntzen, Die ernste Komödie. Das Lustspiel von Lessing bis Kleist, München 1968.Vgl. zum Zusammenhang auch Hans-Georg Werner, „Minna von Barnhelm in der Geschichte desernsthaften Lustspiels“, in Bausteine zu einer Wirkungsgeschichte Gotthold Ephraim Lessings, hg.v. H.-G. W., Berlin/Weimar 1984, 50–94.

37 Vgl. Lessing 6, 181–694. Fortan zitiert unter Verwendung der Sigle „HD“.38 Eine Ausnahme, auf die noch im Einzelnen einzugehen sein wird, ist Agnes Kornbacher-Meyer,

Komödientheorie, 77–114.39 Bisweilen wird geltend gemacht, Lessings Betrachtungen zur Dramenpoetik seien nicht als ‚Theo-

rie‘ gedacht gewesen und folglich auch nicht als solche zu verstehen. Entsprechende Kommentareberuhen in der Regel auf einem unangemessen engen Verständnis von Theorie – hier soll aus die-sem Grund an der gewählten Redeweise festgehalten werden, s. dazu auch oben 1.1.

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Zur deutschen Komödie im 18. Jahrhundert168

1767 und dem April 1768 ausführt, mehr oder weniger weit von Positionen der Früh-aufklärung; in seiner Bestimmung der Aufgabe des Theaters allerdings hält Lessing anIdeen fest, wie sie in Gottscheds Critischer Dichtkunst musterhaft entwickelt werden:Die Bühne habe, so heißt es in der Einleitung zum zweiten Stück der HamburgischenDramaturgie grundlegend, „die Schule der moralischen Welt“40 zu sein.41

Dieser Anspruch an das Theater ist Lessing zufolge natürlich auch für die Komödiebindend. Wie nun Lustspiele ihrem Moralisierungsauftrag gerecht werden können, daserläutert er in dem vermutlich am häufigsten zitierten komödientheoretischen Credo indeutscher Sprache, im Übergang vom 28. zum 29. Stück der Hamburgischen Drama-turgie. Im Ergebnis setzen sich Lessings systematische Überlegungen zum Lustspielweniger radikal von der Tradition ab, als es einige seiner okkasionellen Bemerkungenzu einzelnen Lustspielen anzukündigen scheinen, wie beispielsweise seine Hinweise zuVoltaires Nanine, in denen er sich auf die Form einer Komödie ohne Komik beruft, aufdie „ganz ernsthafte Komödie“.42 Lessings Theorie des Lustpiels ist jedoch nur insofernkonservativ, als sie die Elemente nutzt, die schon bei Aristoteles und noch bei Gott-sched das Fundament der Gattungsbestimmung bilden; sie ist zugleich innovativ, weilsie die altbekannten Bestandteile der Komödienpoetik in neuartiger Weise interpretiertund vor allem funktionalisiert: Ganz im Sinne traditioneller Auffassungen geht Lessinggrundsätzlich davon aus, dass Komödien moralisch wirken sollen, indem sie zum La-chen veranlassen, und das heißt, indem sie Lächerliches zur Anschauung bringen. Einsolcher erläuternder Nachsatz ist unerlässlich, da ausgehend von Lessings griffigerFormel „Die Komödie will durch Lachen bessern; nicht durch Verlachen“43 lange Zeitunterschätzt worden ist, welch immense Bedeutung der Idee des Lächerlichen und mit-hin der des Komischen in seiner Konzeption der Komödie zukommt.44 In einer weniger

40 HD, 192. Eng verknüpft mit dieser Idee ist bei Gottsched, Lessing und anderen bekanntlich dasProjekt der Begründung eines ‚Nationaltheaters‘. Im vorliegenden Zusammenhang braucht auf die-ses Vorhaben nicht im Einzelnen eingegangen zu werden, vgl. etwa HD, 191 und für einen Über-blick Reinhart Meyer, „Von der Wanderbühne zum Hof- und Nationaltheater“, in Deutsche Aufklä-rung bis zur Französischen Revolution 1680–1789, hg. v. Rolf Grimminger, München 1980, 186–216 und Roger Bauer/Jürgen Wertheimer (Hg.), Das Ende des Stegreifspiels – die Geburt des Na-tionaltheaters. Ein Wendepunkt in der Geschichte des europäischen Dramas, München 1983.

41 Zur Vorgeschichte dieser Idee in Komödien und Komödienpoetiken des Barock vgl. Hartmut vonder Heyde, Die frühe deutsche Komödie Mitte 17. bis Mitte 18. Jahrhundert. Zur Struktur und ge-sellschaftlichen Rezeption. Versuch eines hochschuldidaktischen Curriculums, Frankfurt/M. u.a.1982 oder Stefanie Stockhorst, „Lachen als Nebenwirkung der Barockkomödie. Zur Dominanz derTugendlehre über das Komische in der Komödientheorie des 17. Jahrhunderts“, in Anthropologieund Medialität des Komischen im 17. Jahrhundert (1580–1730), hg. v. Stefanie Arend et al., Am-sterdam/New York 2008, 27–48.

42 HD, 288. Vgl. zu Lessings Sicht der Tradition des ‚ernsthaften Lustspiels‘ Hans-Georg Werner,„Minna von Barnhelm“.

43 HD, 323.44 Vgl. dazu etwa noch Wilfried Barner et al., Lessing und Monika Fick, Lessing-Handbuch. – Hier

und im Weiteren werden die Ausdrücke ‚lächerlich‘ und ‚komisch‘ als gleichbedeutend verwendet.

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Komische Ungereimtheiten: Lessing 169

geschliffenen, aber erhellenden Paraphrase läuft die berühmte Eröffnung des 29. Stücksder Hamburgischen Dramaturgie auf die folgende These hinaus: Die Kömodie solldurch die Darstellung einer spezifischen Ausprägung des Lächerlichen moralisch wir-ken. Wenn man sich verständlich machen will, worin nach Lessing der Unterschiedzwischen Lachen und Verlachen besteht, dann muss man sich also vergegenwärtigen,wie er das Lächerliche und dessen Spielarten fasst.45

Die allgemeine Bestimmung des Lächerlichen in der Hamburgischen Dramaturgiefällt knapp aus: „Jede Ungereimtheit, jeder Kontrast von Mangel und Realität, ist lä-cherlich.“46 Wie in neueren Studien zu Recht herausgestellt worden ist,47 bekennt sichLessing mit diesem Vorschlag zur Tradition der Kontrast- oder Inkongruenztheorie desKomischen, die im Verlauf des 18. Jahrhunderts zur dominierenden komiktheoretischenPosition avanciert.48 Das Komische entsteht, so lässt sich Lessings nicht unmittelbareingängige Bestimmung erläutern, wenn eine Gegebenheit nicht an die Vorstellung ih-rer musterhaften Verwirklichung heranreicht, wenn also – anders gesagt – ein Missver-hältnis zwischen empirischer Wirklichkeit und idealer Möglichkeit vorliegt. Es ist derjüngeren Forschung überzeugend gelungen, Lessings aus heutiger Sicht eigenwilligeVerwendung der Ausdrücke ‚Mangel‘ – im Sinne von „Realität“ – und ‚Realität‘ – imSinne von ‚Idealität‘ – auf philosophische Traditionen zurückzuführen, wie sie etwa mitden Namen Christian Wolff oder Gottfried Wilhelm Leibniz verbunden sind.49 Im Zugeentsprechender Kontextualisierungen ist jedoch zugleich verkannt worden, dass sich der

Dies entspricht sowohl dem allgemeinen Ausdrucksgebrauch im 18. Jahrhundert als auch dem be-sonderen in den näher betrachteten Zusammenhängen, vgl. etwa Wolfgang Preisendanz, „Art. dasKomische / das Lachen“, in HWP 4 (1976), 889–893, Roger W. Müller-Farguell/Markus Winkler,„Art. Komik / das Komische“, in HWR 4 (1998), 1166–1176 oder Andreas Kablitz, „Art. Komik,Komisch“, in RLW 2 (2000), 289–294. – Étienne Souriaus seit einigen Jahrzehnten diskutierterVorschlag, zwischen dem ‚Lächerlichen‘ als einem Phänomen der Lebenswelt und dem ‚Komi-schen‘ als einem Phänomen der Kunst zu unterscheiden, erscheint nur bedingt überzeugend, da erdem empirischen Gebrauch der Ausdrücke nicht hinreichend Rechnung trägt, vgl. E. S., „Le risibleet le comique“, in Journal de psychologie normale et pathologique 41 (1948), 142–169 und dazuHans Robert Jauß, „Zum Problem der Grenzziehung zwischen dem Lächerlichen und dem Komi-schen“, in Das Komische, 361–372, Karlheinz Stierle, „Komik der Lebenswelt und Komik derKomödie“, und „Das Lachen als Antwort“, in ebd., 372–376 sowie Rainer Warning, „Vom Schei-tern und vom Gelingen komischer Handlungen“, in ebd., 376–379; einen weiteren – aus den glei-chen Gründen zweifelhaften – Vorschlag umreißt András Horn, Das Komische, 13–19.

45 Vgl. hierzu auch Ulrich Gaier, „Das Lachen des Aufklärers. Über Lessings Minna von Barnhelm“,in Der Deutschunterricht 6 (1991), 42–56, Michael Böhler, „Lachen oder Verlachen?“ und AgnesKornbacher-Meyer, Komödientheorie.

46 HD, 322.47 Vgl. insbes. Ulrich Gaier, „Das Lachen des Aufklärers“, 45f. und Agnes Kornbacher-Meyer, Ko-

mödientheorie, 86f.48 Elemente einer Inkongruenztheorie der Komik finden sich freilich schon bei Platon und Aristoteles,

s. zu dem Ansatz und seiner Geschichte oben 1.2.3.49 Vgl. hierzu insbes. Ulrich Gaier, „Das Lachen des Aufklärers“, 45, Fn. 10 und Agnes Kornbacher-

Meyer, Komödientheorie, 87.

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umrissene Komikbegriff Lessings auch ohne Rekurs auf die erwähnten Traditionen ausder Hamburgischen Dramaturgie selbst herleiten lässt50 und dass er zudem im Zusam-menhang der zeitgenössischen Komödienpoetiken durchaus nicht so ungewöhnlich ist,wie es seine Definition nahe legen könnte.51

Lessings grundlegende Charakterisierung des Komischen ist zwar so allgemein ge-halten, dass offen bleibt, in welchen Varianten sich das Missverhältnis zwischen Rea-lität und Idealität im Einzelnen ausgestalten lässt; aus dem Zusammenhang, in dem dieDefinition erfolgt, ist aber zu ersehen, dass der Musterfall dessen, was hier als ‚Unge-reimtheit‘ bestimmt wird, das ist, was in der Tragödien- und Komödientheorie in derNachfolge Aristoteles’ als ‚Fehler‘ im Verhalten einer Figur bezeichnet wird.52 IndemLessing von einem ‚Kontrast‘ spricht, legt er im Wesentlichen bloß offen, was bei einerVerwendung des Terminus ‚Fehler‘ stillschweigend vorausgesetzt wird – die Annahme,dass das Verhalten von Figuren vor dem Hintergrund anthropologischer und nicht zu-letzt auch moralischer Normen zu betrachten ist. Wie eine Erläuterung seiner Formelvon einem Missverhältnis zwischen einer mangelhaften Gegebenheit und ihrer höherenWirklichkeit liest sich darum auch der Schlussabschnitt in Lessings Auslegung der ari-stotelischen Tragödientheorie – die Reinigung der Leidenschaften durch das Trauerspielbeschreibt er hier als Beitrag zur Annäherung an eine Norm, die in unterschiedlicherWeise verfehlt werden kann:

Da nemlich, es kurz zu sagen, diese Reinigung in nichts anders beruhet, als in der Verwand-lung der Leidenschaften in tugendhafte Fertigkeiten, bei jeder Tugend aber, nach unserm Phi-losophen [Aristoteles], sich diesseits und jenseits ein Extremum findet, zwischen welchen sieinne stehet: so mus die Tragödie, wenn sie unser Mitleid in Tugend verwandeln soll, uns vonbeiden Extremis des Mitleids zu reinigen vermögend sein […]. Das tragische Mitleid muß

50 Oder auch aus anderen Werken Lessings, worauf schon Klaus Bohnens Kommentar zur Ausgabedes Deutschen Klassiker-Verlags aufmerksam macht, vgl. K. B., „Kommentar“, in Lessing 6, 779–1140, 991. – Seinen eingehendsten und zugleich hellsichtigsten Beitrag zur Inkongruenztheorie desKomischen hat Lessing mit der erstmals 1771 erschienenen Schrift „Zerstreute Anmerkungen überdas Epigramm und einige der vornehmsten Epigrammatisten“ vorgelegt, auch wenn hier ausdrück-lich weder von Komik gehandelt noch von Inkongruenzen gesprochen wird, vgl. Lessing 7, 179–290; zu einer ‚pointentheoretisch‘ perspektivierten Zusammenfassung der Lessing’schen Positio-nen vgl. Ralph Müller, Theorie der Pointe, Paderborn 2003, 62–64.

51 Die Folgerungen, die etwa Agnes Kornbacher-Meyer aus ihren einleuchtenden philosophiehistori-schen Kontextualisierungen der Lessing’schen Komikdefinition ableitet, gehen in diesem Sinneentschieden zu weit: Komödienhistorisch ist die Position der Hamburgischen Dramaturgie zweifel-los bahnbrechend, komikhistorisch lässt sie sich jedoch keineswegs als „revolutionär“ (A. K-M.,Komödientheorie, 88) einstufen – im Kern entspricht sie in dieser Hinsicht der Auffassung, dieschon Gottsched in der Critischen Dichtkunst vertritt, s. dazu unten.

52 ‚Fehler‘ ist seit Michael Conrad Curtius’ Übertragung der aristotelischen Poetik im Jahr 1753 derübliche deutsche Ausdruck für ‚harmatia‘ und wird neben stilistischen Varianten wie ‚Gebrechen‘oder ‚Untugenden‘ auch von Lessing verwendet, vgl. etwa HD, 322. Vgl. zum Zusammenhang Pe-ter-André Alt, Tragödie der Aufklärung. Eine Einführung, Tübingen/Basel 1994, Kap. 1.

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Komische Ungereimtheiten: Lessing 171

nicht allein […] die Seele desjenigen reinigen, welcher zu viel Mitleid fühlet, sondern auchdesjenigen, welcher zu wenig empfindet.53

Versteht man Lessings Konzept der ‚komischen Ungereimtheit‘ in diesem Sinne, alsoals ‚Übertreibungen‘ im Verhalten oder Wesen von Figuren oder Personen,54 kann manschnell feststellen, dass es für sich genommen nicht geeignet ist, den Beitrag der Ham-burgischen Dramaturgie zur Neuausrichtung der Komödientheorie zu erhellen. Lessingliefert mit seiner allgemeinen Bestimmung des Komischen im Großen und Ganzen bloßeine originelle Paraphrase für eine Überzeugung, die in vielen Kunsttheorien und Lust-spielpoetiken des 18. Jahrhunderts zu finden ist.55 Ganz entsprechend weicht sie nur ge-ringfügig etwa von der Definition ab, die in der Critischen Dichtkunst im Rückgriff aufAristoteles entwickelt wird. Schon Gottsched erläutert das Lächerliche im Wesentlichenals Kontrast, wobei er im Sinne der antiken Tradition Harmlosigkeit als ergänzendesnotwendiges Merkmal nennt.56 Er schreibt:

Die Comödie ist nichts anders, als eine Nachahmung einer lasterhaften Handlung, die durchihr lächerliches Wesen den Zuschauer belustigen, aber auch zugleich erbauen kann. So hat sieAristoteles beschrieben, und zugleich erkläret, was er durch das Lächerliche verstünde. Er sagtaber sehr wohl, daß es was ungestaltes oder ungereimtes sey, das doch demjenigen, der es ansich hat, keinen Schmerz verursachet […].57

Was für Gottsched und Lessing gilt, scheint für die überwiegende Zahl der Komödien-theoretiker zwischen der Frühaufklärung und der Goethezeit zu gelten, die Komik alswesentliches Gattungsmerkmal verstehen: Sie sind sich im Wesentlichen einig über dieAntwort auf die Frage, was das Komische sei.58 Dass und inwiefern sich ihre Positionenvoneinander abheben, zeigt sich, wenn ihre jeweiligen Stellungnahmen zu dem Problem

53 HD, 574. Vgl. zum Zusammenhang auch Dietrich Harth, Gotthold Ephraim Lessing, München1993, 148–154. – Die in der Forschung viel diskutierte Frage, ob die Lessing’sche Deutung der ari-stotelischen Ideen angemessen ist, kann hier ignoriert werden, vgl. zu der Diskussion Monika Fick,Lessing-Handbuch, 282–284.

54 Für ein entsprechendes Verständnis von Lessings Komikdefinition spricht nicht zuletzt, dass er inMinna von Barnhelm die titelgebende Protagonistin die folgenden Worte sagen lässt: „Und ist esmeine Einrichtung, daß alle Übertreibungen des Lächerlichen so fähig sind?“ (Lessing 6, 82; fortanzitiert unter Verwendung der Sigle „MvB“). S. dazu allerdings auch unten 2.1.2 Theorie und Praxiszum Dritten: Komik und Moral.

55 Ab der Mitte des 18. Jahrhunderts wird die Inkongruenztheorie von einer stillschweigend in An-spruch genommenen langsam zu einer ausdrücklich vertretenen und bald auch zur führenden Posi-tion mit Blick auf das Komische. Dies zeigen neben den Werken Lessings etwa diejenigen MosesMendelssohns, Justus Mösers, Friedrich Just Riedels, Johann Georg Sulzers oder Carl FriedrichFlögels, vgl. dazu den Überblick in Paul M. Haberland, The Development of Comic Theory in Ger-many During the Eighteenth Century, Göppingen 1971, 74–108.

56 Zur Harmlosigkeitsfrage s. oben 1.4.1. und 1.4.3 Noch einmal Komik und Harmlosigkeit.57 Johann Christoph Gottsched, Versuch einer critischen Dichtkunst, 2 Bde., hg. v. Joachim Birke u.

Phillip M. Mitchell, Berlin/New York 1973, Bd. 2, 348.58 Zu Komödientheorien, in denen Komik keine oder nur eine nachgeordnete Rolle spielt, vgl. Ulrich

Profitlich, Komödientheorie, 35–42 und „Komödien-Konzepte“, 13–21.

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Zur deutschen Komödie im 18. Jahrhundert172

in den Blick genommen werden, wie das Komische in der Komödie genutzt werden soll,und das heißt vor allem, welche Formen des Komischen in der Komödie notwendig undwelche zumindest erlaubt sind.

Vergleicht man Gottscheds und Lessings Überlegungen zu diesen Fragen miteinan-der, sieht man deutlich, inwiefern die Hamburgische Dramaturgie auf Distanz zur Lust-spielpoetik der Frühaufklärung geht. Gottsched zufolge gibt es eine Spielart des Ko-mischen, die einerseits in Komödien nicht fehlen darf und andererseits die einzigeKomikform darstellt, die in ihnen gestattet ist. Komödienkomik wird in der CritischenDichtkunst als gleichzeitige Darstellung von Lachhaftem und Lasterhaftem gefasst:

Es ist […] wohl zu merken, daß weder das Lasterhafte noch das Lächerliche für sich allein, indie Comödie gehöret; sondern beydes zusammen, wenn es in einer Handlung verbunden ange-troffen wird. Vieles läuft wider die Tugend ist aber mehr strafbar und widerlich, oder gar ab-scheulich, als lächerlich. Vieles ist auch lächerlich; wie zum Exempel die Harlekinspossen derItaliener: aber darum ist es doch nicht lasterhaft.59

Für Lessing kommen die komödienkonstitutiven und die komödienlegitimen Komikfor-men nicht mehr miteinander zur Deckung. In seiner Klärung des Zusammenhangs zwi-schen dem Lächerlichen und dem Lustspiel geht es ihm nur noch um die Bestimmungderjenigen Spielarten des Komischen, die in der Komödie erforderlich sind, nicht mehrum die Festlegung derjenigen, die in ihr verboten sind. Im Hinblick auf die komödien-legitimen Formen des Komischen vertritt Lessing bekanntlich eine liberale Position:Um sie zu belegen, wird gemeinhin auf den Spott verwiesen, den er für das Gott-sched’sche Projekt übrig hat, die Figur des Harlekin von den deutschen Bühnen zuverbannen.60 Grundsätzlich zeigt sich Lessings Liberalität in der betreffenden Frageaber vor allem darin, dass er zwischen auf Amüsement abzielenden ‚Possenspielen‘ undauf Moralisierung hin angelegten ‚wahren Lustspielen‘ unterscheidet und beide fürzulässig erachtet,61 und darin, dass er auch in einer Komödie der letztgenannten Spielart

59 Johann Christoph Gottsched, Versuch, Bd. 2, 348.60 Vgl. etwa HD, 270. – Vgl. zur Diskussion um den Harlekin allgemein Horst Steinmetz, „Der Har-

lekin. Seine Rolle in der deutschen Komödientheorie und -dichtung des 18. Jahrhunderts“, in Neo-philologus 50 (1966), 95–106 und Eckart Schörle, Die Verhöflichung des Lachens. Lachgeschichteim 18. Jahrhundert, Bielefeld 2007, Kap. 5.1 sowie mit Blick auf Lessing Agnes Kornbacher-Meyer, Komödientheorie, 114–124. – Zu dem nur bedingt einleuchtenden Versuch, die Geschichteder deutschsprachigen Komödie als Geschichte des Umgangs mit der Harlekin-Figur und derenMetamorphosen zu deuten vgl. Andrea Bartl, Die deutsche Komödie, insbes. Kap. I.

61 Vgl. dazu grundlegend Lessings „Abhandlungen von dem weinerlichen oder rührenden Lustspiele“aus dem Jahr 1754, wo es heißt: „Noch einmal […] mit einem Worte; das Possenspiel will nur zumLachen bewegen; das weinerliche Lustspiel will nur rühren; die wahre Komödie will beides“ (Les-sing 3, 280; Hervorhebung im Original). – Zur Bedeutung dieser Unterscheidung in der Hamburgi-schen Dramaturgie vgl. etwa Lessings Bemerkungen zu Jean-François Regnards Demokrit, HD,268f.

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alle Varianten der Lächerlichkeit für erlaubt hält, vorausgesetzt, dass in dem betreffen-den Stück zugleich auch ein ganz bestimmter Typ des Komischen zu finden ist.62

Diesen Typ und damit die komödienkonstitutive Form des Komischen erläutert Les-sing, indem er sein weites Konzept des Lächerlichen durch die mehr oder weniger ex-plizite Formulierung ergänzender Anforderungen in drei Hinsichten näher bestimmt:Erstens geht er davon aus, dass sich die Komik, die im Mittelpunkt der Komödie steht,aus Fehlern im Verhalten oder Wesen von Figuren ergibt. Zweitens macht Lessing gel-tend, dass es sich bei den betreffenden Fehlern nicht um unverbesserliche, also etwaphysiologische Unzulänglichkeiten, sondern nur um verbesserliche, das heißt morali-sche Schwächen handeln darf. Auf die Frage, wo „es denn geschrieben“ stehe, „daß wirin der Komödie […] nur über verbesserliche Untugenden lachen sollen“,63 gibt er zwarkeine ausdrückliche Antwort; seine anschließenden Ausführungen zur idealtypischenWirkung von Lustspielen lassen aber keinen Zweifel daran, dass es ihm um Fehler mo-ralischer Art geht: Die Komödie dient, so fasst er bekanntlich zusammen, „der Übungunserer Fähigkeit das Lächerliche zu bemerken“ und wirkt auf diese Weise als „Pre-servatif“: „die ganze Moral hat kein kräftigers, wirksamers, als das Lächerliche“.64 Drit-tens schließlich fordert er, dass es sich bei den verbesserlichen charakterlichen De-fiziten um Eigenschaften von Figuren zu handeln hat, die differenziert gezeichnet sindund insgesamt moralisch vorbildlich oder zumindest unzweifelhaft erscheinen.65 Rous-seaus Kritik an der Wirkung von Komödien tritt Lessing in diesem Sinne mit den fol-genden Überlegungen entgegen, in denen sich zugleich abzeichnet, wie er die für ihnzentrale Differenz zwischen Lachen und Verlachen verstanden wissen möchte:

Moliere, sagt er [Rousseau] z. E., macht uns über den Misanthropen zu lachen, und doch istder Misanthrop der ehrliche Mann des Stücks; Moliere beweiset sich also als ein Feind derTugend, indem er den Tugendhaften verächtlich macht. Nicht doch; der Misanthrop wird nichtverächtlich, er bleibt, wer er ist, und das Lachen, welches aus den Situationen entspringt, indie ihn der Dichter setzt, benimmt ihm von unserer Hochachtung nicht das geringste. Der Zer-streute gleichfalls; wir lachen über ihn, aber verachten wir in darum? Wir schätzen seine übri-gen guten Eigenschaften, wie wir sie schätzen sollen; ja ohne sie würden wir nicht einmal überseine Zerstreuung lachen können. Man gebe diese Zerstreuung einem boshaften, nichtswürdi-gen Manne, und sehe, ob sie noch lächerlich sein wird? Widrig, ekel, häßlich wird sie sein;nicht lächerlich.66

Während die ersten beiden Lessing’schen Anforderungen an das komödienkonstitutiveLächerliche letztlich Gottsched’sche Ideen paraphrasieren, stellt die dritte Bedingungdie Grundlage für die Neuausrichtung der Theorie des Lustspiels dar, die mit der Ham-

62 S. z.B. die Hinweise zu Minna von Barnhelm unten 2.1.2.63 HD, 322.64 Ebd., 323f. Hervorhebung von mir, T. K.65 Dass Lessing beides fordert, dass es ihm also nicht nur um die Individualisierung der Hauptfiguren

von Lustspielen geht, wird in der zweifellos berechtigten Absicht, ihn als Überwinder Gottschedszu würdigen, bisweilen übersehen, vgl. zuletzt etwa Andrea Bartl, Die deutsche Komödie, 79.

66 Ebd., 323.

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burgischen Dramaturgie verbunden ist: In der zitierten Passage wird die praktisch be-reits erfolgte Distanzierung von der sächsischen Typenkomödie auch in programmati-scher Form vollzogen; in ihr wird das Frühaufklärungsmuster des Komödienprotago-nisten verabschiedet, der einzig der Verkörperung eines moralischen Defizits dient; inihr wird für die Idee einer Zentralfigur im Lustspiel geworben, die sich ebenso durchkomisches Verhalten wie durch ein individuell konturiertes und zugleich sympathischesWesen auszeichnet.

Wie sich bereits angedeutet hat, ist die Forderung nach einer neuen Form der Gestal-tung von Komödienhelden für Lessing kein Selbstzweck – an ihre Einlösung knüpft erweit reichende Hoffnungen im Hinblick auf die Komödienwirkung: Komplexe integereCharaktere können ihm zufolge Belustigung auslösen und zugleich zur Anteilnahmeeinladen, sie geben mit anderen Worten zum Lachen Gelegenheit und nicht zum Verla-chen Anlass. Lustspiele, denen dies gelingt, können nach Lessing zwei Konsequenzenhaben, die Typenkomödien verwehrt sind: Lachen über differenziert gezeichnete undüberdies sympathische Figuren vermittelt Rezipienten erstens keine Überlegenheitsge-fühle und macht diese darum eher geneigt, auch das eigene Verhalten zu hinterfragen.Und ein entsprechendes Lachen lässt Zuschauer und Leser zweitens erkennen, dassLächerliches überall zu finden ist; durch die Mobilisierung dieser Einsicht gewinnenKomödien die Möglichkeit, nicht mehr bloß fallbezogen, sondern allgemein besserndzu wirken – denn sie dienen im Fall der geforderten Ausrichtung nicht der konkretenPäsentation einzelner moralischer Mängel, sie geben vielmehr Gelegenheit zu einemprinzipiellen Training der Fertigkeit, charakterliche Ungereimtheiten zu erkennen.67 Der„Nutzen“ von Lustspielen liegt, so fasst Lessing selbst seine Überlegungen zusammen,

in der Übung unserer Fähigkeit, das Lächerliche zu bemerken; es unter allen Bemäntelungender Leidenschaft und der Mode, es in allen Vermischungen mit noch schlimmern oder mit gu-ten Eigenschaften, sogar in den Runzeln des feierlichen Ernstes, leicht und geschwind zu be-merken.68

Die rekonstruierten komödientheoretischen Innovationen, die in der HamburgischenDramaturgie auf den Begriff gebracht werden, sind bereits einige Male mehr oder we-niger klar herausgearbeitet worden – ihre komiktheoretischen Implikationen aber habenbislang kaum angemessene Beachtung gefunden. Als ‚State of the Art‘ gilt in dieserFrage schon seit einigen Jahren die These, Lessing habe einen von Francis Hutchesonangeregten inkongruenztheoretischen Komikbegriff an die Stelle der von Thomas Hob-bes beeinflussten überlegenheitstheoretischen Komikvorstellungen gesetzt, die für diePoetik und Praxis des Lustspiels vom Barock bis zu Gottsched und seinen Schülern

67 HD, 323f. – Vgl. zu einer solchen Idee der Wirkung des Theaters schon Lessings Position im rundein Jahrzehnt früher entstandenen „Briefwechsel über das Trauerspiel“ mit Moses Mendelssohnund Friedrich Nicolai, Lessing 3, 662–736. Vgl. dazu auch zusammenfassend Jochen Schulte-Sasse, „Poetik und Ästhetik Lessings und seiner Zeitgenossen“, in Deutsche Aufklärung, 304–326,309–311.

68 HD, 324.

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grundlegend gewesen seien.69 Gegen diese Einschätzung ist grundsätzlich wenig zu sa-gen, sie steht allerdings einer genauen Analyse des Aufbaus und der Besonderheiten derKomiktheorie, die in der Hamburgischen Dramaturgie entwickelt wird, eher im Weg.Dies liegt nicht zuletzt daran, dass sie auf stark vereinfachten Vorstellungen vom Ver-hältnis zwischen inkongruenz- und superioritätstheoretischen Auffassungen des Komi-schen beruht. Die paraphrasierte These übersieht, kurz gesagt, dass sich die unterschie-denen humorologischen Positionen prinzipiell miteinander verknüpfen lassen und histo-risch oft miteinander verknüpft worden sind.70 Und sie verführt darum dazu, traditionel-le Aspekte des Lessing’schen Komikkonzepts für revolutionär zu halten.71 Wenig hilf-reich ist die betrachtete komiktheoretische Bilanz zur Hamburgischen Dramaturgieaber vor allem aus einem anderen Grund: Sie lenkt von den tatsächlich innovativenhumorologischen Beobachtungen ab, die Lessing in seinen Reflexionen zur moralisie-renden Nutzung des Komischen in der Komödie macht und die weder mit der Vernach-lässigung superioritätstheoretischer Ideen noch mit dem Bekenntnis zu inkongru-enztheoretischen Vorstellungen zusammenhängen. Die vermutlich bekannteste dieserBeobachtungen besteht in der Einsicht, dass sich Belustigung über Akteure und Anteil-nahme an ihnen nicht ausschließen müssen – eine grundlegende Erkenntnis, auch wennsie in der Komödienhistorie nur wenig Spuren hinterlassen hat und in der Komiktheorieimmer wieder in Vergessenheit geraten ist.72

Die betreffende Einsicht ist freilich nur eine von verschiedenen Konsequenzen auseiner anderen grundlegenderen Idee, die in der Hamburgischen Dramaturgie zumindestandeutungsweise zum Ausdruck gebracht wird – aus der Idee, dass sich das Komischenicht unabhängig vom jeweiligen Kontext verstehen lässt, in dem es zur Erscheinungkommt, und in der Komödie mithin nicht unabhängig von der Figur, die es zur An-schauung bringen soll. Deutlich wird diese Idee insbesondere in Lessings Umgang mitder komikbezogenen Harmlosigkeitsanforderung, wie sie sich schon bei Aristoteles undnoch bei Gottsched formuliert findet.73 In der Hamburgischen Dramaturgie fehlt dieseBedingung schlicht. Für die Komik einer Figur wird hier nicht mehr als entscheidendangesetzt, ob ihr charakterlicher Fehler harmlos ist; als maßgeblich gilt nun vielmehr,ob er in einem insgesamt moralisch akzeptablen Zusammenhang vorgeführt wird. Dar-um kann es nach Lessing, wie gesehen dazu kommen, dass ein und dieselbe Eigenschaftoder Verhaltensweise mitunter lächerlich, mitunter aber auch häßlich erscheint: „Mangebe diese Zerstreuung einem boshaften, nichtswürdigen Manne, und sehe, ob sie noch

69 Vgl. zu dieser Beschreibung etwa schon Eckehard Catholy, Das deutsche Lustspiel, 13f. und Mi-chael Böhler, „Lachen oder Verlachen?“, 250–253 sowie zuletzt Agnes Kornbacher-Meyer, Komö-dientheorie, 86–91.

70 S. zur vergleichenden Betrachtung der beiden Theorien oben 1.2.3. Verbunden werden sie etwa,wie angedeutet, in Gottscheds Konzeption des Lustspiels.

71 S. dazu oben.72 S. dazu oben 1.4.3. – Zu Vorläufern von Lessings Einsicht vgl. Agnes Kornbacher-Meyer, Komö-

dientheorie, 83f.73 Vgl. Aristoteles, Poetik, 17 und Johann Christoph Gottsched, Versuch, Bd. 2, 348.

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lächerlich sein wird? Widrig, ekel, häßlich wird sie sein; nicht lächerlich.“74 LessingsEinlassungen zur Komödie laufen kurzum auf den Vorschlag hinaus, die Harmlosigkeitund damit die Komik von Aktionen und Akteuren nicht allein gegenstandsbezogen,sondern zumindest auch darstellungsbezogen zu verstehen.75

Lessing ist dieser Idee weder in der Hamburgischen Dramaturgie noch in einem an-deren theoretischen Text weiter nachgegangen. Er hat das Resultat seiner Überlegungenalso nicht zum Anlass für eine Revision seiner Ausgangsbestimmung genommen, ob-gleich es ihr offenkundig widerspricht – er gelangt im Verlauf seiner Reflexionen zwarzu dem Schluss, dass durchaus nicht jede Ungereimtheit lächerlich ist, lässt dies in derTheorie aber auf sich beruhen.76 In der Praxis liegen die Dinge freilich anders: Hier hatsich Lessing, das werden die folgenden Rekonstruktionen zu Minna von Barnhelm zei-gen, recht hartnäckig mit der Frage befasst, unter welchen genauen Umständen eineUngereimtheit als lächerlich einzustufen ist, wo also die Grenzen des Komischen ver-laufen.

2.1.2 Komisches: Minna von Barnhelm

Obgleich die nochmalige Deutung von bereits vielfach ausgelegten Texten ein weitaussinnvolleres Unternehmen ist, als oft geargwöhnt wird,77 soll die Komödie Minna vonBarnhelm – einer der meistgedeuteten Texte der deutschen Literatur – im Folgendennicht zum Gegenstand einer weiteren umfassenden Interpretation gemacht werden.78 Imvorliegenden Zusammenhang wird es nur um eine aspektbezogene Analyse des Dramasgehen; es soll geklärt werden, wie sich Lessings letztes abgeschlossenes Lustspiel zuder Konzeption des Lustspiels verhält, die er in seiner Hamburgischen Dramaturgieentwickelt.79 Auf diese Weise wird zwar ein Drama in Beziehung zu einer Dramentheo-

74 HD, 323.75 Zum Versuch einer Explikation eines vergleichbaren Vorschlags s. oben 1.4.3 Noch einmal Komik

und Harmlosigkeit.76 Strenggenommen beruft sich Lessing in der Hamburgischen Dramaturgie also zugleich auf einen

weiten und einen engen Begriff des Lächerlichen, dem ersten zufolge ist jede Ungereimtheit ko-misch (vgl. etwa HD, 322 oder 324), dem zweiten zufolge lässt sich dies nur von mancher sagen(vgl. beispielsweise HD, 323).

77 Vgl. dazu Tom Kindt/Hans-Harald Müller, „Die Einheit der Philologie“, in Grenzen der Germani-stik. Rephilologisierung oder Erweiterung?, hg. v. Walter Erhart, Stuttgart/Weimar 2004, 22–44,42–44.

78 Vgl. zur Rezeptions- und Interpretationshistorie des Stücks Horst Steinmetz, Gotthold EphraimLessings „Minna von Barnhelm“. Dokumente zur Rezeptions- und Interpretationsgeschichte, Kö-nigstein, Ts.1979, zu seiner ersten Aufnahme Monika Fick, Lessing-Handbuch, 256–258 und zuseinen neueren Auslegungen Agnes Kornbacher-Meyer, Komödientheorie, 268–272.

79 Lessing hat zwar nach Minna von Barnhelm kein Lustspiel mehr fertig gestellt, das Element desKomischen spielt aber noch in Dramen wie Nathan der Weise eine große Rolle, vgl. dazu FrankSchlossbauer, „Nathans Witz: Zur Neubestimmung des witzigen Formprinzips bei Lessing“, in

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rie gesetzt, die zeitlich nach ihm entstanden ist; ein entsprechendes Vorgehen erscheintim vorliegenden Fall aber unproblematisch, weil ein enger Zusammenhang zwischenden Kontexten der Entstehung beider Texte besteht80 und weil die Hamburgische Dra-maturgie in ihren Abschnitten zur Komödienpoetik lediglich Ideen auf die Formelbringt, die Lessing offenkundig schon zuvor systematisch erwogen und praktisch er-probt hat.81

Über viele Interpretationsprobleme, die Minna von Barnhelm aufwirft, ist auch fast250 Jahre nach der Entstehung des Stücks keinerlei Konsens erzielt worden.82 Für dieFrage, ob die Komödie als Umsetzung der Komödientheorie zu lesen ist, die in derHamburgischen Dramaturgie entfaltet wird, gilt dies allerdings nicht. So zahlreich dieInterpretationen sind, die sich dieser Frage annehmen, so übersichtlich ist das Spektrumder Antworten, für die sie eintreten: Einhellig wird davon ausgegangen, dass Minna vonBarnhelm als eine Art vorweggenommene Einlösung von Lessings Hamburger Komö-dienpoetik betrachtet werden kann; umstritten ist nur, wie diese im Rahmen des Lust-spiels umgesetzt wird. Diesem Wie sei nun nachgegangen, indem vorderhand die ko-mödienlegitimen und sodann die komödienkonstitutiven Komikelemente des Werks aufder Grundlage der Theorie analysiert werden.

Theorie und Praxis zum Ersten: Komik ohne Moral

Dass sich in Minna von Barnhelm diverse Elemente des Komischen finden lassen, diekeine oder nur eine sehr mittelbare moralisierende Funktion haben, ist in den zurück-liegenden Jahrzehnten wiederholt ausführlich gezeigt worden und sei hier darum nurüberblicksartig in Erinnerung gerufen.83 Für wesentliche Komikelemente dieser Art sor-gen bekanntlich vor allem Anlage, Aktionen und Repliken von wichtigen Nebenfigurendes Stücks wie dem Wirt, dem Chevalier Riccaut de la Marliniere, Major von TellheimsDiener Just oder seinem ehemaligen Wachtmeister Paul Werner.84

Mit dem Wirt und dem Chevalier Riccaut lässt Lessing offenkundig Weiterent-wicklungen komischer Typencharaktere aus dem reichen Figurenrepertoire der europäi-schen Lustspieldichtung auftreten. Der Wirt steht in der langen Tradition neugieriger

German Quarterly 62:1 (1989), 15–16 und Literatur als Gegenwelt. Zur Geschichtlichkeit litera-rischer Komik am Beispiel Fischarts und Lessings, Frankfurt/M. u.a. 1998. – Zu Lessings nicht ab-geschlossenen Komödienprojekten aus den 1760er Jahren vgl. Lessing 6, 111–177.

80 Vgl. hierzu Klaus Bohnen, „Kommentar“, 786–797 und auch Dieter Janik, „Minna von Barnhelm,oder die deutsche Art zu lachen“, in Die großen Komödien Europas, 153–166, 159.

81 S. dazu – mit Hinweisen auf Literatur – oben 2.1.1.82 Vgl. dazu Simonetta Sanna, Lessings „Minna von Barnhelm“ im Gegenlicht. Glück und Unglück

der Soldaten, Bern u.a. 1994, 22, Wolfgang Albrecht, Lessing, 52 oder Agnes Kornbacher-Meyer,Komödientheorie, 269.

83 Vgl. dazu erstmals Walter Hinck, Das deutsche Lustspiel und zuletzt eingehend Agnes Kornba-cher-Meyer, Komödientheorie.

84 Zu Minna von Barnhelms Zofe Franciska vgl. im Einzelnen ebd., 275–279.

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Gastwirt-Figuren, hinter deren vermeintlicher Freundlichkeit zumeist nur das Interesseam eigenen Vorteil steht. Dass er diese harmlosen charakterlichen Defizite im Sinne dervorlessingschen Komödientheorie aufweist, wird im Stück gleichsam nebenbei vorge-führt – etwa, indem wiederholt gezeigt wird, wie er geradezu gezwungen werden muss,Minnas Zimmer zu verlassen.85 Auch bei Riccaut handelt es sich um einen satirischgezeichneten Typencharakter;86 er ist unschwer als Capitano-Figur in der Nachfolge derCommedia dell’arte einzustufen, als Variante des großsprecherischen Abenteurers und‚glorreichen Soldaten‘.87 Seine Lächerlichkeit ergibt sich wesentlich – wie die allermiles gloriosus-Gestalten – aus dem Kontrast zwischen seiner vorgeblich großen undtatsächlich geringen Bedeutung, aus seiner ‚blendenden Nichtigkeit‘.88 Anders als imFall des Wirts tritt die Figurenkomik im Fall des Chevaliers in enger Verbindung miteiner Spielart des Sprachkomischen auf, die von Walter Hinck treffend als „Sprachko-mik des Radebrechens“89 bezeichnet worden ist. Die Figuren des Wirts und des Che-valiers zeigen an, dass das spöttische Verlachen in der Lessing’schen Komödie zwar anBedeutung verliert, aber durchaus noch zum Einsatz kommt.

Unter den Nebenfiguren in Minna von Barnhelm finden sich freilich außer Cha-

rakteren wie dem Wirt und Riccaut auch solche wie etwa Just oder Werner. Ihre Kon-zeption lässt zwar noch eine grundsätzliche Orientierung an Vorlagen aus verschiede-nen Traditionen des komischen Typendramas erkennen, in ihr macht sich zugleich aberdas Bemühen um eine mehr oder weniger starke Individualisierung des gesamten Ko-mödienpersonals bemerkbar, wie sie Lessing in der Hamburgischen Dramaturgie nurfür die Protagonisten von Lustspielen fordert.90 Figuren wie Just oder Werner nehmenalso eine Art Zwischenstellung zwischen satirisch typisierten Charakteren wie dem Wirtund Riccaut und individuell konzipierten wie Tellheim und Minna ein: Mit der FigurJust greift Lessing das Muster der ungehobelten Diener-Gestalt auf, um es im Verlauf

85 Vgl. z.B. MvB, 37 und 43.86 Eine Zusammenfassung der Stellung Riccauts in der Capitano-Tradition und im Lessing’schen

Œuvre liefert Walter Hinck, Das deutsche Lustspiel, 294f. – Zur Rezeption der Capitano-Gestalt imdeutschsprachigen Theater des 16. und 17. Jahrhunderts vgl. Fausto De Michele, „Der ‚Capitanoÿder Commedia dell’arte und seine Rezeption und Entwicklung im deutschsprachigen Theater“, inDaphnis 31:3/4 (2002), 529–591.

87 Gleichwohl kommt der Figur, wie Fritz Martini überzeugend gezeigt hat, eine recht große Bedeu-tung für die Anlage und den Handlungsgang des Dramas zu, vgl. Fritz Martini, „Riccaut, die Spra-che und das Spiel in Lessings Lustspiel Minna von Barnhelm“, in F. M., Lustspiele – und dasLustspiel: J. E. Schlegel, Lessing, Goethe, Kleist, Grillparzer, G. Hauptmann, Brecht, Stuttgart1974, 64–104.

88 Zu dieser Formulierung vgl. Walter Hincks Analyse von Andreas Gryphius’ Horribilicribrifax inDas deutsche Lustspiel, Kap. IV.

89 Ebd., 294.90 S. hierzu oben 2.1.1. Vgl. zur tendenziellen Differenzierung fast aller Figuren des Dramas Walter

Hinck, Das deutsche Lustspiel, 293–299, Klaus Bohnen, „Kommentar“, 790 und 806f., MichaelBöhler, „Lachen oder Verlachen?“, 257–260 oder Agnes Kornbacher-Meyer, Komödientheorie,274–277.

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des Dramas nach und nach hinter sich zu lassen. Im Sinne des Tellheim’schen Urteils,dass es ,keine reinen Unmenschen‘91 gibt, erhält Just im Zuge seiner näheren Darstel-lung weitere, zumeist sympathische Züge, durch die er sich von den typischen Diener-Gestalten der Bühne des 18. Jahrhunderts deutlich abhebt. Komisch ist er mithin nur inden ersten Auftritten als Figur, in den weiteren vor allem aufgrund seiner Repliken. WieJust erscheint der Wachtmeister Werner eingangs wie ein Charakter aus einer Typen-komödie; wie Riccaut weist er verschiedene Eigenschaften auf, die es rechtfertigen, ihnals Abkömmling der Figur des miles gloriosus zu sehen.92 Im Sinne dieser Traditionlebt die Komik seiner Auftritte von einer Mischung aus Selbstbewusstsein und Unbe-holfenheit, wie sie insbesondere für sein Verhalten und seine Äußerungen gegenüberFranciska prägend ist.93 Auch Werner ist freilich – dies machen vor allem seine gemein-samen Szenen mit Tellheim deutlich – keine eindimensionale komische Figur, auch ergewinnt im Handlungsverlauf ein recht facettenreiches individuelles Profil. – Bei Justund Werner handelt es sich fraglos um Charaktere, die nicht verlacht, sondern belachtwerden sollen. Da sie jedoch weder einen hinreichend differenzierten und sympathi-schen Charakter noch ein klar konturiertes Defizit besitzen, können sie nicht der aus-schlaggebende Grund dafür sein, dass Minna von Barnhelm im Sinne der Lessing’schenGegenüberstellung als Komödie und nicht als bloße Posse einzustufen ist.94

Theorie und Praxis zum Zweiten: Komik mit Moral

Einen wesentlichen Beitrag dazu, dass sich das Stück als Anschauungsbeispiel für dasLustspielverständnis der Hamburgischen Dramaturgie geradezu aufdrängt, leistet dieFigur des Majors von Tellheim. Er ist ein Komödienprotagonist, der Lessings Anforde-rungskatalog rundum gerecht wird: Bei Tellheim handelt es sich um einen vielschichtigund zugleich einnehmend angelegten Charakter. Durch sein Handeln und Reden, aberauch durch viele Urteile anderer Figuren wird nachdrücklich nahe gelegt, Minnas Über-zeugung, er habe „das rechtschaffendste Herz“95 und sei überhaupt der „beste Mann un-ter der Sonne“,96 für allenfalls leicht übertrieben zu halten. Ist Tellheim mithin einer-seits eine Gestalt, die im Sinne der Hamburgischen Dramaturgie mit ‚Hochachtung‘

91 Nachdem Just wegen seines Wunsches, den Wirt zu erdrosseln, von Tellheim zunächst als „Bestie“(MvB, 16) bezeichnet wird, gelangt der Major nach einem weiteren Gespräch mit seinem Diener zuder Einsicht, dass dieser durchaus auch schätzenswerte Eigenschaften besitzt: „Nein, es giebt keinevöllige Unmenschen!“ (MvB, 23).

92 Vgl. hierzu auch Klaus Bohnen, Kommentar“, 806. – Zu dem Versuch, Minna von Barnhelm oderdas Soldatenglück im Sinne des Untertitels als ‚Soldatenstück‘ zu verstehen, vgl. Martin Kagel,„Militärisches Heldentum und symbolische Ordnung in Gotthold Ephraim Lessings Philotas undMinna von Barnhelm“, in „Krieg ist mein Lied“. Der Siebenjährige Krieg in den zeitgenössischenMedien, hg. v. Wolfgang Adam u. Holger Dainat, Göttingen 2007, 296–316.

93 Vgl. dazu auch Agnes Kornbacher-Meyer, Komödientheorie, 275–277.94 S. dazu oben 2.1.1.95 MvB, 29.96 Ebd., 36.

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betrachtet werden soll, so ist in seinem Auftreten doch andererseits eine deutliche ‚Un-gereimtheit‘ auszumachen.97 Einer der Tugenden des Majors fehlt es, in den Worten derLessing’schen Aristoteles-Interpretation, am rechten Maß.98

Wie eine Vielzahl von Studien aus den vergangenen Jahrzehnten überzeugend deut-lich gemacht hat,99 ist Tellheims Fehler in der Lessing-Forschung lange Zeit etwas vor-schnell auf die Formel vom ‚übertriebenen Ehrgefühl‘ gebracht worden.100 Verschafftman sich ein genaues Bild von Tellheims finanzieller, gesellschaftlicher und rechtlicherSituation bei Handlungsbeginn und betrachtet man sein Verhalten ebenso wie seineÄußerungen im Kontext mentalitätsgeschichtlicher Untersuchungen, sieht man, dass erdurchaus gute Gründe hat, verzweifelt zu sein und sich entehrt zu fühlen. Es lässt sichmit anderen Worten nicht als Ausdruck unverhältnismäßiger Ehrsucht abtun, wenn erauf Minna verzichten will und ihr dies bei ihrem Wiedersehen wie folgt erklärt:

Aber Sie meinen, ich sei der Tellheim, den Sie in ihrem Vaterlande gekannt haben; der blü-hende Mann, […] vor dem die Schranken der Ehre und des Glückes offen standen […]. – Die-ser Tellheim bin ich eben so wenig, – als ich mein Vater bin. Beide sind gewesen. – Ich binTellheim, der verabschiedete, der an seiner Ehre gekränkte, der Kriepel, der Bettler.101

Auch wenn nun die lächerliche Ungereimtheit im Verhalten des Majors nicht in seinemausgeprägten Ehrverständnis zu sehen ist, so hängt sie mit diesem doch eng zusammen:Ohne rechtes Maß ist zwar nicht Tellheims Orientierung an Ehrvorstellungen, aber sehrwohl seine Reaktion auf deren Verletzung. Um zu dieser erstaunlich selten konstatier-ten Einsicht102 zu gelangen, ist nur wenig interpretativer Scharfsinn erforderlich – dennsie wird von den Hauptfiguren in Minna von Barnhelm selbst gewonnen und mit großerDifferenziertheit zum Ausdruck gebracht. Zunächst ist es Minna, die Tellheims charak-

97 Dass Tellheim nach Lessings Verständnis mithin einen lächerlichen Zug aufweist, scheint in derLiteraturwissenschaft einzig von Daniela Weiss-Schletterer bestritten zu werden; sie geht dabeiallerdings – ohne es zu bemerken – von einem ahistorischen Konzept des Komischen aus, vgl. D.W.-S., Das Laster des Lachens, 137f.

98 S. oben 2.1.1.99 Vgl. dazu bereits Peter Michelsen, „Die Verbergung der Kunst. Über die Exposition in Lessings

Minna von Barnhelm“ (1973), in P. M., Der unruhige Bürger. Studien zu Lessing und zur Litera-tur des 18. Jahrhunderts, Würzburg 1990, 221–280, aber auch Eckehard Catholy, Das deutscheLustspiel und Günter Saße, Liebe und Ehre oder: wie sich die Spontaneität des Herzens zu denNormen der Gesellschaft verhält. Lessings „Minna von Barnhelm“, Tübingen 1993.

100 Vgl. zu einer entsprechenden Interpretation der Figur etwa Richard Alewyn, „Tellheims Erzie-hung“ (1962), in R. A., Probleme und Gestalten. Essays, Frankfurt a.M. 1974, 247–250, EmilStaiger, „Lessing: Minna von Barnhelm“ (1955), in E. S., Die Kunst der Interpretation. Studienzur deutschen Literaturgeschichte, 2. Aufl., München 1972, 63–81, Karl S. Guthke, Poetik derTragikomödie oder auch Walter Hinck, Das deutsche Lustspiel.

101 MvB, 45f.102 Als Ausnahmen sind Agnes Kornbacher-Meyer, Monika Fick und Hugh Barr Nisbet hervorzuhe-

ben. Bei Fick heißt es treffend: „Nicht daß Tellheim auf der Wiederherstellung der Ehre beharrt,ist der springende Punkt. Alles Licht der dramatischen Analyse fällt auf die Art und Weise, wieTellheim Ehre und Glück verteidigt“ (M. F., Lessing-Handbuch, 252; Hervorhebung im Original).

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terliche Schwäche präzise auf den Begriff bringt. Nachdem sie den Plan entworfen hat,Tellheim durch einen Streich wiederzugewinnen, führt sie gegenüber Franciska aus:„Bloß ein wenig zu viel Stolz […] scheint mir in seiner Aufführung zu sein. Denn auchseiner Geliebten sein Glück nicht wollen zu danken haben, ist Stolz, unverzeihlicherStolz!“103 Minna sieht Tellheims Schwäche also nicht grundsätzlich in seinem ‚Stolz‘,sondern in dessen Folgen für seine ‚Aufführung‘ – und dieses Übermaß an ,Stolz in derAufführung‘ bezeichnet sie im Anschluss bemerkenswerterweise noch einmal aus-drücklich als seinen ‚Fehler‘. Auf Franciskas Frage, ob sie unter den gegebenen Um-ständen auf Tellheim verzichten wolle, entgegnet sie: „Nein, liebe Närrin, Eines Fehlerswegen entsagt man keinem Manne.“104 Tellheim selbst sieht erst durch Minnas Streichlangsam die Ungereimtheit seines Verhaltens ein. Nachdem Franciska ihm fälschlichberichtet hat, Minna sei wegen ihrer Treue zu ihm vollständig enterbt worden, beginnter an der Angemessenheit seiner bisherigen Haltung zu zweifeln: „Mein […] Unglückschlug mich nieder; machte mich ärgerlich, kurzsichtig, schüchtern, lässig“.105 Gegenü-ber Minna gesteht Tellheim seinen Fehler schließlich ganz treffend ein – die Verletzungseiner Ehrauffassung habe bei ihm zur Verweigerung jeden Mitleids geführt:

Ärgernis und verbissene Wut hatten meine ganze Seele umnebelt; die Liebe selbst, in demvollsten Glanze des Glückes, konnte sich darin nicht Tag schaffen. Aber sie sendet ihre Toch-ter, das Mitleid, die, mit dem finstern Schmerze vertrauter, die Nebel zerstreuet, und alle Zu-gänge meiner Seele den Eindrücken der Zärtlichkeit wiederum öffnet.106

Die Figur des Majors kann kurzum als Einlösung der Vorgaben gedeutet werden, dieLessing mit Blick auf die Komödie entwirft. Tellheim zeigt an, dass Minna von Barn-helm als ein Lustspiel angelegt ist, das Leser und Zuschauer im Sinne der Hamburgi-schen Dramaturgie durch Lachen bessern soll.

In Minna von Barnhelm werden die Anforderungen der Lessing’schen Poetik an ge-lungene Lustspiele allerdings nicht allein erfüllt, sondern in eigentümlicher Weise über-erfüllt. Dies ist in der Forschung bislang nahezu unbemerkt geblieben, weil das Stück –zumindest, wenn es im Zusammenhang der Entwicklung des deutschsprachigenLustspiels im 18. Jahrhundert betrachtet wurde – in aller Regel mit Karl S. Guthke als„Tellheim-Drama“107 aufgefasst worden ist. So wurde vor allem verkannt, dass sich inMinna von Barnhelm offenkundig beide Hauptfiguren als musterhafte Komödienheldennach Maßgabe der Hamburgischen Dramaturgie einstufen lassen: Wie Tellheim wird

103 MvB, 68. Hervorhebung von mir, T. K.104 Ebd. Hervorhebung von mir, T. K.105 Ebd., 91.106 Ebd., 95. Vgl. zum Zusammenhang auch Agnes Kornbacher-Meyer, Komödientheorie, 282f.107 Karl S. Guthke, Poetik der Tragikomödie, 34. Konkret stellt Guthke apodiktisch fest: „Minna von

Barnhelm ist trotz des Titels ein Tellheim-Drama.“ Das scheint angesichts des Stücks zweifelhaftund übersieht zudem die Relevanz, die Lessing den Titeln von Dramen beigemessen hat. So heißtes etwa in der Hamburgischen Dramaturgie mit Blick auf das Werk Ist er von Familie?: „Der Ti-tel […] braucht den Inhalt weder anzuzeigen, noch zu erschöpfen; aber er sollte doch auch nichtirre führen“ (HD, 267).

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Minna als komplexe Figur charakterisiert, die in hohem Maße über gewinnende Eigen-schaften verfügt.108 Und wie im Verhalten und Wesen des Majors lässt sich auch in demdes Fräuleins eine merkliche Unausgewogenheit und also ein lächerlicher Fehler ausma-chen: Für Minna ist, wie der Handlungsverlauf nach und nach enthüllt, eine ‚übergroßeSpielleidenschaft‘ kennzeichnend.109 Auch diese charakterliche Ungereimtheit wird inMinna von Barnhelm explizit zur Sprache gebracht: Unmittelbar nachdem sie TellheimsFehler erkannt hat, benennt Minna im Dialog mit dem Chevalier Riccaut ihren eigenen,ohne ihn zu diesem Zeitpunkt freilich schon als solchen zu durchschauen. Auf RiccautsBericht von seiner Spielsucht erwidert sie: „Ich muß Ihnen bekennen, daß ich – gleich-falls das Spiel sehr liebe“.110 Gesteht Minna damit nur eine Neigung ein, so bekennt siegegenüber Franciska, als die verschiedenen Folgen ihres Streichs schließlich deutlichwerden, sich in ihrem Verhalten einer Übertreibung und also einer Lächerlichkeitschuldig gemacht zu haben: „Ah, liebe Franciska, ich hätte dir folgen sollen. Ich habeden Scherz zu weit getrieben“.111 Auch die Titelfigur in Minna von Barnhelm ist alsoeine Gestalt ganz im Sinne der Lustspielpoetik der Hamburgischen Dramaturgie; auchihr Verhalten ist grundsätzlich so angelegt, dass Rezipienten die Gelegenheit bekom-men sollen, mit Sympathie zu lachen und so die Kompetenz zu schulen, „das Lächer-liche […] unter allen Bemäntelungen […] leicht und geschwind zu bemerken“.112

Theorie und Praxis zum Dritten: Komik und Moral

Die Konsequenzen von Lessings vorweggenommener praktischer Überbietung seinertheoretischen Überlegungen zum Zusammenhang von Komik und Komödie sind weit-reichend. Aus ihnen ergibt sich, wie nun abschließend verdeutlicht werden soll, der we-sentliche Beitrag, den das Lessing’sche Œuvre zur Poetik des Lustspiels und zur Re-flexion des Komischen leistet.

108 Vgl. dazu zusammenfassend Georg-Michael Schulz, Einführung, 92f.109 Klaus Bohnen scheint lange Zeit der einzige gewesen zu sein, der dies bemerkt hat, ohne es frei-

lich weiter zu verfolgen. Seinen Blick auf die Hauptfiguren des Dramas schließt er mit dem Hin-weis: So „bedarf Tellheims ‚Halsstarrigkeit der Tugend‘ […] ebenso der Korrektur wie MinnasMutwilligkeit in der Durchsetzung ihrer Ziele“ (K. B., „Kommentar“, 806). Hugh Barr Nisbet ist2008 zu einer ähnlichen Einschätzung gelangt, macht sie aber ebenfalls nicht für seine Deutungdes Stücks fruchtbar, vgl. H. B. N., Lessing, 459.

110 MvB, 73. Hervorhebung von mir, T. K.111 Ebd., 105. Hervorhebung von mir, T. K.112 HD, 323. – Andrea Bartl schreibt: „Wäre dieses Stück eine ‚Sächsische Typenkomödie‘, so hieße

sie vielleicht ‚Der Ehrsüchtige‘.“ (A. B., Die deutsche Komödie, 81) Wie demonstriert, könnteMinna von Barnhelm in diesem hypothetischen Fall allerdings auch „Die Spielerin“ betitelt sein.Vgl. hierzu bereits Eckehard Catholy, Das deutsche Lustspiel, wo die überzeugende Begründungdafür, dass das Stück nicht „‚Der Stolze‘ oder ‚Der Ehrsüchtige‘“ heißt, allerdings mit der zwei-felhaften Vermutung verbunden wird, Lessing habe es nach Tellheims „Gegenspielerin“ benannt,weil diese „nicht in den Verdacht geraten konnte, eine Schwäche zu personifizieren“ (ebd., 67).

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Komische Ungereimtheiten: Lessing 183

Ein Grund für Lessings Kunstgriff, in Minna von Barnhelm gleich zwei ebenso indi-viduelle wie sympathische Hauptfiguren mit einen Fehler auftreten zu lassen, ist si-cherlich schlicht darin zu sehen, dass das Stück dem Zuschauer und Leser durch eineentsprechende Konzeption mehr anspruchsvolle Möglichkeiten bietet, sich im Erkennenund in der Vorbeugung von Ungereimtheiten zu üben. Jener Kunstgriff lässt sich alsonicht zuletzt als Versuch sehen, die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass die Komödiedie Wirkungsziele tatsächlich erreicht, die in der Hamburgischen Dramaturgie vorge-geben werden: Dadurch, dass es zwei schätzenswerte Menschen sind, die lächerlicheUnarten aufweisen, werden Zuschauer und Leser noch entschiedener dazu angeregt, dasErkannte auch auf sich zu beziehen. Und dadurch, dass es zwei Schwächen sind, die zurAnschauung kommen, wird ihnen noch deutlicher nahe gelegt, der genauen Aus-prägung der Fehler kein allzu großes Gewicht beizumessen.113

Erklärungen dieser Art tragen zweifellos zum Verständnis von Minna von Barnhelmbei, die eigentliche Pointe der von Lessing erprobten Konstellation bringen sie jedochnur unzureichend in den Blick. Dass das Stück über zwei individuell profilierte Prota-gonisten mit kleineren Fehlern verfügt, erhöht nicht allein die Zahl, sondern erweitertvor allem die Bandbreite der Möglichkeiten, Rezipienten mit charakterlichen Unge-reimtheiten zu konfrontieren. Inwiefern dies ein wesentlicher Unterschied ist, sieht man,sofern man sich vergegenwärtigt, dass die Vorgänge des Bemerkens und Bewertens derSchwächen Tellheims und Minnas zumeist eng miteinander verschränkt sind. Lessingnutzt dies geschickt aus: Er vermag im Rahmen der skizzierten Konstellation nicht nurin Abgrenzung von Gottscheds Critischer Dichtkunst zu veranschaulichen, dass Unge-reimtheiten mitunter komisch sind, weil es sich um Eigenschaften einnehmender Cha-raktere handelt. Er kann zudem in vorauseilender Überbietung seiner eigenen Hambur-gischen Dramaturgie vorführen, dass Fehler bisweilen unkomisch sind, obwohl es sichum Merkmale schätzenswerter Figuren handelt – nämlich vor allem dann, wenn sie sichzu Lasten anderer Figuren auswirken, deren Schicksal ebenfalls mit Empathie undSympathie verfolgt wird.114 Ungereimtheiten dienen in der Komödie Minna von Barn-helm also nicht allein dazu, Verlachen oder Lachen auszulösen; sie werden von Lessingdarüber hinaus immer wieder eingesetzt, um Zuschauer und Leser über eine an-gemessene Reaktion auf das Bühnengeschehen unschlüssig werden zu lassen: Die Un-stimmigkeit in Tellheims Charakter lässt sich nur so lange zweifelsfrei als lächerlicheinstufen, wie sie Minnas Situation nicht erheblich beeinträchtigt. Und umgekehrt drohtMinnas Fehler seine Komik zu verlieren, sobald Tellheim von ihm in starkem Maße be-troffen ist.

Vor dem Hintergrund dieser Hinweise beginnt sich abzuzeichnen, weshalb Minnavon Barnhelm in der Geschichte der Nutzung des Komischen im Lustspiel einen Ein-schnitt darstellt. Ungewöhnlich sind nicht die Formen von Komik, die Lessing in der

113 S. zu diesen Zielen oben 2.1.1.114 S. dazu auch oben 1.4.3 Noch einmal Komik und Harmlosigkeit.

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Zur deutschen Komödie im 18. Jahrhundert184

Komödie einsetzt: Wie die deutschsprachige Lustspieldichtung seit dem Barock115 suchter Belustigung zu erreichen, indem er Spielarten einerseits der Figurenkomik und ande-rerseits der Sprachkomik zum Einsatz bringt.116 Grundlegend neu ist allerdings, dass erdie Anwendung dieser Komikformen mit einer Auslotung des Komikbegriffs verbindet:Was in der Hamburgischen Dramaturgie als Schlusspunkt des Reflexionsgangs zumLustspiel nur anklingt, das bildet in Minna von Barnhelm den Ausgangspunkt der Sze-nenfolge, in der Tellheim und Minna auf Umwegen wieder zueinander finden – die Be-obachtung nämlich, dass sich Ungereimtheiten nicht grundsätzlich, sondern nur unterbestimmten Umständen als komisch einstufen lassen.117 Anders als in der Dramenpoetikheißt es im Drama nicht: ‚Jede Ungereimtheit ist lächerlich‘, sondern bloß: ,Jede Über-treibung ist des Lächerlichen fähig‘.118 Und anders als in der Theorie setzt sich Lessingin der Praxis darum eingehend mit der Frage auseinander, unter welchen genauen Be-dingungen eine Unart als komisch gelten kann und unter welchen nicht. Aus komik-theoretischer Perspektive erscheint Minna von Barnhelm mithin als Versuch, im Me-dium des Dramas zu eruieren, von welchen unterschiedlichen Faktoren es in welcherWeise abhängt, ob eine Ungereimtheit als lächerlich einzustufen ist.119 Lessing führt ge-rade über die Konfrontationsszenen zwischen Tellheim und Minna vor, dass sich dieKomik einer Inkongruenz allein in Abhängigkeit von ihrem Grad, dem Charakter, dersie aufweist, und den Charakteren, die unter ihr zu leiden haben, beurteilen lässt. Soverweist Minna von Barnhelm auf die Dringlichkeit von Vorhaben, die in der Humoro-logie erst im ausgehenden 20. Jahrhundert wieder in den Blick gekommen sind – vonVorhaben wie etwa dem einer differenzierten Explikation der komikbezogenen Harm-losigkeitsbedingung oder des inkongruenztheoretischen Komikmodells insgesamt.120

115 Vgl. für die Epoche des Barock etwa Hartmut von der Heyde, Die frühe deutsche Komödie oderDaniela Toscan, Form und Funktion des Komischen in den Komödien von Andreas Gryphius,Frankfurt a.M. u.a. 2000 und für die Phase der Frühaufklärung Horst Steinmetz, Die Komödie derAufklärung.

116 S. dazu etwa oben 1.5.2 und 2.1.2 Komik ohne Moral. – Weshalb Georg-Michael Schulz dieKomik in Minna von Barnhelm wesentlich als ‚Situationskomik‘ einstuft, bleibt unklar, vgl. G.-M.S., Einführung, 98.

117 S. zu dieser Beobachtung oben 2.1.1.118 Vgl. zu diesen Paraphrasen HD, 322 und MvB, 82.119 Zu diesem Versuch leistet die in der Forschung oft untersuchte explizite Thematisierung des La-

chens in einigen Äußerungen der Hauptfiguren keinen wesentlichen Beitrag und kann im vorlie-genden Zusammenhang darum vernachlässigt werden, vgl. vor allem MvB, 82–84 und zusammen-fassend Dieter Janik, „Minna von Barnhelm“, 162–164. – Vgl. zur Darstellung einer Spielart desLachens in Minna von Barnhelm, die nichts mit dem Komischen zu tun hat, Stefan Busch, „Blas-phemisches Lachen in Klopstocks Messias und Lessings Minna von Barnhelm. Zur Herausbildungeines literarischen Leitmotivs“, in Lessing Yearbook XXXIII (2001), 27– 54.

120 S. dazu oben insbes. 1.4. – Um Missverständnissen vorzubeugen, sei ergänzt: Die Auffassung, diein Minna von Barnhelm der skizzierten Interpretation zufolge zum Ausdruck kommt, ist nicht mitder im ausgehenden 18. Jahrhundert aufkommenden Einschätzung zu verwechseln, dass Komikkein Merkmal von Gegenständen sei, sondern im Auge des Betrachters entstehe, s. dazu oben 1.1.

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Komische Ungereimtheiten: Lessing 185

Lessings Auslotung der Grenzen des Lächerlichen in Minna von Barnhelm stellt frei-lich keinen Selbstzweck dar; die neuartige Nutzung des Komischen im Lustspiel istvielmehr als Beitrag zu dem Versuch zu deuten, der Gattung Komödie im Ganzen eineneuartige Ausrichtung zu geben. Dies ist nicht ohne Weiteres zu sehen, weil Lessingdem Lustspiel keine neue Funktion zuweist, sondern dessen traditionelle nur in neuerWeise interpretiert. Mit der Einschätzung, dass die Komödie der moralischen Erziehungder Zuschauer zu dienen habe, hält er grundsätzlich an der seit dem Beginn des 18.Jahrhunderts dominierenden Sichtweise fest; zugleich gewinnt in seinen Werken aberein Verständnis von Moralisierung durch das Lustspiel Gestalt, das sich etwa von de-mjenigen, das den Texten Gottscheds und seiner Nachfolger zugrunde liegt, deutlichabhebt. Was die Lessing’sche Idee von der Erziehungsleistung der Komödie ausmacht,hat sich im Rahmen der Auseinandersetzung mit der Hamburgischen Dramaturgie undinsbesondere mit der in ihr vorgeschlagenen Unterscheidung zwischen Verlachen undLachen bereits angedeutet – auf der Grundlage der vorangegangenen Betrachtungen zuMinna von Barnhelm lässt es sich nun im Einzelnen auf den Begriff bringen: Eine mo-ralisierende Wirkung sucht die Spielart der Typenkomödie, von der sich Lessing inMinna von Barnhelm absetzt, auf zwei Wegen zu erzielen – einerseits durch die satiri-sche Darstellung einer Figur mit einem harmlosen Fehler und andererseits durch diesympathisierende Darstellung der zumeist durch eine Intrige in die Wege geleitetenHeilung des betreffenden Charakters von seiner Unausgewogenheit.121 Die normativeOrientierung durch Bühnenwerke mit entsprechender Konzeption erfolgt mithin rechtdirekt, die Stücke machen mehr oder weniger ausdrücklich deutlich, welche Laster zuvermeiden und welche Tugenden zu beherzigen sind. Wie nicht zu übersehen ist, greiftLessing in Minna von Barnhelm auf das Muster der Typenkomödie mit Intrigenschemazurück, er gibt ihm jedoch eine völlig neue Ausrichtung.122 Die Pointe der Umgestal-tung des Modells besteht dabei darin, dass die strikte Opposition von Laster und Tu-gend, von der die Typenkomödie lebt, aufgelöst wird – und zwar dadurch, dass die figu-ralen Repräsentanten des Laster- und des Tugenhaften in gleicher Form anlegt werden.Lessing stattet nicht allein den zu belehrenden Charakter mit einnehmenden Merkmalenaus; er versieht zudem die belehrende Figur mit einem deutlichen Fehler.123 Ganz ent-sprechend unterscheidet sich auch das Ergebnis der didaktisch intendierten Intrige inMinna von Barnhelm erkennbar von dem in traditionellen Typenkomödien. Die Figuren

Eine entsprechende Sichtweise findet sich offenbar erstmals bei Johann Georg Heinrich Feder um1780, vgl. J. G. H. F., Untersuchungen über den menschlichen Willen… (1779), Brüssel 1968 undzusammenfassend Paul M. Haberland, The Development of Comic Theory, 94–96.

121 Vgl. zu diesem Komödientyp im Einzelnen Horst Steinmetz, Die Komödie der Aufklärung, 39–46.122 Dass sich Lessing auf die umrissene Variante der Typenkomödie bezieht, ist in der Forschung oft-

mals bemerkt worden; worin genau seine Rekonzeptualisierung des Modells besteht, ist dabei al-lerdings zumeist im Dunkeln geblieben, vgl. etwa Michael Böhler, „Lachen oder Verlachen?“,Wilfried Barner et al., Lessing, Agnes Kornbacher-Meyer, Komödientheorie oder Monika Fick,Lessing-Handbuch.

123 S. dazu oben 2.1.2 Komik mit Moral.

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Zur deutschen Komödie im 18. Jahrhundert186

gewinnen zwar auch bei Lessing eine Ahnung der Fehler in ihrem Verhalten, mit derbetreffenden Erkenntnis ist in diesem Fall aber keine Abkehr von ihren grundlegendenWertvorstellungen verbunden. Minnas Bemerkungen gegenüber Tellheim nach demEnde ihrer Intrige lassen darüber keinen Zweifel zu: Unmittelbar auf ihre Einsicht, „denScherz zu weit getrieben“124 zu haben‚ folgt ihr Bekenntnis: „Nein, ich kann es nichtbereuen, mir den Anblick Ihres ganzen Herzens verschafft zu haben! – Ah, was sind Siefür ein Mann!“125 Es erscheint mithin nicht sonderlich gewagt, Lessings Überlegungenzum Ende von Terenz’ Lustspiel Die Brüder im 99. Stück der Hamburgischen Drama-turgie als eine Art Kommentar zum Schluss von Minna von Barnhelm zu verstehen:„Die Intrigue ist längst zu Ende, aber das fortwährende Spiel der Charaktere läßt unskaum bemerken, daß sie zu Ende ist. Keiner verändert sich; sondern jeder schleift nurden andern eben so viel ab, als nötig ist, ihn gegen den Nachteil des Excesses zu ver-wahren.“126

Moralische Anleitung durch die Komödie heißt bei Lessing nicht mehr explizite oderexemplarische Vermittlung von Normen. Einen Beitrag zur Erziehung des Rezipientenleistet komisches Theater in seinem Sinne nicht durch die Präsentation von Wert-vorstellungen, sondern durch die Problematisierung ihrer Zuschreibung, Voraussetzun-gen und Folgen. Insofern trifft Lessings Diktum, dass das Lustspiel durch Lachen bes-sere, den Kern seiner eigenen Komödienkonzeption nicht ganz. Wie Minna von Barn-helm oder das Soldatenglück eindrucksvoll vorführt, ist der moralisierende Effekt desLustspiels kein Resultat des Lachens selbst, sondern eines der Reflexion seiner Gren-zen.

124 MvB, 105.125 Ebd., 106.126 HD, 670f. Hervorhebung von mir, T. K. – Vgl. zu dieser Passage auch Eckehard Catholy, Das

deutsche Lustspiel, 75f.

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Komik und Erziehung: Lenz 187

2.2 Komik und Erziehung:Zum Komischen in Lenz’ Der Hofmeister

Jakob Michael Reinhold Lenz gilt als einer der Vorboten und Wegbereiter der literari-schen Moderne im deutschen Sprachraum. Eine entsprechende Stellung in der Literatur-geschichte wird ihm vor allem unter Verweis auf seine Komödien und seine Einlassun-gen zur Komödienpoetik zugemessen: In Dramen wie Der Hofmeister und dramentheo-retischen Texten wie den Anmerkungen übers Theater habe er, so wird weithin ange-nommen, Problemstellungen, Gestaltungsprinzipien und Darstellungstechniken vorweg-genommen, die für die deutschsprachige Literatur erst ab dem späten 19. Jahrhundertprägend werden sollten.127 Gegen eine entsprechende Kategorisierung ist inhaltlich we-nig einzuwenden, sie hat in der Forschung allerdings zu der Tendenz beigetragen, Lenzund sein Werk weniger im Kontext seiner Zeit zu betrachten als vielmehr für die Antizi-pation von Eigenheiten der Literatur des 20. Jahrhunderts zu rühmen. Ganz entspre-chend wird in Überlegungen zum Lenz’schen Werk nur selten darauf verzichtet, auf dieBeziehungen seines Lustspielschaffens zu dem von Autoren wie Gerhart Hauptmann,Bertolt Brecht oder Friedrich Dürrenmatt hinzuweisen128 – an einer näheren Untersu-chung etwa des Verhältnisses zwischen den Komödien und Komödienkonzeptionen vonLessing und Lenz fehlt es jedoch bis heute.129

Bemerkbar macht sich die vorherrschende Ausrichtung der Forschung nicht zuletztin den vorliegenden Versuchen, die Stellung der Lenz’schen Lustspiele im Zusam-menhang der Gattungsentwicklung zu bestimmen. In der Auseinandersetzung mit Lenz’Komödien gibt man sich aus genrehistorischer Perspektive zumeist mit recht allgemei-nen Einordnungen zufrieden, die geeignet sind, die Modernität der Texte zu unterstrei-chen, allerdings nur wenig dazu beisteuern, deren Beitrag zur Transformation traditio-

127 Vgl. etwa Hans-Gerd Winter, J. M. R. Lenz, Stuttgart 1987, 60, Hans H. Hiebel, „Das ,offene‘Kunstwerk als Signum der Moderne“, in J. R. M. Lenz als Alternative? Positionsanalysen zum200. Todestag, hg. v. Karin A. Wurst, Köln/Weimar/Wien 1992, 179–197, 180f., Franz Lösel,„Melodrama und Groteske im Werk von Reinhold Lenz“, in Jakob Michael Reinhold Lenz. Stu-dien zum Gesamtwerk, hg. v. David Hill, Opladen 1994, 202–213, 202, Matthias Luserke, Lenz-Studien. Literaturgeschichte – Werke – Themen, St. Ingbert 2001, 89, Andreas Meier, „Vorwort“,in Jakob Michael Reinhold Lenz. Vom Sturm und Drang zur Moderne, hg. v. A. M., Heidelberg2001, 7–9, 7, Rüdiger Zymner, „Shakespeare und Lenz“, in Vom Sturm und Drang zur Moderne,11–21, 20f. oder Andrea Bartl, Die deutsche Komödie, 97. – David Hill stuft Lenz gar als ‚post-modern‘ ein, verweist dabei aber auf die Merkmale der Texte, die gemeinhin deren Einordnung als‚modern‘ rechtfertigen sollen (vgl. D. H., „Vorwort“, in Studien zum Gesamtwerk, 7–9, 7).

128 Vgl. dazu etwa Eckehard Catholy, Das deutsche Lustspiel, 110, Bernhard Greiner, Die Komödie,170 oder Andrea Bartl, Die deutsche Komödie, 100.

129 Bausteine zu einer solchen Studie liefert insbes. Martin Rector, „Lenz und Lessing. Diskontinui-täten der Dramentheorie“, in Lessing und die Literaturrevolten nach 1770, hg. v. Dieter Fratzke u.Wolfgang Albrecht, Kamenz 1998, 53–81. – S. zum Zusammenhang auch unten 2.2.1 und 2.2.2.

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Zur deutschen Komödie im 18. Jahrhundert188

neller Komödienmodelle detailliert zu erhellen.130 So wird es zwar immer wieder alszentrales Spezifikum der Lustspiele hervorgehoben, dass es in ihnen zu einer Aufwer-tung des ‚Ernsthaften‘ und zu einer Abwertung des ‚Lustigen‘ kommt; dies wird aberkaum einmal zum Anlass genommen, der zweifellos angemessenen Beobachtung weiternachzugehen und im Einzelnen zu untersuchen, wie Lenz Ernst und Komik im Lustspielmiteinander zu verbinden versucht und was aus dem Komischen unter der Bedingungseiner prinzipiellen Marginalisierung wird.131 Die Diskussion entsprechender Fragen istauch durch verbreitete Thesen wie die, dass es sich bei Lenz’ Komödien in Wahrheitum Tragikomödie handle, oder die, dass es in ihnen zu einer Rehabilitierung der Formdes Grotesken komme, eher behindert als befördert worden132 – denn sie vermitteln denirreführenden Eindruck, es sei etwas verstanden worden, wo tatsächlich nur etwas indurchaus noch klärungsbedürftiger Weise eingeordnet worden ist.133

Die folgenden Überlegungen werden sich um die Klärung, Diskussion und Revisionsolcher und verwandter Einordnungen bemühen, indem sie in zwei Schritten den For-men und Funktionen des Komischen im Lenz’schen Lustspiel nachgehen.134 Zu diesemZweck soll in Auseinandersetzung mit Lenz’ maßgeblichen Stellungnahmen zur Komö-dienpoetik zunächst seine Idee des Lustspiels und in diesem Zusammenhang insbe-sondere die Rolle geklärt werden, die er der Komik in Texten der Gattung zuweist; imZentrum der Betrachtungen werden dabei die in den frühen 1770er Jahren verfasstenAnmerkungen übers Theater stehen. Vor dem Hintergrund der Untersuchungen zuLenz’ Komödientheorie soll dann seine Komödienproduktion am Beispiel seines erstenund zugleich bekanntesten Lustspiels untersucht werden, anhand des Dramas Der Hof-meister oder Vortheile der Privaterziehung,135 dessen Entstehung und Überarbeitungfür die Publikation ebenfalls in das Jahrfünft zwischen 1770 und 1775 fällt. Das Haupt-augenmerk der Analysen wird der Frage gelten, in welcher Weise und Absicht Lenz das

130 Als Ausnahmen sind die unterschiedlich überzeugenden Überlegungen in Karl Eibl, „‚Realismus‘als Widerlegung von Literatur. Dargestellt am Beispiel von Lenz’ Hofmeister“, in Poetica 6(1974), 456–467, Karl S. Guthke, Poetik der deutschen Tragikomödie und Christian Neuhuber,Das Lustspiel macht Ernst zu nennen.

131 Dies lässt sich ebenso in Beiträgen zur Lenz-Philologie wie in solchen zur Komödienhistoriogra-phie beobachten. – Zu den allgemeinen Gründen für die Missachtung des Komischen in der Lust-spielforschung s. oben 2.

132 S. zu diesen Thesen – mit Hinweisen auf Literatur – unten 2.2.1 und 2.2.2.133 S. dazu am Beispiel des ‚Grotesken‘ oben 1.5.3.134 Zitate aus den Werken Lenz’ werden nachgewiesen nach der Faksimileausgabe des Röhrig Univer-

sitätsverlags (Werke in zwölf Bänden, hg. v. Christoph Weiß, Trier 2001) unter Bandnummeran-gabe mit arabischen Ziffern sowie nach der Werk- und Briefausgabe des Hanser Verlags (Werkeund Briefe in drei Bänden, hg. v. Sigrid Damm, München 1987) unter Bandnummerangabe mit rö-mischen Ziffern.

135 Der Hofmeister ist nicht allein Lenz’ erste Komödie, sondern zugleich sein erstes veröffentlichtesDrama; von seinen Jugendwerken ist lediglich das empfindsam ausgerichtete Stück Der verwunde-te Bräutigam von 1766 überliefert, vgl. dazu Georg-Michael Schulz, Jacob Michael ReinholdLenz, Stuttgart 2001, 68f.

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Komische in seinem Drama zum Einsatz bringt. Bei der Beschäftigung mit diesemWerkaspekt soll freilich stets zugleich untersucht werden, ob und inwiefern er in Theo-rie und Praxis des Lustspiels Positionen der Aufklärungpoetik aufnimmt, umgestaltetoder vollständig hinter sich lässt.

2.2.1 Konzeptionelles: Anmerkungen übers Theater und andere Schriften

Bei den erstmals 1774 erschienenen Anmerkungen übers Theater handelt es sich um ei-nes der grundlegenden poetologischen Manifeste des Sturm und Drang. Mit demHaupttitel seines vermutlich schon drei Jahre zuvor entstandenen Textes136 stapelt Lenzalso gleich in doppelter Hinsicht tief: Erstens liefert die Schrift nicht bloß ‚Anmerkun-gen‘, sondern entwirft ein zwar rhapsodisch dargebotenes, aber systematisch ausgefeil-tes Gedankengebäude;137 und zweitens widmet sie sich keineswegs allein dem ‚Thea-ter‘, sondern verbindet Betrachtungen zum Drama mit Reflexionen zu Fragen derPoetik, Ästhetik und Epistemologie.138

Die Anmerkungen übers Theater setzen mit allgemeinen Überlegungen zum Wesender Poesie ein. Grundsätzlich schließt Lenz dabei an die aristotelische Vorstellung an,dass Dichtung als ‚Mimesis‘ zu verstehen ist; im Zuge seiner Betrachtungen gelangt erallerdings zu einem Verständnis dieser Vorstellung, das sich ebenso von demjenigenAristoteles’ wie von demjenigen der vielen Kommentatoren seiner Poetik im 17. und18. Jahrhundert erkennbar abhebt.139 Eigenwillig sind Lenz’ Ausführungen zur Poetikinsbesondere, weil sie den Begriff der Mimesis enger fassen als im Anschluss an diearistotelische Position üblich. Zum einen tritt Lenz dafür ein, dass Mimesis ausschließ-lich als „Nachahmung der Natur“140 verstanden werden und nicht zugleich für dieOrientierung an musterhaften Werken antiker Autoren stehen sollte.141 Zum anderenwendet er sich gegen allzu liberale Vorstellungen davon, wie die wesentlichen Elemen-te des Kompositums ‚Naturnachahmung‘ zu interpretieren sind: Natur ist für Lenz dieüber die Sinne erfahrbare Natur, es sollen also die „Dinge“ dargestellt werden, „die wirum uns herum sehen, hören etcetera, die durch die fünf Thore unserer Seele in dieselbe

136 Der vollständige Titel lautet Anmerkungen übers Theater nebst angehängten übersetzten StückShakespears. Zur Entstehung vgl. Lenz 5, 3 sowie Georg-Michael Schulz, Lenz, 257f.

137 Vgl. hierzu auch Fritz Martini, „Die Einheit der Konzeption in J. M. R. Lenz’ Anmerkungen übersTheater“, in Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 14 (1970), 159–182 und Martin Rector,„Anschauendes Denken. Zur Form von Lenz’ Anmerkungen übers Theater“, in Lenz-Jahrbuch 1(1991), 92–105.

138 Zu einer eingehenden Rekonstruktion des Aufbaus und Inhalts des Manifests vgl. Georg-MichaelSchulz, Lenz, 257–269.

139 Vgl. zum Zusammenhang allgemein Jörg Schlieske, Lenz und die Mimesis. Eine Untersuchung derNachahmungsproblematik bei Jakob Michael Reinhold Lenz (1751-1792), Frankfurt a.M. 2000.

140 Lenz 5, 10. Fortan zitiert unter Verwendung der Sigle „AT“.141 Vgl. hierzu Matthias Luserke, Sturm und Drang: Autoren – Texte – Themen, Stuttgart 1997, 271.

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hineindringen“.142 Und Nachahmung ist ihm zufolge eine Darstellungsweise, die ihrenGegenstand in seinem Wesen erfasst und anschaulich macht143 und die als solche an dieGestalt des Genies gebunden ist: „Wir nennen die Köpfe Genies, die alles, was ihnenvorkommt, gleich so durchdringen, durch und durch sehen, daß ihre Erkenntniß, den-selben Werth, Umfang, Klarheit hat, als ob sie durch Anschaun oder alle sieben Sinnezusammen wäre erworben worden“.144 Um nun gerechtfertigt nicht allein von Naturna-chahmung, sondern von dichterischer Naturnachahmung sprechen zu können, müssenDarstellungen nach Lenz allerdings noch eine weitere Bedingung erfüllen – in ihnen hatsich neben dem Genie ihres Urhebers auch dessen „Schöpfungskraft“ bzw. „Dichtungs-vermögen“145 zu zeigen.146 Grundlegend für Lenz’ Überlegungen zur Poesie und damitauch zum Theater ist kurzum die Interpretation des Dichters als alter deus: „Man könn-te sein Gemählde mit der Sache selbst verwechseln und der Schöpfer sieht auf ihn her-ab, wie auf die kleinen Götter, die mit seinem Funken in der Brust auf den Thronen derErde sitzen und seinem Beyspiel gemäß eine kleine Welt erhalten.“147

Vor dem Hintergrund der nachgezeichneten einleitenden Reflexionen wendet sichLenz in den Hauptabschnitten seiner Schrift dem Drama zu, erörtert dessen Bauweiseund Möglichkeiten, Aufgaben und Spielarten. Angesichts seines allgemeinen Verständ-nisses von Poesie kann es nicht erstaunen, dass er sich in den betreffenden Passagendeutlich vom Theater und der Theatertheorie der Aufklärung abzugrenzen versucht; inFortführung seiner Auseinandersetzung mit Aristoteles, die freilich im Wesentlicheneine mit den Auffassungen der Aristotelesexegeten ist, gibt er einigen ehernen Regelnder Dramaturgie der Zeit wie etwa der Idee des Primats der Handlung vor den Figuren,der Einheitenlehre oder der Ständeklausel den Abschied. Gleichwohl rückt Lenz in denAnmerkungen übers Theater keineswegs so weit von Vorstellungen der Aufklärungs-poetik ab, wie er selbst bisweilen nahe legt und wie in der Forschung oft behauptetwird.148 Dass zwischen den Grundannahmen der Genieästhetik und denen der Regel-poetik ein recht grundsätzliches Spannungsverhältnis besteht, deutet sich im Text allen-

142 AT, 10.143 Martin Rector schreibt Lenz zu Recht eine Auffassung von Dichtung als „Wesensschau“ zu, vgl.

M. R., „Optische Metaphorik und theologischer Sinn in Lenz’ Poesie-Auffassung“, in Studien zumGesamtwerk, 11–26, 16. – S. zum Zusammenhang auch unten 2.2.2.

144 AT, 15.145 Ebd. – Dass Lenz’ Bestimmung der Dichtkunst durch diese zentrale Zusatzbedingung Gefahr läuft,

zirkulär zu werden, liegt auf der Hand, kann im Folgenden aber vernachlässigt werden.146 Zum Hintergrund und zur Entwicklung der Lenz’schen Position vgl. Hans-Gerd Winter, Lenz, 38f.

und Gerhard Sauder, „Geniekult im Sturm und Drang“, in Deutsche Aufklärung, 327–340 und„Lenz’ eigenwillige Anmerkungen über das Theater“, in Études Germaniques 52 (1997), 49–64,insbes. 58–60.

147 AT, 16.148 So spricht Matthias Luserke etwa von „Lenz’ radikalem Bruch mit Positionen der aufgeklärten

Dichtungstheorie“ (M. L., Sturm und Drang, 271; Hervorhebung von mir, T. K.).

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falls an, etwa in Lenz’ Kommentar zur „erschröcklichen jämmerlichberühmten Bullevon den drey Einheiten“149 im Drama:

Was heissen die drey Einheiten? hundert Einheiten will ich euch geben, die alle immer dochdie eine bleiben. […] Der Dichter und das Publikum müssen die eine Einheit fühlen aber nichtklassifizieren. Gott ist nur Eins in allen seinen Werken, und der Dichter muß es auch seyn, wiegroß oder klein sein Wirkungskreiß auch immer seyn mag. Aber fort mit dem Schulmeister,der mit seinem Stäbchen einem Gott auf die Finger schlägt.150

Ungeachtet entsprechender Passagen ist indes schwerlich zu übersehen, dass Lenz’Aufbegehren gegen die an Aristoteles orientierte Dramentheorie der Zeit nicht in einerprinzipiellen Ablehnung des Projekts der Regelpoetik, sondern in der konkreten Unzu-friedenheit mit der Orientierung an bestimmten Regeln gründet.151 Schaut man sich nundie Kritik noch etwas genauer an, die in den Anmerkungen übers Theater an Aufklä-rungspositionen geübt wird, so kann man zwei weitere Beobachtungen machen, die derLiteraturwissenschaft bislang zumeist entgangen sind: Erstens ist festzustellen, dass sichLenz’ Einwände zwar gegen die Verfahrensregeln, nicht aber gegen die Zielvorgabenaufgeklärter Dramentheorie richten. So entschieden er einzelne Bestandteile der Büh-nenpoetik seiner Zeit ablehnt, so entschlossen hält er zugleich an deren grundsätzlicherWirkungskonzeption fest – wie für die meisten Autoren und Theoretiker des Theatersvon Gottsched bis weit über Lessing hinaus besteht auch für Lenz die wesentlicheFunktion des Dramas darin, durch anschauende Erkenntnis eine erzieherische Wirkungzu erzielen.152 Zweitens zeigt eine nähere Analyse seiner Auseinandersetzung mit demTheater der Aufklärung, dass seine Vorbehalte weniger auf seinen genieästhetischenIdeen als vielmehr auf seiner Annahme der historischen Bedingtheit von Kunst beruhen.Lenz’ Forderung, sich von bestimmten dramentheoretischen Maximen aristotelischerProvenienz zu verabschieden, erklärt sich mit anderen Worten wesentlich aus seinerEinschätzung, dass sie nicht zeitgemäß sind.153

Für Lenz’ Anmerkungen übers Theater, so lassen sich die umrissenen Beobachtun-gen zusammenfassen, ist die Frage leitend, in welcher Weise es Stücken gelingen kann,in einer gegebenen historischen Situation eine allgemeine moralisierende Funktion zuerfüllen. In seiner Antwort auf diese Frage sind, wie bereits angedeutet wurde, ein parsdestruens und ein pars construens zu unterscheiden: Ersterer stellt in Abgrenzung vonAristoteles und seinen Anhängern einige Grundregeln der aufgeklärten Poetik in Fra-

149 AT, 27.150 Ebd., 29.151 Bei Lenz’ Poetik handelt es sich also ebenso wie etwa bei der von Gottsched oder Lessing um eine

normative Theorie der Dichtung – dies wird aufgrund ihrer Präsentationsform nicht selten ver-kannt, vgl. zum Beispiel Andrea Bartl, Die deutsche Komödie, 95.

152 S. hierzu oben 2.1 sowie unten 2.3.153 Vgl. dazu etwa auch Eckehard Catholy, Das deutsche Lustspiel, 111 oder Carsten Zelle, „Ist es

eine Komödie? Ist es eine Tragödie? Drei Bemerkungen dazu, was bei Lenz gespielt wird“, inLenz als Alternative, 138–157, 146f.

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ge,154 Letzterer sucht in Anknüpfung an Shakespeares Theater Leitvorstellungen für ei-ne Dramaturgie zu entwerfen, die der geschichtlichen Konstellation im deutschsprachi-gen Raum des ausgehenden 18. Jahrhunderts angemessen ist.155 Im Zentrum von Lenz’Vorschlägen zur Konzeption eines entsprechenden ‚zeitgemäßen Theaters‘ steht dieForderung, dass das Hauptaugenmerk von Dramen nicht mehr der Handlung, sondernden Figuren zu gelten habe und dass die Gestaltung des Personals in Stücken der Un-terschiedlichkeit, Eigenheit und Vielschichtigkeit von Charakteren Rechnung tragenmüsse.156 „Was können wir dafür“, so merkt Lenz zum aristotelisch ausgerichtetenTheater an, „daß wir an abgerissenen Handlungen kein Vergnügen mehr finden, son-dern alt genug worden sind, ein Ganzes zu wünschen? daß wir den Menschen sehenwollen, wo jene nur das unwandelbare Schicksal und seine geheimen Einflüsse sa-hen.“157 Wie Lessing verlangt also auch Lenz eine Abkehr von positiv oder negativtypisierten Charakteren und eine Hinwendung zu psychologisch differenziert gezeich-neten Figuren, und wie jener stützt er sich dabei auf wirkungsbezogene Überlegun-gen.158 Anders als in der Hamburgischen Dramaturgie geht es in den Anmerkungenübers Theater allerdings eher mittelbar um die erzieherischen Leistungen von Dramen –im Mittelpunkt der Lenz’schen Reflexionen steht nicht die Frage, wie die Moral derZuschauer oder Leser gebessert, sondern die, wie ihr Interesse geweckt werden kann:

Da ein eisernes Schicksal die Handlungen der Alten bestimmte und regierte, so konnten sie alssolches interessiren, ohne davon den Grund in der menschlichen Seele aufzusuchen und sicht-bar zu machen. Wir aber hassen solche Handlungen, von denen wir die Ursache nicht einse-hen, und nehmen keinen Theil dran.159

In seinem Aufsatz „Ueber die Veränderung des Theaters im Shakespear“, der eine ArtSeitenstück zu den Anmerkungen übers Theater bildet, verallgemeinert er diese Ein-schätzungen wie folgt:

Das Interesse ist der grosse Hauptzweck des Dichters, dem alle übrigen untergeordnet seynmüssen – fordert dieses – fordert die Ausmahlung gewisser Karaktere, ohne welche das Inter-

154 Luserkes These, dass es Lenz in den betreffenden Passagen eigentlich um die Kritik Lessing’scherPositionen geht, erscheint – vorsichtig gesprochen – recht unplausibel, vgl. Matthias Luserke, Ja-kob Michael Reinhold Lenz: Der Hofmeister – Der neue Menoza – Die Soldaten, München 1993,29 oder auch Lenz-Studien, 91. Zur gegenteiligen Auffassung vgl. etwa Georg-Michael Schulz,Lenz, 258f. – Zu Lessings Sicht der Lenz’schen Positionen, vgl. Gerhard Sauder, „Lenz’ eigenwil-lige Anmerkungen“, 64.

155 Vgl. zu Shakespeares Bedeutung für das Lenz’sche Werk Rüdiger Zymner, „Shakespeare undLenz“, Hans-Günther Schwarz, „Lenz und Shakespeare“, in Jahrbuch der deutschen Shakespeare-gesellschaft (1971), 85–96 sowie Eva Maria Inbar, Shakespeare in Deutschland: Der Fall Lenz,Tübingen 1982.

156 Lenz selbst spricht von der „Mannigfaltigkeit der Charaktere und Psychologien“ (AT, 39).157 Ebd., 30. Hervorhebung von mir, T. K.158 S. hierzu oben 2.1.159 AT, 27. Hervorhebung von mir, T. K.

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esse nicht erhalten werden kann, unausbleiblich und unumgänglich Veränderung der Zeit unddes Orts, so kann und muß ihm Zeit und Ort aufgeopfert werden […].160

Dass Lenz in seiner Beschäftigung mit der Wirkung von Dramen vor allem nach demInteresse der Zuschauer fragt, liegt nicht daran, dass er dem Ziel theatralischer Mora-lisierung weniger Relevanz zumisst als die Vertreter der Aufklärung von Gottsched biszu Lessing. Es erklärt sich vielmehr daraus, dass er von der Geschichtlichkeit des Thea-ters und der Vielfältigkeit des Theaterpublikums ausgeht und darum die Aufgabe derRezipientenerziehung im Wesentlichen als Vermittlungsproblem begreift.161 Für Lenzgibt es keinen wesentlichen Unterschied zwischen der Frage, wie es Dramen gelingenkann, auf Rezipienten erzieherisch zu wirken, und derjenigen, wie es ihnen gelingenkann, überhaupt zu wirken. Ihm zufolge wird jedes Stück, das die Zuschauer und Lesereiner Zeit in ihrer Unterschiedlichkeit erreicht, zugleich eines sein, das sie auch erzieht– denn ein entsprechendes Werk vermittelt den Betrachtern auf dem Weg der Anschau-ung Einsichten in das Wesen der Dinge und Haltungen zu Menschen und Ereignis-sen.162 Im Einzelnen ausgeführt hat Lenz diese Auffassungen freilich nicht in den An-merkungen übers Theater, sondern in einem Brief an die Schriftstellerin Marie Sophievon la Roche aus dem Jahr 1775, in dem er zu ihrer Kritik an seinen Stücken Der Hof-meister, Der neue Menoza und seinen Bearbeitungen einiger Plautus-Dramen Stellungnimmt:

Sie haben recht; Ihre Anmerkungen über meine Stücke habe ich mir zuweilen selbst gemacht,[…]. Doch bitte ich Sie sehr, zu bedenken, gnädige Frau! daß mein Publikum das ganze Volkist; daß ich den Pöbel so wenig ausschließen kann, als Personen von Geschmack und Erzie-hung, und daß der gemeine Mann mit der Häßlichkeit seiner Regungen des Lasters, nicht sobekannt ist, sondern ihm anschaulich gemacht werden muß, wo sie hinausführen. Auch sinddergleichen Sachen wirklich in der Natur; leider können sie nur in der Vorstellung nicht gefal-len, und sollen’s auch nicht. Ich will aber nichts, als dem Verderbnis der Sitten entgegen arbei-ten, das von den glänzenden zu den niedrigen Ständen hinab schleicht, und wogegen diese dieHülfsmittel nicht haben können, als jene.163

Lenz’ Theatertheorie lässt sich, so innovativ sie im Einzelnen sein mag, nicht als Bruchmit der aufgeklärten Dramenpoetik interpretieren;164 sie führt vielmehr die Einwände

160 Lenz 10, 88. Hervorhebung von mir, T. K.161 S. zu einer anderen Variante dieser Auffassung unten 2.3.1.162 S. dazu oben. Zu einer eingehenden Untersuchung der ethisch-theologischen Implikationen von

Lenz’ Begriff der Poesie vgl. Martin Rector, „Optische Metaphorik“. Näher führt Lenz die umris-sene Überzeugung in seinen zwischen 1774 und 1775 entstandenen „Briefen über die Moralitätder Leiden des jungen Werthers“ aus, auch hier macht er deutlich, dass sich die moralische Wir-kung von Dichtung nach seiner Überzeugung nicht durch normative Anschauungsbeispiele, son-dern durch eine authentische Wirklichkeitsdarstellung ergibt, vgl. insbes. Lenz II, 674f. S. zumZusammenhang auch unten 2.2.2.

163 Lenz III, 326.164 Vgl. dazu etwa auch Fritz Martini, „Die Einheit der Konzeption“, 171 oder Carsten Zelle, „Drei

Bemerkungen“, 128f. – Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt Werner Rieck in Auseinanderset-zung mit Lenz’ Schrift Pandämonium Germanicum aus dem Jahr 1775, vgl. W. R., „Poetologie als

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weiter, die schon in programmatischen Texten der späten Aufklärung gegen die drama-turgischen Positionen der frühen in Anschlag gebracht werden, ohne dabei jedoch derenFundamente in Zweifel zu ziehen.165

Eine entsprechende Kontinuität zu aufgeklärten Vorstellungen lässt sich auch in denSchlussabschnitten der Anmerkungen übers Theater feststellen, in denen Lenz in zweiSchritten eine Skizze seines Verständnisses der Komödie entwirft. In der Lenz-Forschung ist dies in aller Regel übersehen worden; sie deutet die fraglichen Passagenzumeist gerade als Beleg für die Originalität der Lenz’schen Dramenpoetik und machtin ihnen etwa die Geburtsstunde der „Situationskomödie“,166 den Abgesang auf die„Typen- und Charakterkomödie“,167 das „Programm einer modernen Tragikomödie“168

oder gar „innovative Thesen zum Komischen bzw. Tragikomischen“169 aus. Wie grund-legend Einordnungen dieser Art an den lustspielbezogenen Schlussüberlegungen derAnmerkungen übers Theater vorbeigehen, sieht man, wenn man die entsprechendenAbsätze genauer betrachtet und sich vor allem den Anspruch vergegenwärtigt, der mitihnen verbunden ist.170

Zu einem angemesseneren Verständnis der betreffenden Passagen ist es zunächst er-forderlich, sich klar zu machen, dass sie in erster Linie der ‚Abrundung‘ eines Mani-fests dienen, in dem zwar zumeist allgemein von „Theater“ gesprochen wird, damit aberim Regelfall nur „Tragödie“ gemeint ist. Dass die Komödie erst am Ende der Schrift inden Blick kommt, erklärt sich dabei keineswegs aus Lenz’ zweifellos großer Wertschät-zung der Gattung und ist folglich nicht als eine Art ‚Höhepunkt‘ der vorgetragenenTheatertheorie gedacht.171 In der späten Thematisierung des Lustspiels zeigt sich viel-mehr, dass sie vor allem im Interesse dramaturgischer Vollständigkeit und einer noch

poetisches Szenarium. Zum Pandämonium Germanicum von J. R. M. Lenz“, in Lenz-Jahrbuch 2(1992), 78–111.

165 Auch mit Blick auf Lenz’ Theatertheorie trifft also Gerhard Sauders Einordnung des Sturm undDrang als ‚Dynamisierung und Binnenkritik der Aufklärung‘ zu, vgl. dazu Matthias Luserke, Lenz-Studien, 51. Ebenfalls einleuchtend erscheint Luserkes Vorschlag, Lenz und die Dichtung desSturm und Drang insgesamt als „leidenschaftlich aufgeklärt“ zu verstehen, vgl. insbes. MatthiasLuserke, Lenz, Kap 1. – Vgl. zum Zusammenhang allgemein Christoph Siegrist, „Aufklärung undSturm und Drang: Gegeneinander oder Nebeneinander?“, in Sturm und Drang. Ein literaturwis-senschaftliches Studienbuch, hg. v. Walter Hinck, Kronberg/Ts. 1978, 1–13.

166 Karl S. Guthke, „Lenzens Hofmeister und Soldaten. Ein neuer Formtypus in der Geschichte desdeutschen Dramas“, in Wirkendes Wort 9 (1957), 274–286, 279.

167 Fritz Martini, „Die Einheit der Konzeption“, 178.168 Matthias Luserke, Sturm und Drang, 274.169 Andrea Bartl, Die deutsche Komödie, 95.170 Vgl. dazu wegweisend: Ulrich Profitlich, „Zur Deutung von J. M. R. Lenz’ Komödientheorie“, in

DVjs 72 (1998), 411–432.171 Diese Vermutung findet sich etwa bei Eckehard Catholy, Das deutsche Lustspiel, 111 oder Andrea

Bartl, Die deutsche Komödie, 97. – Vgl. zum Zusammenhang auch die plausible These in Georg-Michael Schulz, Lenz, 263: „Auf eine Gegenüberstellung von Komödie und Tragödie ist Lenz zu-nächst wohl gar nicht aus gewesen“.

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markanteren Bestimmung der zuvor umrissenen Konzeption des Trauerspiels erfolgt.Nicht zufällig setzt der Absatz, in dem Lenz erstmals auf das Lustspiel zu sprechenkommt, mit der folgenden Erläuterung ein: „Damit wir nun […] die Gränzen unsersTrauerspiels richtiger abstecken, als bisher geschehen, so müssen wir von einem ande-ren Punkt ausgehen, als Aristoteles“.172 Und Lenz’ erste Annäherungen an die Komödiezeugen denn auch eher von dem Bemühen um eine „pointierte Antithese“173 zu seinemVerständnis der Tragödie als von dem Bedürfnis nach einer eigenständigen Charakteri-sierung der Gattung: „Die Hauptempfindung der Komödie ist immer die Begebenheit,die Hauptempfindung in der Tragödie ist die Person, die Schöpfer [!] ihrer Begeben-heit.“174

Die zentrale Voraussetzung für eine adäquate Deutung und Einordnung der Ko-mödienreflexionen in den Anmerkungen übers Theater dürfte jedoch in der Einsicht be-stehen, dass jene keine präskriptiven Vorgaben entwickeln, sondern eine explikativeBestandsaufnahme liefern. Lenz legt es hier gar nicht darauf an, ein eigenes Programmdes Lustspiels zu entwerfen, und er hält deshalb, so hat Profitlich treffend bemerkt,„kein Plädoyer für einen Komödientypus (‚Begebenheitskomödie‘) und gegen einen an-deren“.175 In den Schlussabschnitten seiner Schrift bemüht er sich stattdessen, nachzu-vollziehen und zusammenzufassen, was gemeinhin – und darum vernünftigerweise – inRede steht, wenn von einem „Lustspiel“ gesprochen wird.176 Zum Ausgangspunktnimmt Lenz in diesem Sinne nicht Aristoteles oder einen anderen kanonischen Dramen-theoretiker, sondern den „Volksgeschmack“:

Und da find ich, daß er beym Trauerspiele oder Staatsaktion […] immer drauf losstürmt (dieAesthetiker mögens hören wollen oder nicht) das ist ein Kerl! das sind Kerls! bey der Komö-die aber ists ein anders. Bey der geringfügigsten drollichten, possirlichen unerwarteten Bege-benheit rufen die Blaffer mit seitwärts verkehrtem Kopf: Komödie! Das ist eine Komödie!ächzen die alten Frauen.177

Der Anspruch, das tatsächlich vorherrschende Verständnis der Gattung Komödie zu be-stimmen, liegt auch der berühmt-berüchtigten einzigen Passage der Anmerkungen übersTheater zugrunde, in der sich Lenz näher zum Lustspiel äußert:

172 AT, 51.173 Ulrich Profitlich, „Zur Deutung“, 422.174 AT, 52. Gemeint ist hier vermutlich ,Schöpferin ihrer Begebenheit‘.175 Ulrich Profitlich, „Zur Deutung“, 422. Hervorhebungen im Original.176 Dieses Vorgehen wird hier mit Bedacht als ‚explikative Bestandsaufnahme‘ verstanden, weil es

neben den häufiger bemerkten empirischen Bestandteilen offenkundig auch normative enthält, wasfreilich zumeist verkannt wird, vgl. dazu neben Ulrich Profitlich, „Zur Deutung“ etwa Holger A.Pausch, „Zur Widersprüchlichkeit in der Lenzschen ‚Dramaturgie‘. Eine Untersuchung der An-merkungen übers Theater“, in Maske und Kothurn 17 (1971), 97–108 oder Thorsten Unger, Han-deln im Drama. Theorie und Praxis bei J. Chr. Gottsched und J. M. R. Lenz, Göttingen 1993. –Zum Verfahren der Explikation s. oben 1.2.2.

177 AT, 52.

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Meiner Meynung nach wäre immer der Hauptgedanke einer Komödie eine Sache, einer Tragö-die eine Person. Eine Misheurath, ein Fündling, irgend eine Grille eines seltsamen Kopfs (diePerson darf uns weiter nicht bekannt seyn, als in so fern ihr Charakter diese Grille, dieseMeynung, selbst dieses System veranlaßt haben kann: wir verlangen hier nicht die ganze Per-son zu kennen.) […] Die Personen sind für die Handlungen da – für die artigen Erfolge, Wir-kungen, Gegenwirkungen, ein Kreiß herumgezogen, der sich um eine Hauptidee dreht – und esist eine Komödie. Ja warlich, denn was soll sonst Komödie in der Welt seyn? Fragen Sie sichund andere! Im Trauerspiele aber sind die Handlungen um der Person willen da – sie stehenalso nicht in meiner Gewalt […], sondern sie stehen bey der Person, die ich darstelle. In derKomödie aber gehe ich von den Handlungen aus, und lasse Personen Theil dran nehmen wel-che ich will. Eine Komödie ohne Personen intereßirt nicht, eine Tragödie ohne Personen istein Widerspruch.178

Dass es sich auch im Fall dieser vielzitierten Überlegungen um eine explikative Stel-lungnahme handelt, mag nicht ganz so offensichtlich sein wie in dem der oben ange-führten begriffsanalytischen Anmerkungen zum ‚Volksgeschmack‘, es ist ihnen jedochohne großen interpretativen Aufwand zu entnehmen: Lenz leitet seine Hinweise zwarmit der Formel „Meiner Meynung nach“ ein, gibt aber schon durch Wendungen wie„wäre immer“, „wir verlangen“ oder „Fragen Sie sich und andere“ zu erkennen, dass esihm hier um die Erläuterung und Klärung eines Lustspielbegriffs geht, der auf allge-meine Zustimmung hoffen kann. Deutlich wird dies freilich nicht allein auf sprachli-cher, sondern gerade auch auf inhaltlicher Ebene: Mit seiner These, dass der Kern vonLustspielen stets in einer „Sache“ zu sehen ist, liefert Lenz eine Charakterisierung derGattung, die nur der Form nach neu ist – dem Inhalt nach handelt es sich bei ihr um eineverallgemeinernde Zusammenfassung verbreiteter Vorstellungen.179 Dies machen insbe-sondere die angeführten Beispiele für das deutlich, was genau „Sache“ eines Lustspielssein kann („eine Misheurath, ein Fündling, irgend eine Grille eines seltsamen Kopfs“) –denn hinter ihnen verbergen sich, wie Profitlich überzeugend gezeigt hat, einflussreicheKomödienformen, für die Lenz mit seinem Vorschlag gleichsam den größten gemeinsa-men Nenner aufzuzeigen versucht:

Die „Grille eines seltsamen Kopfs“ ist offenbar das, was in einem Großteil der sog. Charakter-komödie (bzw. Typenkomödie) thematisiert wird. […] Den Typus „Findling“ dagegen, derSchicksale verlorengegangener Familienmitglieder bis zur Wiedervereinigung thematisiert, re-präsentiert ein Großteil der hellenistisch-römischen Komödie und ihre Nachbildungen. […]„Mißheirat“ schließlich läßt sich generalisieren als ‚verfehlte soziale Beziehungen‘. Man magzuerst an Molières Georges Dandin denken, doch auch wichtige von Shakespeares Komödiengehören hierhin.180

Die Anmerkungen über das Lustspiel am Ende der Anmerkungen übers Theater sindkurzum kein grundlegender Gegenentwurf zu den Verständnissen des Lustspiels, die in

178 Ebd., 54f. Kursivierungen im Original gesperrt gedruckt.179 Anders gesagt: Lenz versucht nicht, eine neuartige Bestimmung des Lustspiels zu entwickeln, es

geht ihm darum, eine neuartige Sicht auf altbekannte Bestimmungen zu vermitteln.180 Ulrich Profitlich, „Zur Deutung“, 413.

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den Poetiken der Aufklärung zu finden sind. Lenz’ Thesen mögen durch einige formel-hafte Zuspitzungen einen anderen Eindruck nahe legen, erweisen sich bei genauerer Be-trachtung aber als Erläuterung eines integrativen Begriffs des Lustspiels, der die auf-geklärte Tradition der Typen- und Charakterkomödie als eine übliche Genrevarianteausdrücklich einbezieht.181 Und so wenig Lenz am Schluss seines Manifests einenBruch mit herkömmlichen Komödienkonzeptionen vollzieht, so wenig nimmt er dortdie Ideen zu einer Verbindung des Komischen mit dem Tragischen vorweg, die seinenLustspielen der Zeit wie etwa dem Drama Der Hofmeister ganz offenkundig zugrundeliegen. Die Lenz’schen Reflexionen, die sich ausdrücklich nur der allgemeinen Bau-weise von Lustspielen widmen, lassen zweifellos einige Rückschlüsse auf die vorausge-setzte mögliche Wirkungsweise von Komödien zu; vom Tragikomischen oder von derTragikomödie ist hier jedoch auch zwischen den Zeilen nicht die Rede.182 Zu entneh-men ist der Passage in wirkungsbezogener Perspektive nur, dass Komödien es gemein-hin ebenso auf komische wie auf erzieherische Effekte anlegen und auch anlegen soll-ten: Ersteres zeigt sich in den Kommentaren zu den „Sachen“ bzw. „Begebenheiten“,die in Lustspielen im Zentrum stehen; bei ihnen handelt es sich offenkundig stets um‚komische Sachen‘ oder ‚komische Begebenheiten‘.183 Letzteres deutet sich vor allemin Bemerkungen wie „Eine Komödie ohne Personen intereßirt nicht“ an, in denen Lenz’Überzeugung zum Ausdruck kommt, dass Stücke, die Interesse wecken, notwendig derMoralisierung von Zuschauern und Lesern dienen.184

Für die umrissene Interpretation der Schlussabsätze von Lenz’ Manifest spricht frei-lich nicht allein der Text selbst, sondern auch sein zweiter berühmter Beitrag zur Poetikder Komödie – die „Recension des Neuen Menoza, vom Verfasser selbst aufgesetzt“,die er 1775 aus Anlass der Reaktionen auf sein Lustspiel Der neue Menoza veröffent-licht.185 In diesem Text nämlich stellt Lenz Überlegungen zur Komödie an, zu ihremWesen und ihren Zielen, die entbehrlich gewesen oder zumindest anders ausgefallenwären, wenn er in seinen Anmerkungen übers Theater tatsächlich die Theorie des Lust-spiels entworfen hätte, die ihnen oft entnommen wird.186 Die „Recension des NeuenMenoza“ liefert keine Erläuterung, Weiterentwicklung oder Neufassung der Positionen,die Lenz in seiner Schrift von 1774 einnimmt187 – bei ihr handelt es sich um einen Text

181 Vgl. zur gegenteiligen Auffassung beispielsweise Matthias Luserke, Lenz, 36 oder Thorsten Un-ger, Handeln im Drama, 177f.

182 Die Gegenposition findet sich beispielsweise in Matthias Luserke, Lenz, 27–29, Sturm und Drang,247f. oder Lenz-Studien, 90f. und Andrea Bartl, Die deutsche Komödie, 95f.

183 Vgl. insbes. AT, 52–54.184 S. dazu oben.185 Vgl. hierzu etwa die Rezeptionsdokumente in Peter Müller (Hg.), Jakob Michael Reinhold Lenz

im Urteil dreier Jahrhunderte. Texte der Rezeption von Werk und Persönlichkeit; 18.–20. Jahr-hundert, 3 Bde., Bern 1995, Bd. 1: 18. Jahrhundert, 87–102.

186 Zu Beispielen s. oben.187 Dies wird in der Regel anders gesehen, vgl. dazu zuletzt Christoph Jürgensen/Ingo Irsigler, Sturm

und Drang, Göttingen 2010, 88.

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mit grundlegend anderer Ausrichtung und anderem Anspruch, sie umreißt tatsächlichprogrammatische Thesen zum Verständnis des Lustspiels. Ganz entsprechend kündigtLenz seine Überlegungen als Hinweise an, die er bisher schuldig geblieben ist, undmacht dabei überdies deutlich, dass ihnen nicht allein im Hinblick auf das Stück Derneue Menoza Bedeutung zukommt:

Vorzüglich […] seh ich mich gedrungen neuauftretende Dramenschreiber in den Standpunktzu stellen, aus dem sie meine bisherigen Arbeiten fürs Theater anzusehen haben, damit sienicht etwa glauben, ich habe mich von den Einflüssen eines glücklichen oder unglücklichenOhngefehrs blindlings regieren lassen, nieder zu schreiben was mir in die Feder kam.188

Was Lenz in der Folge als seinen „Standpunkt“ entwickelt, ist eine weitere, ausgespro-chen originelle Möglichkeit, die allgemeine Idee der Komödie, die in den Anmerkungenübers Theater herausgearbeitet wird, konkret umzusetzen. Er regt in Abgrenzung vontraditionellen Bestimmungen an, die Gattung nicht formal oder funktional, sondernadressatenbezogen zu definieren, und zwar wie folgt: „Ich nenne durchaus Komödienicht eine Vorstellung die blos Lachen erregt, sondern eine Vorstellung die für jeder-man ist“.189 Mag diesen Vorschlag auch prima facie nichts mehr mit der im 18. Jahr-hundert vorherrschenden Idee verbinden, dass das Lustspiel durch Komik der Mora-lisierung der Zuschauer zu dienen habe, so zeigt doch der Fortgang der Lenz’schen Ar-gumentation im Anschluss an seine Gattungsbestimmung, dass er diese Auffassung inseinem Modell nicht preisgibt, sondern bloß in einen weiteren Kontext stellt. Er gehtdurchaus noch davon aus, dass das Lustspiel der Moralisierung der Zuschauer zu dienenhabe, nimmt zugleich aber an, dass dazu nicht unbedingt der Einsatz von Komik not-wendig ist:

Tragödie ist nur für den ernsthaftern Theil des Publikums, der Helden der Vorzeit in ihremLicht anzusehn und ihren Werth auszumessen im Stande ist. So waren die griechischen Tragö-dien Verewigung merkwürdiger Personen ihres Vaterlandes […]; so waren die TragödienSchackespears wahre Darstellungen aus den Geschichten älterer und neuerer Nationen. DieKomödien jener aber waren für das Volk, und der Unterscheid von Lachen und Weinen warnur eine Erfindung späterer Kunstrichter, die nicht einsahen, warum der gröbere Theil desVolks geneigter zum Lachen als zum Weinen seyn, und je näher es dem Stande der Wildheitoder dem Hervorgehn aus demselbigen, destomehr sich seine Komödien dem Komischen nä-hern musten. Daher der Unterschied unter der alten und neuen Komödie, daher die Nothwen-digkeit der französischen weinerlichen Dramen, die alle Spöttereyen nicht hinwegräsonnirenkönnen, und die nur mit der totalen Verderbnis der Sitten ganz fallen werden.190

188 Lenz 4, 149.189 Lenz 4, 155. Hervorhebung von mir, T. K. Auf namhafte Vorläufer eines entsprechenden

Lustspielverständnisses wie Aristophanes, Plautus und Dante wird in Roger Bauer, „Die Komö-dientheorie von Jakob Michael Reinhold Lenz, die älteren Plautus-Kommentare und das Problemder ‚dritten‘ Gattung“, in Aspekte der Goethezeit, hg. v. Stanley A. Corngold, Michael Cursch-mann u. Theodore J. Ziolkowski, Göttingen 1977, 11–37 und Carsten Zelle, „Drei Bemerkungen“hingewiesen.

190 Lenz 4, 155.

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Wie in Lenz’ Theorie des Dramas so lassen sich auch in seiner Konzeption der Komö-die eine transhistorische und eine historische Komponente unterscheiden: Zeitunabhän-gig gilt ihm zufolge, dass das Lustspiel das Ziel zu verfolgen hat, die Zuschauer in ihrerUnterschiedlichkeit zu erreichen und zu erziehen; zeitabhängig bleibt für ihn zu klären,wie diese Aufgabe erfüllt werden kann, ob also etwa der Einsatz von Komik erfor-derlich oder entbehrlich ist.191 Wie eine Komödie gebaut sein sollte, die dem Anspruch,„für jederman“ zu sein, im deutschsprachigen Raum der 1770er Jahre Genüge tunmöchte, das umreißt Lenz am Ende der angeführten Abschnitte seiner Selbstrezension,wobei er noch einmal an die in seinen Augen wesentliche Aufgabe des Lustspiels er-innert – an die Erziehung der Zuschauer zur Ernsthaftigkeit und damit nicht zuletzt zurWürdigung von Tragödien192:

Komödie ist Gemählde der menschlichen Gesellschaft, und wenn die ernsthaft wird, kann dasGemählde nicht lachend werden. […] Daher müssen unsere deutschen Komödienschreiber ko-misch und tragisch zugleich schreiben, weil das Volk, für das sie schreiben, oder doch wenigs-tens schreiben sollten, ein solcher Mischmasch von Kultur und Rohigkeit, Sittigkeit und Wild-heit ist. So erschaft der komische Dichter dem Tragischen sein Publikum.193

Die Komödienpoetik, die in der „Recension des Neuen Menoza“ entworfen wird, läuftauf den Vorschlag hinaus, mit dem Aufklärungsvorhaben der Einrichtung eines ‚Natio-naltheaters‘ im Medium des Lustspiels Ernst zu machen.194 Lenz will die Komödie alseine Bühnengattung verstanden wissen, die tatsächlich „für jederman“ ist und unterUmständen also die Ungebildeten und ‚Wilden‘ ebenso zu erreichen und zu erziehenvermag wie die Gebildeten und ‚Ernsthaften‘. Im Zuge der Ausarbeitung dieser Ideegelangt er zu einem Gattungsverständnis, das sich zumindest in einer Hinsicht von denmeisten aufgeklärten Lustspielbestimmungen abhebt: In den Lenz’schen Reflexionenspielt die Idee komödienkonstitutiver Komikformen keine Rolle mehr – denn sie sehendie Möglichkeit einer Komödie ohne Komik vor.195 Gleichwohl ist Lenz’ Komödien-poetik nicht als Beitrag zur Liberalisierung der Komiknutzung im Lustspiel zu ver-

191 S. dazu auch oben.192 Vgl. zum Zusammenhang auch Fritz Martini, „Die Einheit der Konzeption“, 176f., Ulrich Pro-

fitlich, „Zur Deutung“, 428–431, Georg-Michael Schulz, Lenz, 264 oder Christian Neuhuber, DasLustspiel macht Ernst, 124f.

193 Lenz 4, 155.194 Vgl. zum Nationaltheaterprojekt mit Hinweisen auf weitere Literatur insbes. Reinhart Meyer,

„Von der Wanderbühne“, Roger Bauer/Jürgen Wertheimer (Hg.), Das Ende des Stegreifspiels oderKarl Eibl, Die Entstehung der Poesie.

195 Vgl. zur Tradition einer solchen Auffassung Christian Neuhuber, Das Lustspiel macht Ernst undUlrich Profitlich, „Komödien-Konzeptionen“. – Es ist Lenz’ Einlassungen nicht zu entnehmen, obund gegebenenfalls wie eine entsprechende Komödie noch von einer Tragödie zu unterscheidenist. – Offen bleiben kann hier ferner, ob es sinnvoll ist, die Lenz’sche Theorie der Komödie alsProgramm der Tragikomödie einzustufen, vgl. dazu etwa schon die gegenteiligen Auffassungen inKarl S. Guthke, Poetik der Tragikomödie, 51f. und Helmut Arntzen, Die ernste Komödie, 84f.

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Zur deutschen Komödie im 18. Jahrhundert200

stehen, die sich im 18. Jahrhundert beobachten lässt;196 sie gibt zwar die Vorstellungkomödienkonstutiver Komikformen preis, hält aber an der Unterscheidung zwischenkomödienlegitimen und komödienillegitimen Komikformen fest: Wieviel und welcheKomik in einem Lustspiel erforderlich und zugleich erlaubt ist, darüber entscheiden diegesellschaftlichen Bedingungen, unter denen und auf die das betreffende Stück wirkensoll.

2.2.2 Komisches: Der Hofmeister

Einen engen Zusammenhang zwischen Lenz’ Poetik des Dramas und seinem DramaDer Hofmeister anzunehmen, liegt aus zwei Gründen ausgesprochen nahe. Für eine sol-che Vermutung spricht zum einen, dass die betrachteten theatertheoretischen Überle-gungen und das zu betrachtende Theaterstück zur selben Zeit entworfen und für denDruck überarbeitet worden sind: Wie im Fall der Anmerkungen übers Theater entstehteine erste Textversion im Fall des Hofmeister zwischen 1771 und 1772, und wie dasManifest nimmt sich Lenz auch die Komödie 1774 für die Veröffentlichung im gleichenJahr noch einmal vor197 – zu einem Zeitpunkt also, zu dem er auch den Gegenstand sei-ner „Selbstrecension“, das Stück Der neue Menoza, fertigstellt und in den Druckgibt.198 Auf einen weiter gehenden Zusammenhang zwischen Dramenpoetik und Dramalässt zum anderen aber auch die Änderung des Gattungsvermerks schließen, die Lenzfür die Publikation des Hofmeister-Stücks vornimmt: Stuft er das Drama in der Hand-schrift von 1771/72 noch als „Lust- und Trauerspiel“ ein, veröffentlicht er eine nichtunerheblich überarbeitete Version des Stücks 1774 mit der Gattungsangabe „Komö-die“.199 Es erscheint nicht sonderlich gewagt, dies als Konsequenz der schrittweisenNeufassung des Lustspielbegiffs zu sehen, die in Lenz’ Stellungnahmen zur Kömo-dienpoetik zu beobachten ist.200

Mit diesen Hinweisen ist freilich noch nicht gesagt, dass Lenz in seiner Selbstre-zension, wie er behauptet, nachträglich den „Standpunkt“ erläutert, der für sein Komö-dienschaffen der frühen 1770er Jahre insgesamt leitend gewesen ist – ob dies tat-sächlich zutrifft, soll nun durch eine Analyse der Komiknutzung im Hofmeister geklärtwerden. Die Untersuchung zielt zwar nicht auf eine umfassende Interpretation des Lust-spiels; mit ihr ist aber durchaus der Anspruch verbunden, einige wesentliche Aspektedes Lenz’schen Stücks zu beleuchten und so ein paar Fixpunkte für die Auseinander-

196 S. zu zwei Stationen dieser Emntwicklung 2.1 und 2.3.197 Zur Entstehung von Der Hofmeister vgl. Georg-Michael Schulz, Lenz, 69.198 Zur Entstehung von Der neue Menoza vgl. Matthias Luserke, Lenz, 55.199 Vgl. ebd., 36.200 S. hierzu oben 2.2.1. – Vgl. zu Lenz’ uneinheitlicher Einordnung seiner ‚Komödien‘ allerdings

auch die Synopse in Carsten Zelle, „Drei Bemerkungen“, 140–142.

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Komik und Erziehung: Lenz 201

setzungen um dessen Interpretation zu bestimmen, die in ihrer Unübersichtlichkeit denDebatten um die Deutung von Lessings Minna von Barnhelm nicht nachstehen.201

Lachhaftes und Ernsthaftes zum Ersten: Karikaturen statt Typen

Weiß man um Lenz’ grundsätzliche Ablehnung des sächsischen Typenlustspiels,202 hatman Schwierigkeiten, den Anfang des Hofmeister-Dramas ohne Verwunderung zu le-sen.203 Die Eröffnung des Geschehens, die Einführung der leitenden Fragestellungen,die Gestaltung der Charaktere und auch die ersten Umrisse der Figurenkonstellationscheinen deutlich anzuzeigen, dass das Stück eine bestimmte Tradition der Typenko-mödie fortführt – nämlich die der aufgeklärten ‚Berufssatire‘.204 Vom Beginn einesLustspiels in der Nachfolge Gottscheds hebt sich der Anfang von Der Hofmeister of-fenbar nur dadurch ab, dass hier gleich mehrere Figuren unterschiedlicher gesellschaft-licher Stellung auftreten, die allesamt mehr oder weniger markante komische Unge-reimtheiten in ihrem Charakter aufzuweisen scheinen: Neben dem Hofmeister Läuffer,der sich gleich im Eingangsauftritt selbst als Inbegriff charakterlicher Unausgewogen-heit entlarvt, begegnen dem Zuschauer oder Leser in den sechs kurzen Szenen des er-sten Aktes etwa noch der sich capitanohaft gebährdende Major von Berg, seine dünkel-hafte Frau und ihre lesesüchtige Tochter Gustchen, deren Dasein in der Inszenierungvon Romanlektüren besteht.205

Der Eindruck, Lenz habe sich in der Praxis über die Vorgaben der eigenen Theoriehinweggesetzt, trügt jedoch. Wie der Fortgang des Hofmeister-Dramas nach dem erstenAkt schnell deutlich macht, handelt es bei den meisten der auftretenden Figuren demersten Augenschein zum Trotz keineswegs um Typencharaktere, die zum VerlachenAnlass geben sollen.206 Dass der Beginn des Stückes die gegenteilige These zu stützenscheint, erklärt sich daraus, dass sich Lenz bei der Zeichnung seiner Figuren einer Dar-stellungsform bedient, die sich auf der Grundlage kurzer Textpassagen nicht immereindeutig vom Verfahren der Typisierung unterscheiden lässt – nämlich derjenigen derKarikatur. Die Gestaltungsweisen des Typisierens und Karikierens verbindet, dass sieauf Übertreibung beruhen und oftmals Komik erzeugen – während im Fall der Typi-

201 Karl Eibl hat schon vor fast vier Jahrzehnten zu Recht festgestellt: „Das Hofmeister-Drama wurderelativ häufig interpretiert“ (K. E., „,Realismus‘ als Widerlegung“, 458). Gleichwohl sind in denvergangenen Dezennien den zahlreichen vorliegenden Deutungen viele weitere hinzugefügt wor-den, vgl. etwa die Übersicht bei Angela Hansen, „Der Hofmeister“ von J. M. R. Lenz. Ein Versucheiner Neuinterpretation, New York 2000, 283–302.

202 S. dazu oben 2.2.1.203 Vgl. Lenz 3. Fortan zitiert unter Verwendung der Sigle „HM“.204 Zu einer Zusammenstellung der Textaspekte, die einen solchen Schluss nahe legen, vgl. Karl Eibl,

„,Realismus‘ als Widerlegung“, 459f.205 Vgl. dazu HM, 5–25.206 Hier ist mit Bedacht von den „meisten“ Charakteren im Hofmeister-Drama die Rede, denn einige

der Nebenfiguren sind ohne Zweifel als traditionelle Typencharaktere konzipiert, vgl. dazu dieHinweise in Georg-Michael Schulz, Lenz, 74f.

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Zur deutschen Komödie im 18. Jahrhundert202

sierung aber nur ein spezifischer Aspekt eines Charakters übertrieben wird, um gleich-sam an dessen Stelle zu treten, wird im Fall der Karikatur das zumindest potenziellkomplexe Gesamtprofil eines Charakters übertrieben und so im Ganzen kenntlich ge-macht. Deutlich lässt sich dieser Unterschied insbesondere an der Figur Läuffer nach-vollziehen: Die Eigenheiten des Hofmeisters werden zwar in stets zugespitzer Form zurAnschauung gebracht; die überzeichnende Präsentationsform nimmt Läuffer aber natür-lich nicht seine Mehrdimensionalität, sie dient vielmehr gerade dazu, seine Eigenwil-ligkeit und Vielschichtigkeit zu unterstreichen.207 Am Ende der Handlung mag man alsRezipient unsicher sein, wie man diesen Hofmeister einzustufen hat, der nach der Zeu-gung eines Kindes mit einer Schutzbefohlenen, nach Flucht und Selbstentmannung inder Aussicht auf eine Kastratenehe überzeugt ist, nun „der glücklichste Mensch auf demErdboden“208 zu werden – sicher wird man allerdings sagen können, dass es sich beiihm nicht um die Verkörperung eines allgemein oder innerhalb eines Berufstandes ver-breiteten Charakterfehlers handelt.209

Wie für die Typisierung sind auch für die Karikatur Verfahren der Überteibung we-sentlich; anders als bei jener dienen die entsprechenden Techniken der Akzentuierungbei dieser allerdings genau der Zielsetzung, die Lenz in seinen Reflexionen zur Poetikals Zielsetzung von Dichtung bestimmt. Karikaturen sollen durch Übertreibung dasWesentliche ihres Gegenstandes herausarbeiten, und eben darum geht es Lenz, wenn ervon der Poesie verlangt, sie müsse „Sachen wie sie da sind“210 darstellen – hiermit wirdnicht die Abschilderung von Menschen, Dingen und Ereignissen gefordert, sondern dieDurchdringung und Erhellung ihres Wesens.211 Das Karikieren stellt kurzum eine dermaßgeblichen Darstellungweisen im Rahmen von Lenz’ Poetik der Naturnachahmungdar, der es um ‚Wahrheit‘, nicht unbedingt jedoch um ‚Wahrscheinlichkeit‘ geht.212

So voraussetzungreich der Wechsel von typisierten zu karikierten Figuren poe-tologisch ist, so folgenreich ist er komödienpoetologisch: Durch diesen Übergang näm-lich werden die Voraussetzungen für die besondere Form der Verbindung von Komikund Ernst geschaffen, die das Hofmeister-Stück prägt – die Voraussetzungen also, für

207 Vgl. dazu insbes. Angela Hansen, Neuinterpretation, 40–44.208 HM, 154.209 Dass nicht unumstritten ist, ob Läuffer der Vater von Gustchens Kind ist, sei hier zumindest er-

wähnt, auch wenn von der Klärung der Vaterschaftsfrage im vorliegenden Zusammenhang nichtsabhängt, vgl. zu der Auseinandersetzung die Liste der Beiträge in Bernhard Greiner, Die Komödie,173, Fn. 60.

210 Lenz II, 675.211 S. dazu oben 2.2.1. Vgl. zum Zusammenhang zwischen dem Verfahren des Karikierens und dem

Projekt der Wesensschau auch Lenz 4, 152 und 5, 24. – Diesen Konnex verkennt Fritz Martini,wenn er insbesondere mit Blick auf die Form der Karikatur in Lenz’ Lustspielen feststellt: „Dieauthentische Abbildung der Gesellschaft erhielt dort ihre Grenze, wo die Personen der komischenoder tragischen Spielsituation unterzuordnen waren“ (Fritz Martini, „Die Einheit der Konzeption“,179).

212 Vgl. dazu vor allem Lenz’ Betrachtungen zu dem Drama Der tugendhafte Verbrecher, in denen eretwa notiert: „Die Geschichte ist wahr – sie war mir nicht wahrscheinlich“ (Lenz 10, 91).

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Komik und Erziehung: Lenz 203

das „Mischmasch von Kultur und Rohigkeit, Sittigkeit und Wildheit“213 der Lenz’schenLustspiele.

Lachhaftes und Ernsthaftes zum Zweiten: Komisches oder Groteskes

Die Darstellungsform der Karikatur ist in der Lenz-Forschung nicht unbemerkt geblie-ben, zumeist aber nicht als solche, sondern als ‚Groteske‘ eingestuft worden.214 Ein ent-sprechender Kategorisierungvorschlag ist grundsätzlich durchaus nachvollziehbar, kanner sich doch auf das in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vorherrschende Gro-teske-Verständnis berufen, wie es musterhaft in Mösers wirkungsmächtiger SchriftHarlekin oder Verteidigung des Groteske-Komischen von 1761 dargelegt wird. In die-sem gegen die Gottsched’sche Theaterreform gerichteten Pamphlet wird ein Zusam-menhang zwischen dem Grotesken als einer Sonderform des Komischen, den Aufgabender Literatur und dem Verfahren der Karikatur hergestellt, der zweifellos geeignet ist,einige Aspekte des Lenz’schen Hofmeister-Dramas zu erhellen:

Dasjenige, was man in der Malerei Karikatur nennt und welches in einer Übertreibung der Ge-stalten besteht, ist eigentlich die Art, wie ich die Sitten der Menschen schildere. So nun jeneGemälde ihre eignen Regeln und Vollkommenheiten haben, ebensogut sind auch meine Ge-mälde der Torheiten einer eigenen Vollkommenheit fähig, ja ich getraue mich zu behaupten,daß die Karikatur, insoweit sie die schöne Natur übertreibt, in ihrer Art unvollkommener alsdie meinige sei, weil der moralische Mensch geschickter dazu ist als der natürliche.215

Trotz der markanten Berührungspunkte zwischen Lenz’ Stück und Mösers Überlegun-gen ist es jedoch nicht sinnvoll, das Hofmeister-Lustspiel als groteske Komödie im hi-storischen Sinne zu rubrizieren. Mehr noch: Eine entsprechende Einordnung scheint ei-ne angemessene Rekonstruktion der Bauweise des Dramas sogar erheblich zu erschwe-ren – denn sie ignoriert die für die Anlage des Stücks grundlegende Unterscheidungzwischen komischen und unkomischen Karikaturen. Anders gesagt: Lenz’ Hofmeisterlebt gerade davon, dass sich in ihm nicht allein das Groteske nach dem Verständnis derZeitgenossen, sondern auch das Groteske nach den bestimmenden Begriffsklärungendes 20. Jahrhunderts finden lässt, also sowohl das Grotesk-Komische als auch das Gro-

213 Lenz 4, 155.214 Vgl. dazu grundlegend Wolfgang Kayser, Das Groteske in Malerei und Dichtung, Reinbek bei

Hamburg 1961 und beispielhaft – wenngleich oftmals in anderer Ausrichtung als Kayser – DieterLiewerscheidt, „J. M. R. Lenz Der neue Menoza, eine apokalyptische Farce“, in Wirkendes Wort33 (1983), 144–152, Bernhard Greiner, Die Komödie, 175f., Franz Lösel, „Melodrama und Gro-teske im dramatischen Werk von Reinhold Lenz“, in Studien zum Gesamtwerk, 202–213, Helga S.Madland, „Lenz, Aristophanes, Bachtin und ‚die verkehrte Welt‘“, in „Unaufhörlich Lenz gele-sen...“ Studien zu Leben und Werk von J. M. R. Lenz, hg. v. Inge Stephan u. Hans-Gerd Winter,Stuttgart 1994, 167–180, Geog-Michael Schulz, Lenz, oder Andrea Bartl, Die deutsche Komödie.

215 Justus Möser, Harlekin oder Verteidigung des Groteske-Komischen (1761), hg. u. mit einemNachwort v. Dieter Borchmeyer, Neckargemünd 2000, 23.

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tesk-Unkomische.216 Die Ausrichtung am historischen Konzept der Groteske birgt dar-um die Gefahr, die systematische Pointe des Dramas zu verfehlen – und das bedeutet,zu verkennen, wie bei Lenz der Ernst ins Lustspiel gelangt.

Karikaturen von Menschen, ihren Auffassungen, Verhaltensweisen oder Lebensbe-dingungen erzeugen offenkundig nicht immer komische Effekte – sie tun dies nur, so-fern sie sich als harmlos wahrnehmen lassen; andernfalls wirken sie erschreckend oderzumindest verunsichernd.217 Lenz beutet diesen Umstand in seinem Hofmeister-Dramamit einigem Geschick aus: Mitunter tut er dies, indem er Lachhaftes und Ernsthafteseinfach nebeneinander stellt; zumeist verfährt er aber so, dass er das eine in das andereumschlagen lässt – und damit zugleich den fließenden Übergang zwischen dem Harm-losen und dem Erschreckenden vor Augen führt. Zur Anschauung kommt Lenz’ eigen-willige Technik, ein ‚Mischmasch‘ aus Komik und Ernst herzustellen, auf unterschied-lichen Ebenen des Hofmeister-Dramas, vor allem in der Gestaltung des Figurenver-haltens und in der Anlage der Handlungsdramaturgie.218 Viele Beispiele für den Über-gang vom Komischen zum Grotesken finden sich etwa in den Repliken des Majors, einbesonders anschauliches schon in der vierten Szene des ersten Aktes, in der er denUnterricht seines Sohnes Leopold begutachtet:

So recht; so lieb’ ichs; hübsch fleißig – und wenn die Kanaille nicht behalten will, HerrLäuffer, so schlagen Sie ihm das Buch auf den Kopf, daß ers Aufstehen vergißt, oder wollt’ ichsagen, so dürfen Sie mirs nur klagen. Ich will Dir den Kopf zurecht setzen, Heyduk Du! Sehtda zieht er das Maul schon wieder. Bist empfindlich, wenn Dir Dein Vater was sagt? Wer sollDirs denn sagen? Du sollst mir anders werden, oder ich will Dich peitschen, daß Dir die Ein-geweide krachen sollen, Tuckmäuser! […] Den Kopf in die Höhe, Junge! (richtet ihn) TausendSakkerment den Kopf aus den Schultern! Oder ich zerbrech Dir Dein Rückenbein in tausend-millionen Stücken. […] Ich will Dich zu Tode hauen –219

Wie in dieser und ähnlichen Passagen das Lächerliche ins Bedrohliche und Beunruhi-gende umschlägt, so wandelt sich die Welt des Dramas spätestens nach dem zweitenAkt allmählich in einen Ort, an dem die Schwächen der Figuren nicht mehr folgenlosbleiben und mithin auch nicht mehr komisch erscheinen.220 An die Stelle harmloserÜbertreibungen von Charakterzügen treten nun zusehends massive Missachtungen vonMoralvorstellungen – von unehelichen Kindszeugungen über Gewaltausbrüche undSelbstkastrationen bis hin zu Mord- und Selbstmordversuchen.

Schaut man sich den Einsatz des Grotesken im Hofmeister genauer an, bemerkt manmithin ein wesentliches Merkmal, das Lenz’ Drama mit Lessings Minna von Barnhelmverbindet: Beide Komödien bringen die Grenzen des Komischen in den Blick, indem

216 S. zu dieser Differenzierung und einer Explikationsskizze zum Begriff des ‚Grotesken‘ oben 1.5.3.217 S. hierzu allgemein oben 1.4.1 und 1.4.3.218 Zu weiteren grundlegendenVerbindungsformen von Komik und Ernst im Lustspiel s. unten 2.3.2.219 HM, 15f.220 Zum Zusammenhang von Handlungsfolgen und Komik vgl. allgemein die Hinweise in Karlheinz

Stierle, „Komik der Handlung, Komik der Sprachhandlung, Komik der Komödie“, in Das Komi-sche, 237–268.

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Komik und Erziehung: Lenz 205

sie das komikbezogene Harmlosigkeitsgebot verletzen.221 Durch die Art und Weise, inder sie dies tun, unterscheiden sich das Lenz’sche und das Lessing’sche Lustspiel aller-dings grundlegend voneinander: In Minna von Barnhelm werden die Grenzen des Ko-mischen über die Evokation von Mitgefühl zur Anschauung gebracht, im Hofmeisterüber die Drastik der Geschehnisse und ihrer Schilderungen. Und dieser Verfahrensdif-ferenz entspricht ein markanter Unterschied in den Wirkungskonzeptionen der beidenLustspiele, auch wenn es ihnen im Allgemeinen gleichermaßen um die ethische Besse-rung der Theaterbesucher zu tun ist: Lessings Stück legt es darauf an, eine Reflexionder Praxis moralischen Urteilens anzuregen. Lenz’ Stück zielt demgegenüber auf eineEntlarvung der Defizite moralischer Zustände – es soll, um eine Formulierung ausMösers Pamphlet aufzugreifen, als „moralischer Hohlspiegel“222 dienen.

Um die Veranschaulichung genau dieser konzeptionellen Differenzen scheint esLenz in der oft erwähnten, aber selten erläuterten Szene im Hofmeister-Lustspiel zu ge-hen, in der sich eine intertextuelle Referenz auf Lessings Drama findet.223 Geschildertwird in der betreffenden Szene, wie der Student Bollwerk seine Kommilitonen Pätusund Fritz von Berg, den Neffen des Majors, zum Besuch der Aufführung einer Wander-truppe zu überreden versucht, die Minna von Barnhelm gibt; vorgeführt wird in ihr da-rüber hinaus allerdings noch etwas anderes – nämlich, dass dem Ernst der gesellschaft-lichen Verhältnisse weder die Inszenierung des Lächerlichen noch der Appell an dasMitleid gewachsen ist, sondern einzig die Schonungslosigkeit der Groteske:

BOLLWERK […] – Berg, kommen Sie mit in die Komödie?FRITZ (zerstreut) Was? – Was für Komödie?BOLLWERK Es ist eine Gesellschaft angekommen. – Legen Sie die Schmieralien weg. Sie

können ja auf den Abend schreiben. Man giebt heute Minna von Barnhelm.FRITZ O die muß ich sehen. – – (steckt seine Briefe zu sich)FRITZ Armer Pätus, daß Du keinen Rock hast. –BOLLWERK Ich lieh ihm gern einen, aber es ist hol mich der Teufel mein einziger, den ich

auf dem Leib habe – (gehen ab)PÄTUS (allein) Geht zum Teufel mit Eurem Mitleiden! Das ärgert mich mehr als wenn

man mir ins Gesicht schlüge – – Ey was mach ich mir draus (zieht seinenSchlafrock aus) Laß die Leute mich für wahnsinnig halten! Minna von Barn-helm muß ich sehen und wenn ich nackend hingehen sollte! (zieht den Wolfs-pelz an)224

221 Zu Lessings Minna von Barnhelm s. oben 2.1.2.222 Justus Möser, Harlekin, 25f.223 Vgl. zu den zumeist ausgesprochen uninformativen Hinweisen auf den betreffenden Abschnitt

exemplarisch Andrea Bartl, Die deutsche Komödie, 101.224 HM, 54. Hervorhebung von mir, T. K. – Zu einer plausiblen Interpretation des Nachspiels der

Szene vgl. Christian Neuhuber, Das Lustspiel macht Ernst, 126, Fn. 288.

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Zur deutschen Komödie im 18. Jahrhundert206

Lachhaftes und Ernsthaftes zum Dritten: Tragisches und Ironisches

Lenz nutzt das Komische in seiner Hofmeister-Komödie offenbar ganz im Sinne seinerKomödientheorie: Es erfüllt im Rahmen des Stücks wesentlich die Aufgabe, zu gewähr-leisten, dass es unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen wirklich ‚für je-dermann‘ und also tatsächlich ein Lustspiel ist, dass es auch dem ‚gemeinen Mann‘ die‚Häßlichkeit seiner Regungen des Lasters‘ anschaulich macht, dass es also neben den‚glänzenden‘ auch die ‚niedrigen Stände‘ zu erreichen und damit zugleich zu erziehenvermag.225 Wie für Gottsched oder Lessing hat also auch für Lenz die Komiknutzungim Lustspiel dem Projekt der theatralischen Moralisierung der Nation zu dienen;226 an-ders als jene geht er dabei freilich von der Heterogenität des Publikums und das heißtvon der Pluralität der Methoden aus, die zu dessen Besserung in Anschlag zu bringensind – Lenz ist mit Möser überzeugt, dass „die Dorfgemeinde von eben dem Rednereingeschläfert“ wird, „der die Hofkapelle entzückt“.227 Die Auswirkungen dieser Über-zeugung für den Einsatz des Komischen im Hofmeister-Stück sind groß: Ist Komik beiGottsched und Lessing noch der Weg zur Besserung des Rezipienten, so ist sie bei Lenzim Wesentlichen nur noch der Köder, um einen Teil des Publikums auf jenen Weg zulocken, auf dem es freilich nicht mehr viel zu lachen gibt.

Damit mag die wesentliche Aufgabe des Komischen im Hofmeister benannt sein –ein Blick auf den Schluss des Stücks zeigt freilich schnell, dass es nicht die einzige ist,ja, dass Lenz durch das Finale seines Lustspiels in bemerkenswerter Weise über seineTheorie des Lustspiels hinausgeht. Das Drama endet nicht mit der oben skizzierten Auf-lösung der Komödienwelt, sondern vielmehr mit deren ironischer Wiederherstellung:Durch eine bemerkenswerte Verkettung von Zufällen tritt an die Stelle der umfassendenEntzweiung im Hofmeister schließlich eine allgemeine Versöhnung, die auf eine Drei-fachhochzeit hinausläuft.228 Die Ironie und damit Komik der Schlusswendung ist keine,die auf eine wie auch immer vermittelte Erziehung der ‚Rohen‘ und ‚Wilden‘ zielt –

225 S. zu den Nachweisen für die Passagen in einfachen Anführungszeichen oben 2.2.1.226 S. dazu oben 2.1.227 Justus Möser, Harlekin, 23.228 Vgl. zur Ironie des Hofmeister-Endes etwa Karl Eibl, „,Realismus‘ als Widerlegung“, Claudia Al-

bert, „Verzeihungen, Heiraten, Lotterien. Der Schluß des Lenzschen Hofmeisters“, in WirkendesWort 39 (1989), 63–71, Dieter Arendt, „J. M. R. Lenz: Der Hofmeister oder der kastrierte ‚päda-gogische Bezug‘“, in Lenz-Jahrbuch 2 (1992), 42–77, Georg-Michael Schulz, „Das Lust- undTrauerspiel“ oder Die Dramaturgie des doppelten Schlusses. Zu einigen Dramen am Ende des 18.Jahrhunderts“, in Lessing Yearbook 23 (1991), 111–126, Andrea Bartl, Die deutsche Komödie , 99oder Christoph Jürgensen/Ingo Irsigler, Sturm und Drang, 92.

Lenz geht es bei der Gestaltung des Lustspielendes vielmehr um die Besserung der‚Kultivierten‘ und ‚Sittigen‘. Genauer gesagt führt er durch den Schluss des Hofmeister-Stücks vor, wie sich der ‚gebildete Mann‘ erheitern und auf diese Weise entlasten lässt,ohne dass der ‚gemeine Mann‘ hierdurch gefährdet wird. Die Idee zu einer entspre-

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chenden Nutzung des Komischen hat Lenz in einer 1777 entstandenen Skizze „Abgeris-senen Beobachtungen über die launigen Dichter“ umrissen:

Es gibt Augenblicke, in denen durch Überladung von Geschäften die Lebensgeister ausge-trocknet sind; dieses sind die günstigen Augenblicke für den komischen Dichter. Die Welt inall ihren Torheiten, ihrer wahren Natur und Gestalt nach, ohne Schmuck und Verschönerung,zu durchschauen und zu belachen, rächet uns auf die unschuldigste Art an den Beschwerden,die sie uns verursachet, und zerstreuet alle aufsteigenden Dämpfe von Schwermut und Men-schenfeindlichkeit. Man merke aber wohl, daß nur der Starke Schwache belachen darf; derSchwache läuft Gefahr, unterwegs angesteckt zu werden.

Dichter dürfen das, was seiner Natur nach reizend ist, nicht häßlich darstellen, können esnicht: Doch können sie dafür sorgen, daß die, so sich ihnen überlassen, nicht Hals und Beinbrechen.229

Als ein Versuch, diese Ideen umzusetzen, zeigt der Schluss der Hofmeister-Komödiean, dass sich das Komische in Lenz’ Lustspielen, auch wenn es stetig durch die Auf-lösung ins Groteske bedroht ist, im Satirischen zu behaupten vermag.230

2.3 Komische Effekte:Zur Komik in Kotzebues Die Indianer in England

Wenn der Erfolg von Theaterstücken ausschlaggebend für ihre Beachtung in der Litera-turgeschichtsschreibung wäre, dann käme den dramatischen Werken August von Kotze-bues ein fester Platz in literarhistorischen Darstellungen über die Goethezeit zu. Kotze-bue war vom ausgehenden 18. bis weit ins 19. Jahrhundert der meist gespielte deutsch-sprachige Dramatiker; für die Jahre 1795 bis 1825 waren seine Stücke gar „mit etwa25% am Repertoire der deutschen Bühnen beteiligt“.231 Doch auch in fast allen andereneuropäischen Ländern erfreuten sich seine Dramen großer Beliebtheit, ob Schweden,Portugal, Frankreich, England oder Russland – Kotzebues Werke lagen übersetzt vor

229 Lenz II, 769.230 Vgl. zur Satirekomik im Sturm und Drang Wolfgang Stellmacher, „Die Neuentdeckung des Komi-

schen in der Dramatik des Sturm und Drang“, in Ansichten der deutschen Klassik, hg. v. HelmutBrandt u. Manfred Beyer, Berlin/Weimar 1981, 45–73.

231 Benno von Wiese, „Einführung“, in August von Kotzebue, Schauspiele, hg. v. Jürg Mathes,Frankfurt a.M. 1972, 7–39, 7. Vgl. zu Kotzebues Erfolg ferner Hans Schumacher, „Materialienzum Verständnis des Textes“, in August von Kotzebue, Die deutschen Kleinstädter, hg. v. E. S.,Berlin 1964, 84–110, 86f., Simone Winko, „ Negativkanonisierung: August v. Kotzebue in der Li-teraturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts“, in KANON MACHT KULTUR. Theoretische,historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildungen, hg. v. Renate von Heydebrand,Stuttgart/Weimar 1998, 341–364, 345f. und Jörg F. Meyer, Verehrt. Verdammt. Vergessen. Augustvon Kotzebue – Werk und Wirkung, Frankfurt a.M. u.a. 2005, 9–11.

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Zur deutschen Komödie im 18. Jahrhundert208

und wurden vielfach aufgeführt.232 Nun ist Erfolg bekanntlich kein Grund für die Wür-digung oder auch nur Berücksichtigung eines Autors im Rahmen von Literaturgeschich-ten – und dass dies so ist, zeigt sich nicht zuletzt im Umgang der Philologie mit Kotze-bue und seinen Werken. Das Kotzebue’sche Œuvre hat seit seiner Entstehung nichtallein keinen Platz im Kanon der deutschen Literatur erlangt; seine wissenschaftlicheRezeption im 19. Jahrhundert liefert geradezu ein Musterbeispiel für einen Prozess, denSimone Winko als „Negativkanonisierung“ bezeichnet hat, für die „Bildung und Be-wahrung negativer Muster, den Gegenbildern des Kanonischen“.233

Die Gründe dafür, dass Kotzebue und seine Dramen in der Literaturwissenschaftlange Zeit gering geschätzt und folglich vernachlässigt wurden, sind vielfältig. Sie rei-chen, wie schon verschiedentlich herausgearbeitet worden ist, vom Zweifel provozie-renden großen Erfolg der Dramen234 über Kotzebues gespannte Beziehungen zu Zeitge-nossen wie Goethe oder den Vertretern der Frühromantik235 bis zum Seichtheit sug-gerierenden bemerkenswerten Umfang des Œuvres.236 Im vorliegenden Kontext wird esallerdings nicht darum gehen, den verschiedenen Gründen für Kotzebues fragwürdigenRuf im Kreis der Philologen nachzugehen; es soll vielmehr der Versuch unternommenwerden, den noch immer erkennbaren Folgen seiner schlechten Reputation ein wenigentgegenzuarbeiten.237 In dieser Absicht wird in den folgenden Kapiteln ein zentralerAspekt des Werks in exemplarischer Form untersucht werden, der trotz seiner offen-kundigen Bedeutung bislang auf bemerkenswert wenig Interesse von Seiten der Lite-raturwissenschaft gestoßen ist – Kotzebues Konzeption der Komödie und die Rolle, diedas Komische innerhalb dieser Konzeption spielt.238 Dass dieser Aspekt vor den 1970er

232 Vgl. insbes. Doris Maurer, August von Kotzebue. Ursachen seines Erfolges, konstante Elementeder unterhaltenden Dramatik, Bonn 1979, 239–248.

233 Vgl. hierzu Simone Winko, „Negativkanonisierung“, 343.234 Eine rezente Bilanz findet sich in Jörg F. Meyer, Verehrt. Verdammt, Kap. 1 und 7.235 Vgl. etwa Frithjof Stock, Kotzebue im literarischen Leben der Goethezeit. Polemik – Kritik – Pu-

blikum, Düsseldorf 1971.236 Von Wiese fasst zusammen, man sei „beim philologischen Nachrechnen“ allein der Theatertexte

Koetzebues auf „bis zu 230 Stücken gekommen“ (Benno von Wiese, „Einführung“, 10). DieseZahl scheint sogar im Vergleich mit den verschiedenen anderen viel schreibenden Theaterautorender Zeit erstaunlich, vgl. Johannes Birgfeld/Claude D. Conter, „Das Unterhaltungsstück um 1800.Funktionsgeschichtliche und gattungstheoretische Vorüberlegungen“, in Das Unterhaltungsstückum 1800. Literaturhistorische Konfigurationen – Signaturen der Moderne, hg. v. J. B. u. C. D. C.,Hannover 2007, VII–XXIV, IX.

237 Schaut man sich den gegenwärtigen Stand der Kotzebue-Forschung näher an, ist man doch einwenig erstaunt, in Gustav Sichelschmidts mittlerweile vier Jahrzehnte alter Geschichte der deut-schen Unterhaltungsliteratur die folgende Einschätzung zu lesen: „Heute ist die Leistung des Dra-matikers Kotzebue […] längst wieder aufgewertet“ (G. S., Liebe, Mord und Abenteuer. Eine Ge-schichte der deutschen Unterhaltungsliteratur, Berlin 1969, 115).

238 Als beobachtungsreiche Ausnahme sind Ernst Jaeckhs freilich nicht sehr systematische Studien zuKotzebue’s Lustspieltechnik (Stuttgart 1901) hervorzuheben. Oscar Mandels Untersuchung Augustvon Kotzebue: The Comedy, the Man (University Park/London 1990) hilft in den hier interessie-renden Fragen nicht weiter, obgleich sie sich dezidiert auf Kotzebue als Lustspielautor konzent-

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Komische Effekte: Kotzebue 209

Jahren keine Beachtung gefunden hat, erscheint angesichts der allgemeinen philologi-schen Vernachlässigung des Kotzebue’schen Œuvres verständlich. Er ist jedoch auchim Rahmen verschiedener Untersuchungen nur ungenügend in den Blick genommenworden, die sich seither um die Wiederentdeckung von Kotzebues Werk bemüht haben.

Bei einem Teil der betreffenden Arbeiten gründet dies darin, dass sie erkennbar imKontext der Bemühungen um eine Erweiterung des Literaturbegriffs entstanden sind.239

In ihnen werden Kotzebues Werk und dessen Wirkung vor allem untersucht, um Auf-schlüsse über bestimmte Varianten und Aspekte der literarischen Kommunikation zugewinnen, die in der traditionellen Literaturwissenschaft zumeist unbeachtet bleiben.Umgekehrt heißt dies freilich auch, dass sie auf genaue Textbetrachtungen in der Regelzugunsten von Einlassungen zur Sozial- und Kulturgeschichte verzichten. Die fragli-chen Untersuchungen legen es mit anderen Worten nicht auf eine Diskussion oder garKorrektur der hergebrachten Einordnung Kotzebues an; sie suchen vielmehr zu verdeut-lichen, dass er für die Literaturwissenschaft von Interesse sein könne, obgleich er einAutor bloßer ‚Unterhaltungsliteratur‘ sei – Benno von Wiese schließt seine Einführungin eine Edition Kotzebue’scher Komödien in diesem Sinne mit der Bemerkung: „Kotze-bue war gewiß kein Dichter von Rang, aber er war und bleibt ein Theaterpraktiker vonFormat“.240 Neben Arbeiten, die von Thesen wie dieser ausgehen, sind zumindest inden letzten Jahren einige Studie vorgelegt worden, die versuchen, Kotzebues litera-rische Texte differenzierter in den Blick zu nehmen.241 Dass freilich auch diese Unter-suchungen seiner Idee der Komödie und seiner Nutzung des Komischen keine beson-dere Beachtung schenken, liegt im Wesentlichen daran, dass es ihnen stets auch um dieVerteidigung Kotzebues gegen seine Kritiker zu tun ist. Sie versuchen mit anderenWorten nachzuweisen, dass es sich bei Kotzebue um einen ‚ernstzunehmendenSchriftsteller‘ handelt, und sie sehen für die Zwecke eines solchen Projekts in der Ver-deutlichung der ‚sozialreflexiven Dimension‘ seiner Werke ein überzeugenderes Argu-ment als in der Würdigung ihrer komischen Aspekte.242

riert. Einige hilfreiche Hinweise zur Nutzung des Komischen bei Kotzebue finden sich in StephanKraft, „Identifikatorisches Verlachen – distanziertes Mitlachen. Tendenzen der populären Komö-die um 1800 (Iffland – Schröder – Kotzebue – von Steigentesch – von Voß)“, in Das Unterhal-tungsstück um 1800, 208–229.

239 In diesem Zusammenhang sind neben Jürg Mathes Edition einiger Kotzebue’scher Schauspiele miteiner umfangreichen Einführung Benno von Wieses vor allem die Untersuchungen von DorisMaurer und Markus Krause zu sehen, vgl. D. M., Kotzebue und M. K., Das Trivialdrama derGoethezeit. 1780–1805. Produktion und Rezeption, Bonn 1982. – Vgl. zur Erweiterung des Litera-turkonzepts den Rückblick in Simone Winko/Fotis Jannidis/Gerhard Lauer, „Geschichte und Em-phase. Zur Theorie und Praxis des erweiterten Literaturbegriffs“, in Was ist Literatur? BasistexteLiteraturtheorie, hg. v. Jürn Gottschalk u. Tilmann Köppe, Paderborn 2006, 123–154.

240 Benno von Wiese, „Einführung“, 39.241 Vgl. dazu – mit Hinweisen auf weitere Literatur – Jörg F. Meyer, Verehrt. Verdammt.242 In diesem Sinne betont etwa Jörg F. Meyer, dass „gesellschaftliche Spannungen in den Kotzebue-

schen Stücken nicht ausklammert, sondern entgegen allen politischen und moralischen Forderun-gen der damaligen Gesellschaft thematisiert“ (ebd., 197) werden.

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Zur deutschen Komödie im 18. Jahrhundert210

In den folgenden Kapiteln wird nun genau dies im Zentrum stehen. Durch die Be-trachtung des Komischen in den Lustspielen Kotzebues soll auch, aber natürlich nichtallein dazu beigetragen werden, eine erstaunliche Lücke der Kotzebue-Forschung zuschließen. Dass hier neben Werken der ‚Höhenkammliteratur‘ auch eines der sogenann-

ten ‚Unterhaltungsliteratur‘ der Zeit untersucht wird, dient vor allem dem Zweck, einenzumindest beispielhaften Eindruck von den Tendenzen zu gewinnen, die das Lust-spielschaffen und die Spielpläne der Theater in den Jahren um 1800 wesentlich stärkerund nachhaltiger geprägt haben, als die Positionen Lessings oder die der WeimarerKlassiker.243 Auch die Auseinandersetzung mit dem Komischen bei Kotzebue ist imWesentlichen in zwei Abschnitte untergliedert: In einem ersten Teil wird es darum ge-

hen, die theoretischen Ideen zu Theater, Komödie und Komik zu rekonstruieren, die erbegleitend zu seinem Lustspielschaffen entwickelt hat; Bezugstexte werden dabei vorallem die umfangreichen Entgegnungen sein, die Kotzebue aus Anlass verschiedener –nicht selten vernichtender – Kritikerurteile verfasste. Ein zweiter Abschnitt wird dieAusrichtung und Anlage seiner Komödien anhand seines Lustspiels Die Indianer inEngland erörtern. Bei dem Drama, dem ersten Lustspiel Kotzebues, handelt es sich umein Werk, dessen Bauweise für eine große Gruppe seiner Stücke formbildend werdensollte; die Ergebnisse, die sich am Beispiel des Textes gewinnen lassen, können darumohne Weiteres auf die anderen Komödien des Korpus übertragen werden.244

2.3.1 Konzeptionelles: Recensenten-Unfug und andere Schriften

Dass Kotzebue keine Theorie des Lustspiels oder einer seiner Untergattungen vorgelegthat, unterscheidet ihn nicht von den meisten Komödienautoren des ausgehenden 18.und beginnenden 19. Jahrhunderts.245 In seinem Fall wurde dieser Umstand freilichlange grundlegend anders eingestuft als im Fall seiner Zeitgenossen, nämlich als Indizfür ein Theaterverständnis, das mit demjenigen Lessings, Goethes oder Schillers keiner-lei Berührungspunkte aufweist. Das Fehlen eingehenderer dramentheoretischer Refle-xionen galt als weiterer Beleg für die Angemessenheit einer Rubrizierung Kotzebues alsVertreter einer reinen ‚Effekt-Dramaturgie‘, für die eine systematische Fundierung ent-

243 Vgl. dazu ideologiekritisch Horst Albert Glaser, Das bürgerliche Rührstück. Analekten zum Zu-

sammenhang von Sentimentalität mit Autorität in der trivialen Dramatik Schröders, Kotzebuesund anderer Autoren am Ende des 18. Jahrhundert, Stuttgart 1969, sozialhistorisch Markus Krau-se, Das Trivialdrama sowie aspektbezogen die Artikel in Johannes Birgfeld/Claude D. Conter(Hg.), Das Unterhaltungsstück um 1800.

244 Vgl. zu dieser Gruppe von Kotzebue-Stücken Doris Maurer, Kotzebue, 107–147 oder Armin Geb-hardt, August von Koetzebue. Theatergenie zur Goethezeit, Marburg 2003, Kap. V und VI.

245 Natürlich auch nicht von der Mehrzahl der Lustspieldichter im 20. Jahrhundert, vgl. zu einemÜberblick Ulrich Profitlich (Hg.), Komödientheorie.

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Komische Effekte: Kotzebue 211

behrlich sei.246 Über die Leitideen des Kotzebue’schen Schaffens für die Bühne schienvon Wiese 1972 in einem Satz alles Wesentliche gesagt zu haben: „Sein Theater wolltenur unterhalten, und darum blieb der Beifall des Publikums für ihn der alleinige Maß-stab.“247

Diese Sichtweise greift zwar entschieden zu kurz, es ist aber kein Zufall, dass siesich seit rund zwei Jahrhunderten großer Beliebtheit erfreut – denn Kotzebue hat ihrdurch eine Reihe leicht misszuverstehender Bemerkungen selbst Vorschub geleistet. Zudiesen Bemerkungen sind insbesondere die häufigen skeptischen Einwände zu rechnen,in denen er den Optimismus der Aufklärung sowie dessen Ausprägungen in Drama undDramentheorie problematisiert:

Das Menschengeschlecht bleibt immer dasselbe, sein sogenanntes Fortschreiten ist eine Chi-märe, ist sogar eine gottlose Einbildung, denn der Mensch ist nicht auf der Welt, um hierschon vollkommen zu werden. Die Menschennatur bleibt immer dieselbe. Was vor fünfzig undfünfhundert Jahren die Menschen beglückte, kann und wird sie auch jetzt beglücken: Liebeund Gerechtigkeit.248

Auf einer Linie mit Überlegungen dieser Art liegen verschiedene pessimistische Urteileüber die Wirkungsmöglichkeiten der Bühne in moralischer Hinsicht. Gegenüber demGrafen Brühl etwa zeigte sich Kotzebue 1815 gewiss, dass kein Theaterautor sein Pub-likum wird „jemals höher hinaufziehen“ können:

Was hat nicht Goethe versucht! Und wie klein ist in Weimar dasjenige Publikum, welches sichin solchen Vorstellungen nicht gelangweilt hat! […] Sobald ein Schauspiel den Geist mehr be-schäftigt als die Einbildungskraft, so wird es nimmermehr ein großes Publikum haben. DasPublikum nach und nach erziehen, hieße also mit anderen Worten bewirken, daß es die Ver-gnügungen der Einbildungskraft den Vergnügungen des Geistes unterordnete, und das kannGott selbst nicht, so wie er die Menschen nun einmal geschaffen hat.249

Entsprechende Bemerkungen könnten den Schluss nahe legen, Kotzebue habe im Hin-blick auf die Literatur und das Theater mit einer Überzeugung gebrochen, die für diedeutschsprachigen Schriftsteller des gesamten 18. Jahrhunderts eigentlich unumstößlichwar – mit der sakrosankten Überzeugung, dass die Bühne in Lessings Worten ‚die

246 Die vielfach aufgegriffene Wendung ‚Effekt-Dramaturgie‘ findet sich erstmals bei Christoph Köh-ler, Effekt-Dramaturgie in den Theaterstücken August von Kotzebues. Eine theaterwissenschaftli-che Untersuchung, Berlin 1955. – Der Vorwurf, in seinen Dramen gehe es einzig um ‚Effekte‘, istallerdings schon bei seinen Zeitgenossen zu finden, s. dazu unten.

247 Benno von Wiese, „Einführung“, 9. Doris Maurer liefert eine eingehende Betrachtung der Kotze-bue’schen Theatertheorie, gelangt am Ende aber zum gleichen Resultat wie von Wiese, vgl. DorisMaurer, Kotzebue, 35–49.

248 Zitiert nach Karl-Heinz Klingenberg, Iffland und Kotzebue als Dramatiker, Weimar 1962, 85.Vgl. auch August von Kotzebue, Fragmente über Recensenten-Unfug. Eine Beylage zu der JenaerLiteraturzeitung, Leipzig 1797, 135. Fortan „RU“.

249 August von Kotzebue an den Grafen Karl von Bühl, 15.10.1815, in Curt Müller (Hg.), IfflandsBriefwechsel mit Schiller, Goethe, Kleist, Tieck und anderen Dramatikern, Leipzig 1910, 246f.Hervorhebungen im Original.

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Zur deutschen Komödie im 18. Jahrhundert212

Schule der moralischen Welt‘250 zu sein habe. Wertet man Kotzebues theoretische, pro-grammatische und apologetische Texte indes etwas genauer aus, stellt man fest, dassder umrissene Bruch mit der traditionellen Dramenpoetik von ihm nicht einmal erwo-gen, geschweige denn vollzogen wird. Ebenso häufig wie die Forderung, zu unterhal-ten, lässt sich in seinen Reflexionen zum Theater die Zielvorgabe finden, zu belehren –ganz im Sinne der Aufklärung von Gottsched bis zu Lessing hält Kotzebue in seinenSchriften an der Horaz’schen Idee des delectare et prodesse fest.251 Musterhaft kommtdies vor allem in den zahlreichen Stellungnahmen zum Ausdruck, in denen er der Kritikentgegen tritt, seine Stücke würden zum Niedergang der Sitten beitragen.252 So schreibter etwa in seiner umfangreichen Antikritik Fragmente über Recensenten-Unfug von1797:

Wenn man mich überzeugen könnte, daß auch nur ein einziges meines Schauspiele, [!] auchnur eine einzige sittliche Tugend herabwürdige; so würde ich aus allen meinen dramatischenWerken einen Scheiterhaufen machen. […] Was kann man von einer sittlich dichterischenDarstellung mehr verlangen, als daß sie das Laster verhüte, und, wo es bereits aufkeimte, imKeim ersticke.253

In einem Brief an seine Mutter aus demselben Jahr vergleicht Kotzebue seine Arbeit alsSchriftsteller gar mit der eines „Volckslehrer[s]“, der „durch moralische Darstellungen[…] nicht allein auf das deutsche Publicum, sondern […] auf das Publicum von ganzEuropa“ einwirke.254 Gleichwohl sieht er sich auch zwei Jahrzehnte später noch ge-zwungen, gegen die hartnäckig wiederholte These vorzugehen, seinen Stücken fehle esan Moral; in seinen 1817 erschienenen „Betrachtungen über mich selbst bei Gelegen-heit zweier Recensionen in der jenaischen Literatturzeitung“ merkt er an:

Der einzige Vorwurf, der mich würklich schmerzt, den jeder Lump zu Markte bringt und biszum Ekel wiederholt, wenn er mir nicht auf andere Weise schaden zu können vermeint, ist der:daß meine Schriften unsittlich seyen. Gott sey dank! ich nähre die innigste Überzeugung, diekeine Recension mir jemals erschüttern wird, daß Niemand auf der Welt aus irgend Einemmeiner Schauspiele die Vertheidigung einer unsittlichen Handlung schöpfen kann; daß viel-mehr die meisten derselben darauf abzwecken, irgend eine Tugend einzuprägen.255

An der Rede vom ‚Einprägen einer Tugend‘ lässt sich bereits ablesen, dass KotzebuesIdeen einer moralischen Orientierung durch das Theater nicht ganz mit denjenigen zur

250 S. dazu oben 2.1.1.251 Hier ist Arntzens Einlassungen zu Kotzebue entschieden zu widersprechen, vgl. Helmut Arntzen,

Die ernste Komödie, 169.252 Vgl. zu dieser Auseinandersetzung im Einzelnen Frithjof Stock, Kotzebue, Kap. V sowie Markus

Krause, Das Trivialdrama, 137–145 und 292–312.253 RU, 27f.254 Jürg Mathes, „Kotzebues Briefe an seine Mutter“, in Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts

(1970), 304–436, 409f. (19.3.1797).255 August von Kotzebue, „Betrachtungen über mich selbst bei Gelegenheit zweier Recensionen in

der jenaischen Literatturzeitung“ (1817), in A. v. K., Aus August von Kotzebue’s hinterlassenenPapieren, hg. v. Paul Gotthelf Kummer, Leipzig 1821, 3–64, 10. Fortan „BS“.

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Komische Effekte: Kotzebue 213

Deckung kommen, die Lessing in der Hamburgischen Dramaturgie oder Minna vonBarnhelm entwickelt256 – grundsätzlich jedoch hebt sich seine Position in der betref-fenden Frage nicht von der Auffassung ab, die spätestens seit Gottscheds CritischerDichtkunst bestimmend ist.257 Dass Kotzebue, wie gesehen, immer wieder Zweifel anallzu großen Hoffnungen in das Moralisierungspotenzial des Dramas äußert, steht hier-zu keineswegs im Widerspruch – denn die entsprechenden Stellungnahmen richten sichnicht gegen ein Verständnis des Theaters als Erziehungsanstalt, sondern gegen einigeVarianten dieser Auffassung; ihnen liegt, anders ausgedrückt, die Überlegung zugrun-de, dass derjenige, der die Bühne nutzen will, um zu unterhalten und zu belehren, derspezifischen Kommunikationssituation des Theaters Rechnung tragen sollte. Konkretgibt es für Kotzebue vor allem zwei Dinge, die Theaterautoren mit entsprechendenWirkungsabsichten zu berücksichtigen haben – zum einen, dass Dramen nicht gelesen,sondern gesehen werden, und zum anderen, dass sie von einem ausgesprochen hetero-genen Publikum gesehen werden. In seinen Fragmenten… schreibt er hierzu:

Man werfe doch einen Blick auf die Zuschauer: hier ein Geschäftsmann, der Erholung, dort ei-ne Dame, die Zerstreuung sucht; hier ein guter Bürger mit träger Fassungskraft, dort ein flüch-tiger Jüngling, dessen Aufmerksamkeit schwer zu fesseln ist; hier ein Hofmann, der ein paarStunden tödten will, dort ein Mädgen, zu dessen Kopfe der Weg nur durch das Herz führtu.s.w. Welcher von Allen, ich bitte euch, wird […] dem Verfasser dasjenige in einer Minutenachdenken, wozu Jener vielleicht eine Stunde brauchte, es hervorzubringen? – Man will un-terhalten und belehrt seyn, aber ohne große Anstrengung, und nur unter der Bedingung, daß esunmerklich geschehen erlaubt man dem Volksdichter, auch die Köpfe seiner Zuhörer in Thä-tigkeit zu setzen. Sie dürfen gleichsam nicht gewahr werden, daß sie denken.258

So eingehend Kotzebues Überlegungen zu den besonderen Kommunikationsbedingun-gen von Theaterstücken vielfach sind, so umrisshaft bleiben die meisten seiner Versu-che, aus ihnen Folgerungen abzuleiten, die für das Dramenschaffen als Leitlinien die-nen könnten. In der Regel begnügt er sich in seinen theoretischen Texten mit dem kaumweiter ausgeführten Hinweis, dass für gelungene Dramen nicht der Appell an den‚Geist‘, sondern die Mobilisierung der ‚Einbildungskraft‘ grundlegend sei.259 Was diesgenau bedeutet, wie es einem Bühnenstück also gelingen kann, sowohl Amüsement alsauch moralische Orientierung zu bieten, das wird von Kotzebue eher modellhaft veran-

256 S. dazu oben 2.1.1 und insbes. 2.1.2 Theorie und Praxis zum Dritten: Komik und Moral.257 Vgl. dazu bereits Horst Steinmetz, Die Komödie der Aufklärung, 31f.258 RU, 69f. Vgl. zum Zusammenhang auch ebd. 71: „[M]an mache einen Unterschied zwischen

Schauspielen für die Bühne, und Schauspielen für die Lektüre; man gestehe diesen höhere ideali-stische Schönheit, und jenen natürliche Anmut zu; […] man fodere [!] daher nicht von lezteren [!],daß sie allen Ansprüchen der Kritik ein Genüge leisten sollen, und man erwarte nicht von den Ers-teren, daß ein gemischtes Publikum sie mit allgemeinem Beyfall aufnehmen werde.“

259 Beide Begriffe werden von Kotzebue offenkundig umgangssprachlich genutzt, also nicht in spezi-fisch terminologischer Weise, etwa in einem kantischen oder vorkantischen Sinne, vgl. dazu zumBeispiel August von Kotzebue, „Betrachtungen über mich selbst“, 30f. und 43 oder August vonKotzebue’s ausgewählte prosaische Schriften, Bd. 36, Wien 1843, 74 und 284–287.

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Zur deutschen Komödie im 18. Jahrhundert214

schaulicht als systematisch ausgelotet. Zumeist bedient er sich dazu einer um 1800 rechtverbreiteten Analogie,260 er vergleicht seine Dramen mit Predigten und seine Rolle alsDramatiker mit derjenigen eines Predigers in der Kirche:

Ein Dichter, wird man mir einwenden, muß sein Publikum zu sich hinaufziehen. Das mag vonmancher Gattung gelten, aber wahrlich nicht vom Schauspiel. Eine zweckmäßige Predigt mußfaßlich seyn für Jedermann, so auch ein zweckmäßiges Schauspiel, das so nahe mit der Predigtverwandt ist.261

Die zitierte Passage ist nicht allein instruktiv im Hinblick auf Kotzebues Vorstellungenvon den potenziellen moralischen Wirkungen des Theaters; sie enthält, so lässt sichohne Übertreibung sagen, die Quintessenz seiner Überlegungen zum Drama überhaupt.Sofern ein Stück wirken und das heißt eben unterhalten und belehren soll, muss es Kot-zebue zufolge nach dem Modell einer gelungenen Kirchenansprache gebaut sein. Damitist nicht gemeint, dass Dramen bündige didaktische Botschaften zu transportieren ha-ben; Kotzebue bringt die Predigt als Modellfall ins Spiel, um zu verdeutlichen, worinnach seiner Einschätzung die grundlegende Gelingensbedingung von Theaterstückenbesteht, in ihrer ‚Allgemeinverständlichkeit‘ oder – mit seinen Worten – in ihrer ‚Fass-lichkeit‘. Allgemeinverständlich im Sinne Kotzebues wird ein Drama zweifellos auchdadurch, dass es sich vor allem auf Wissensbestände bezieht, die zu einer gegebenenZeit als weithin bekannt gelten können. Ausschlaggebend für die Fasslichkeit einesStücks ist ihm zufolge aber etwas anderes, und zwar, dass es nicht bloß ‚Gedanken‘,sondern ‚Bilder‘ vermittelt262 und so mit der Vorstellungskraft der Zuschauer ein geisti-ges Vermögen anspricht, über das nach seiner Überzeugung alle Menschen in gleichemMaße verfügen: „[D]ie Menschen besitzen seit Adam immer dieselbe Einbildungs-kraft“, und dieser nun verdanken „Lust- und Schauspiele [...] ihr eigentliches Leben“.263

260 Vgl. hierzu Markus Krause, Das Trivialdrama, 136f.261 RU, 68. – Vgl. hierzu auch den Schluss von Kotzebues Bemerkungen gegenüber seiner Mutter in

dem oben bereits angeführten Brief: „Ich würcke durch moralische Darstellungen […] auf das Pu-blicum in ganz Europa. Welcher Prediger kann sich dessen rühmen? u[nd] welcher Beruf ist schö-ner?“ (Jürg Mathes, „Kotzebues Briefe an seine Mutter“, 410 [19.3.1797]). Und im Vorberichtzum Wiederabdruck des Schauspiels Das Kind der Liebe im Rahmen einer Werkausgabe führt erin diesem Sinne etwa aus, dass „in dem dicksten Bande Predigten nicht mehr Moral enthalten ist,als in meinen Schauspielen, die überdies nicht so langweilig sind als jene“ (August von Kotzebue,„Vorbericht zu Das Kind der Liebe“ [1810], in A. v. K., Theater, 40 Bde., Leipzig/Wien 1840–1841, Bd. 2, 121–128, 124f.).

262 Kotzebue führt freilich nicht im Einzelnen aus, unter welchen Bedingungen von einem Stückgesagt werden kann, dass es in diesem Sinne anschaulich und also fasslich ist. Er schlägt aber ei-nen originellen Test vor, mit dessen Hilfe sich feststellen lässt, ob ein Drama den umrissenen An-forderungen gerecht wird: „Der Probierstein in dieser Hinsicht ist: man entkleide ein Schauspielvon seiner Form und Sprache, man fasse es in eine kurze Erzählung, und wenn auch dann noch, insolcher Skizze, die Einbildungskraft des Zuhörers ein ergreifendes Bild erfaßt, so wird diesesSchauspiel nicht untergehn“ (BS, 43).

263 Ebd., 39.

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Komische Effekte: Kotzebue 215

In Kotzebues theoretischen Texten kommt es kurzum nicht zu einer Neubestimmungder Aufgaben des Dramas; in ihnen wird vielmehr eine neuartige Interpretation desWegs umrissen, auf dem sich die altbekannten Ziele des Theaters am besten erreichenlassen. Aus dieser Interpretation erklärt sich auch, weshalb Kotzebue der um 1800verbreiteten Beurteilung seiner Stücke als zwar wirkungsvoll, aber nicht gehaltvoll mitUnverständnis oder sogar Verärgerung gegenübersteht: Da er das Theater als Kunst derEinbildungskraft versteht, sind für ihn Wirkung und Gehalt von Dramen unauflösbarmiteinander verknüpfte Größen.264 Ausführlich verdeutlicht Kotzebue dies insbesonderein einer Passage seiner bereits erwähnten „Betrachtungen über mich selbst…“, die imRahmen der zahlreichen späteren Charakterisierungen Kotzebues als Vertreter einerreinen ‚Effekt-Dramaturgie‘265 freilich stets unbeachtet geblieben ist:

Was den Effect betrifft, so ist er eine Würkung der Einbildungskraft, folglich ein Verdienst desdramatischen Dichters. Ein Schauspiel, das keinen Effect macht, ist ein schlechtes Schauspiel.Daß ich aber auf Kosten der Wahrheit und Natur ihn hervorbringe, ist eine Behauptung, dieauf Kosten der Wahrheit geschrieben ist. Alle die effectvollsten Situationen in meinen Schau-spielen sind aus der Natur geschöpft. Ich behaupte sogar, daß, ohne Natur und Wahrheit, sichgar kein Effect hervorbringen lasse […].266

Anlass für Kotzebues Überlegungen zum Theater ist, das dürfte deutlich geworden sein,weniger das Interesse, die Aufgaben und Verfahrensweisen des Dramas im Allgemei-nen zu erkunden, als vielmehr die Ambition, für die Ausrichtung und Anlage seinereigenen Dramen eine Rechtfertigung zu liefern. Angesichts dieses Umstands ist es nichtüberraschend, dass in den betreffenden Einlassungen keine eingehende Betrachtungzum Lustspiel und seinen wesentlichen Bestandteilen oder gar ein Bestimmungsvor-schlag für den Gattungsbegriff zu finden ist.267 Wie sich bereits angedeutet hat undauch durch eine Synopse von Kotzebues verstreuten Hinweisen zur Komödie nahe ge-legt wird, gibt es für das Fehlen entsprechender Überlegungen in seinen theoretischenTexten freilich noch einen weiteren Grund: Er scheint nicht zuletzt deshalb auf näherekomödienpoetische Erörterungen zu verzichten, weil er in seinem Verständnis desLustspiels eng an fest etablierte Auffassungen anschließt.

264 Insofern erscheint es unangemessen, Kotzebue eine alleinige Orientierung an den Verfahren vonDramen bei weitgehendem Desinteresse an ihren Zielen zuzuschreiben, wie es etwa RuprechtWimmer nahe legt: Kotzebue „spürt unermüdlich hinter allgemeinen, wertneutralen Wirkungs-möglichkeiten des Theaters her, sittliche Maximen sind bei ihm eher Konsequenzen aus Gattungs-und Typenzwängen, als daß sie […] das dramaturgische Verfahren zu steuern vermöchten“ (R. W.,„Vehikel des Zufalls oder des Schicksals erkorenes Werkzeug. Zur Dramatik August von Kotze-bues“, in Inevitabilis vis fatorum. Der Triumph des Schicksalsdramas auf der europäischen Bühneum 1800, hg. v. Roger Bauer, Michael de Graat u. Johannes von Schlebrügge, Bern u.a. 1990,236–248, 236).

265 S. hierzu oben.266 BS, 58f.267 Kotzebues Reflexionen sind in dieser Hinsicht freilich kein Ausnahmefall, vgl. Ulrich Profitlich,

„Komödien-Konzeptionen“, 14f.

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Im Einklang mit der großen Mehrheit von Theaterautoren und -theoretikern imdeutschsprachigen 18. Jahrhundert geht Kotzebue davon aus, dass sich auch das Lust-spiel an die delectare et prodesse-Anforderung zu halten hat268 und also zugleich komi-sche und moralisierende Wirkungen anstreben sollte.269 Kotzebues Festhalten am Mo-ralisierungsanspruch des Lustspiels zeigt sich, wie gesehen, in seinen vielen Stellung-nahmen zu dem vor allem gegen sein Komödienschaffen gerichteten Vorwurf, dieSitten zu verderben.270 Und seine gleichzeitige Orientierung an der Auffassung, dassKomik als wesentliches Element der Komödie anzusehen ist, kommt in verschiedenenbeiläufigen Bemerkungen zum Ausdruck, beispielsweise in der nicht weiter erläutertenFeststellung, dass der „Witz“ als „Hauptbestandteil des Lustspiels“271 aufzufassen sei.Was für die Grundzüge von Kotzebues Verständnis des Lustspiels gilt, das lässt sichauch über die seines Begriffs des Lächerlichen sagen: Sie folgen der bestimmendenAuffassung des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Wie eine Zusammenschau relevanterTextpassagen deutlich macht, geht auch Kotzebue mit Blick auf das Komische voneinem Inkongruenzmodell aus.272 Wenn er über das ‚Lächerliche‘, das ‚Komische‘ oderden ‚Witz‘ spricht, dann bezieht er sich mit anderen Worten stets auf ‚Unge-reimtheiten‘, ‚Zweideutigkeiten‘, ‚Übertreibungen‘ oder ‚Fehler‘, die sich als Spielarteneines Missverhältnisses entweder zwischen Wirklichkeitsdeutung und Wirklichkeit oderzwischen Sein und Sollen verstehen lassen.273

Aus Kotzebues theoretisch ausgerichteten Texten mögen sich die Umrisse seinerSicht der Aufgaben und Bestandteile der Komödie gewinnen lassen; sie klammern je-doch eine Frage vollkommen aus, deren Klärung für eine wirkliche Durchdringung undüberzeugende Einordnung der Kotzebue’schen Komödienkonzeption unerlässlich ist –die Frage nämlich, wie er sich die Verbindung zwischen dem Komischen und dem Mo-ralischen im Lustspiel genau vorstellt. Anders gesagt: Im Gegensatz zu vielen Komödi-entheoretikern seit Gottsched bezieht Kotzebue in der Debatte um die gebotene Nut-zung des Komischen im Lustspiel keine Position; er schweigt sich dazu aus, ob erweitere Anforderungen an die Komikformen stellt, die im Komödienkontext zum Ein-satz kommen, ob auch er also eine Unterscheidung zwischen komödienkonstitutiver,

268 Vgl. zu dieser Kontinuität bereits Horst Steinmetz, Die Komödie der Aufklärung und zuletzt Ste-phan Kraft, „Identifikatorisches Verlachen“.

269 Ganz im Sinne der Tradition unterscheidet Kotzebue bei der generischen Einordnung seiner eige-nen Stücke konsequent zwischen zwei Spielarten von komischen dramatischen Werken, zwischenLustpielen und bloßen Possenspielen, s. zu dieser Gegenüberstellung oben 2.1 und 2.2.

270 S. dazu oben.271 BS, 38.272 S. dazu auch oben 2.1.1.273 Vgl. etwa August von Kotzebue, Die jüngsten Kinder meiner Launen. 2. Band, Leipzig 1794, 254,

257 und 314, Aus August von Kotzebue’s hinterlassenen Papieren, 14 und 86 oder August vonKotzebue’s ausgewählte prosaische Schriften, Wien 1843, Bd. 37: 11, 218, 230, 250 und 324 so-wie Bd. 43: 25, 173 und 202.

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Komische Effekte: Kotzebue 217

komödienlegitimer und komödienillegitimer Komik treffen möchte.274 Es mag naheliegen, Kotzebues Vernachlässigung dieser Fragen nicht als Ausdruck mangelndentheoretischen Interesses, sondern als Hinweis auf die komödienpoetische These zu deu-ten, dass sich auf entsprechende Unterscheidungen verzichten lässt. Ob dies tatsächlichso ist, ob sich bei Kotzebue also die Liberalisierung der Komiknutzung in der Komödiefortsetzt, deren Anfänge oben in der Analyse von Lessings Minna von Barnhelm nach-gezeichnet worden sind, das soll nun anhand des Lustspiels Die Indianer in Englandgeklärt werden.

2.3.2 Komisches: Die Indianer in England

Wenn man ein genaues Bild von Kotzebues Konzeption des Lustspiels gewinnen möch-te, dann bietet es sich offenkundig an, dies am Beispiel seiner ersten Komödie zu tun, inAuseinandersetzung also mit dem Drama Die Indianer in England. Wie aus den vorlie-genden Überblicksdarstellungen zu seinem voluminösen dramatischen Œuvre zu erse-hen ist,275 schuf Kotzebue mit der 1788 geschriebenen und seit 1789 mit immensem Er-folg gespielten Komödie276 ein Werk, das für zahlreiche seiner Stücke der Folgejahr-zehnte in vielerlei Hinsicht Modellcharakter haben sollte.277 Als musterhaft kann dasLustspiel nicht allein für die große Gruppe seiner komischen Dramen gelten, die er aus-drücklich als „Lustspiele“ bezeichnete und so von seinen „Schwänken“, „Burlesken“oder „Possen“ abgrenzte. In seiner Bauweise nimmt Die Indianer in England überdiesviele maßgebliche Aspekte der ebenfalls umfangreichen Menge seiner Dramen vorweg,die er selbst schlicht als „Schauspiele“ einstufte. Von einer differenzierten komik- undkomödientheoretischen Analyse des Werks ist mithin eine zumindest aspektbezogeneRekonstruktion der ‚poetischen Matrix‘ zu erwarten, die einem nicht unbeträchtlichenTeil der Kotzebue’schen Dramen zugrunde liegt.278

274 S. dazu oben den Vergleich der Positionen von Gottsched und Lessing in 2.1.1.275 Vgl. insbes. Doris Maurer, Kotzebue, Armin Gebhardt, Kotzebue und Yvonne-Patricia Alefeld,

„August von Kotzebue – Das dramatische Werk“, in Kindlers Literatur-Lexikon, hg. v. HeinzLudwig Arnold, Stuttgart/Weimar 2009, 363–366.

276 Zur Entstehung und zum Erfolg von Die Indianer in England vgl. Jürg Mathes, „Aus den BriefenKotzebues an seinen Verleger Kummer“, in Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts (1969),233–307, 246–248 und „Anhang“, in Schauspiele, 525–606, 546–552. – Zugrunde gelegt wird imFolgenden die Neuedition des Lustspiels von 1972; Zitate aus dieser Ausgabe werden unter Ver-wendung der Sigle „IE“ nachgewiesen.

277 Yvonne-Patricia Alefeld macht in einem jüngeren Überblick über Kotzebues Dramen zunächstzwar geltend, dass die Annahme von werkübergreifender „Strukturkonsistenz“ angesichts „derVielfalt der Einzeltexte eine unhaltbare Pauschalisierung“ (Y.-P. A., „Das dramatische Werk“,365) darstelle, sie arbeitet in ihrer Darstellung dann aber eine Reihe recht prägnanter Parallelenzwischen einer großen Zahl von Stücken heraus.

278 Zum Begriff der ‚poetischen Matrix‘ vgl. Karl Eibl, Kritisch-rationale Literaturwissenschaft.Grundlagen zur erklärenden Literaturgeschichte, München 1976, 78. – Die Übertragbarkeit der

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Zur deutschen Komödie im 18. Jahrhundert218

Vor einer entsprechenden Analyse scheinen im Fall von Die Indianer in England ei-nige kurze Hinweise zur Handlung und Ausrichtung des Dramas sinnvoll zu sein. ImZentrum des Lustspiels stehen die im Zuge des Geschehens mehr und mehr miteinanderverbundenen Geschichten zweier Familien aus unterschiedlichen Kulturkreisen. Diedem höheren englischen Bürgertum zugehörige, aber kurz vor dem unverschuldetenBankrott stehende Familie des gichtkranken Sir John Smith hat eine bei der Flucht ausIndien in Seenot geratene Familie bei sich aufgenommen, ohne zu ahnen, dass derenOberhaupt Kaberdar der aus seiner Heimat vertriebene Herrscher der Provinz Mysoreist. Das Stück schildert nun einerseits, wie langsam ans Licht kommt, dass es sich beiKaberdar und den Seinen nicht um eine mittellose Familie von niederem Stand, sondernum eine wohlhabende von hoher Abstammung handelt, und es beschreibt andererseitsdie verschiedenen Irrungen und Wirrungen, die das Zueinanderfinden der Söhne undTöchter von Smith und Kaberdar erschweren, am Ende aber nicht zu verhindern vermö-gen. Nachdem mehrere sich anbahnende Mesalliancen im letzten Moment abgewendetwerden können, schließt die Komödie mit der Doppelhochzeit zwischen Smiths Kin-dern Liddy und Robert und Kaberdars Kindern Fazir und Gurli.

Bereits in dieser kurzen Übersicht über den Plot von Die Indianer in England deutetsich an, dass das Stück die Variante des ‚rührenden Lustspiels‘ weiterführt, die Lessingin Minna von Barnhelm ausarbeitet279 und in Abgrenzung von der Position ChristianFürchtegott Gellerts als ‚wahres Lustspiel‘ bezeichnet: „[D]as Possenspiel will nur zumLachen bewegen; das weinerliche Lustspiel will nur rühren; die wahre Komödie willbeides“.280 Freilich gehen die konzeptionellen Parallelen zwischen Die Indianer in Eng-land und Minna von Barnhelm nicht über die gemeinsame Wirkungsabsicht hinaus,sowohl komische als auch identifikatorische Effekte zu erzielen und durch eine ent-sprechende Verknüpfung moralisierende Konsequenzen zu gewinnen. Kotzebue suchtdieses Ziel auf einem Weg zu erreichen, der sich von demjenigen Lessings deutlichunterscheidet, vor allem in der Nutzung des Komischen. Dies sei nun im Einzelnenverdeutlicht.

Lachen und Rührung zum Ersten: Tradition und Innovation

Komik ist in Die Indianer in England wie in den meisten deutschen Lustspielen des18. Jahrhunderts vor allem Figurenkomik.281 Um Zuschauer und Leser zum Lachen zubringen, setzt auch Kotzebue vorzugsweise auf Charaktere, deren Verhalten oder We-sen harmlose Fehler aufweist. Wie Lessing entfernt er sich dabei von den Mustern derFigurengestaltung im Typenlustspiel, indem er nicht mehr anhand einer Zentralgestalt

Untersuchungsergebnisse auf weitere Werke Kotzebues wird im Weiteren stillschweigend voraus-gesetzt und nicht in jedem Einzelfall wieder ausdrücklich hervorgehoben.

279 S. dazu oben 2.1.2.280 Lessing 3, 280. Hervorhebungen im Original.281 Vgl. zu den Hintergründen hierfür oben 2.1 und zu einer Ausnahme 2.2.

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Komische Effekte: Kotzebue 219

einen ungereimt erscheinenden Charakterzug dem Spott preiszugeben versucht. Figu-renkomik erzeugt Kotzebue durch eine ganze Reihe mehr oder weniger wichtigerNebenfiguren wie Sir Johns Frau Mistriss Smith, ihren Sohn Samuel oder die NotareStaff und Strussel, so dass ein breites Spektrum an Charakterfehlern zur Anschauungkommt.282 Anders als Lessing löst sich Kotzebue allerdings nicht so weit vonGottscheds Ideal der Komödienfigur, dass er den Versuch unternimmt, durch einzelneCharaktere zugleich komische und identifikatorische Effekte zu evozieren. Für keineder Figuren des Stücks, die der Belustigung dienen, wird in nennenswerter Weise Em-pathie oder gar Sympathie geweckt. Mag es die Figurenkomik in Die Indianer in Eng-land auch nicht immer auf erbarmungsloses ‚Verlachen‘ anlegen, so beruht sie dochstets, auch wenn sie nachsichtiges ‚Belachen‘ zum Ziel hat, auf satirischer Entlar-vung.283

Musterfall der komischen Kotzebue-Figur im umrissenen Sinne ist Samuel Smith.Dass es sich bei ihm um eine Gestalt handelt, die zur Umstandskrämerei und Ent-schlussunfähigkeit neigt, deutet sich bereits in seinem ersten Auftritt an: „Für sich. Hm!Hm! Ich habe doch wohl alles verschlossen? Seine Taschen befühlend. Das ist derSchlüssel zur Schatulle, da der zum Coffre, der zum Klavier, der zum Schrank – allesrichtig!“284 In ihrem ganzen Ausmaß zeigt sich Samuels Verschrobenheit dann im Zugedes Versuchs, Kaberdas Tochter Gurli zu seiner Frau zu machen: Unterbrochen vonSelbstgesprächen, in denen er sich Situationen in Frage-Antwort-Form verständlich zumachen versucht,285 gelingt es Samuel zwar, Gurli zu dem Versprechen zu bewegen,ihn zu heiraten; durch die Bestellung zweier Notare und einer Reihe weiterer Vorsichts-maßnahmen verhindert er aber schließlich selbst, dass es zur Eheschließung kommt.Obgleich ihm die finanziellen Konsequenzen der geplanten Hochzeit mindestens eben-so verlockend erscheinen wie seine Braut, ist es ihm noch im Moment der Trauung un-möglich, seine Zögerlichkeit abzulegen: „Halt! schöne Gurli! halt noch einen Augen-blick! mir wird auf einmal so ängstlich. Ist denn auch gewiß nichts vergessen? keineKlugheitsregel? keine Klausul?“286 So kommt es, dass die Trauung noch nicht vollzo-gen ist, als Samuels Bruder Robert von einer langen Schiffsreise heimkehrt – er machtauf Gurli gleich einen solchen Eindruck, dass sie sich entschließt, ihn und nicht Samuelzu heiraten. Als diese Entscheidung schließlich in die Tat umgesetzt wird, fügt sich Sa-muel mit einer Überlegung in den Gang der Dinge, die deutlich anzeigt, dass er im Ver-lauf der Handlung nichts gelernt hat: „Es entsteht hier billig die Frage: was wird Sir Sa-

282 Vgl. dazu bereits Ernst Jaeckh, Kotzebue’s Lustspieltechnik, 7 und 15–46 und mit etwas andererAkzentsetzung Hans Schumacher, „Materialien“, 97f.

283 Die Figur Gurli stellt in dieser und anderen Hinsichten eine Ausnahme dar, s. dazu unten 2.3.2 La-chen und Rührung zum Dritten: Affirmation oder Irritation.

284 IE, 135. Hervorhebungen im Original.285 Jaeckh ist bei einer Zählung auf 31 Samuel’sche Selbstgespräche dieser Bauart gekommen, vgl.

Ernst Jaeckh, Kotzebue’s Lustspieltechnik, 47.286 IA, 188.

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Zur deutschen Komödie im 18. Jahrhundert220

muel Smith nunmehro anfangen? Antwort: sich hängen – wenn es nämlich die Vorsichtgestattet. Ab.“287

Kotzebues Komikverwendung hebt sich von derjenigen vieler Komödienautoren des18. Jahrhunderts allerdings nicht allein durch eine besondere Weise der Gestaltung vonFigurenkomik ab; sie sticht auch dadurch hervor, dass sie ein ungewöhnlich breitesSpektrum von Formen des Komischen zum Einsatz bringt. Festzustellen ist zunächst,dass Kotzebue neben lächerlichen Charakteren noch eine Reihe weiterer Ausprägungender Komik des Dargebotenen nutzt, insbesondere die Situationskomik. Auch wenndiese Variante des Lustigen in Die Indianer in England stets eng mit der Lächerlichkeitder jeweils beteiligten Charaktere zusammenhängt, so lässt sie sich mit dieser dochoffensichtlich nicht einfach verrechnen. Ein anschauliches Beispiel für die Kotze-bue’sche Situationskomik findet sich in dem Auftritt, in dem die gleichermaßen eitlenNotare Staff und Strussel aufeinander treffen und beleidigt feststellen müssen, dass siezur Abwicklung derselben Hochzeit bestellt worden sind. Die Szene setzt ein mit ihrerBegegnung vor der Tür des Hauses der Familie Smith, bei der sie sich in Höflichkeitgegenseitig zu überbieten suchen:

MÄSTER STRUSSEL Unvermutete Freude!MÄSTER STAFF Angenehme Überraschung!MÄSTER STRUSSEL Mäster Staff auf meinem Weg anzutreffen.MÄSTER STAFF Mäster Strussel hier zu finden.MÄSTER STRUSSEL Bitte hineinzuspazieren.MÄSTER STAFF Wird nicht geschehen.MÄSTER STRUSSEL Muß geschehen! Muß geschehen!MÄSTER STAFF Bin nicht so unhöflich, weiß recht gut, daß der erste Platz unter den

Rechtsgelehrten meinem würdigen Freunde Mäster Strussel gebührt.MÄSTER STRUSSEL Späßchen! Späßchen! Doch wozu die Umstände unter ein paar sol-

cher Herzensfreunde! Er zieht ihn mit sich herein.288

Nachdem den beiden Notaren aufgegangen ist, dass sie in ein und derselben Angele-genheit vor Ort sind, geht das heitere Hin-und-her der Schmeicheleien zunächst nahtlosin einen Austausch von Beleidigungen über, um schließlich fast in eine Schlägerei zumünden:

MÄSTER STAFF Sie werden am besten tun, Herr Konfrater, wenn Sie wieder dahingehen wo Sie hergekommen sind.

MÄSTER STRUSSEL Und Sie werden am besten tun, wenn Sie zum Teufel gehen!MÄSTER STAFF Da müßte ich Sie nach Hause begleiten.MÄSTER STRUSSEL Ich würde mich schämen, mit Ihnen über die Straße zu gehen.MÄSTER STAFF Die Leute würden sich wundern, Sie doch auch einmal in honetter

Gesellschaft zu sehen.

287 Ebd., 204. Hervorhebung im Original. – Vorübergehend scheint es, als würde Samuel zumindesteine Ahnung der Gründe für seine Situation gewinnen: „In welches Labyrinth habe ich mich auslauter Vorsicht verwickelt!“ (ebd.) Diese Beobachtung bleibt jedoch ohne Konsequenzen.

288 Ebd., 179. Hervorhebung im Original.

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Komische Effekte: Kotzebue 221

MÄSTER STRUSSEL In honetter Gesellschaft bin ich immer, wenn ich nicht in der Ihrigenbin.

MÄSTER STAFF Herr Sie werden grob.289

In Sequenzen wie dieser, die auf die Dialogtechnik der ,Screwball Comedy‘ vorauswei-sen, wird die Komik einer Situation entfaltet, die sich aus der Konfrontation zweier inihrem Charakter nahezu identischer Figuren ergibt. Zugleich leistet die Begegnung vonStaff und Strussel auch einen Beitrag zur Handlungskomik in Die Indianer in England– denn mit ihr beginnt sich abzuzeichnen, dass Samuels Heiratsvorhaben gerade auf-grund der Vorkehrungen fehlschlägt, die getroffen werden, um seinen Erfolg zu ge-währleisten.290

Bemerkenswert erscheint die Nutzung des Komischen in Die Indianer in Englandfreilich nicht nur, weil sie unterschiedliche Formen der Komik des Dargebotenen ein-bezieht, sondern auch, weil sie verschiedene Spielarten der Komik der Darbietung inneuartiger Weise einsetzt. Sprach- und Vermittlungskomik dienen bei Kotzebue nichtmehr nur der Veranschaulichung harmloser Figurenfehler, sie treten hier vielfach auchals Komikformen eigenen Rechts auf. Deutlich zeigt sich die Emanzipation der Darbie-tungskomik von der Illustrationsfunktion im Hinblick auf charakterliche Inkongruenzenetwa in den Auftritten der Figur des Bootsknechts Jack. Er, ein zuverlässiger BegleiterRoberts auf dessen Handelsreisen, ist offensichtlich ein Charakter, der nicht dazu dient,einen lächerlichen Wesenszug zu veranschaulichen.291 Gleichwohl sind viele seiner Re-pliken komisch – und dies liegt an der Form, in der er sie vorbringt: Jack spricht eineArt ‚Seemännisch‘, er trägt seine inhaltlich zumeist eher schlichten Auffassungen stetsin Begriffen der Seefahrt vor. Als sich Robert nach der Begegnung mit Gurli bei ihmerkundigt, ob es nicht zu weit gehe, dem eigenen Bruder die Frau auszuspannen, ent-gegnet Jack zunächst: „Ihr müsst am besten wissen, wie tief Eure Fregatte im Wassergeht“292, um kurz darauf zu einer längeren Einlassung über das Verhältnis zwischenMann und Frau auszuholen:

[E]inem Weibe ist sowenig zu trauen, als einem Wasserwirbel zur See. Anfänglich ist das Le-ben voll Juchhe und Heisa! aber segelt Ihr nur einmal gegen den Strom ihrer Neigungen,gleich fängt der Sturm an zu heulen aus Süden und Norden, aus Westen und Osten. Und dannbedenkt einmal Sir: jetzt regiert Ihr Euer Schiff wie es Euch beliebt, Ihr lichtet den Anker,

289 Ebd., 180.290 Vgl. dazu Samuels Plan: „[I]ch gehe zu einem Notarius, und dann zu noch einem und bestelle sie

beide auf diesen Nachmittag hieher. […] Einer könnte krank werden, ein Bein brechen, sich desMittags betrinken, oder sonst ein Hindernis eintreten. […] Können dergleichen Geschäfte zu vor-sichtig behandelt werden? Antwort: Nein“ (ebd., 167).

291 Im Haupttext wird er als ‚treu‘ und ‚ehrlich‘ (vgl. ebd., 171 und 198) eingestuft, im Nebentext als„immer sehr ehrbar“ (ebd., 170; Hervorhebung im Original).

292 Ebd., 196.

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Zur deutschen Komödie im 18. Jahrhundert222

wenn es Euch einfällt; Ihr steuert, wohin Ihr Lust habt; meint Ihr, wenn Ihr ein Weib an Bordnehmt, Ihr würdet das Kabeltau immer so lang und frei behalten, als bisher?293

Die Komik dieser und ähnlicher Anmerkungen Jacks ergibt sich aus der Aussichtslo-sigkeit des Vorhabens, das Leben im Ganzen aus einem seiner Teilbereiche zu erklären,aus den Unstimmigkeiten, die bei diesem Versuch auftreten, und den Überraschungen,die mit seiner immer wieder auch überzeugenden Umsetzung verbunden sind.294

Noch deutlicher als in Jacks Auftritten zeigt sich die relative Autonomie, die Kotze-bue der Darbietungskomik zugesteht, in der Art und Weise, in der er in Die Indianer inEngland Formen des Sprachkomischen einsetzt. Welche Figur ein Bonmot, einen Ge-sprächswitz oder ein Wortspiel zu besten gibt, das erklärt sich zumeist weniger ausihrem Charakter als vielmehr aus dem jeweiligen Dialogkontext.295 So macht etwa diewenig witzige Mistriss Smith die folgende geistreiche Bemerkung: „Der Mensch ist mitnichts in der Welt zufrieden, ausgenommen mit seinem Verstande, je weniger er hat,desto zufriedener“296, und so zeigt sich der zumeist erschöpfte Sir John in der Unter-haltung plötzlich sehr aufgeweckt:

SIR JOHN Aus dem Schlaf auffahrend. Auweh!MISTRISS SMITH Nun was gibt’s?SIR JOHN Mein Bein.MISTRISS SMITH Vergessen Sie Ihr Bein: Hier ist von ganz anderen Dingen die Rede,

die Sie weit näher angehn.SIR JOHN Weit näher? Ich möchte doch wissen was mich näher anginge, als

mein eigenes Bein.297

Lachen und Rührung zum Zweiten: Konjunktion statt Integration

Die Betrachtung der Inszenierung von Komik in Kotzebues Die Indianer in Englandbestätigt die Vermutung, die durch seine Beiträge zur Theater- und Dramentheorie nahegelegt wird: Kotzebue nimmt Abschied von der Unterscheidung zwischen komödien-konstitutiven, komödienlegitimen und komödienillegitimen Formen des Komischen.Lustspiele sind für ihn zwar Stücke, in denen Komik notwendigerweise eine wichtigeRolle spielt; es erscheint ihm aber offenkundig unnötig, die Nutzung des Komischen in

293 Ebd., 198. – Horst Albert Glasers Einordnung der zitierten Passage als „Zote“ (H. A. G., Dasbürgerliche Rührstück, 68) leuchtet wenig ein. S. zum Zusammenhang auch unten Lachen undRührung zum Dritten: Affirmation oder Irritation.

294 Ein Teil des Vergnügens, das Figuren wie Jack hervorrufen, dürfte mithin nicht ‚Freude am Komi-schen‘ sein, sondern eher das, was in der Psychologie zumeist als ‚Wohlbehagen am Gelingen‘ be-zeichnet wird, vgl. dazu insbes. Thomas R. Shultz, „A Cognitive-Developmental Analysis ofHumour“, in Humour and Laughter: Theory, Research and Applications, hg. v. Anthony J. Chap-man u. Hugh C. Foot, London 1976, 11–36.

295 Vgl. dazu BS, 58f., wo er ein solches Vorgehen offen eingesteht. Vgl. zum Zusammenhang auchJörg F. Meyer, Verdammt. Verehrt, 56f.

296 IE, 136.297 Ebd., 137.

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Komische Effekte: Kotzebue 223

Komödien an weitere Auflagen zu binden. Anders gesagt: Im Kotzebue’schen Lustspielmuss Komik in keiner bestimmten und darf in jeder denkbaren Form zum Einsatz kom-men.

Aus komödienkonzeptioneller Perspektive läuft die Liberalisierung der Komikver-wendung, die sich bei Kotzebue beobachten lässt, auf eine Entlastung des Komischenvon Moralisierungsaufgaben hinaus. Die Figurenkomik in Die Indianer in England sollzwar zweifellos einen Beitrag zur normativen Orientierung der Zuschauer und Leserleisten; die Präsentation charakterlicher Lächerlichkeiten ist aber weder der einzigenoch der maßgebliche Weg, auf dem im Rahmen des Lustspiels moralische Vorstellun-gen vermittelt werden. Den Erziehungsanspruch der Komödie sucht Kotzebue im We-sentlichen nicht über die belustigenden, sondern über die rührenden Elemente desStücks einzulösen. Dies sieht man deutlich, wenn man sich einen umfassenderen Über-blick über die Modellierung der Figuren und der Figurenkonstellation des Lustspielsverschafft: Wie in vielen Kotzebue-Dramen, die nach Die Indianer in England entstan-den sind, ist schon hier eine Untergliederung der dramatis personae in zwei recht striktvoneinander unterschiedene Gruppen festzustellen – in solche Charaktere, die unge-reimte Vorstellungen und Verhaltensweisen bloßstellen und so Belustigung hervor-rufen, und solche, die musterhafte Haltungen und Handlungen veranschaulichen unddabei Anteilnahme wecken.

So typisch Samuel Smith für die Vertreter der ersten Figurengruppe ist, so exempla-risch sind seine Geschwister Liddy und Robert für die der zweiten.298 Liddy Smithkümmert sich nicht allein intensiv um die Pflege ihres Gichtkranken Vaters, in Nacht-arbeit bemüht sie sich überdies, die finanzielle Notlage der Familie zu lindern – eineAnstrengung, die für sie ausgesprochen erfüllend ist: „Geschwind wieder an die Arbeit!Sie zieht ein Nähzeug hervor. Es ist so süß, für einen Vater zu arbeiten, und es geht soflink von der Hand.“299 Wie weit Liddys Bereitschaft geht, für das Wohl der Familieihre Neigungen zurückzustellen, wird deutlich, als Kaberdar sie bittet, seine Frau zuwerden. In der Hoffnung, die Ihren so vor dem Ruin zu bewahren, nimmt sie den Hei-ratsantrag an, obgleich sie eigentlich in Kaberdas Sohn Fazir verliebt ist:

Sie wischt sich die Augen. Ja diese Träne darf Liddy um Fazir weinen; aber das sei auch dieletzte. – Pfui! keine romantischen Torheiten! Kaberdar ist ein braver Mann. Ihn um einesJünglings willen verschmähen, dessen Herz ich bloß aus seinen Augen kenne; das hieße, aufder Lebensreise den Kompaß gegen einen Schmetterling vertauschen.300

Ein ähnlich musterhafter Repräsentant der Identifikationsfiguren in Die Indianer inEngland wie Liddy ist ihr Bruder Robert Smith. Robert ist erkennbar als Kontrastfigurzu Samuel angelegt und verkörpert mithin das, was nach Auffassung der Komödiencha-raktere einen ,wahren Biedermann‘301 ausmacht – Vorurteilslosigkeit, Tatkraft und

298 Zum Charakter Samuel s. oben 2.3.2 Lachen und Rührung zum Ersten: Tradition und Innovation.299 IE, 134. Hervorhebung im Original.300 Ebd., 163. Hervorhebungen im Original.301 Vgl. etwa ebd., 190.

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Rechtschaffenheit. In diesem Sinne signalisiert Robert in Wort und Tat beharrlich, dassfür ihn und sein Handeln nur moralische Überzeugungen und nicht materielle Aussich-ten leitend sind. Als Kaberdar ihm die Heirat mit Gurli durch den Verweis auf derenüppige Aussteuer schmackhaft zu machen versucht, entgegnet er entrüstet: „Sir, ich ma-che mir aus zehntausend Pfund Sterling so viel, als aus einer verfaulten Planke; und ichwollte mich auch nicht gern von meiner Frau totfüttern lassen.“302 Und als er für dieRettung Fazirs gerühmt wird und belohnt werden soll, wiegelt er verlegen ab: „BeiGott, […] ich schäme mich; als ich den jungen Menschen da aufnahm, dacht ich wederan Dank noch an Belohnung. Ich folgt meinem Herzen, und siehe da, ich habe mirselbst einen Freund gerettet.“303

Der Grund für Kotzebues Zweiteilung des Personals seines Stücks liegt auf derHand: Wie in Minna von Barnhelm sollen Zuschauer und Leser auch in Die Indianer inEngland zum Lachen gebracht und zur Anteilnahme bewogen werden; anders als dortsoll dies hier jedoch nicht gleichzeitig geschehen. Im Unterschied zu den meisten derzahlreichen Autoren des 18. Jahrhunderts, die Lustspiele als komische Dramen mit er-zieherischem Anspruch verstehen, versucht Kotzebue die wesentlichen Wirkungszieledes Genres im Rahmen eines konjunktiven statt in dem eines integrativen Komödienmo-dells zu realisieren.304 Er strebt, anders ausgedrückt, nicht eine enge Verbindung, son-dern einen steten Wechsel von Lachen und Rührung, komischen Effekten und norma-tiver Orientierung, Unterhaltung und Belehrung an.305 In dieser Absicht lässt er nach-einander und miteinander lächerliche und musterhafte Charaktere auftreten, Figuren wieSamuel, die Komik erzeugen, und Figuren wie Liddy und Robert, die der Identifikationund der Vermittlung moralischer Positionen dienen.

Als Hintergrund der Kotzebue’schen Entscheidung für die skizzierte Komödien-konzeption ist zweifellos auch die bereits bei Gottsched angelegte Überlegung anzuse-hen, dass das Vorhaben einer Verknüpfung von Komik und Empathie die Gefahr birgt,sowohl der Belustigung als auch der Wertvermittlung durch ein Stück zu schaden.306

Angesichts der Beharrlichkeit, mit der Kotzebue an seinem Modell der rührenden Ko-mödie nach Die Indianer in England festgehalten hat, liegt allerdings die Vermutungnahe, dass er eine konjunktive Konzeption im Hinblick auf die Umsetzung der Wir-

302 Ebd., 191.303 Ebd., 203.304 Als erste deutschsprachige Stücke, denen ein entsprechendes Modell zugrunde liegt, sind Johann

Christian Krügers rührende Lustspiele aus den 1840er und 1850er Jahren anzusehen, vgl. dazu amBeispiel der Komödie Der blinde Ehemann Eckehard Catholy, Das deutsche Lustspiel, 47–50.Angeregt worden ist die Konzeption von Kotzebues Lustspielen vermutlich jedoch eher durchDramen von Plautus oder Shakespeare.

305 Dies ist in der Forschung bis heute fast ausnahmslos übersehen worden, wie sich etwa daran zeigt,dass im Hinblick auf Kotzebues Lust- und Schauspiele zumeist noch immer von der „Mischungdes Komischen mit dem Rührenden“ (Benno von Wiese, „Einführung“, 13; Hervorhebung vonmir, T. K.) gesprochen wird, die schon von Wiese in den Stücken auszumachen meint.

306 Vgl. dazu Johann Christoph Gottsched, Versuch, Bd. 2, 117.

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Komische Effekte: Kotzebue 225

kungsziele komischer Dramen nicht allein für nicht hinderlich, sondern sogar für ausge-sprochen förderlich hielt. Kotzebues Lustspiele gehen offenkundig von der These aus,dass sich komische und moralische Wirkungen im Wechsel in optimaler Weise zur Gel-tung bringen lassen: Komik kann sich besser entfalten, wenn sie nicht – wie bei Gott-sched oder Lessing – zugleich der normativen Orientierung der Zuschauer und Leserdienen muss, und Moralisierung kann eher glücken, wenn sie nicht – wie bei Gellertoder August Wilhelm Iffland – der Monotonie des reinen Rührstücks unterworfen ist.307

Die Komiknutzung in der Kotzebue’schen Komödie beruht also nicht auf der Les-sing’schen Annahme, dass Menschen durch Lachen gebessert werden können – ihr liegtdie Auffassung zugrunde, dass Lachen ein geeigneter Weg ist, um Menschen daraufeinzustimmen, gebessert zu werden.

Lachen und Rührung zum Dritten: Affirmation oder Irritation

Nach den vorangegangenen Rekonstruktionen könnte der Schluss nahe liegen, Kotze-bues Komödien seien für die bürgerlichen Theaterbesucher der Zeit um 1800 nichtmehr als eine unterhaltsame Gelegenheit gewesen, sich in den eigenen moralischenGrundorientierungen bestätigen zu lassen,308 und Komik habe dabei letztlich nur dazugedient, Zuschauer und Leser nach Phasen starker Anteilnahme wieder zu entspannen,um sie so für eine neuerliche Mobilisierung ihres Mitgefühls empfänglich zu machen.309

Eine entsprechende Sichtweise mag noch immer verbreitet sein, sie verkennt jedocheinige zentrale Aspekte von Kotzebues Lustspielen und übersieht darum das moralischeIrritationspotenzial, das die Stücke nicht zuletzt aufgrund einiger ihrer komischen Ele-mente besitzen. Diese Einschätzung soll nun abschließend in aller Kürze näher ausge-führt werden.

Betrachtet man die normativen Vorstellungen etwas genauer, die in Komödien wieDie Indianer in England zur Anschauung gebracht werden, so stellt man fest, dass sieeinerseits weniger konventionell und andererseits weniger homogen sind, als man pri-ma facie vermuten könnte. Die erste dieser Beobachtungen ist in der Forschung in denzurückliegenden Jahren wiederholt gemacht und zumindest beispielhaft ausgeführtworden.310 Kotzebues Lust- und Schauspiele begnügen sich keineswegs damit, den mo-

307 Zu den Unterschieden zwischen den Konzeptionen von Iffland und Kotzebue vgl. Gert Ueding,Klassik und Romantik Deutsche. Literatur im Zeitalter der Französischen Revolution 1789–1815,München 1987, 313–327, Jörg F. Meyer, Verdammt. Verehrt, Kap. 2.7 sowie Stephan Kraft,„Identifikatorisches Verlachen“, 211f. und 215–218.

308 Vgl. zu einer entsprechenden Sichtweise etwa Helmut Arntzen, Die ernste Komödie, 169f., HorstAlbert Glaser, Das bürgerliche Rührstück, 67f., Benno von Wiese, „Einführung“, 13f. oder auchHorst Denkler, Restauration und Revolution: Politische Tendenzen im deutschen Drama zwischenWiener Kongress und Märzrevolution, München 1973, 68.

309 Eine solche Sichtweise deutet sich zum Beispiel an bei Doris Maurer, Kotzebue, 107.310 Vgl. hierzu die Überlegungen am Beispiel von Menschenhaß und Reue in Jörg F. Meyer, Verehrt.

Verdammt und im Rahmen eines Überblicks in Yvonne-Patricia Alefeld, „Das dramatische Werk“.

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ralischen Common sense des goethezeitlichen Bürgertums zu bedienen; sie behandelnstets auch stark tabuisierte Fragestellungen wie uneheliche Kinder, Ehebruch, Bigamieoder Sklaverei, und sie legen dabei oft normative Haltungen nahe, von denen anzuneh-men ist, dass sie unter Zeitgenossen durchaus keinen Konsens darstellten.311 Im Fall vonDie Indianer in England gilt dies insbesondere für die Idee umfassender Gleichberech-tigung von Ethnien, Kulturen und Religionen, die das Stück zur Geltung bringt. Es magsein, dass sich die zeitgenössischen Zuschauer mehrheitlich an den ethnischen und kul-turellen Unterschieden zwischen den Figuren nicht gestört haben, die schließlich mit-einander in den Ehestand treten, da sich diese zumeist wie gute Repräsentanten deseuropäischen Bürgertums benehmen – die entschiedene religiöse Toleranz allerdings,für die das Stück eintritt, dürfte einem nicht geringen Teil des Publikums Schwierig-keiten bereitet haben:

LIDDY schlägt die Augen nieder, nach einer Pause Sie sind also kein Christ?KABERDAR stutzt, nach einer Pause Es ist nur ein Weg zum Himmel, der Weg der Tugend.LIDDY Dieser Weg führt durch die christliche Kirche.KABERDAR Unsere Brahminen sagen: er führe durch die Pagoden; doch dem sei wie ihm

wolle, an Ihrer Hand werde ich mich nie davon entfernen.312

Im Unterschied zur ersten Beobachtung hat die zweite auch in den letzten Jahren kaumBeachtung gefunden – die, dass die Wertordnungen der Kotzebue’schen Lustspiele beiWeitem nicht so einheitlich und mithin eindeutig sind, wie lange vermutet worden ist.Die verschiedenen Merkmale der Stücke, auf denen deren moralische Vagheit beruht,müssen im vorliegenden Kontext nicht im Einzelnen benannt oder gar betrachtet wer-den313 – hier kann es genügen, den offenkundig beabsichtigten Beitrag vor Augen zuführen, den eine in fast allen Kotzebue-Komödien anzutreffende Form der Komiknut-zung dazu leistet, das normative Profil der Dramen zu verunklaren.

Dieser Beitrag ergibt sich aus einer Variante der Verhaltenskomik, deren Beson-derheit darin besteht, dass die Inkongruenz, auf der sie fußt, nicht in gewöhnlicher Wei-se aufzulösen ist: Verhaltenskomik, also die Diskrepanz zwischen Handlung und Hand-lungsregel, dient in Kotzebues und anderen Lustspielen des 18. Jahrhunderts gemeinhinzur Illustration von Figurenkomik; die Auflösung von Verhaltensinkongruenzen erfolgtalso in der Regel durch den Schluss auf Charakterfehler.314 Die von Kotzebue immer

311 Es ist also festzustellen: Kotzebues Stücke hatten oftmals nicht wegen, sondern trotz der in ihnenaufgegriffenen Probleme und vertretenen Position Erfolg beim Publikum, vgl. Gert Ueding, Klas-sik und Romantik, 320.

312 Ebd., 160. Vgl. zum Zusammenhang auch: „SAMUEL [D]ie Früchte welche aus dieser Eheverbin-dung zu erwarten stehen, in welcher Religion sollen sie erzogen werden? […] – KABERDAR einwenig warm Erziehen Sie sie zu ehrlichen Männern, übrigens machen Sie mit ihnen was Sie wol-len“ (ebd., 186; Hervorhebungen im Original).

313 Vgl. insbes. die Hinweise zur intendierten ‚Diskusivität‘ der Kotzebue-Dramen in Jörg F. Meyer,Verdammt. Verehrt, Kap. 2.5 und die Anmerkungen zu ihren oft parodistischen ‚Finaltableaus‘ inStephan Kraft, „Identifikatorisches Verlachen“, 216f.

314 Zur Auflösung von Inkongruenzen s. auch oben 1.4.3.

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Komische Effekte: Kotzebue 227

wieder genutzte Ausnahme von dieser Regel lebt nun davon, dass sich abweichendeHandlungen nicht einleuchtend als Ausdruck eines ungereimten Charakters deuten las-sen, sondern vielmehr als Anlass zu sehen sind, die vorausgesetzte Handlungsregel ausneuer Perspektive zu betrachten. In Die Indianer in England setzt Kotzebue vor allemauf die Figur Gurli, um die charakterisierte Spielart der Verhaltenskomik zu evozieren.In ihren Auftritten verletzt Gurli, die Tochter Kaberdars, immer wieder auf harmloseund darum komische Weise Konventionen und Normen des gesellschaftlichen Mitein-anders im Europa des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Da die Komödie zugleich vor-führt, dass Gurlis Verhalten in ihrem unverbildeten, aber keineswegs kindischen Blickauf Menschen und Dinge gründet,315 verweisen ihre Normverstöße nicht auf eine Unge-reimtheit in ihrem Wesen, sondern auf die Fragwürdigkeit der verletzten Regeln – undsind darum geeignet, einen Reflexionsprozess anzustoßen.316

Dabei mag das Irritationspotenzial der Auftritte Gurlis recht begrenzt sein, in denensie durch ihre Handlungen und Bemerkungen bloß gegen Vorstellungen der Etiketteverstößt – so etwa, wenn sie vor einer Unterhaltung mit Mistriss Smith bekennt: „Gurlihört die Alte […] gern reden, sie spricht so viel dummes Zeug“.317 Eine zweifelsfreiverstörende Wirkung in normativer Hinsicht haben jedoch die von ihr aus Unkenntnisund Unverdorbenheit erwogenen Verstöße gegen allgemeine sozial- oder auch sexual-moralische Auffassungen und Regelungen. Anschaulich machen dies insbesondere dieSzenen, in denen geschildert wird, auf welchen Umwegen Gurli zu dem Entschluss ge-langt, Robert zu heiraten: Nachdem sie zunächst vorhat, eine Ehe mit Liddy oder mitihres Vaters altem Gefährten Musafferey einzugehen, lässt sie sich aus einer Laune he-raus von Samuel zum Heiratsversprechen bewegen, um ihm freilich sogleich mit dessenBruch zu drohen: „Das sag ich dir: wenn die Notarien hübscher sind als du, so heiratich sie beide“.318 Selbst mit dem Entschluss, Robert und nicht Samuel zum Mann zunehmen, scheint Gurlis Entscheidungsfindung nicht zu einem Ende zu kommen: „GUR-LI Der arme närrische Samuel! er dauert mich doch! Was meinst du Robert? ich will ihnauch heiraten. ROBERT Zween Männer auf einmal? Nein Gurli das verbitt ich mir.“319

Auch wenn es durch Gurli wie im zuletzt zitierten Abschnitt zumeist nur zu einer kur-

315 Vgl. dazu etwa IE, 142 oder 190f.316 Kotzebue dürfte dies nicht entgangen sein, er war jedoch im Rahmen der Verteidigung seiner

Dramen gegen den Vorwurf der Unmoral bemüht, diese Dimension der Stücke herunter zu spielen,vgl. dazu insbes. August von Kotzebue, „Betrachtungen über mich selbst“, 14. – Den vermutlichwichtigsten der Gründe dafür, dass die Kotzebue’sche Form der normreflexiven Komik dem Pub-likum gefiel, hat Gert Ueding wie folgt umrissen: „Längst war ja das bürgerliche Tugendsystem zueiner Zwangsjacke geworden, seine rigorose Starrheit, für die Frühgeschichte der bürgerlichen Ge-sellschaft als Abgrenzungsmaßnahme und um eigenes Selbstbewußtsein zu entwickeln, sicher vonhoher Bedeutung, schlug nach innen und wurde zu einem Disziplinierungsinstrument, das Freiheitund Leben zu ersticken drohte“ (G. U., Klassik und Romantik, 315).

317 Ebd., 154.318 Ebd., 167.319 Ebd., 205.

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Zur deutschen Komödie im 18. Jahrhundert228

zen komischen Unterbrechung des geordneten Handlungsgangs kommt, so geht vonihren Auftritten doch eine ausgesprochen irritierende und mithin reflexionsstimulieren-de Wirkung aus. Durch Gurli vermag der Rezipient von Die Indianer in England immerwieder Distanz zu den dargestellten sozialen Institutionen und moralischen Positionenzu gewinnen; durch sie kann er diese als historisch, oft kontingent und also nicht sakro-sankt wahrnehmen; durch Figuren wie Gurli werden die Verhältnisse in der Welt derKotzebue’schen Komödien zwar nicht verändert, aber doch als veränderbar in den Blickgebracht.320

Kotzebue hat mit Die Indianer von England eine Tradition des rührenden Lustspielsbegründet, die bis heute fortlebt.321 In der Konzeption mögen sich die Stücke dieserTradition nicht unerheblich von Komödien wie Lessings Minna von Barnhelm unter-scheiden; in der Intention allerdings stimmen sie mit diesen erkennbar überein: Auch imKotzebue’schen Lustspiel geht es wesentlich darum, durch Lachen und Rührung, eineReflexion über Fragen der Moral in Gang zu setzen.

2.4 Komik und Konfusion:Zum Komischen in Tiecks Der gestiefelte Kater

In den Dezennien um 1800 gelangt die Aufklärung als literarische Epoche an ihr Ende.Einen nicht unwesentlichen Beitrag zu diesem Prozess leisten die Dichtung und dieDichtungstheorie der Frühromantik – denn durch sie werden die mit Lessing einsetzen-de Umstellung von einem heteronomen zu einem autonomen Literaturkonzept und diezeitgleich erfolgende Herausbildung des modernen Literatursystems in entscheidenderWeise vorangetrieben.322 Für den Bereich des Dramas lässt sich der Umbruch, der mitden betreffenden Entwicklungen in den 1790er Jahren einher geht, als Übergang „vonder Anthropologie bzw. Psychologie der Leidenschaften und Gefühle, der Kritik sozia-ler Verhältnisse und des unvernünftig und sympathetisch Lächerlichen zur […] szeni-schen Selbstrepräsentation von Kunst und Poesie“323 beschreiben; hier läuft das Ideal

320 Glaser zeichnet die Anlage von Kotzebues Lustspielen recht einleuchtend nach; er versteht sieallerdings als Ausdruck ‚falschen Bewusstseins‘, wie etwa seine Rede vom Kotzebue’schen„Schwanken zwischen spöttischem Aufmucken und sentimentalem Sichdreinfügen“ (Horst AlbertGlaser, Das bürgerliche Rührstück, 76) zeigt. – Vgl. zum Zusammenhang auch Hans Schumacher,„Materialien zum Verständnis des Textes“, in August von Kotzebue, Die deutschen Kleinstädter,hg. v. H. S., Berlin 1964, 84–110, 94–96.

321 Insbesondere im Genre der ‚Romantic Comedy‘, vgl. dazu auch Stephan Kraft, „Identifikato-risches Verlachen“, 223.

322 Vgl. hierzu allgemein Siegfried J. Schmidt, Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur im18. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1989 und Karl Eibl, Die Entstehung der Poesie.

323 Stefan Scherer, Witzige Spielgemälde. Tieck und das Drama der Romantik, Berlin/New York2003, 49f.

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Komik und Konfusion: Tieck 229

der ‚Selbstreferenz‘ dem Programm der ‚Realitätshaltigkeit‘ nach und nach den Rangab;324 auch hier gewinnt also das Projekt einer ‚Transzendentalpoesie‘ an Geltung, sodass auf den Bühnen nun vielfach ,Theater über Theater‘ zu sehen ist.325 Als eines derersten paradigmatischen Dokumente dieses Umbruchs gilt allgemein eine Komödie ausdem Jahr 1797: Ludwig Tiecks Der gestiefelte Kater. Spätestens mit diesem „Kinder-märchen in drei Akten“326 – so wird in der Literaturwissenschaft weithin angenommen– findet die Ära des Aufklärungslustspiels ein Ende. Mit Lothar Pikuliks repräsentativerBilanz gesprochen: „Es ist […] das Verdienst Ludwig Tiecks, daß der romantischeGeist des Spiels sich auch im Theater manifestiert.“327 Die Analyse der Tieck’schenKomödie soll darum den Schlusspunkt der historischen Rekonstruktionen der vorliegen-den Arbeit bilden.

Wenn Tiecks Der gestiefelte Kater in der skizzierten Weise als Grenzmarke in derGeschichte der deutschsprachigen Komödie gelesen wird, dann sind damit in der Regelmehr oder weniger explizit ausgeführte Vorstellungen über die Nutzung des Komischenin dem Stück verbunden. Gestützt wird ein entsprechendes literarhistorisches Urteil zu-meist auf die Annahme, dass Tieck in seiner Komödie den Zusammenhang zwischenKomik und Moral auflöst, der für das Lustspiel der Aufklärung konstitutiv ist,328 dass er– anders gesagt – das Komische von den Erziehungsaufgaben entbindet, die seiner Nut-zung im Komödienkontext seit Gottsched zur Bedingung gemacht werden.329 So ver-breitet Annahmen dieser Art sind, so selten wird der Versuch unternommen, sie auchdurch eine eingehende komikbezogene Untersuchung von Der gestiefelte Kater abzusi-chern. Tiecks Sicht und Nutzung des Komischen wird zwar in verschiedenen Beiträgenzu seinem Frühwerk und vor allem zu seinen sogenannten ‚Märchenkömodien‘ berührt,etwa wenn seine Arbeiten zum Ironiebegriff der Romantiker oder zur Evolution der

324 Zur Idee der ‚Welthaltigkeit‘ des Lustspiels im Anschluss an Lessing s. oben 2.1.325 Zum Begriff der ‚Transzendentalpoesie‘ vgl. Gerhard Kaiser, Literarische Romantik, Göttingen

2010, 25f. und zur Bedeutung der ‚(Selbst-)Reflexion‘ für die Frühromantik vgl. Lothar Pikulik,Frühromantik. Epoche – Werke – Wirkung, 2. Aufl., München 2000, 45–51.

326 So der Gattungsvermerk in der ersten Einzelausgabe des Lustspiels. Zitate aus dem Stück werdenfortan unter Verwendung der Sigle „GK“ nach der Ausgabe des Reclam Verlags (Der gestiefelteKater, hg. v. Helmut Kreuzer, Stuttgart 2001) nachgewiesen, die dem Erstdruck und nicht derPhantasus-Überarbeitung des Dramas von 1812 folgt (vgl. Phantasus, hg. v. Manfred Frank,Frankfurt a.M. 1985, 490–566).

327 Lothar Pikulik, Frühromantik, 295. Vgl. dazu auch – mit Hinweisen auf weitere Literatur – JohnFetzer, „Das Drama der Romantik“, in Romantik-Handbuch, hg. v. Helmut Schanze, Stuttgart1994, 289–310, 298f. und Detlef Kremer, Romantik. Lehrbuch Germanistik, Stuttgart/Weimar2001, 211–213. – Zu den Beiträgen, die Einwände gegen eine entsprechende Einordnung geltendmachen, s. unten 2.4.2.

328 S. zu Spielarten der Modellierung dieses Zusammenhangs oben 2.1, 2.2 und 2.3.329 Vgl. dazu musterhaft Bernhard Greiner, Die Komödie, 275.

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Zur deutschen Komödie im 18. Jahrhundert230

Unsinnpoesie in Beziehung gesetzt werden;330 sie wird aber kaum einmal in den Mittel-punkt der Betrachtungen gestellt.331 Dies soll in den folgenden Kapiteln geschehen, inderen Gliederung an dem Muster der Rekonstruktion festgehalten wird, das schon fürdie Überlegungen zum Komischen bei Lessing, Lenz und Kotzebue leitend gewesen ist:Ausgangspunkt der Analysen wird mithin eine Betrachtung der poetologischen Positio-nen sein, die als konzeptionelle Basis von Tiecks ‚Kindermärchen‘ im Medium desDramas anzusehen sind. Vor dem Hintergrund der Ausführungen zu Tiecks Dichtungs-theorie, die im Hinblick auf seinen Komödienbegriff aufgrund der Materiallage rechtallgemein bleiben müssen, wird anschließend zu untersuchen sein, welche Formen desKomischen in Der gestiefelte Kater zum Einsatz kommen und welchen Wirkungszielensie im Rahmen des Lustspiels dienen sollen. Eine Frage, die im Zusammenhang derbetreffenden Rekonstruktionen besondere Beachtung finden soll, wird die sein, inwie-fern sich Tieck mit seiner Komödie von den Lustspielmodellen und Komikverständ-nissen der Aufklärung entfernt und inwiefern er ihnen in der einen oder anderen Weiseverpflichtet bleibt.332

2.4.1 Konzeptionelles: Die Volksmährchen-Vorreden und andere Schriften

Wer Tiecks Theorie der Komödie zur Zeit der Entstehung und Veröffentlichung vonDer gestiefelte Kater nachzeichnen möchte, der sieht sich dem Problem gegenüber, dassdas Textkorpus, auf das er sich bei der Rekonstruktion ohne Weiteres zu stützen ver-mag, ausgesprochen übersichtlich und für die Zwecke seines Vorhabens zudem nurmittelbar von Nutzen ist.333 Schmal ist das betreffende Textkorpus, weil es angesichtsdes beständigen Wandels, dem Tiecks ästhetische und poetologische Positionen in den1790er Jahren unterworfen sind, äußerst problematisch erscheint, Dokumente seinertheoretischen Positionierung einzubeziehen, die vor 1794 oder nach 1798 entstanden

330 Vgl. zur ersten Frage grundlegend Ingrid Strohschneider-Kohrs, Die romantische Ironie in Theo-rie und Gestaltung, 2. Aufl., Tübingen 1977, zur zweiten Winfried Menninghaus, Lob des Un-sinns. Über Kant, Tieck und Blaubart, Frankfurt a.M. 1995.

331 Ausnahmen sind Manfred Frank, „Vom Lachen. Über Komik, Witz und Ironie. Überlegungen imAusgang von der Frühromantik“, in Vom Lachen. Einem Phänomen auf der Spur, hg. v. ThomasVogel, Tübingen 1992, 211–231, Uwe Japp, Die Komödie der Romantik. Typologie und Über-blick, Tübingen 1999 und Ruth Petzoldt, Albernheit mit Hintersinn. Intertextuelle Spiele in Lud-wig Tiecks romantischen Komödien, Würzburg 2000.

332 Vgl. zu einem Überblick über die romantische Beschäftigung mit der Aufklärung in Philosophie,Politik, Religion und Kunst Ludwig Stockinger, „Die Auseinandersetzung der Romantiker mit derAufklärung“, in Romantik-Handbuch, 79–105.

333 Dieses Problem stellt sich einem zumindest dann, wenn man – wie in der vorliegenden Studie –davon ausgeht, dass es notwendig oder zumindest sinnvoll ist, zwischen der ‚expliziten‘ und der‚immanenten‘ Poetik von Autoren zu unterscheiden.

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Komik und Konfusion: Tieck 231

sind.334 Und bloß mittelbar zielführend ist es, weil es keine Texte oder Kommentareumfasst, die sich ausführlicher mit Wesen, Zielen oder Möglichkeiten des Dramas imAllgemeinen oder der Komödie im Besonderen auseinandersetzen.335 Die skizzierteMateriallage ist hier freilich nicht als grundlegender Einwand gegen das Vorhabengedacht, die konzeptionellen Grundlagen von Der gestiefelte Kater zu rekonstruieren –sie soll vielmehr erklären, weshalb sich die folgenden Analysen darauf beschränken,Bausteine der Tieck’schen Komödientheorie der mittleren 1790er Jahre zusammenzu-tragen. Im Sinne einer entsprechenden Annäherung an das Tieck’sche Lustspielver-ständnis sollen zunächst die Reflexionen zum Zusammenhang von Dichtung und Un-sinn betrachtet werden, die sich in einigen seiner Texte der fraglichen Jahre findenlassen, und anschließend die Thesen zum Wesen des Lächerlichen, die er in den zurselben Zeit entstandenen ersten Kapiteln seines unvollendet gebliebenen Werks DasBuch über Shakespeare aufstellt.336

Der Zusammenhang zwischen Tiecks verstreuten poetologischen Reflexionen dermittleren 1790er Jahre wird offenkundig durch seine in immer neuen Anläufen zumAusdruck gebrachte Begeisterung für das Unzusammenhängende in der Poesie gestiftet.Vor allem in den Paratexten und den zumeist in Briefen formulierten Kommentaren zuseinen eigenen Werken tritt er in jenen Jahren so hartnäckig für eine Literatur der ‚Lau-ne‘ und ,Albernheit‘ ein, wirbt er so nachdrücklich für die Emanzipation der Dichtungvon Sinn und Zweck,337 dass es nahe liegt, ihn mit Winfried Menninghaus als zeitweili-gen Verfechter einer ‚Poetik des Unsinns‘338 einzustufen. Als locus classicus dieserPoetik sind die beiden „Vorreden“ anzusehen, die Tieck 1797 der dreibändigen Ausga-be seiner Volksmährchen voranstellte, in der Der gestiefelte Kater erstmals im Druckerschien; in ihnen wird das literarische Programm der Sinn- und Zweckfreiheit nicht nurumrissen, sondern zugleich zur Anschauung gebracht. Eingeleitet wird die Ausgabedurch eine „Ernsthafte Vorrede“, in der Tieck339 dem Leser, nachdem er die versammel-

334 Vgl. zu diesen Daten insbesondere die Rekonstruktionen in Winfried Mennighaus, Lob des Un-sinns, Kap. III oder Uwe Japp, Die Komödie der Romantik, Kap. IV.

335 Auch Tiecks umfangreiche Shakespeare-Kommentare aus der Mitte der 1790er Jahre sind in dieserHinsicht unergiebig.

336 Die vermutliche Entstehungsgeschichte der Abschnitte des Buches wird in dessen ausführlicherEinleitung beschrieben, vgl. Henry Lüdeke, „Einleitung“, in Ludwig Tieck, Das Buch über Sha-kespeare. Handschriftliche Aufzeichnungen, hg. v. H. L., Halle a.S. 1920, XI-XXVI.

337 Zu einer Zusammenstellung entsprechender Passagen vgl. Christoph Brecht, Die gefährliche Rede.Sprachreflexion und Erzählstruktur in der Prosa Ludwig Tiecks, Tübingen 1993, 57f. sowie Win-fried Mennighaus, Lob des Unsinns, 8 und 47f.

338 Ebd., 8 u.ö. Alternativ spricht Menninghaus auch von Tiecks ‚Poetik des Unzusammenhangs‘(vgl. ebd., 54 u.ö.). – Vgl. zu einer entsprechenden Interpretation der Grundideen des Tieck’schenFrühwerks freilich schon Arno Schmidts Überlegungen „,Funfzehn‘. Vom Wunderkind der Sinn-losigkeit“ aus dem Jahr 1959 (in A. S., Werke. Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe II, Zürich 1990,Bd. 2, 285–333).

339 In den Volksmährchen-Bänden freilich unter dem Pseudonym „Peter Leberecht“.

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Zur deutschen Komödie im 18. Jahrhundert232

ten Werke gleich vorweg als unbedeutend eingestuft hat, die folgenden Hinweise undBitten mit auf den Weg gibt:

Sein Sie, wertgeschätzter Leser, wenn Sie mein Buch lesen, so gut, sich herauszusuchen, wasIhnen gefällt; vorzüglich aber wünschte ich, daß Sie es mit keinem zu ernsthaften Gesicht auf-schlügen, denn ich habe es fast ohne alle Ernsthaftigkeit geschrieben. Sie brauchen mir nichterst zu sagen, daß das unrecht von mir sei, und daß die Rezensenten mir den Mangel derErnsthaftigkeit schon eintränken würden: ich weiß beides. Sondern, wenn Sie bei guter Launesind, und wenn dann mannigfaltige Gedanken ohne Zusammenhang vor ihnen hinziehn, und –um es kurz zu machen: wenn Sie, mit einem Worte nicht so recht gescheut sind, dann bitte ichSie, in einer solchen Stimmung gegenwärtige Blätter zu lesen, die Sie schwerlich über etwasbelehren dürften.340

Auf die erste Vorrede der Ausgabe folgt noch eine zweite, die „Scherzhafte Vorrede“betitelt ist, inhaltlich aber eine Variation auf die „Ernsthafte Vorrede“ darstellt – hierheißt es unter anderem:

Lieber Leser,Es gibt, darin wirst Du mir Recht geben, wunderliche Stimmungen im Menschen. Die Phanta-sie ist so reichhaltig und tief, daß alle Kunst diesen seltsamen Brunnen vielleicht nie ausschöp-fen wird. Millionen verschiedener Phantome ziehn wechselnd durch den Geist, und jeder Sinnsucht das zu ergreifen und darzustellen, was ihm am liebsten ist, von den Farben zu erzählen,die ihm am meisten wohlgefallen haben.Hast Du vielleicht Lust, mit mir ein fernes wunderliches Land zu besuchen? […] Ich will esübernehmen, Dein Führer zu sein durch ein Land, wo Poesie und romantische liebenswürdigeAlbernheit zusammen wohnen. Es kann sein, daß ich selbst ein Fremdling bin, und mich verir-re, oder getäuscht, diese Felsen und Baumlabyrinthe für ergötzender halte, als sie sind; unddann vergib mir.341

Diesen Auszügen aus den „Vorreden“ zu den Volksmährchen-Bänden lassen sich nichtnur die wesentlichen Konturen und grundlegenden Konzepte der Tieck’schen Unsinns-poetik ohne Schwierigkeiten entnehmen; sie machen zugleich deutlich, dass es sich beiseinem Poesieverständnis der mittleren 1790er Jahre um das Resultat einer konsequen-ten Abkehr oder – genauer gesagt – radikalen Umkehrung von Positionen der aufge-klärten Dichtungstheorie handelt. Statt eines wie auch immer verstandenen Vorhabensder ‚Naturnachahmung‘ fordert Tieck das gedankenlose Verfolgen von ‚Geistesphan-tomen‘, statt ‚Ernsthaftigkeit‘ und ‚Erbauung‘ kündigt er ‚Launen‘ und ‚liebenswürdigeAlbernheit‘ an, statt ‚Belehrung‘ und ‚Klarheit‘ zu versprechen, stellt er ‚Träume‘ undein Sich-Verirren in den ‚wunderlichen Ländern‘ der Phantasie in Aussicht, statt ‚Sinn‘meint er kurzum nur ‚Unsinn‘ bieten zu können.342 Auch wenn Tieck entsprechende

340 Peter Leberecht [d.i. Ludwig Tieck] (Hg.), Volksmährchen, 3 Bde., Berlin 1797, Bd. 1, 156.341 Ebd., 157f.342 S. zu den abgelehnten Positionen oben 2.1, 2.2 und 2.3. – In der Forschung werden für den Begriff

des Unsinns oftmals recht handgreifliche Übersetzungen vorgeschlagen, die durchweg wenig über-zeugen. So verkennt etwa Greiner, wenn er den Tieck’schen ‚Unzusammenhang‘ mit dem ‚Diony-sischen‘ in Verbindung bringt, dass Ersterem die Dimension der Körperlichkeit fehlt, die letzteremeigen ist (vgl. Bernhard Greiner, Die Komödie, 275), oder Bartl, wenn sie das Konzept des ‚Un-

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Ideen stets im Rahmen von deskriptiv angelegten Überlegungen zu seinen eigenenWerken umreißt, so ist doch offenkundig, dass er mit ihnen weitergehende normativeAnsprüche verbindet – er will in den betreffenden Abschnitten nicht allein offenlegen,wie seine eigenen Dichtungen zu verstehen sind, sondern zugleich angeben, wie Dich-tung im Allgemeinen gestaltet sein sollte. Auf eine Formel gebracht wird das für denfrühen Tieck leitende Verständnis von Poesie in der Rahmenerzählung, in die imPhantasus von 1812 auch Der gestiefelte Kater eingebettet ist: Nach der „Vorlesung“des Dramas durch dessen fiktiven Verfasser Theodor in geselliger Runde, diskutierendie unschlüssigen Zuhörer, was von der als „Schaum und leichter Scherz“343 angekün-digten Komödie zu halten sei; die Figur Wilibald gelangt im Rahmen der Überlegungenzu einer Deutung, die mit den Zielvorstellungen des Autors Tieck zur Deckung kom-men dürfte: „Ein Zirkel […], der in sich selbst zurückkehrt, wo der Leser am Ende gra-de eben so weit ist, als am Anfange.“344

Wenn man ausgehend von Tiecks allgemeinen poetologischen Positionen der Zeitum 1795 die komiktheoretischen Reflexionen in den Blick nimmt, die er in seinen Sha-kespeare-Kommentaren jener Jahre anstellt, dann kann man sich einer gewissen Ver-wunderung nicht erwehren: So originell und aufklärungskritisch seine Theorie derDichtung ist, so konventionell und aufklärungskonform fällt seine Theorie des Lächer-lichen aus.345 Überlegungen zu Shakespeares Romanze A Winter’s Tale nimmt Tieckzum Anlass für einen Exkurs, in dem er sich allgemein mit dem Komischen, dessenWesen und Spielarten auseinandersetzt; den Ausgangs- und Mittelpunkt der Betrach-tungen bildet eine allgemeine Charakterisierung des Lächerlichen in der Tradition desUngereimtheitsverständnisses, die im Rahmen der weiteren Reflexionen dann noch inverschiedenen Hinsichten näher bestimmt wird. Tieck schreibt:

Hobbes macht es zum Bedinge des Lachens, daß wir uns über den verlachten Gegenstand er-haben fühlen müssen, aber das Wesen des Lächerlichen kann nicht, wie er behauptet, darinnbestehen. – Besteht in einem beständigen Widerspruch des moralischen Mangels mit dem mo-ralischen Wesen selbst und den ihn umgebenden Subjekten. – Ein Betrunkener an sich istnicht lächerlich, aber er wird es, sobald ihn ein guter | Freund begegnet, der sich ganz ernsthaft

sinns‘ als Variante des ‚Harlekinesken‘ deutet, dass ersterem der Aspekt des Erzieherischen ab-geht, der mit Letzterem nicht selten verbunden wird (vgl. Andrea Bartl, Die deutsche Komödie,112–114).

343 Ludwig Tieck, Phantasus, 489.344 Ebd., 564.345 In dieser Hinsicht ist Manfred Franks Interpretation von Tiecks humorologischen Reflexionen ent-

schieden zu widersprechen (vgl. insbes. Manfred Frank, „Vom Lachen“, 216–219). Seiner Theseder ‚Unoriginalität Schopenhauers‘ ist zwar zuzustimmen, seine Argumentation für die ‚Origina-lität Tiecks‘ kann aber angesichts der Spielarten der Inkongruenztheorie des Komischen seit derAntike nicht überzeugen, s. dazu allgemein oben 1.2.3 und vgl. für das 18. Jahrhundert ferner PaulM. Haberland, The Development of Comic Theory.

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einen vernünftigen Rath bei ihm ausbäte. Molières Geiziger ist am lächerlichsten, wenn ergern freigebig scheinen möchte, Sh[akespeares] Dummköpfe, wenn sie sich klug stellen.346

Vor dem Hintergrund der obigen Rekonstruktionen zur Hamburgischen Dramaturgie347

bedarf es keines besonderen Scharfsinns, um zu bemerken, dass Tieck hier eine ArtKondensat von Lessings komiktheoretischer Position präsentiert, ohne ihn dabei freilichzu erwähnen. In Übereinstimmung mit Lessing grenzt er nicht nur das Inkongruenzmo-dell des Komischen von der Hobbes’schen Überlegenheitstheorie ab,348 wie jener siehter den Modellfall des Lächerlichen zudem in der Diskrepanz zwischen moralischer Re-alität und Idealität, und wie jener gelangt er schließlich durch seine Reflexionen zu derEinsicht, dass sich das Komische nicht unabhängig vom jeweiligen Kontext verstehenlässt, in dem es zur Erscheinung kommt.349 Inbesondere auf die beiden letzten Aspekteseiner Konzeption des Lächerlichen kommt Tieck in späteren Abschnitten seines Frag-ments über Shakespeare beharrlich zurück – auch in seinen Betrachtungen zum DramaRichard II. etwa macht er deutlich, dass er das Komische wesentlich als inkongru-enztheoretisch fundierte und kontextuell spezifizierte Form der Figurenkomik versteht:

[D]as Komische (s. Wintermährchen) entsteht bloß durch den Widerspruch in dem der morali-sche Mangel mit dem moralischen Wesen steht, ein Poltron, der den muthigen spielt, sein Zit-tern und Braviren, sein Drohen und zurückziehn, diese Contraste in ihm selbst sind es, die La-chen erregen. Daher können Heuchler, Verstellte und Lügner sehr brauchbare komische Perso-nen sein, aber keiner so ächt komisch, als der tapfre Zaghafte…350

Leicht zu sehen ist allerdings nicht allein, dass Tiecks Explikation des Lächerlichen inder Tradition der Aufklärung steht, offenkundig ist zudem, dass sie sich darum mit sei-ner Poetik des Unsinns etwa im Rahmen einer Komödientheorie oder einer Komödienicht ohne Weiteres verbinden lässt.351 Verlangt Tiecks Poetologie eine Dichtung ohneMoral, so beruht seine Humorologie auf der Annahme, dass Komik ohne moralischeDimension nicht zu haben ist; setzt jene auf die Launen des Geistes, so sieht diese inder Bezugnahme auf Handlungen und Haltungen von Menschen die Voraussetzung desKomischen. Wie in den folgenden Abschnitten erläutert werden soll, hat diese Span-nung zwischen Dichtungs- und Komiktheorie, zwischen Romantik und Aufklärung, inder Anlage und Ausgestaltung des Lustspiels Der gestiefelte Kater prägende Spurenhinterlassen. Im Unterschied zu anderen Romantikern nämlich gelangt Tieck über seine

346 Ludwig Tieck, Das Buch über Shakespeare, 18f.347 S. oben 2.1.1.348 S. zu diesen Positionen und ihrer vergleichenden Evaluation oben 1.2.3.349 Diese Einsicht ist nicht – wie Frank anzunehmen scheint – mit der Annahme gleichzusetzen, Ko-

mik sei ein nur subjektrelativ zu fassendes Konzept (vgl. dazu Manfred Frank, „Vom Lachen“,217f.). – Zu Argumenten gegen eine Gleichsetzung der beiden Thesen s. oben 1.1 und 2.1.1.

350 Ludwig Tieck, Das Buch über Shakespeare, 119. – Zur Tieck’schen Ablehnung bloßer Sprachko-mik vgl. ebd., 276f.

351 Dies wird, so offensichtlich es ist, nicht sonderlich oft bemerkt, geschweige denn eingehender be-trachtet, vgl. als Ausnahmen insbes. Eckehard Catholy, Das deutsche Lustzspiel und Helmut Kreu-zer, „Nachwort“, in GK, 71–87.

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Begeisterung für das Sinn- und Zweckfreie und seine Vorbehalte gegenüber der Aufklä-rung nicht zu dem Entschluss, in der Komödie auf das Komische zu verzichten.352

2.4.2 Komisches: Der gestiefelte Kater

Tiecks Komödie Der gestiefelte Kater löste bei ihrem Erscheinen bekanntlich recht hef-tige positive und negative Reaktionen aus, Fürsprecher fand das Drama vor allem imKreis der Frühromantiker, Gegner unter den Exponenten der Spätaufklärung.353 Wederdie zustimmenden noch die ablehnenden Kommentare von Zeitgenossen können dabeierstaunen, hat das Lustspiel doch in seiner ‚Oberflächenstruktur‘ kaum noch etwas mitder Aufklärungskomödie gemein: Als ein Theaterstück, „dessen einziger Inhalt einmissglückender Theaterabend ist“,354 treibt das Tieck’sche Lustspiel die bis zu Aristo-phanes zurückreichende Tradition des ‚Spiel im Spiel‘-Stücks in einer Weise auf dieSpitze, dass es – zumindest für die deutschsprachige Literatur – als Gründungsdoku-ment eines neuartigen ‚illusionsproblematisierenden‘ oder auch ‚parabatischen Dra-mentyps‘355 gelten kann.356 Eine solche dramenhistorische Einordnung des Stücks istfreilich nicht ohne Weiteres als komödienhistorisches Urteil zu verstehen und die erstenReaktionen auf den Gestiefelten Kater sollten darum nicht umstandslos als zeitgenössi-sche Beglaubigung für die These genommen werden, dass Tiecks Komödie auch inihrer ‚Tiefenstruktur‘ mit dem Komödienmodell der Aufklärung bricht. Ob dies der Fallist, ob Der gestiefelte Kater also auch in der Entwicklung der deutschsprachigen Ko-mödie eine vergleichbar herausgehobene Stellung einnimmt, wie sie ihm in der Ge-schichte des deutschsprachigen Dramas zukommt, dies soll nun durch eine genauere

352 Wie es für die Romantik musterhaft von Friedrich Schlegel in seiner Schrift „Vom ästhetischenWert der griechischen Komödie“ aus dem Jahr 1794 gefordert wird, vgl. zum Zusammenhang Ek-kehard Catholy, Das deutsche Lustspiel, 183–192.

353 Zu einem Abriss der frühen Rezeption des Stücks vgl. Ruth Petzoldt, Albernheit mit Hintersinn,185–187 und Manfred Frank, „Kommentar“, in Phantasus, 1145–1520, 1381–1385.

354 Helmut Kreuzer, „Nachwort“, 74.355 Vgl. zu diesem Begriff Uwe Japp, Die Komödie der Romantik, Kap. II und III.356 Vgl. zu diesem Urteil Manfred Frank, „Kommentar“, 1381f. – Zur Stellung von Der gestiefelte

Kater innerhalb der Geschichte des ‚Spiel im Spiel‘-Stücks vgl. Robert Stockhammer, „Der lustigeLiteraturkritiker auf der Bühne (und im Publikum): Freisetzung des Un-Sinns in Aristophanes’ DieFrösche und Tiecks Der gestiefelte Kater“, in Die lustige Person auf der Bühne, hg. v. PeterCsobádi, 2 Bde., Anif/Salzburg 1994, Bd. 2, 577–588 und Ulrike Landfester, „,…die Zeit selbstist thöricht geworden…‘. Ludwig Tiecks Komödie Der gestiefelte Kater (1997) in der Traditiondes Spiel im Spiel-Dramas“, in Ludwig Tieck. Literaturprogramm und Lebensinszenierung imKontext seiner Zeit, hg. v. Walter Schmitz, Tübingen 1996, 101–133. – Bei der literarhistorischenEinordnung sollte freilich nicht übersehen werden, das Tiecks Drama in der Konzeption nichtvollkommen neuartig ist, sondern ein auch in der deutschsprachigen Tradition bereits vorhandenesillusionsreflexives Dramenmodell nur radikalisiert; hingewiesen sei hier lediglich auf AndreasGryphius ‚Stück-im-Stück‘-Lustspiel Absurda Comica oder Herr Peter Squentz von 1657.

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Zur deutschen Komödie im 18. Jahrhundert236

Untersuchung des Lustspiels beantwortet werden, die nach dessen Modellierung desZusammenhangs von Komik und Moral fragt.357

Komik und Moral zum Ersten: Spiel oder Spott

Nimmt man die Nutzung des Komischen im Gestiefelten Kater gesondert in den Blick,ahnt man schnell, weshalb das Stück von einigen Frühromantikern nicht mit rückhalt-loser Zustimmung aufgenommen und von Friedrich Schlegel etwa als „nicht reich, nichtfrech und nicht poetisch genung“358 beurteilt wurde. Von den besonderen Möglich-keiten der Erzeugung belustigender und verwandter Effekte, die sich mit der Ein-führung des illusionsreflexiven Dramas ergeben, macht Tieck offenkundig nur sehrzurückhaltend Gebrauch;359 auf die Herstellung paradoxaler Konstellationen etwa, denEinsatz fiktionslogisch subversiver Metalepsen oder die Nutzung anderer ‚mise enabyme‘-Figuren wird weitgehend verzichtet.360 Ebenenkomik im oben erläuterten Sin-ne361 lässt sich allein in der Passage finden, in der sich der Hofgelehrte Leander und dieGestalt des Hanswursts über die Frage streiten, ob das Der gestiefelte Kater ein ordent-liches Drama sei – denn sie beziehen sich hier, wie der Verlauf ihres Disputs unterEinbeziehung des Publikums unmissverständlich deutlich macht, nicht auf das Stück-im-Stück, sondern auf das Tieck’sche Stück selbst:

LEANDER Das Thema meiner Behauptung ist, daß ein neuerlich erschienenes Stück: dergestiefelte Kater, ein gutes Stück sei.

HANSWURST Das ist gerade das, was ich leugne.LEANDER Beweise, daß es schlecht sei.HANSWURST Beweise, daß es gut sei.

[…]

LEANDER Manche Charaktere sind gut durchgeführt.HANSWURST Kein einziger.LEANDER So ist, wenn ich alles übrige fallen lasse, das Publikum gut darin gezeichnet.

[…]

357 Zur Rechtfertigung einer entsprechend zugespitzten Fragestellung sei auf die vorangegangenenAnalysen zu den Komödienkonzeptionen von Lessing, Lenz und Kotzebue verwiesen, s. 2.1, 2.2und 2.3.

358 Friedrich Schlegel an August Wilhelm Schlegel, November 1797, in Friedrich Schlegels Briefe anseinen Bruder August Wilhelm, hg. v. Oscar Walzel, Berlin 1890, 306.

359 Vgl. hierzu auch die – freilich nicht komikbezogenen – Hinweise in Stefan Scherer, Witzige Spiel-gemälde, 314–319.

360 Zu einer Analyse des Dramas, die diese Aspekte im Detail beleuchtet, vgl. Klaus Weimar, „Limi-ted poem unlimited – Tiecks verkehrtes Welttheater“, in Germanistik und Komparatistik, hg. v.Hendrik Birus, Stuttgart/Weimar 1995, 144–159. – Zu den Gemeinsamkeiten und Unterschiedenvon komischen und paradoxalen Strukturen s. oben 1.4.3 Noch einmal Komik und Auflösbarkeit.

361 S. 1.5.2.

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Komik und Konfusion: Tieck 237

HANSWURST (gegen das Parterre) […] Wir stehn nun beide auf Du und Du, und sympathi-sieren in Ansehung des Geschmacks und er will gegen meine Meinung behaup-ten, das Publikum im gestiefelten Kater sei wenigstens gut gezeichnet.

FISCHER Das Publikum? Es kömmt ja kein Publikum darin vor.362

Die maßgebliche Komikquelle im Gestiefelten Kater ist allerdings – ganz im Sinne vonTiecks aufgeklärtem Verständnis des Lächerlichen – die Figurenkomik. Um Be-lustigung hervorzurufen, setzt das Drama mit anderen Worten wesentlich auf unter-schiedliche Formen der Illustration von Ungereimtheiten im Verhalten und Wesen derCharaktere. Dabei dienen Tieck vor allem die fiktiven Zuschauer des Stücks dazu, cha-rakterliche Unzulänglichkeiten vorzuführen; über sie spannt er ein Panorama von Feh-lern aus, deren Komik in aller Regel auf dem Kontrast von Wirklichkeitsbeurteilungund Wirklichkeit beruht – was auch immer die Vertreter des fiktiven Publikums übersich selbst oder das ihnen gebotene Stück mutmaßen, sie treffen mit schlafwandleri-scher Sicherheit daneben.363 Dass sich die Inszenierung von Figurenkomik im Gestie-felten Kater gleichwohl von derjenigen abhebt, die etwa bei Lessing, Lenz oder Kotze-bue zu beobachten ist, ergibt sich daraus, dass sie in Tiecks Komödie eine wesentlichhomogenere und zugleich konkretere Tendenz aufweist: Während Lessing, Lenz undKotzebue Figurenkomik vorwiegend in gleichsam anthropologischer Absicht nutzen,setzt Tieck sie gegen einen klar benannten historisch-kulturellen Gegner ein – gegen dieAufklärung. Diese Stoßrichtung der Komiknutzung im Gestiefelten Kater wird bereitsin dessen „Prolog“ mit großer Deutlichkeit herausgestellt – hier nämlich kommt es imfiktiven Publikum, nachdem es erfahren hat, dass es gleich ein ,Kindermärchen‘ mitdem Titel „Der gestiefelte Kater“ zu sehen bekommt, zu dem folgenden Dialog:

SCHLOSSER Ein Kindermärchen? Aber um Gottes willen sind wir denn Kinder, dass manuns solche Stücke aufführen will? Es wird doch wohl nimmermehr ein ordent-licher Kater aufs Theater kommen?

FISCHER Es ist am Ende eine Nachahmung der neuen Arkadier, so eine Art Terkaleon –MÜLLER Das wäre nun nicht übel, denn ich habe schon längst gewünscht, eine solche

wunderbare Oper einmal ohne Musik zu sehen.FISCHER Ohne Musik ist es abgeschmackt, denn lieber Freund, über solche Kindereien,

über solchen Aberglauben sind wir weg, die Aufklärung hat ihre gehörigenFrüchte getragen.364

Die Komik im Gestiefelten Kater enthält, kurz gesagt, keine Hinweise darauf, dassTieck das Drama im Zeichen einer Poetik des Unsinns verfasst hat. Sie ist wesentlichtendenziöse Komik und lässt sich als solche weder im Sinne Tiecks noch im Sinne neu-erer Erläuterungen als Nonsenskomik einordnen;365 sie beruht auf verschiedenen Ver-

362 GK, 48f. Hervorhebungen im Original.363 S. dazu im Einzelnen unten.364 GK, 5.365 Vgl. dazu insbes. Peter Köhler, Nonsens. Theorie und Geschichte einer literarischen Gattung,

Heidelberg 1989 und s. ferner oben 1.4.3 Noch einmal Komik und Auflösbarkeit.

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Zur deutschen Komödie im 18. Jahrhundert238

fahren der Satire und lässt mithin deutlich erkennen, dass das Lustspiel keineswegs ra-dikal mit der aufgeklärten Tradition bricht.366 Tiecks Gestiefelte Kater ist zweifellos alsAngriff auf die Aufklärung zu verstehen – als ein Angriff allerdings, der deren eigeneWaffen nutzt.

Komik und Moral zum Zweiten: Satire und Unsinn

Die Rekonstruktionen des vorangegangenen Abschnitts könnten den Schluss nahe le-gen, dass sich Tiecks Komödie als Aufklärungssatire im doppelten Wortsinn verstehenlässt.367 Das allerdings ist nicht der Fall. Das Stück bedient sich zwar verschiedener sa-tirischer und parodistischer Verfahren der aufgeklärten Komödie des 18. Jahrhunderts,es tut dies aber offenkundig in höchst unorthodoxer Weise. Die entscheidende Beson-derheit von Tiecks Satire gegen die Aufklärung im Vergleich mit typischen Satiren derAufklärung besteht dabei in ihrer kritischen Radikalität: Im Gestiefelten Kater werdenden ‚vorgeführten‘ Auffassungen und Verhaltensweisen keine ‚besseren‘ gegenüber ge-stellt. Mit großer Unerbittlichkeit zeigt das Drama stattdessen vom „Prolog“ bis zum„Epilog“ stets das Selbe: Es verdeutlicht, wie Interpretationen fehlschlagen, Kategori-sierungen ins Leere laufen und Orientierungen in die Irre leiten. Musterhaft sind indieser Hinsicht die ebenso zahlreichen wie hilflosen Versuche der fiktiven Zuschauer,das ihnen präsentierte ,Kindermärchen‘ zu rubrizieren, von seiner Einordnung als „Re-volutionsstück“368 über seine Deutung als „dummes Zeug“369 oder „gesunder Men-schenverstand“370 bis hin zu seinem Verständnis als „rührendes Familiengemälde“.371

Was Tieck in seiner Komödie mit den Mitteln der Satire anschaulich macht, ist – solässt sich zusammenfassen – weniger die Unzulänglichkeit einzelner Positionierungenals vielmehr die Unsinnigkeit jeder Positionierungsambition.

Wie in Minna von Barnhelm stellt mithin auch im Gestiefelten Kater die Problema-tisierung der menschlichen Urteilspraxis einen wesentlichen Werkaspekt dar; andersfreilich als in Lessings Lustspiel hat diese Problematisierung in Tiecks Stück nicht dieFunktion, zu gesteigerter Urteilsvorsicht beizutragen, sondern die, einen grundlegendenUrteilsverzicht herbeizuführen. Legt es Lessing darauf an, Reflexionen anzustoßen,372

366 Vgl. zum Satirischen bei Tieck Ernst Ribbat, „Poesie und Polemik. Zur Entstehungsgeschichte derromantischen Schule und zur Literatursatire Ludwig Tiecks“, in Romantik. Ein literaturwissen-schaftliches Studienbuch, hg. v. E. R., Königstein i.T. 1979, 577–587 und zu einer differenziertenAnalyse der satirischen Aspekte von Der gestiefelte Kater Eckehard Catholy, Das deutscheLustspiel, 198–202. – S. zum Begriff der Satire auch oben 1.5.3.

367 Vgl. zu einem solchen vorschnellen Schluss etwa schon Hans Georg Beyer, Ludwig Tiecks Thea-tersatire „Der gestiefelte Kater und ihre Stellung in der Literaturgeschichte, München 1960, 24–27 oder noch Stefan Scherer, Witzige Spielgemälde, 314f.

368 GK, 6. Vgl. auch ebd., 58.369 Ebd., 21.370 Ebd., 17.371 Ebd., 10.372 S. zu Lessings Position im Einzelnen oben 2.1.2.

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Komik und Konfusion: Tieck 239

geht es Tieck darum, Konfusion zu stiften.373 In diese Sinne sind die vielen Bemerkun-gen, in denen die fiktiven Zuschauer im Gestiefelten Kater über ihre wachsende Ver-wirrung klagen, durchaus als Hinweise auf die intendierte Wirkung des Stücks zu lesen:Wenn Fischer ausruft: „Ich fürchte toll zu werden“,374 oder wenn Schlosser bekennt:„Ich kann aus nichts mehr klug werden“,375 dann bringen sie als Zuschauer des Stücks-im-Stück zum Ausdruck und zur Anschauung, wie sich der Zuschauer des Stücks selbstfühlen soll.376

Tiecks Gestiefeltem Kater scheint also durchaus die Zielsetzung zugrunde zu liegen,die seine Poetik des Unsinns der Dichung als Aufgabe vorgibt: Das Stück will Zu-schauer und Leser in eine ‚Stimmung‘ versetzen, in der ihre Gedanken den Zusammen-hang verlieren und sie ‚nicht mehr gescheit‘ sind; es sucht sie in ein ‚wunderlichesLand‘ zu entführen, in dem sie den Überblick verlieren und sich schließlich ‚verir-ren‘.377 Der Weg, den Tieck in seinem Stück beschreitet, um dieses Ziel zu erreichen,ist allerdings der Weg radikalisierter Satire, nicht der liebenswürdiger Albernheit.

Komik und Moral zum Dritten: Medizin statt Albernheit

Tiecks Komödie Der gestiefelte Kater lässt sich allerdings nicht nur aufgrund der ge-nutzten Komikformen, sondern auch aufgrund der verfolgten Wirkungsziele als eigen-willige Fortsetzung der Tradition des Aufklärungslustspiels verstehen. Deutlich wirddies ironischerweise dann, wenn man das Stück vor dem Hintergrund des berühmtenprogrammatischen Briefs an Karl Wilhelm Ferdinand Solger aus dem Jahr 1810 be-trachtet, in dem Tieck noch einmal in pointierter Form seine Begeisterung für das Al-berne und seine Verachtung gegenüber der Aufklärung artikuliert:

Ich habe die Erfahrung schon öfter gemacht, daß sich […] Menschen […] ein unrichtiges Bildvon mir entworfen haben, weil sie das Unabsichtliche, Arglose, Leichtsinnige, ja Alberne nichtgenug darinn hervorgefühlt haben. Es ist wahr, die Heuchelei unserer Zeit habe ich immer vonHerzen gehaßt, die große Anmaßung der Unwissenheit, oder die Verspottung des Gemüthsund der Kindlichkeit und des Heiligen, die besonders in meiner Kindheit und früheren Jugendso sehr auf unsern Gegenden lastete: dabei haßte ich vom frühesten Besinnen an die sogenann-ten Satyriker eben so sehr, die die Geißel schwingen, Thorheiten und Laster durch Lachen undSchelten bessern wollten, und was der hohlen Redensarten mehr sind. […] Schon sehr frühschwebte mir die Ahndung vor, daß es Lust, Scherz, Witz geben müsse, die nur um sich selbst

373 Insofern ist es ausgesprochen irreführend, wenn Tieck – wie dies bisweilen geschieht – als einfrüher Vertreter von Brechts Idee des ‚epischen Theater‘ eingestuft wird, vgl. zu dieser AnnahmeErnst Nef, „Mittel der Illusionszerstörung bei Tieck und Brecht“, in ZfdPh 83 (1964), 191–215und zu einem Abriss der Brecht’schen Konzeption Frank Thomsen/Hans-Harald Müller/TomKindt, Ungeheuer Brecht. Eine Biographie seines Werks, Göttingen 2006, 73f.

374 GK, 26. Vgl. ebd., 45.375 Ebd., 45.376 Vgl. zum Wirkungsziel der Konfusion in Tiecks Prosa Jörg Bong, Texttaumel. Poetologische

Inversionen von „Spätaufklärung“ und „Frühromantik“ bei Ludwig Tieck, Heidelberg 2000.377 S. zu den Nachweisen der Auszüge in einfachen Anführungszeichen oben 2.4.1.

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da seien, und diese medizinischen Anwendungen des Hellsten in uns erschienen mir ekel-haft.378

Den zahlreichen Anregungen, die sich aus diesen Einlassungen für die Auseinanderset-zung mit dem Gestiefelten Kater ergeben, kann hier nicht nachgegangen werden. Eineihrer Implikationen verdient im Rahmen der umrissenen Anayse der Komödie aller-dings unbedingt Beachtung: Ausgehend von Tiecks Briefbemerkungen liegt der Schlussnahe, dass der Figur des Dichters unter den dramatis personae des Lustspiels ein Son-derstatus zukommt, dass sie – genauer gesagt – als ein Sprachrohr des Autors anzuse-hen ist. Deutlich wird dies insbesondere, wenn der Dichter am Ende des GestiefeltenKaters die Idee seines Stücks-im-Stück umreißt: „Ich hatte den Versuch gemacht, Siealle in die entfernten Empfindungen Ihrer Kinderjahre zurückzuversetzen, dass Sie sodas dargestellte Märchen empfunden hätten, ohne es doch für etwas Wichtigeres zuhalten. […] Sie hätten wieder zu Kindern werden müssen“.379 Dieses Ziel teilt der AutorTieck offenkundig mit seiner Figur des Dichters, auch ihm geht es mit seinem Stück umdie Rückeroberung der Kindheit durch die Dichtung.380

Das Stück Der gestiefelte Kater ist der Versuch, den Rezipienten durch gezielte Kon-fusion in die Kindheit zurück zu versetzen – und es ist als ein solcher Versuch geradekein „Zirkel“, bei dem „der Leser am Ende […] so weit ist, als am Anfange“381, sonderneine originelles Beispiel für das, was Tieck selbst als medizinische Anwendung desKomischen angreift. Das „Kindermärchen in drei Akten“ ist ein Drama des Übergangs:Es setzt die lange Tradition des Aufklärungslustspiels fort, indem es mit den Mitteln derKomik einer Moralisierung von Zuschauern und Lesern zu dienen versucht – und essetzt jener Tradition ein Ende, indem es Moralisierung nicht mit dem Erwerb, sondernmit dem Verlust von Wissen durch die Poesie gleichsetzt:

DICHTER Sie hätten dann freilich Ihre ganze Ausbildung auf zwei Stunden beiseit legenmüssen, –

FISCHER Wie ist denn das möglich?DICHTER Ihre Kenntnisse vergessen –382

378 Ludwig Tieck an Karl Wilhelm Ferdinand Solger, 6. Januar 1815, in Percy Matenko (Hg.), Tieckand Solger. The Complete Correspondence, New York/Berlin 1933, 155–161, 156.

379 GK, 62.380 Vgl. zur ‚Kindheitsideologie‘ der Romantiker allgemein Yvonne-Patricia Alefeld, Göttliche Kin-

der. Die Kindheitsideologie in der Romantik, Paderborn u.a. 1996.381 Ludwig Tieck, Phantasus, 564.382 GK, 62.

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