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literarische Begegnungen mit dem Herzog Anton Ulrich ... · ist: Noli me tangere, die biblische...

Date post: 29-Aug-2019
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literarische Begegnungen mit dem Herzog Anton Ulrich-Museum und seinen Kunstwerken 50
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literarische Begegnungenmit demHerzog Anton Ulrich-Museum und seinen Kunstwerken

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literarische Begegnungenmit demHerzog Anton Ulrich-Museum und seinen Kunstwerken

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H E R AU S G E G E B E N VO N

J O C H E N L U C K H A R DT

B E A R B E I T E T VO N

O L I V E R M AT U S C H E K

S A N D ST E I N V E R L A G . D R E S D E N

Inhalt

6 Einleitung

8 Fünfzig literarische Begegnungen

138 Literatur

139 Quellen

144 Impressum

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Einleitung

Im Lauf der mehr als zweieinhalb Jahrhunderte, die seit der Begründung des heutigen Herzog Anton Ulrich-Museums als Kunst- und Naturalienkabinett des Herzogs Carl I. von Braunschweig und Lüneburg in den Jahren 1753/54 vergangen sind, entstand eine erstaunliche Zahl schriftlicher Äußerungen von Besuchern des Hauses, die interessan-te Einsichten in die Geschichte des Museums gestatten. Das Spektrum reicht von Ge-samtüberblicken des Sammlungsbestands und ausführlichen Betrachtungen einzelner Werke bis zu Anspielungen und kurzen Bemerkungen, die mit den Kunstsammlungen in Verbindung stehen. So schreibt Max Beckmann, der in jungen Jahren eine Zeit lang in Braunschweig gelebt hat, mit Blick auf ein Hauptwerk des Museums: „Also über Rembrand [sic!]. Manchmal sehr schön, die Nachtwache find ich langweilig, ich finde alle können nicht gegen sein Braunschweiger Familienportrait an«,1 und Marcel Proust lässt den Kunstliebhaber Charles Swann in À la recherche du temps perdu darüber nachdenken, ob er für seine Studien über Vermeer nicht vielleicht nach Braunschweig fahren solle – wo er sich dessen Gemälde Das Mädchen mit dem Weinglas hätte anse-hen können.

Das nachfolgend unter dem Titel 50 literarische Begegnungen zusammengestellte Textkonvolut über das Herzog Anton Ulrich-Museum und seine Besucher kann und soll keinesfalls vollständig sein, sondern vielmehr einen repräsentativen Querschnitt der sehr unterschiedlichen Quellen darstellen. Der Begriff des Literarischen wird dabei in einem weiten Sinne aufgefasst, sodass klassische Reiseberichte und frühe wissen-schaftliche Betrachtungen ebenso wie Romanpassagen, journalistische Arbeiten und sogar eine beschriftete Karikaturzeichnung aus einer Tageszeitung berücksichtigt wur-den. An den in chronologischer Folge abgedruckten Texten sind allgemeine Strömun-gen ebenso festzustellen wie individuelle Interessen und persönlicher Kunstge-schmack. Zudem ist zu beobachten, wie literarische Gattungen in Mode kommen und

nach einiger Zeit durch andere, als zeitgemäßer empfundene ersetzt werden, oder – wie im Falle der lyrischen Arbeiten und der Romane – nach Jahrhunderten als Formen der Auseinandersetzung mit der bildenden Kunst erneut aufgegriffen werden. Ergänzend wurden den Texten Abbildungen beigegeben, wobei oftmals genau jene Stücke zu sehen sind, die in den Besucherberichten erwähnt werden, auch wenn manches Werk im Lau-fe der Jahrhunderte verloren ging oder anderen Künstlern zugeschrieben wurde. An anderen Stellen wurden Reproduktionen von Archivalien und Ansichten der Museums-gebäude als Illustrationen ausgewählt, um auch hier Entwicklungen und Veränderun-gen zu dokumentieren.

Die Auswahl der Texte beruht auf einer vom Direktor des Museums, Jochen Luck-hardt, zusammengestellten Materialsammlung, die um Funde aus Bibliotheken und Archiven ergänzt wurde. Besonders ist an dieser Stelle Peter Albrecht und Alfred Walz (beide in Braunschweig) zu danken, deren umfangreiche Recherchen manchen ver-steckten Beitrag zum Vorschein brachten, der für diesen Band genutzt werden konnte.

Darüber hinaus haben Christopher Frey (Wien), Stephan Matthias (Oldenburg), Wulf Otte und Anja Pröhle (Braunschweigisches Landesmuseum), Ulrich Joger (Staat-liches Naturhistorisches Museum) sowie Claus Cordes, Thomas Döring, Silke Gaten-bröcker, Regine Marth, Martina Minning und Jutta Streitfellner (Herzog Anton Ulrich- Museum) die Arbeit unterstützt und zahlreiche wichtige Hinweise gegeben. Auch ihnen sei an dieser Stelle ganz herzlich gedankt.

1 Max Beckmann, Frühe Tagebücher, 1903/04 und 1912/13. Mit Erinnerungen von Minna Beckmann-Tube, hrsg. u. kommentiert von Doris Schmidt, München/Zürich 1985, S. 59.

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1Von gelehrten Neuigkeiten | 1753

Ein Bericht zur Eröffnung des Kunst- und Naturalienkabinetts

Die Zeitschrift Hamburgische Berichte von neuesten Gelehrten Sachen enthielt in einer ihrer ersten Nummern des Jahrgangs 1754 einen kurzen Bericht, der auf eine »prächtige Sammlung« in Braunschweig hinweist, die Herzog Carl I. dort unter der Leitung des Mediziners Daniel de Superville hatte anlegen lassen. Tatsächlich war der Beitrag be-reits am 30. Dezember 1753 entstanden – und genau diese Datierung lässt ihn für die Geschichte des Herzog Anton Ulrich-Museums so interessant werden, dass er die Sammlung der hier zusammengestellten Texte eröffnen soll. Dabei wird ein wichtiger, vielleicht der wichtigste Aspekt, im Artikel selbst gar nicht erwähnt, nämlich dass die Kunstsammlung im Prinzip allen Besuchern zur Besichtigung offenstand. Zwar sind in Europa noch wesentlich ältere Museen bekannt, doch waren diese nur einem kleinen Kreis von Eingeweihten und Höflingen zugänglich. Nur das British Museum kann seine Gründung als öffentliche Sammlung ebenfalls in das Jahr 1753 zurückführen. Für das Publikum wurde das Haus in London allerdings erst 1759 geöffnet, als in Braunschweig bereits seit Jahren »allerhand Curiosis« zu bestaunen gewesen war.

Michel Gérin: Büste des Herzogs Carl I. von Braun-schweig-Wolfenbüttel, 1778, Gips, farbig gefasst, Inv. Nr. Gip 502

Hamburgische Berichte von neuesten Gelehrten Sachen

Wolfenbüttel vom 30. Decemb. [1753]

Von gelehrten Neuigkeiten ist dieses wol eines der vornehmsten mit, daß unser durch-laucht. Herzog auf dem so genannten Mooshofe in Braunsweig, eine prächtige Samm-lung von allerhand Curiosis, und Sehenswürdigkeiten anlegen lassen. Diese Collection ist albereits sehr beträchtlich, und wird auf viele tausend Rthlr. geschätzet, insonder-heit ist die Sammlung von allerhand Drüsen1 und kostbaren Steinen sehr ansehnlich. Man siehet auch hieraus, daß unser durchl. Herzog seiner rühmlichen Gewohnheit nach, alle Arte der nützlichen Wissenschaften in seinen Landen mehr und mehr empor zu heben suche. Der Hr. geh. Rath Superville, der vormals am bareuthischen Hofe ge-standen ist, ist der Direktor von diesem Instituto.

1 Gemeint sind Drusen, also mit Kristallen gefüllte Gesteine.

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2Jan Vos | 1654

Ein Gedicht auf Jacob Adriaenszoon Backers Gemälde Cimon und Iphigenie

Bevor die Chronologie mit Beiträgen aus der Zeit nach der Gründung des Kunst- und Naturalienkabinetts in Braunschweig fortgesetzt wird, folgen zunächst noch einige ältere Texte, die sich auf Kunstwerke beziehen, die heute im Herzog Anton Ulrich- Museum zu finden sind. Dessen Gemäldegalerie geht vor allem auf seinen Namens-patron Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel zurück, der zum Ende des 17. Jahr-hunderts zu den bedeutendsten Kunstsammlern Europas gehörte.Schon im Jahr 1654 hatte der niederländische Schriftsteller Jan Vos ein Gedicht auf das Gemälde Cimon und Iphigenie von Jacob Adriaenszoon Backer verfasst. Damals befand sich das Bild noch im Besitz des Sammlers Abraham van Bassen, seit 1776 ist es in den Sammlungen der Herzöge von Braunschweig nachweisbar.

Op een slaapende Harderin, die van Chimon gezien wordt; in de groote zaal van Abraham van Bassen: door Bakker geschildert.

Van Bassen hou toch standt; de Nimf die gy ziet slaapen,Is niet door ’t groot penseel, maar door Natuur geschaapen.

Laat Chimon toch bezien, wie hem de borst doet braân.Men kann de lust, bywijl, door d’oogen ook verzaân;

Dies zijt een weinig stil: hier moet geen voetzool kraaken.Gy zult, zoo gy u rept, de veldtnimf wakker maaken.

Zy brandt ons nu zy slaapt; indien zy wakker wardt,Zoo maaktz’ons heel tot asch: want ’t oog ontsteekt het hart.

Auf eine schlafende Hirtin, die von Cimon gesehen wird; im großen Saal von Abraham van Bassen: von Bakker gemalt.

Van Bassen bleibt doch stehen; die Nymphe, die Ihr schlafen seht,wurde nicht von dem großen Pinsel, sondern von der Natur geschaffen.

Laßt Cimon doch besehen, wie ihm die Brust brennt.Man kann die Lust manchmal auch durch die Augen sättigen;

so seid ein wenig still: Hier muß keine Fußsohle knarren.Ihr werdet, wenn Ihr Euch bewegt, die Feldnymphe wecken.

Sie läßt uns, jetzt wo sie schläft, brennen; falls sie wach würde,so würde sie uns ganz zu Asche machen: denn das Auge entzündet das Herz.

Jacob Adriaenszoon Backer: Cimon und Iphigenie, vor 1640, Leinwand, Inv. Nr. GG 670

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3Jeremias de Decker | 1660

Ein Lobgedicht auf ein Gemälde Rembrandts

Das nachfolgende Gedicht hat Jeremias de Decker im Jahr 1660 in den Niederlanden veröffentlicht. Er lobt darin ein Gemälde Rembrandts, das später ebenfalls in die Galerie der Braunschweiger Herzöge gelangte und bis heute im Museum erhalten geblieben ist: Noli me tangere, die biblische Darstellung des auferstandenen Christus, dem Maria Magdalena vor dem Grabfelsen begegnet.

Als ick d’History lese, ons by sint Jan beschreven,En daer beneven sie dit kunstrijck Tafereel,Waer (denk ick dan) is pen soo net oyt van pinceelGevolgt, of doode verw soo na gebrogt aen t leven?

’t Schijnt dat de Christus segt: Marie, en wilt niet beven,Ick ben ’t de dood en heeft aen uwen Heer geen deel:Sij sulcx geloovende, maer echter noch niet heel,Schynt tusschen vreugde en druck; en vreese en hoop te sweven.

De graf rots na de kunst hoog in de lucht geleyd,En rijck van schaduwen, geeft oog en majesteytAen all de rest van’t werck. Uw’ meesterlijcke streken.

Vriend Rembrant, heb ick eerst sien gaen langs dit paneel;Dies moest mijn’ Pen wat Rijms van uw begaeft PinceelEn mijnen Int war Roems van uwe Verwen spreken.

Les’ die Historie ich und seh’ daneben,Johannes nacherzählt, dies kunstreich Bild, Wo (denk ich dann) folgt’ der Pinsel je so unverhülltDer Feder, kam tote Farbe je so nah’ dem Leben?

Es ist, als sagte Christus: Maria, sollst nicht beben,Ich bin’s, der Tod hat über deinen Herren keine Macht.Sie glaubt’s, jedoch von Zweifeln noch umnacht’,Scheint zwischen Freud’ und Angst, Hoffnung und Furcht zu schweben.

Der Grabfels ragt kunstvoll hoch emporUnd gibt, verschattet, majestätischen DekorDem ganzen Bild. Deine meisterhaften Pinselstriche,

Freund Rembrandt, sah ich über diese Tafel gehn,Da griff zur Feder und zur Tinte ich,Um deines Pinsels, deiner Farben Ruhm noch zu erhöhn.

Rembrandt Harmensz. van Rijn: Christus und Maria Magdalena (Noli me tangere), 1651, Leinwand, Inv. Nr. GG 235

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4Christian Heinrich Erndtel | 1706

Bericht einer Reise durch England und Holland

Einen Bericht über die Kunstsammlungen Herzog Anton Ulrichs, die sich seinerzeit noch im Schloss Salzdahlum bei Wolfenbüttel befanden, liefert der Mediziner Christian Heinrich Erndtel. Seine Reiseaufzeichnungen wurden noch zu Lebzeiten des Herzogs in englischer Sprache publiziert. Die darin enthaltenen Angaben zu Künstlern, die mit Werken in der Galerie vertreten waren, erscheinen aus heutiger Sicht recht ungenau: Joachim Luhn wird hier zu Lohm und mit dem Franzosen Boubell ist der Italiener Sebastiano Bombelli gemeint. Doch auch der Autor selbst ist noch in den Schreibweisen Erndtl und Erndl bekannt, die sich von Auflage zu Auflage seiner Bücher ändern konnten. Der Übertragung ins Englische ist es zudem geschuldet, dass der Ort Salzdahlum hier in etwas ungelenker Lautsprache zu »Thalk Thal« wird.

I was agreeably Diverted with the Magnificent Palace and Gardens of Duke Anthony Ulrick, which is call’d Thalk Thal. I shall say nothing of the Gardens which are extra-ordinary Delightful, considering the short time since they were begun, ’tis sufficient to make mention of the Building, although it be chiefly composed of Brick and Wood, and of Eighty Years standing, yet it is a Regular piece of Architecture, and for the Pleasant-ness of the Situation, may compare with any Palace or Gardens in Germany. […] As to what relates to the Pictures which are to be seen in the side of the Building, they were the Work of one Lohm, a Citizen of Hamburgh, but the Serene House of Brunswick and Lunenburg were drawn to the Life by the celeb rated Hand of Boubell, a French Painter. In the middle of this Palace is a spacious Hall, in form of a Parallelogram, not rais’d on Marble Pillars, and graced with stately Columns, but adorn’d with the sweetest Pain-tings. On both sides ancient Statues made of Brass are dispos’d in the most Beautiful Order, expressing the Effigies of Homer, Plato, Demosthenes, Aristotle, Dionysius, Cicero, Seneca, etc. Not to mention the rest, which are form’d of Alabaster, the most delicate of which is a representation of Flora lying on the Ground, which was brought out of Greece, and purchased by the Serene Duke at a Thousand Crowns. The other Spaces are supply’d by the Choicest Paintings of the Best Hands […]. In the Closets or Secret Rooms of this large Hall are kept several of the most Scarce and Valuable pieces of Painting, as Mary and Joseph done by Michael Angelo, a Picture valued at Fifteen Hundred Crowns. The Saviour of the World by Caraggio, computed at Two Thousand Crowns. Joseph representing the Carpenter, by Pietro Romano, which Painting the most power-ful King of Prussia presented to this Court.

I remember in a secret Cabinet, that is not shown to every Body, amongst a vast number of Rarities from China and Japan, Asiatick and Grecian Antiquities, I saw an old Brass Plate near a Foot and a half high, which contained the Head of Aristotle, Chief of all the Grecian Philosophers […].

Concerning the other Closets of this Magnificent Palace, and their Furniture it would be too tedious to take notice of them, it is sufficient to the Curious to observe that this Building is worthy of a King, and the beauty of the Gardens and Palace together the Inferior to none in Europe.

Balthasar Permoser: Büste des Herzogs Anton Ulrich von Braunschweig- Wolfenbüttel, vor 1710, Alabaster, Inv. Nr. Ste 5

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Das herrliche Schloss und die Gärten von Herzog Anton Ulrich, die den Namen Talk Thal tragen, boten mir angenehme Ablenkung. Von den Gärten will ich hier nicht reden, sie sind erst vor Kurzem angelegt worden und dafür außergewöhnlich reizvoll; es reicht völlig aus, den Bau zu erwähnen, auch wenn er vor allem aus Backstein und Holz be-steht. Er ist 80 Jahre alt, doch von gleichmäßiger Architektur und kann es, was die Annehmlichkeit seiner Lage angeht, mit jedem anderen Schloss oder Garten in Deutschland aufnehmen. […] Die Bilder, die im Innern des Baus gezeigt werden, stam-men von einem gewissen Lohm, einem Bürger aus Hamburg, die Bildnisse des Durch-lauchtigen Hauses zu Braunschweig und Lüneburg hingegen sind von dem berühmten Boubell, einem französischen Maler, nach dem Leben gemalt. In der Mitte dieses Schlosses befindet sich eine geräumige Halle in Form eines Parallelogramms. Sie ist weder auf Marmorsäulen errichtet noch zieren sie prächtige Pfeiler, doch wird sie von herrlichen Gemälden geschmückt. Zu beiden Seiten hat man alte Messingstatuen in der schönsten Ordnung aufgestellt, mit den Abbildern von Homer, Platon, Aristoteles, Demosthenes, Dionysius, Cicero, Seneca usw. Sodann weitere, aus Alabaster, deren er-lesenste eine Darstellung der liegenden Flora ist, die der Durchlauchtige Herzog aus Griechenland mitgebracht und für 1 000 Kronen erworben hat. In den anderen Räumen hängen die kostbarsten Bilder der bekanntesten Maler […]. In den Kabinetten oder Geheimzimmern, die an diese weiträumige Halle angrenzen, werden verschiedene seltene und wertvolle Gemälde aufbewahrt, darunter Maria und Joseph von Michelan-gelo, ein Gemälde im Wert von 1 500 Kronen. Der Erlöser der Welt von Caraggio, dessen Wert auf 2 000 Kronen veranschlagt wird. Bei Pietro Romanos Gemälde Joseph der Zimmermann handelt es sich um eine Schenkung, die der mächtigste König von Preußen diesem Hof gemacht hat.

Ich erinnere mich, in einem der Geheimkabinette, das nicht allen Besuchern gezeigt wird, inmitten einer Vielzahl von Raritäten aus China und Japan und asiatischer und griechischer Antiquitäten eine alte Messingplatte von fast anderthalb Fuß Höhe gesehen zu haben, die den Kopf des Aristoteles, des bedeutendsten aller griechischen Philosophen, zeigt […].

Was die anderen Kabinette dieses prächtigen Schlosses und ihre Möbel betrifft, so wäre es zu mühsam, sie hier zu berücksichtigen. Den Wissbegierigen sei gesagt, dass dieser Bau eines Königs würdig und die Schönheit von Gärten und Schloss zusammen keiner anderen in Europa unterlegen ist.

5Karl Gottlob Dietmann | 1755

Neue Europäische Staats- und Reisegeographie

Eine der frühesten Beschreibungen des Kunst- und Naturalien kabinetts in Braun-schweig stammt von Karl Gottlob Dietmann. Die von Beginn an sehr vielfältige Samm-lung war zunächst im kleinen Mosthaus hinter dem Dom untergebracht und zog schon bald in den Großen Mosthof um, wie das Hauptgebäude der Burg Dankwarderode seinerzeit genannt wurde. Zur Orientierung wurden die Besucher vom Personal auf besondere Stücke hingewiesen, zu denen in jedem Fall das aus der Antike stammende sogenannte Mantuanische Onyxgefäß zählte, das von Dietmann das »mantuanische Faß« genannt wird. Es blieb wegen seiner herausragenden künstlerischen Qualität, aber auch wegen seines legendären Wertes in kaum einem der frühen Berichte über das Museum unerwähnt.

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Römisch, sogenanntes Mantuanisches Onyxgefäß, um 54 n. Chr., mehr-schichtiger Sardonyx, Inv. Nr. Gem 300

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46Anita Albus | 1997

Krötenansicht eines Schnüfflers

Anita Albus ist als Schriftstellerin wie als Illustratorin hervorgetreten. Dabei beschäftigt sie sich auf beiden Gebieten auch und ganz besonders mit den Feinheiten der Darstel-lung und nutzt für ihre eigenen Bilder Farben, die nach historischen Rezepten herge-stellt werden. Eine ihrer literarischen Betrachtungen bezieht sich auf das 1662 entstan-dene Gemälde Insekten und Amphibien des holländischen Malers Otto Marseus van Schrieck, das 1738 für die Gemäldegalerie in Salzdahlum erworben worden war. Der Text zeugt sowohl von Schriecks als auch von Albus’ Genauigkeit bei der Beobachtung ihrer Umwelt und der Ausführung ihrer Werke.

Es war die Zeit der Stilleben-im-Freien. Der Impuls, nicht mehr Blumen und Früchte als nature morte auf einer Steinplinthe zu zeigen, sondern das pflanzliche Leben mit allem, was da kreucht und fleucht, auf dem Boden von Wald, Düne oder Feld darzustellen, ging nach der Mitte des Jahrhunderts von Marseus van Schrieck aus. Die Bilder des Europa-bummlers, dem die Kollegen des niederländischen Malerbunds in Rom den Spitznamen »Snuffelaer« gaben, weil er überall nach Schlangen, Lurchen, Eidechsen, Fröschen, Kröten, Insekten und Pilzen herumschnüffelte, zeigen die todverfallene Fauna und Flora des Bösen in der Kulisse des dunklen Waldes: die Natur als Oper oder barockes Trauerspiel, den ver-ehrten Fröschen in ihrer Perspektive zur Schau gestellt.

Schmarotzer, Würger, Schlinger, Parasiten, Räuber und Mörder agieren im Reich der Verwesung. Wer verfällt wem, ist hier die Frage. Ein stolzer Tulipan, wie die fiedrige Stern-winde ins Zwielicht der modrigen Unterholzwelt verbannt, wird von einer Vierstreifennat-ter genötigt, sich vor einem Ziegenbart zu verneigen, auf dem eine Schwärmerraupe mit hellem Schwanzhorn ihre starre Sphinx-Haltung eingenommen hat: Ruhe oder Gefahr heißt das Rätsel, das sie dem Tulipan stellt, dessen Stengelblatt sich auf dem klebrigen Hut eines im Schatten verborgenen Dickfußröhrlings verfing.

Außer dem anonymen Röhrling und dem Korallenpilz figurieren noch die köstlichen Kaiserlinge aus der hochgiftigen Familie und ein gefallener Täubling im Schnüffler-Bild. Die griechische Antike betrachtete die über Nacht aus feuchtem Moos schießenden Pilze als Scherze der Natur. Homer sah sie als Früchte der Verbindung aus Himmel und Erde an, da sie mit Vorliebe nach Gewittern in Erscheinung treten. Dioskurides führte ihre Giftigkeit auf die Nähe von Schlangenhöhlen und Bäumen mit tödlichen Früchten zurück: »Derarti-ge Pilze weisen eine weichlich-klebrige Oberfläche auf und verfaulen und zerfallen sofort nach dem Ablösen vom Erdboden. Die genießbaren unter den Pilzen schmecken weder angenehm noch süß und zu reichlicher Genuß kann, wenn der Körper sie nicht verdaut, schaden und zu Erstickungsanfällen führen und die Krankheit hervorrufen, die man Tob-sucht nennt.« […]

Der Tulipan hat seine Schmach zu schlucken, während die Natterrivalinnen eine furio-se Arie der Zwietracht singen. Indessen züngelt sich die beißlustige gelbgrüne Zornnatter an bufo bufo heran. Umschlingen, Erdrosseln, Verschlingen heißt die Methode des Nattern-gezüchts, wehrlose Opfer werden auch lebend heruntergewürgt. Mäuse, Vögel, Eidechsen, Frösche und Kröten sind ihre Lieblingsspeisen, junge Nattern üben sich mit kleinerem Ge-tier, darunter auch Käfer und Heuschrecken. Wie alle Schlangen sind Nattern doppelzüngig und fahren häufig aus der Haut.

»Wachet und seid auf der Hut! Allenthalben ist lauernder Betrug in finsteren Winkeln verborgen. Nimm dich in acht, daß man dich nicht fängt, und sei nüchtern und wachsam!«

Otto Marseus van Schrieck: Insekten und Amphibien, 1662, Leinwand, Inv. Nr. GG 431

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Anscheinend ist die Erdkröte taub für die Mahnung, mit der Camerarius das Sinnbild einer Schlange zwischen Gras und Kraut erläutert. Als Inbegriff der Häßlichkeit verkörpert sie selbst Heimtücke, Wollust, Geiz und Unersättlichkeit, Laster, die sich mit Nüchternheit und Wachsamkeit nur schwer vereinbaren lassen. Tatsächlich ist das warzige Tier aus der Fami-lie der Scheibenzüngler so gefräßig wie wachsam. Seine Beutetiere sind Regenwürmer, Nacktschnecken, Wespen, Bienen, Spinnen, Käfer und alle Arten Insekten. Schmetterlinge verschmäht es, weil der Flügelstaub an seiner schleimigen Zunge festklebt und ihm das Schlucken erschwert. Seinen höchst beweglichen Glubschaugen entspricht eine wendige Zunge, die es aus dem Verborgenen auf das erspähte Opfer wirft. […]

Die natürlichen Feinde der wendig-plumpen Jägerin sind Krötenschmeißfliege und Natter. Gegen das Insekt ist sie machtlos, der Schlange aber weiß sie zu imponieren: sie bläst sich dick auf und wackelt auf steif ausgestreckten Beinen hin und her, während ihre Ohren und Körperdrüsen ein milchiges Sekret ausscheiden, das ein starkes Gift enthält.

Mit deutlich aufgeblasenem Leib schleckt sich die Kröte im Konterfei mit ihrem kleb-rigen Zungenlappen gerade das Maul. Anscheinend hat sie mitten im Imponiertanz die Freßgier übermannt, während ihr großmäuliger Gatte es vorzieht, sich im tiefen Schatten hinter dem Dickfußröhrling zu verbergen. Eine Eidechse, geschmeidige Beute-Konkurrentin der Trägen, gerät angesichts der genießerischen Scheibenzünglerin, die ihr einen Lecker-bissen vor der Nase wegschoß, ganz außer sich – ungern sieht sich der Betrüger betrogen. Arglistige Täuschung, Mißgunst, Eifer- und Rachsucht verkörpert die Eidechse im Emblem.

Die grausame Oper um den schönen Tulipan handelt von finsteren Leidenschaften. Fernes Donnergrollen übertönt das Rasseln und Zirpen der kleinen Heuschrecke. Den drei Nattern geht es nur um die Kröten. […]

Die große Königslibelle mit ihren riesigen Facettenaugen hat den besten Überblick im Schattenreich der Kröten. Libella bedeutet »kleine Waage«, ein Name, den das 18. Jahrhun-dert den Wasserjungfern verlieh. Er spiegelt die waagerechte Flugkunst, mit der die »wech-selnde Libelle« unsichtbare geometrische Figuren in die Luft schreibt. Bevor man der größ-ten Demoiselle den Königlichen Namen gab, redete man sie weniger höflich auch als »Drachenfliege«, »Drachenhure« und »Teufelsnadel« an. Sie ist die begabteste aller Räu-berinnen des Bildes. »Teufelsnadeln« heißt ihre Familie noch im alten Brehm, der die »gro-ße Teufelsnadel« mit ihren ungleichen Flügelpaaren als »wahren Beherrscher der Lüfte« bezeichnet. […]

Die Verwandlungskunst der Libelle verweist wie die der Falter und Schmetterlinge auf die Überwindung des Todes. Befreit von der Gier seiner Raupenzeit fliegt das große Nacht-pfauenauge in seinem braunen Pelzwams mit weißem Kragen und prachtvoll gemuster-

tem Flügelkleid, dessen schwarze Augen zimtfarben, weiß, amarantrot und schwarz um-malt sind, um die blühende Mariendistel.

So lebensnah die Dinge in den Bildern von Marseus wiedergegeben sind, so phantas-tisch ist ihre Zusammenstellung: sonnenhungrige Gartenhybriden und Feldblumen blühen im schattigen Wald; Schlangen verfolgen Schmetterlinge; Libellen und Nachtfalter fliegen zur selben Zeit. Was sich in der Natur nicht reimt, spiegelt um so deut licher die Menschen-welt. Das Verhalten der Insekten und Reptilien kannte niemand besser als der Schnüffler. Er zog sie nicht nur auf seinem kleinen Grundstück vor den Toren Amsterdams in Terrarien, wo er sie in Ruhe betrachten und zeichnen konnte, er war auch sonst ein genauer Natur-beobachter. Nicht zufällig war er es, der der Schlupfwespe auf die Schliche kam und seine Entdeckung Swammerdam mitteilte. […]

Fast alle Maler und Malerinnen des Waldboden-Genres haben sich der Abklatsch- Methode bedient, allen voran der Schnüffler. Auch bei der Darstellung von Flechten und Moosen wurde gemogelt. Wozu die komplizierten Strukturen malen, die sich so einfach mit einem Stück Moos oder Flechte in der grobkörnigen Ölfarbe abdrücken lassen?

Im Gegensatz zu Goedaert, der das Wunder vollbrachte, die moderne Naturwissen-schaft in der alten Kunst aufzuheben, ging Marseus mit der Zeit. Seine glatten Waldbo-den-Darstellungen wirken neben dem emaillierten Schmelz der vielschichtigen »Blumen in Wanli-Vase mit Blaumeise« wie zauberhafte Bühnenbilder en miniature. In Goedaerts heiter-melancholischem Blumen-Portrait erscheint die Tulpomanie als harlekineskes Mo-ment im unvergänglichen Entzücken an den augenöffnenden Meisterwerken der Natur, während die Geschöpfe der grausam-komischen Tulipan-Oper im Dunkel allegorischer Verschlingung ganz in ihrer Rolle als Darsteller menschlichen Wahns aufgehen. Marseus sucht nach dem Vorbild der eingelegten Bedeutungen im Emblem das Besondere als Exempel des Allgemeinen, während Goedaert das Allgemeine im Besonderen schaut, »nicht als Traum und Schatten, sondern als lebendig-augenblickliche Offenbarung des Un-erforschlichen.«

Der Schnüffler durchstreifte die Wälder mit dem Auge eines Sammlers kurioser Natu-ralien, während der Verfasser der Metamorphosen-Lehre in den Wäldern und Dünen von Walcheren seinen Sinn schäfte für das Leben des Details durch die Struktur. […]

Im Rückblick auf die Geschichte der Malerei geben sich die falterjagenden Nattern der Unterholzwelt als effekthaschende Maler zu erkennen, die ihre Liebe zum Detail dem Clair-obscur preisgaben, das hohe visuelle Gewicht der zeitraubenden Schichtentechnik einer schnelleren flachen Peinture und den Wunsch, wie Gott in der Schöpfung zu ver-schwinden, dem Verlangen eine Manier prunkend hervorzukehren.

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47Wolf Wondratschek | 2002

Mozarts Friseur

Eine seltsame Geschichte aus Wien erzählt Wolf Wondratschek in seinem Roman Mozarts Friseur, in dem er ebenso bemerkenswerte wie merkwürdige Figuren auftreten lässt. Es ist ein Spiel mit Überraschungen und Täuschungen, in dem die Textilrestaura-torin des Herzog Anton Ulrich-Museums anreist, um eine alte (am Ende gar Mozarts?) Perücke zu begutachten.

Es muß sich die Sache bereits über die Landesgrenzen hinaus herumgesprochen haben, denn es erschien eine sachverständige Dame auf der Bildfläche, von Beruf, wie sie angab, Textilrestauratorin, und zwar an einem Herzog Anton Ulrich-Museum in der deutschen Stadt Braunschweig, eine freundliche Person, die darum bat, das Corpus delicti, die historische Perücke, begutachten zu dürfen, lediglich interessehalber, wie sie versicherte, denn ein solches Juwel finde sich höchst selten auf freier Wildbahn.

Der Friseur hatte nichts dagegen, reichte ihr die Plastiktüte, fand aber, daß sie ihre Haare unvorteilhaft trug, auf falsche Weise altmodisch, und sagte ihr das auch.

Ach ja, war alles, was sie aufseufzend antwortete. Ich und meine Haare, Freunde sind wir nie gewesen. Ich habe es gern mit glatzköpfigen Friseuren und kranken Ärzten zu tun, das verschafft mir Sicherheit, hätte sie Oscar Wilde zitieren können.

Sie rollte die Perücke aus der Plastiktüte und betrachtete sie. Und dabei redete sie, als wolle sie den Gedanken loswerden, sich mit ihrem Besuch einer Gefahr ausgesetzt zu haben. Sie war informiert, daß dieser Mensch behauptete, es handle sich um das Original einer Perücke, die Mozart getragen haben soll. Eine solche Behauptung hatte schon lange niemand mehr gewagt, seit gut zwei Jahrhunderten nicht mehr. Das Zu-sammentreffen mit ihm konnte also leicht zu Komplikationen führen – und sie hatte sich während des Flugs nach Wien Gedanken gemacht, wie sie in einem solchen Fall reagieren könnte. Eingefallen war ihr nur, höflich zu sein und, was immer geschehen würde, auch zu bleiben. Mit Erleichterung stellte sie fest, daß erst einmal nichts darauf hindeutete, immer auch ein Auge auf ihn und seine Umgebung haben zu müssen.

Schon nach einem allerersten Blick auf die Perücke machte sie die für sie verblüf-fende Entdeckung, daß allem Anschein nach mit ihr alles seine Richtigkeit hatte.

Sie untersuchte den Gegenstand eingehender, wendete ihn hin und her auf der Suche nach offensichtlichen Fehlern, aber alles, was sie entdeckte, waren exakt jene technischen Merkmale, die für Perücken der Mozartzeit charakteristisch waren. Die Haare waren zu Tressen verwebt, die Tressen in Reihen auf die Montur geheftet – ge-heftet, und nicht, wie dann im 19. Jahrhundert üblich, geknüpft. Das Monturband war, wie sie sah, aus Seide. Richtig, das war damals so. Für die Kopfbedeckung kamen damals rundgeknüpftes Filetnetz in Frage oder maschinell gefertigte Strickware, in keinem Fall aber schon Tüll. Das hier war Strickware, eindeutig, allerdings mit einem feinen, inzwischen natürlich löchrigem, abgenutztem Seidenfutter zwischen dem Netz und den Tressen.

William Hogarth: The Five Orders of Perriwigs as they were Worn at the Late Coronation Measured Architectonically, 1761, Radierung, Inv. Nr. KK W. Hogarth AB 3.72

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Ausgezeichnet, ganz ausgezeichnet, stellte sie fest. Sehen Sie hier?Der Friseur, höflich wie er war, stimmte dem, was sie noch gar nicht gesagt hatte, zu.Sehen Sie? Im Nacken befindet sich sogar noch die Schnalle, was die Vorrichtung

zum Nachspannen war, um den guten Sitz der Perücke sicherzustellen. Das hat man später dann mit Gummiband oder Metallspiralfedern gemacht. Für einen Moment spürte sie das Risiko, sich anstecken zu lassen von der wirren Behauptung, es habe Mozart tatsächlich dieses Stück hinterlassen.

Sie holte Luft. Erstaunlich. Also, ich würde sagen, gratuliere. Ein Leckerbissen. Und wo haben Sie die her, sagen Sie?

Der Friseur antwortete nicht. Da er sich ja von niemandem von der Echtheit der Perücke überzeugen lassen mußte, war er beim Zuhören noch einmal in Gedanken heimgekehrt nach Italien, wo er mit dem Wunsch gelebt hatte, sich zum Perücken-macher ausbilden zu lassen.

Die Dame des Museums reichte ihm die Perücke. Schönes Stück, auch wenn es unwahrscheinlich ist, daß ausgerechnet Mozart sie getragen haben sollte.

Ich weiß, bedankte sich der Friseur, rollte die Perücke zusammen und verstaute sie in der Plastiktüte, Behauptungen wie diese machen auf Außenstehende immer einen schlechten Eindruck. Das will ich nicht. Mir liegt nichts daran. Lassen wir es gut sein. Schließlich ist Mozart ja nicht der einzige meiner Kunden, dem Unverständliches widerfährt.

Fassungslos sah die Dame zu, wie sorglos der Friseur mit dieser Kostbarkeit um-ging. Er öffnete eine Schranktür und warf die Tüte hinein. Sollte sie ihm raten, sich einen Tresor anzuschaffen? Oder gleich einen Psychiater?

48Martin Weteschnik | 2013

7 Stunden

In Martin Weteschniks Roman 7 Stunden hat ein Prachtstück des Braunschweiger Museums einen ihm gebührenden Auftritt. Genauer gesagt handelt es sich dabei um ein Werk aus dem Kunst- und Naturalienkabinett, das allerdings seit Jahrhunderten von niemandem mehr gesehen wurde: den seit Langem verschollenen und aller Wahr-scheinlichkeit nach längst zerstörten und eingeschmolzenen Chymischen Parnass oder auch »Mons Philosophorum« aus Gold und Edelsteinen, der im späten 18. Jahrhundert zu den Attraktionen der Braunschweiger Sammlung gezählt hatte.

Claus Cordes: Blick in die Oberlichtsäle des Museums während der Sanierung, 2013, Photographie

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Ziemlich weit draußen, etwa auf Höhe von Lausanne, stellte Bill die Motoren ab. Un-widerstehlich bemächtigte sich aller eine fieberhafte Neugierde. Auch Alfons, der von der Flybridge heruntergestiegen war und vorsichtig durch eines der Bullaugen schaute, zog die geheimnisvolle Kiste in ihren Bann. Während sich die anderen um den Tisch in der Hauptkajüte drängten, machte sich Lacroix mit flinken Händen daran, die Box zu öffnen. Schließlich gelang es ihm, den Deckel aufzuhebeln. Jeder half, das von Tuch umhüllte Kunstwerk herauszuheben.

Durch die gläsernen Schaufenster eines eigens für das Kabinettstück gefertigten Gehäuses aus Nussbaum blickten sie kurze Zeit später auf einen fast anderthalb Meter hohen silbern glänzenden Berg. »In ihm ist die Zukunft der Menschheit versteckt«, hatte ihr Boss behauptet. Jedenfalls hatte nie zuvor einer von ihnen etwas so Pracht-volles gesehen.

Sie hoben das Werk aus dem Gehäuse und stellten es auf den Tisch. Der Berg er-strahlte, als wäre seine Botschaft nur für sie bestimmt.

»Hol mich der Teufel«, gab Papa Chuck seinem Staunen auf höchst unchristliche Weise Ausdruck und vergaß, sich so standesgemäß zu benehmen wie sein neues Vorbild, der Herzog von Braunschweig.

»Wenn das mein Bruder sehen könnte!« flüsterte Lacroix.Keiner, den dieser Anblick nicht verzaubert hätte. Ganz aus Silber und auf einer

schwarzen Ebenholzplatte stand der Mons Philosophorum vor ihnen. Ein Schloss in einem Gebirgsmassiv, zu dessen Zinnen es sich aufzumachen galt, um aus der oben thronenden Weltkugel den Transmutator, den Stein der Weisen, zu empfangen. Mau-ern aus Silber, Figuren aus Gold, unzählige Tiere und Tiergestalten aus jederlei edlem Material und von vollendeter Form. Bäume und Sträucher mit tausenderlei blitzenden Edelsteinen besetzt, hier diamantenes Laubwerk, dort Bäumchen in Gold gearbeitet und da grün schimmerndes Moos – alles so fein herausgearbeitet, als hätte die Natur sich nur im Maßstab verkleinert und in ihrer Pracht sogar noch vermehrt. Keiner wusste zu sagen, was schöner war: der Zierrat mit den Abertausenden Details oder der Berg, das Kastell und die Figuren, die eine Geschichte zu erzählen schienen.

Stumm deutete Murdock auf die emaillierte Inschrift über dem Schlossportal, in dessen Gesims sich ein mit Diamanten umrahmtes Schild befand, auf dem »Mons Philosophorum« zu lesen war. Und jetzt bemerkten sie auch jene Figuren, deren Silhouetten man schon andeutungsweise auf dem Zettel Herringtons hatte erkennen

können. Sie waren der Schlüssel, drehte man sie auf gewisse Weise, würde sich der Berg öffnen und den Transmutator freigeben.

Bei den elfenbeinernen Figuren, die der Hand des berühmten Bildhauers Balthasar Permoser entstammten und die die vier Elemente Erde, Wasser, Luft und Feuer dar-stellten, befanden sich auch ein Pfau und ein Salamander mit feurigen Flammen, die Lacroix besonders begeisterten. Je länger sie auf das Kunstwerk blickten, desto vielfäl-tiger wurden die Details. Vögel und Schlangen, gar ein Drache. Aufgeregt deutete Papa Chuck auf einen Löwen, der in natura kaum lebendiger hätte aussehen können.

Ein Schauder packte Murdock beim Anblick der unzähligen Hieroglyphen, lateini-schen Inschriften, alchemistischen Symbole und anderen geheimnisvollen Zeichen. Eine Glut schienen sie in ihm zu entfachen, etwas, von dem er sich eigentlich sicher war, es wäre seit der Sache mit dem Picasso erloschen. Doch wenn er sich jetzt dieses Kunstwerk anschaute, es auf sich wirken ließ, spürte er, wie sich die Tugenden des Meisters Dinglinger auch in seinem Werk ausdrückten: Sauberkeit und Solidität, Ele-ganz, die auf Elementares achtete und doch unversiegbaren Reichtum ausstrahlte, ein Formempfinden, das Zierlichkeit und Größe vereinte, eine prunkvolle Gewalt, die zu schweben schien. Selbst einem Laien musste bewusst werden, dass dies im Schaffen des Hofjuweliers der Höhepunkt gewesen sein musste.

Die anderen hier empfanden das auch so. Und doch: Außer dass es sich um das Versteck des Transmutators handelte, verstand keiner von ihnen wirklich, worum es bei diesem Kunstwerk ging. Sie hatten Murdock darüber referieren hören, der die zeit-genössischen Beschreibungen und Erklärungen über das Kabinettstück kannte. Der Mons Philosophorum zeige den Weg und die Stufen, die jemand erklimmen müsse, um den Stein der Weisen zu erlangen – ein Elixier, welches unedles Metall in Gold verwandeln könne. Keiner von ihnen glaubte, ein Mensch hätte je so einen Stein der Weisen aus eigener Kraft erschaffen. Zeigte das nicht wieder einmal, dass der Mensch nach Dingen strebte, von denen er besser die Finger lassen sollte? Oder gab die Natur die Richtung vor? Ein von der Natur geschaffener Transmutator existierte ja anschei-nend.

Wie Murdock ihnen erklärte, sei die Suche nach einem solchen Stein der Weisen eng mit der Persönlichkeitsentwicklung des so Strebenden verknüpft. Nur wer Voll-kommenheit und persönliche Reife aus eigener Anstrengung erringe, könne auch den Stein der Weisen und seine Kräfte erlangen.

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Wozu die Mühe, wenn man alles einfacher haben konnte, sollte es diesen Tschirn-haus-Transmutator tatsächlich geben, hatte Papa Chuck gemeint. Das war der Punkt, an dem Murdock schließlich verstummte.

Und noch immer starrten sie voller Bewunderung auf das Kunstwerk. All diese verwirrenden Wege, Arbeitsvorgänge, Bauten und Landschaften: In und hinter jedem Winkel, jeder Mulde, jeder Mauer verbarg sich etwas, jede Treppe, jeglicher Eingang oder Aufgang mochten Ziel oder Irrweg sein, Türe, Tor, Portal, Saal, Zimmer, Höhle, Gärtchen, Lustgarten oder Irrgarten – alles auf das Detaillierteste ausgeführt. Doch was war Täuschung und was führte zu Einsicht?

Lacroix hielt sich den Kopf, als könnte der platzen.»Nie werde ich diese Welt begreifen«, murmelte er.»Du bist ja auch saudämlich und dein Verstand ist total beschränkt«, flüsterte der

Dicke fast unhörbar.Vielleicht, dachte Bill, der neben dem Dicken stand, hat Lacroix soeben mehr er-

kannt als wir alle.

49Jan Volker Röhnert | 2013

Aus dem Gedichtzyklus Uccello und seine Nachfolger

Jan Volker Röhnert stellt in der zweiten Strophe seines Gedichts über Giorgiones Schlummernde Venus aus der Gemäldegalerie in Dresden dessen Braunschweiger Selbstportrait in den Mittelpunkt. Dabei greift er auch den Besuch Samuel Becketts auf, der beide Bilder noch gesehen hatte, bevor sie im Zweiten Weltkrieg vor drohenden Fliegerangriffen ausgelagert worden waren.

Uwe Brodmann: Attrappe Giorgione, Musterraum, 2011, Photographie, aufgenommen mit einer Nachbildung des Originals während der Vorbereitung des Umbaus

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Giorgiones Schlummernde Venus, um 1510

2Geheimnisvoller als das Selbstbildnis, 1500, »das erste in der Geschichte seiner Gattung«,mit jenem unduldsamen Trotz des Stoikersim grünen Wams, in eschenbrauner Lockenpracht,Lederriemen um die Schulter, der notdürftigLeib und Seel gegen das Dunkel, das ihn umfängt, zusammenhält – das Selbstbildnis,das Beckett 1936 dreimal in Braunschweig sah.

Das Jahr, als meine Großväter, beide zwanzig,eingezogen wurden – der eine aufs Boot, der andere zum Panzertross,zwölf Jahre und drei Weltreiche späterder eine mit Schiff-, der andere mit Achsenbruch zurückgekehrt. Giorgione hing all die Jahre in den Galerien, erst, als im Dämmerlicht das Bombenwetterüber den Städten sich zusammenzog,verschwand er in Depots.

Das Selbstbildnis ertrug die Dunkelheit, die es umfing.Die Venus träumte unterirdisch. Beckett war das letzte Auge, das sie sah, bevor es war, als gäb’ es sie nicht mehr.

Wer künftig davon spricht,zitiert Phantome, beschwörtdie Geister, maltKopien von Kopien, hätte besser gleich geschwiegen.

Das war nicht das letzte Wort.

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Name | Jahr

Mit der Zeile »Das war nicht das letzte Wort« endet der 49. Beitrag in diesem Band. Und das letzte Wort soll dies in der Tat noch nicht gewesen sein, denn ab Herbst 2016 ist das Hauptgebäude des Museums nach Anbau, Sanierung und Neueinrichtung wieder für das Publikum geöffnet. An dieser Stelle können Sie Ihre Eindrücke aufschrei-ben und so die Reihe der literarischen Begegnungen mit dem Herzog Anton Ulrich- Museum und seinen Kunstwerken selbst fortsetzen.

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S A N D S T E I NISBN 978-3-95498-256-1


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