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Lied aus reinem Nichts

Date post: 13-Mar-2016
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Lied aus reinem Nichts, Deutschsprachige Lyrik des 21. Jahrhunderts, Braun und Thill (Hg.), Verlag Das Wunderhorn, 2010.
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© 2010 Verlag Das WunderhornRohrbacher Straße 1869115 Heidelbergwww.wunderhorn.de© 2010 für die Gedichte: siehe AnhangAlle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schrift-liche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.Satz: Cyan, HeidelbergDruck: Fuldaer Verlagsanstalt, FuldaUmschlagabbildung nach der Fotografie »Geiranger (Norwegen), 1935« von Ré Soupault: © 2010 Nachlaß Ré SoupaultISBN 978-3-88423-326-9

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Wunderhorn

Deutschsprach ige Ly r i k d e s 2 1 . J a h r h u n d e r t s

Lied aus reinem Nichts

Michael Braun / Hans Thill (Hg.)

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Fenster zur Weltnacht

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Volker Braun

Als er wieder sehen konnteIch sehe wieder klar, und beide Augen lügenMir eine schöne Welt. Ich laß mich gern betrügenUnd blicke gerne durch in Kluft und Gruft hinein.Wenn mich auch sonst nichts freut, ich lob den Augenschein.

Felix Philipp Ingold

SatellitenbildDer Himmel – das windige Dreieck untenlinks im Bild – ist leerals wäre er wer. Ein Heer. Frau Blau. Undschrappt wie üblichin Schüben Geschichte. Doch immergilt er nicht für länger. Enger wird’s im Gegenlicht. Die Sonne – brutales Pokerface – ist jedermanns Schandfleck und enorm im Kommen. »Starke Gewitterschauer, schön zwischendurch, ziehende Wolken«, notiert an einem 6. Juli Hopkins: »Die Sonne kommt hervor nach einem dieser Schauer am Morgen und heiss macht sie Bodenrauch, Schotter wie Rasen, eine Zeit lang. Angenehme Genauigkeit der Heuschober und Zeilen mit Schatten auf einer Seite. Etwas Regen dann wieder, viele schnelle Wolken, zuweilen randlose weiche Meridiane, manchmal Flicken, Kämme, Sprühen an Stimuli usf. Kalter Wind. Zu Sonnenuntergang dann, in einer grauen Wand mit feuchten goldenen Hauben und Driften, hat das ganze Rund der Skyline waagrechte Wolken in natürlicher Bleifarbe aber die obern Flächen berggelb, einige mehr, einige weniger rosig. Nadeln oder Strahlen geflochten oder erfüllt mit inklinierenden Kugelflocken brechen sich, ja, Bahn.« Wie rasch sich Wolke und Hand ineinander verwandeln. So schafft Finsternis Klarheit während hinter dem gekippten Horizont

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nun unverfroren Bläue plaudert. Vor soviel Säuen all die Perlen. Aber ehrlich geprangt.

Steffen Popp

Fenster zur WeltnachtEine Straßenbahn schläft vor dem Haus – gelbmit gefaltetem Bügel, im Standlicht eingerollt

im Bug des Triebwagens träumen zwei Schaffnerkopflos, unter den Schilden ihrer Pappmützen

einer bewegt sichsteigt aus, ein schwacher Glutpunkt, und atmetRauch, mit dem Rücken zum Führerhaus

lange schaut erherauf, durch die orange Beleuchtung –

blindwie Homer, in schwarzen Schuhenmit Stahlkappenunter dem Giebel des Uranus.

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Nico Bleutge

honigwarme pupillen ... ... und war nur dieses eine stückchen, etwaswie haut. das wird nun ganz genau betrachtet

und von einer feinen hand berührt. es liegt im schattenwo sich diese wölbung zeigt, von haaren, kleinen wellen

oberhalb des nackens. bald schon lösen sich die rillenab. das weist voraus auf kahles, auf die schöne nackte

an der wand, die schielt so ruhig ins zimmer, dieser rundeausgefranste mund und diese punkte auf den unterarmen

hat hier der zeichner sich vertan? es will nicht recht gelingeneine öffnung zu erkennen, nur ein milder klecks sticht vor

ob das zum atmen reicht, es zittert die figur, wie’s scheinthat die verschobene kontur den maler höflich angeregt

ein wenig fester aufzudrücken und den schatten ein-zudrehn. doch kaum zu sehen ist dafür der stoff

am andern ende, der allzu lose um die hüfte hängt. woist denn hier die naht, der feine etwas unbestimmte strich

der eine möglichkeit mit einer andern möglichkeit ...… mit einer falte in der haut verknüpft. ach süßer honig

auf dem weichen lid. es bleibt der nacken mit dem kleinenzart gewellten stück. und die pupillen wandern weiter

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Raoul Schrott

cefaluals sie die stadt der sarazenen war tauchten wäscherinnendie kleider in süßwasserbecken am meer · wellen rannenin die kanäle über schwemmten die seife schäumend aus und flossen wieder ab · über dem gehäufeder häuser ragte ein felsen aus muschelkalk auf in form eines kopfes: und in seinem relief lag das reinste weiß · sonst setzte man blei der lohe ausund erhielt so beinah den glanz von wasserskies verdigris war aus griechenland und gleich wie grünspansalz das man aus kupfernem gewann · für die moscheenkam türkis aus nishapur und spiegelte das grün wider am meer und von jenseits dessen auch ultramarinzermahlener lapislazuli aus dem hindukush der über dem feuer zu weißem glas erlosch zerraspelt wurde aus den ästen des indischen waid indigodie wäscherinnen aber sagten an-nil dazu weil das pulver so blau war wie der fluß den sie nie gesehen hatten und zur tinktur aus smyrna al-azarahsaft aus den wurzeln der färberröte · nichts aber war teurer als das sekret von wellhornschnecken: purpurder am roten meer noch zu gestein erstarrte · rehj al-ghardagegen war erzstaub und kam in höhlen vor erhitzt verdampfte er nur · auf den wellen und ihrem lichtjedoch zerfiel sein rauschrot nacht für nacht zu dem feinkörnigen goldfarbenen pigment der sonne und den serifen mit denen jede sure hier beginntdie see bis weit hinaus ein zerlesener foliant dessen seiten die klippen bleichen · ein kaltes aufbrennenim kalk um dem morgen wieder sein weiß abzugewinnenals sie die stadt der sarazenen war wrangen wäscherinnendie kleider auf steinernen waschbrettern aus · aufspannen

gingen sie die wäsche dann oben in den gärtenein bild des sommers · halbschatten die in der hitze flirrten

worte die in der nachmittagsstille weit trugen

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und niemand je um sie in schrift zu übertrageneine sprache deren fließende buchstaben ich nur benütze –die geschwungenen unterlängen die ich wie küsten setze

häfen als punkte darüber – um dir zu schreiben:wie andere die vielleicht keine briefe schrieben

aber von einer reise farben in kleinen beuteln mitbrachtenweil sie es nicht besser zu sagen vermochten

als das dunkle farbpulver auf ein leeres blatt zu schüttenden blick der zugewandt die sie zu ihrer geliebten hatten

31.12.00

Ulf Stolterfoht

engere hängungzwängung im strengeren sinn. gib dich dem untertitel hin:süßes stettin und fluxmaschin – in pixeln auf stramin.klastischer spin. wenn nun an diesem punkt ein schlupfgelänge / ein wesentlicher quetsch – dann? dann: in allen

belangen verhangene sonne. linguistischer turn: dasein amseidenen zwirn. demnach nämliche senge. fortwährend be-nenne: knabe in öl. knabe vor meer. lamm auf erstaunlichweißem makadam. technisch gesprochen „an“. was eben

einzig canvas kann. und – zunehmend ikonischer schwund:hase vor migrationshintergrund. jetzt (spätestens jetzt) mußkleine schwester kaninchen an böse wölfe und an unterwasser-füchse denken / an all die kneifer und beißer und unerträg-

lichen säger. milchner / rogner / datenträger – reicht das? denkschon. dann komm: gib dispersion! gib karmesin! schmäch-tiger quinn. bobcat vor parkendem van. versionen davon. plan-sprache-option. eintritt in phase II. zäh zieht sich weiter tite-

lei. beträfe nun drei ungemalte bilder: verbringung gdingen.das posen vor oppeln. sowie: der ruch der über königshüttehing / noch hindenburg umfing. nun schnell zurück in die erzeugte welt: mädchen mit schmerzhaft geöffneten löffeln.

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und hinter den spiegeln ein tiegel / ein striegel / ein loch. doch du bist zu dick. friesischer riese. bereitest anderen die trasse.schreist: seid ihr endlich soweit? aber sicher-gekicher. ältli-cher knabe entsteigt der gezeit. zwei hasen verlassen die sasse.

Silke Scheuermann

PrismaJene Art Blindheit von der wir lernten daß siezum schärferen Sehen gehört die Artwie Brenngläser Augen aufrüstendie Familie ins Blickfeld zitiern so daßdas Gewirr ihrer Interessen sich zeigen mußIm Okulus: alles was schlecht istsamt seiner Beweise von MachtWir wurden immer vor alle Tragödien gezogenund keiner durfte in der Pause schon gehenIch verstand nicht wiesoIch verstand lange gar nichts und dann eine Mengeund zwar im Augenblick als ich mich auf VatersBrille setzte und nur die Hälfte blieb heilein einzelnes rundes Glas: die Brille eines Zyklopen

Hans Thill

Blumenstraßedie ohrenlosen Marder und Autogummivertilger durchs bunte Papierfitzenden Schleichratten zu Füßen der Kassiererinnen

in ihren blauen hellaufklingenden Stahlkassetten klemmte dasunter Achseln getragene aus Lumpen zusammengebackeneWunschgeld

im Traum sagten wir Panama Fisch im Überfluß morgens brüllten die Diesel aus Blech und die frühen Aluminiumfahnen grüßten Lidl Lidl

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Harald Hartung

Blick in den HofWährend es anfängt zu schneienschaukelt das Mädchen im Hofschaukelt sich tiefins wachsende weiße DunkelGlück ist ein SekundenschlafIch schaue auf, die leere Schaukelschwingt noch ein wenig nach

Andre Rudolph

sie waren kaum an bord, da brachten sie das boot schonins wanken, jene beiden helläugigen oos; in der gleich-

mäßigkeit ihres pendelns (hin) über die übrigen buchstaben

mussten sie wie vergrößerungs- gläser erscheinen, wir sahn: knochen

& zähne, knochen & zähne, in diesem pendeln, das uns er-

fasste. wir waren ein b und ein t; unterwegs sammelten wir

eine halb ertrunkene heiter- keit ein und ein w

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Ferdinand Schmatz

echo 1, platte stetsdas auge zeichnetimmer nur sich selbstan blick, der zieht,was blieb im trieb,und schiebt nach vor

was hinten stobt zugleich,sich löst wie bindetohne an zu greifen trägt– was schwebt(und noch nicht bebt)auf riss – es naht,und hebt sich ohne schweiss

– ist es die stadtauf ihre weise glattdas andere:spagat aus holz,papier als haut,scharnier das licht

– für das, was ton(als tun getönt),für das, was graph(als zeichen ungerad),leimt sie im auge

nichts als einan sicht(es lebt ja wie gesagt im span– seis frau seis mann)

bricht aus so scheu,was rund ist kopfendim gesicht verzicht –

der laut, des mundes hand

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greift sich im auge,wendet sich zum blatt– ein wink, ein schub –in vieler wege zugbahnt an, was fachen wirddie glut auf schwielen(reis der brut)

es schwankt im flug,der ruhtda zwischen –aber türmen sie,zuunterst,jeden grund

(der trägt auch uns,wir wanken –aus gestellt ins auggedröhnungewohnt ins ohrgesehnzu atmen– etwas flach –ins selbst, hochstossendhalt ins bildgetön)

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Henning Ziebritzki

ProvinzbildPlötzlich ragen Stämme quer auf dem Weg.Ein Schatten flattert aus der Dämmerung, großund mit rötlicheer Kehle, doch zu undeutlich,um ihm einen Namen zu geben, der alles erfaßt.Er zieht Bilder hervor, eine Frau, die im Koma liegt,dann einen Amokläufer mit automatischen Waffenauf einer Art Lichtung, im Gewimmel einer Passage.

Eine Münze, die sich dreht und dreht, ohne zu fallen!In die Abendluft mischt sich ein kühler Schauer,die Schleuse zu einem anderen Niveau der Strömung,die leicht durch den schwarzen Fichtenwald gehtund etwas Nahes, das pocht wie eine Wunde –als ob im Berg ein Boot gegen die Felswändedes Stollens schlägt und Ruder zersplittern.

Volker Sielaff

RollfeldNimm einmal an: die Leere in ihrem höchsten Zustand,also nicht etwa als Quitte (oder Zitrone), bloß ausgepresst,sondern ein durchaus dynamisches, gleichwohl unbesetztes Feld,

wie auf chinesischen Rollbildern – ein Rollfeld, für Luft, nichtAeroplane, die sich austeilt nach oben, unten, eines Tageswerden wir etwas anzufangen wissen mit unseren unausgefülltenStunden, den kleinen Toden und Zigarettenpausen.


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