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Leseprobe Prof. Dr. med. Jürgen Stoffregen (FRCM): "Narkose gestern, heute - und morgen?

Date post: 27-Mar-2016
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Das Fachbuch "Narkose gestern, heute - und morgen?" enthält eine kritische Rückschau auf 60 Jahre Anästhesie: Man stirbt nicht an Narkose, es liegt nie am Patienten – jeder Tod in Narkose ist Folge eines Fehlers. Das sagt Professor Jürgen Stoffregen, langjähriger Chefarzt des Zentralinstituts für Anaesthesie und Intensivbehandlung in Hagen. Und Stoffregen weiß, wovon er spricht: Von 1.7 Millionen Patienten seit 1958 haben er und seine Mitarbeiter keinen einzigen in Narkose verloren. Mit "Narkose gestern, heute - und morgen?" legt er nun eine kritische Analyse vor, die eine lebenslange Tätigkeit als Pionier moderner Anästhesie an Hand von Tatsachen widerspiegelt. Stoffregen berichtet eindrucksvoll von historischen und aktuellen Irrtümern, nichts davon erfunden, ausgedacht oder geschönt. Narkosetechnisch hat Stoffregen den jeweiligen Stand der Wissenschaft von 1846 bis heute praktisch erlebt.
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Eine kritische Rückschau auf 60 Jahre EX TENEBRIS AD LUCEM

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Bibliografische Informationen der Deutschen Bibliothek:Die deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschenNationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://dnb.d-nb.de abrufbar.

1. AuflageISBN 978-3-940140-93-7© Prof. Dr. med. Jürgen Stoffregen

Fotos: Prof. Dr. med. Jürgen StoffregenDruck: DCS GmbH • Druck- und Verlagshaus, 88662 ÜberlingenGedruckt in Deutschland 2013

Alle Rechte vorbehalten! Ohne ausdrückliche Erlaubnis des Autors darf das Werk, auch nicht Teiledaraus, weder reproduziert noch kopiert werden, wie z.B. manuell oder mithilfe elektronischer odermechanischer Systeme inklusive Fotokopieren, Bandaufzeichnung und Datenspeicherung.

978-3-940140-94-4

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Narkose gestern, heute - und

morgen?

Eine kritische Rückschau auf 60 Jahre EX TENEBRIS AD LUCEM

Mit einem Geleitwort von Prof. Dr. Bob Smalhout

Utrecht

JÜRGEN STOFFREGEN

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Prof. Dr. med. Bob Smalhout Prof. emer. Anesthesiology Rijksuniversiteit te Utrecht

Geleitwort „Narkose gestern, heute und morgen“ - gemeint ist Anästhesiologie - sind die Erinnerungen eines international angesehenen Pioniers moderner Anästhesie, ein ungewöhnlich unbequemes, interessantes und lesenswertes Buch. Ungewöhnlich, weil es ungeschminkt die Wahrheit sagt, sowohl auf narkoseärztlicher als auch apparativ-technischer Seite, und Irrtümer und Fehler ans Licht bringt und kritisch diskutiert, die bisher nicht erkannt waren. Oder verschwiegen und versteckt wurden. Es ist unbequem, weil es Anästhesisten und Industrie aus trügerischer Ruhe aufschreckt, dem Zenith scheinbaren Fortschritts, den man sich selber zu bescheinigen nicht müde geworden ist, und wird. Aber das ist kein isoliertes deutsches Problem, sondern ein ubiquitäres, auch in Holland. Ich habe das selber zeitlebens kritisiert und mich bemüht, dem „Exitus in Tabula“ Paroli zu bieten. Das Buch ist interessant, weil es detailliert haarsträubende Fehler für jedermann verständlich beschreibt, bei denen man sich erstaunt fragen muss, wie so etwas möglich war? Aus dem Buch habe ich erfahren, dass wir beide während unserer Arbeit ungefähr dieselben Probleme und abenteuerlichen Situationen mitgemacht und die gleichen disziplinären Prinzipien im OP durchgesetzt haben, zum Beispiel, dass die Anästhesis-ten nicht mehr sitzen durften. Als ich 1969 in Utrecht zum Ordinarius für Anästhesiologie ernannt wurde, hatte ich so wenige Mitarbeiter, dass ich meine offizielle Antrittsvorlesung erst 1972 halten konnte. Das Thema „de dood op tafel“ hatte ich schon einige Tage vorher bekannt gemacht, damals absolut unüblich und eher skandalös. Auch die grafische Gestaltung meiner Vorlesung mit Presseausschnitten von Unfällen und Narkosetoten fanden die Universitätsbehörden ungehörig. Und nach Meinung meiner Kollegen war das Ganze auch nicht „wissenschaftlich“ genug. Aber das erhoffte Resultat trat ein: Die ganze nationale Presse kam nach Utrecht, Tagesblätter, Fernsehen und Rundfunk haben wochenlang über Fehler und Komplikationen bei der Narkose geschrieben und geredet.

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Hugo Körtzinger (1892-1967): Heinrich Meyeringh (1931)

Durch „Aufgießen“ wurde die Narkose nicht schneller vertieft, weil die Maske dabei vereist. Dr. Heinrich Meyeringh (1889-1979): Äthernarkose bei Prof. Rudolf Stich in Göttingen um 1919

„…Erste Narkose! Noch graut mir, wenn ich ihrer gedenke. Lag auf dem eisernen Tisch da im Vorbereitungszimmer Vor mir ein Ringer von internationalem Rufe. Sorglich festgeschnallt mit kräftigen Lederriemen Oben und unten und auch inmitten, auf das der grausen Kräfte unberechenbare Entfaltung nicht grausig Treffe den Narkotiseur oder sonst´ge Betreuer, welche Voller Furcht und Bangen im Hintergunde sich hielten. Da geschah´s. Exzitierend zerrte der Koloß an den Riemen, sie zersprengend oben und unten und in der Mitte, furchtbar brüllend und schreiend: „Heran an die Rampe“, Aufbäumend sich, mit wuchtigen Fäusten, hier den Steuber Dort den Heinrich abschlagend, die jungen Ärzte treffend Fürchterlich. Dass diese ins Taumeln gerieten, während, Wie die Hühner dem Angriff des Hahnes wirbelnd entweichen, Sämtliche Schwestern verdattert entfleuchten unter Schreckens- Lauten – grand Malheur, dass Rudolf Stich in dies wilde Treiben und Gerangel sich mischte, unerwartet, Und aus majestätischer Haltung mich anpfiff, mit den Worten: Geben Sie Narkose, mich, der in seinen Ersten Narkosenöten schon die fünfteFlasche Köstlichen Äthers vertan, wobei in dem ungleichen Kampfe Schwierig es war, des kämpfenden Ringers stupsige Nase Richtig zu treffen, so sehr ich auch zielte. Dann aber zielte Sich´rer ich und grimmig entschlossen, unter den vorwurfsvoll Funkelnden Augen des großen Meisters, welcher unter Schütteln des Kopfes sich dann, wohl innerlich lächelnd, zurückzog. Mir aber, der auf Bakterien und Seren und Leichen Füglich getrimmt war, dämmerte auf, wie ungefährlich das Alles gewesen. Diese Narkose kündete mir den Schweren Beruf des Chirurgen. …“

Heinrich Meyeringh, 1918-1925 chirurgische Ausbildung bei Prof. Stich in Göttingen, 1925-1957 Direktor des Städtischen Krankenhauses in Peine. Vorgetragen 1974 auf dem bis 1990 alljährlich stattfindenden Treffen ehemaliger Stich-Schüler.

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I n h a l t

„Anästhesie gestern, heute und morgen“………………………………………………. 8 Eiserne Lunge ……………………………………………………………………..…... 11 Hustenpistole / Tussomat ……………………………………………………..……..... 22 „Hustenfilm“…………………………………………………………………...…..….. 33 Aspiration………………………………………………………………………...……. 37 Narkoseapparate bis „Modell Göttingen“………………………………..………...….. 39 Apparative Konstruktionsmängel/-fehler ............………………………...………...…. 52 Fluothan ……………………………………………………………………...…….….. 68 TAKAOKA-Respirator ………………………………………………………….…..... 71 Minirespiratoren ………………………………………………………………....…..... 85 CODIC (COmputerizeD Infusion Control)……………………………………..…….....…. 86 Narkoseentwicklung durch Inhalation, Injektion und Infusion……………………...... 105 Entwicklung der Infusion ………………………………………………….…….....… 107 Narkose per infusionem ………………………………………………….….…….….. 109 Tetanus Behandlung mit NLA-Infusion………………………………………….....… 110 Quicktrol………………………………………………………………………... ..…... 113 Allgemeines zur Narkose ……………………………………………………..…......... 115 Waller´s Chloroformwaage ………………………………………………….……..…. 115 Kuhn Tubus …………………………………………………………………..…..….... 119 Atropin …………………………………………………………………….…..…..….. 120 Narkoseeinleitung bei Säuglingen und Kleinkindern ………………………...………. 120 Maskenbeatmung …………………………………………………………….....…..… 120 Sichere Tubuslage ……………………………………………………….……..…...… 120 Seitenverwechslung ……………………………………………………….……....… 120 Fehler und Gefahren der Narkose…………………………………………………….. 120 Handbuch an der Wand…………………………………………………………..……. 121 Narkosemortalität ………………………………………………………………..……. 121 Hyperventilation mit Sauerstoff nach verzögerter Reanimation………………………. 124 Epontol …………………………………………………………………….….………. 124 „Narcex“ für Kuhn-Atembeutel ………………………………………………………. 126 Bundeswehrkrankenhaus ………………………………………………….…..………. 127 Skurriles

Ombrédanne Äthernarkoseapparat 1971 ……………………………………...…… 128 Kapstadt und Christiaan Barnard………………..……………………….……..…. 129 „Danziger Goldwasser“……………………………………………………………. 130 „Entlastungsschnitt“ und K. H. Bauer………………………...……….…………… Ernst Trier-Mörch, Chicago……………………………………………………………

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Exitus in tabula…………………………………………………..……………..……… 137 Göttinger Manifest …………………………………………………………………….. 138 Film „Infusionsnarkose mit Tramal“ …………………………………………….…..... 141 Kunstfehler-Gutachten……..……………………………………………………….…. 143 Meadows Syndrom (Peripartale Kardiomyopathie, PPCM)…………………………. 145 Marfan-Aneurysma der Aortenwurzel…………………………………………...… 149 Verwechselte Redon- und Liquordrainage…………………………………………. 154 Zwischenbilanz ……………………………………………………….……………….. 156 „SmartPilot View“…………………………………………. …………………...…..… 167 Narkose – quo vadis? ………………………………………………….………...….… 175 Seminar 1979 „Fortschritte der Narkosetechnik zur Verminderung des Risikos“…….. 178 Schriftwechsel…………………………………………………………………………. 179

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Schließlich wurde die Geschichte innerhalb von zwei Tagen in der holländischen Regierung diskutiert mit dem Entschluss, die Ausbildung, die Apparate und die Orga-nisation in der Anästhesiologie zu verbessern. In der Anästhesiologie heißt Fortschritt mehr Sicherheit für den Patienten, einziger Monitor ist „de dood op tafel“: 1:4.000 oder 10.000, oder was auch immer – schon ein Narkosetoter ist zu viel. Von den letzten 1.7 Millionen Patienten haben Stoffregen und Mitarbeiter keinen in Narkose verloren. Sein Buch zeigt, dass das möglich ist. Ausreden wie „eine Narkose ohne Risiko gibt es nicht“, „errors are an inevitable part of anesthetic practice“, oder „anesthetists are human and humans make errors“, sind unakzeptabel und schüren nur die Angst vor der Narkose. Das Buch ist lesenswert für jeden Anästhesisten. Und auch für jeden, der Narkosegeräte mit Respiratoren baut oder vertreibt. Das gilt auch für den dazu gehörenden Film, der 1979 in Innsbruck uraufgeführt wurde und die alternative Narkosetechnik mit gesteuer-ter Tramadol-Infusion und Takaoka-Beatmung in vivo zeigt. Und als Anhang die histo-rische Rarität der röntgenkinematographischen Aufzeichnung künstlicher Hustenstöße mit der „Hustenpistole“ von 1956. Beides ist noch immer aktuell. Mir bleibt nur, dem lange überfälligen Buch den Erfolg zu wünschen, den es verdient.

(Prof. Dr. Bob Smalhout)

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„Narkose gestern, heute - und morgen?“ - eigentlich müßte es „Anästhesiologie“ heißen – zwingt mich, sechs Jahrzehnte zu rekapitulieren, um aus der Erinnerung darüber zu berichten. Dabei bleibt das Morgen spekulativ. Die apparativ-industrielle Fokussierung erklärt der Umstand, dass es damals für Narkose- mit Beatmungsgeräten nur einen entsprechenden Anbieter gab. Aber es ist kein „Rachefeldzug“ - gegen niemand. Die kritische Analyse widerspiegelt eine lebens-lange Berufstätigkeit an Hand von Tatsachen. Ich habe nichts erfunden, ausgedacht, oder geschönt. Ich erzähle, wie es sich zugetragen hat, damals vor allem mit der Auf-gabe verbunden, historische und aktuelle Irrtümer auszuräumen und aus den Fehlern zu lernen. Das gilt noch heute. Als Anästhesist bin ich eine Art Dino, davon gibt es nicht mehr viele. Narkose-technisch habe ich die Zeit von 1846 bis heute noch praktisch erlebt: Die Äthertropfnarkose, auch mit Chloroform. Oder mit „Billroth´scher Mischung“ (ana Äther, Chloroform und Alkohol), den Chloräthylrausch, die rektale Avertin-Basisnarkose, die intravenöse Einleitung der Äthernarkose mit Evipan. Auch, wie 1951 den Patienten in der Norddeutschen UKE-Kieferklinik eine Woche vor der von Prof. Lezius1 geplanten Thorakotomie „zur Intubation“ die oberen Schneidezähne gezogen werden mussten. Und dass sich die ersten Gelegenheitsintubateure dem Spott der Nur-Chirurgen ausgeliefert sahen, die ihnen nachsagten, sie trügen am Gürtel einen Lederbeutel, in dem sie die abgebrochenen Schneidezähne aufbewahrten. Oder 1952 die ersten Intubationsversuche im Hafenkrankenhaus Hamburg in Lokalanästhesie am „hängen-den Kopf“ (richtig ist das Gegenteil (Seite 177), dem Patienten ein etwa 10 cm dickes festes Kissen unter den Kopf zu legen, um die Stimmritze durch leichten Zug am Griff des Laryngo-skops darzustellen). Oder die Versuche, in Lokalanästhesie in “Schwertschluckerhaltung“ zu intubieren. Oder die Broncho-skopie („Sagen Sie mal Hiiiiieh!“), und die Bronchographie.

In Göttingen wurde noch 1957 in dieser archaischen Weise oesophagoskopiert. Dazu diente ein niedriges Stühlchen mit hoher steifer Lehne, auf dem der Patient mit maximal rekliniertem Kopf sitzen musste (v. Hacker, Wien. klin. Wsch 1896, 9, 91).

1Prof. Albert Lezius, Städt. Krankenhaus Ost in Lübeck, thoraxchirurgischer Gastoperateur im UKE bei Prof. Georg Konjetzny (1880-1957).

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Epilog Keuskamp „Possible Hazards of Technical Progress in Anaesthetic Practice“………. H. J. Hoeft „Zurück zu den Anfängen“ ………………………………………………. Anhang Anästhesistentreffen 1. Februar 1959 in Göttingen ………………………………….. Informationen der DGA 1959…………………………………………………………. „Sulla 808V“ und N2O-Zwischenfälle………………………………………………… DRAEGER Technik für das Leben……………………………………………………. Wilhelm Hallermann…………………………………………………………………... Medizinische Hochschule Hannover…………………………………………………... Erster Weltkrieg und Anästhesiologie………………………………………………… Hans Georg Epstein…………………………………………………………………………….. Schüttler J. und E. Biermann „Der Narkosezwischenfall“…………………………….

185 187 191 193 194 199 202 203 204 205 206

Bob Smalhouts Habilitation Universität Utrecht 1972 ………………………………... Schlusswort…………………………………………………………………………… . Tabelle 4-fach abgestuftes Infusionsprofil für Midazolam und Ketamin …………….. CODIC Literatur ………………………………………………………………............

211 212 213 218

Sachregister……………………………………………………………………………...

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So fing es an:

William Thomas Green Morton 16. Oktober 1846 Massachusetts General Hospital

(1819-1868) erste öffentliche Äthernarkose: „That´s no humbug!“

Johann Friedrich Dieffenbach (1792-1847):

„Der schöne Traum, dass der Schmerz von uns genommen, ist zur Wirklichkeit geworden. Laut- und empfindungslos liegt der freiwillig aus dem Kreise der Lebenden, Empfindenden, Denkenden Herausgetretene mit geschlossenen Augen wie ein sanft Schlummernder da, und in beängstigender Einsamkeit vollendet der Chirurg sein Werk“.2 Aus meiner Antrittsvorlesung in Göttingen 1958.

2 Dieffenbach hat u .a. die „Indische Nasenplastik“ ausgeführt – vor Entdeckung der Narkose!

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Es waren Pionierzeiten - Terra incognita für alle Beteiligten, auch die Apparate Industrie. Widerstände waren zu überwinden, Vorurteile, ein Profil zu entwickeln. Der Gynäkologe Prof. Heinrich Martius zu mir 1957: „Ach Stoffregen, Narkose ist doch kein ärztlicher Beruf“. Mangelhaftes habe ich nicht als sakrosankt akzeptiert, sondern in Frage

gestellt und gesucht, ob es Besseres gibt. Saint Exupéry hat als Anden-Postpilot der 20er Jahre in „Wind, Sand und Sterne“ den Fortschritt als die Aufgabe definiert, „das unvollkommen Komplizierte möglichst unkompliziert zu machen“. In unse-rem Fach betrifft das Narkoseapparate mit Respiratoren – sine granum salis auch heute!

Englische Karikatur, Autor unbekannt. Die Karikatur oben rechts und die zu dem Eingangsgedicht von Heinrich Meyeringh verdanke ich Herrn Kollegen Arno Seiss, Krankenhaus Schwarzach, Pongau. Meine Erinnerung ist eine Art Bilderbuch geworden.

Dr. Fritz Hesse 1935:

Dazwischen liegen bis zu diesem DRAEGER-Foto 75 Jahre.

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2. November 2009 DRAEGER hat auch nach 1954 die Eiserne Lunge E 52 verkauft, bis Anfang der 60er Jahre in Afrika. Als „Polio-Prophylaxe“ unter dem nachhaltigen Schock der weltweiten Kinderlähmungs-Epidemie 1952 (in Deutsch-land waren es 10.000, von denen 800 starben (8 %), in den USA 3.000). In Dänemark wurden die tracheotomierten Polio-Gelähm-ten auch von Hand mit Überdruck beatmet (Seite 14).

„The iron lung is a form of non-invasive positive pressure therapy“ – de facto Ersatz für die Trachealkanüle. Die Eiserne Lunge wurde in Harvard von Philip Drinker entwi-ckelt und zum ersten Mal am 12.10.1928 im Children´s Hospital in Boston eingesetzt.

Emerson konstruierte 1931 eine wesentlich verbesserte „Eiserne Lunge“ und gewann damit den Patentstreit gegen Drinker.

Auch die „Eiserne Lunge“ bewirkt eine transthorakale Druckdifferenz von z. B. +20 cm Wasser.

Blasebalg mit Holzzwischenstück zur Beatmung durch die Nase von Alexander Johnston 1773. Die erste Überdruckbeatmung (IPPB Intermittend Positive Pressure Breathing) über eine Trachealkanüle erfolgte 1952 im Blegdams Hospital in Kopenhagen (Seite 14). Überraschend projektiert der Anästhesist Dr. Raymondos in der Medizinischen Hoch-schule Hannover noch 2010 einen „fortschrittlichen Kammerrespirator“ (Seite 20, 21).

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Anästhesist wurde ich 1954 bei Rudolf Frey in der Chirurgischen Universitätsklinik Heidelberg unter dem omnipotenten Chirurgen K. H. Bauer als ich sah, dass etwa ein-mal im Monat auf dem Tisch verstorbene Patienten wieder aus dem OP herausgefahren wurden. Vorausgegangen war meine zweijährige Tätigkeit im Max Planck-Institut für medizinische Forschung, Abt. Physiologie, Heidelberg, mit experimentellen Untersuchungen mit Heiko Hörnicke über den Zusammenhang von Beatmung und Kreislauf. Dazu benutzten wir DRAEGERS „Eiserne Lunge E 52 nach Brüner und Rindfleisch“

Nachdem Physiologen wie N. Gréhant u. a. schon in den 1870ern thorakoto-mierte Versuchstiere mit Überdruck beatmet hatten, war die Unterdruck-kammer der Jahrhundertirrtum von Sauerbruch und Mikulicz:

DRAEGER Versuchsmodell der Eisernen Lunge 1947 aus einem Oberdeck-Torpedorohr in der Deutschen Werft, Hamburg (Dönhardt).

(aus Cyon, Ellas de 1876 „Atlas zur Methodik

Physiologischer Experimente und Vivisectionen“.) Mit Hörnicke habe ich 1954 auf dem Deutschen Physiologen-Kongress in Hom-burg/Saar nachgewiesen, dass die Unterdruckbeatmung in Wahrheit eine Über-druckbeatmung ist. Wir dachten, es sei der Tod der „Eisernen Lunge“. Oder doch nicht?

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„Spirophore“ von Dr. Woillez, Paris 1876. Der Indikatorstab zeigte die Atemexkursionen des Brustkorbs, der erste sinnvolle Monitor.

Der Zylinder enthielt 50 % O2.

Überrdruckbeatmung („To-and-Fro“) Blegdams Hospital Kopenhagen 1952

Biomotor und Chest-Respiratoren beruhen auf dem klassischen Irrtum scheinbarer Unterdruck-beatmung à la Sauerbruch:

Rudolf Eisenmenger (1871-1946) Patent 1904: „Device for Artificial Respiration“ DRAEGER mit seinem „Biomotor“ 1924 „Rumpfrespirator“ 1956 .

Eiserne Lungen im Einsatz bei Polio-Epidemie 1955, Auch DRAEGER irrt, es ist eine Über- Haynes Memorial Hospital. druckbeatmung.

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Eiserne Lunge

Scheinbare Unterdruckbeatmung bei Messung gegen die Atmosphäre (gemeinsame Versuche mit Heiko Hörnicke 1953)

Tatsächliche Überdruckbeatmung bei Messung gegen den Kammerdruck Aus Stoffregen in „Lehrbuch der Anästhesiologie“, Herausgeber Frey, Hügin, Mayrhofer, Springer Verlag 1955.

Deshalb, und wegen der 1955 erfundenen Hustenpistole, wur-de ich 1957, 31 Jahre alt, Gast-professor an der University of Chicago.

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Ein konstruktiver Vorgänger der „Unterdruckkammer“ war 1878 die fahrbare „Über-druckkammer“ von Paul Bert, um die Lachgaswirkung zu verstärken:4

Mascre Souville: Paul Bert (1833-1886)

(Caisson-/Taucherkrankheit) John Collins Warren (1778-1856) Horace Wells (1815-1848) Ich zitiere zum Lachgas:

The Dentist Colton Es war derselbe Zahnarzt Colton, der seinem Kollegen Wells zur Narkose mit Lachgas geraten hat. Als Horace Wells am 25.01.1845 seine N2O-Narkose im Massachusetts General Hospital vorführen wollte, scheiterte das wegen zu geringer Dosierung.

Der damalige Ausspruch des Chirurgen Warren ist überliefert: „That´s humbug“. Dennoch ist Horace Wells der wahre Entdecker der Narkose. Nach seinem öffentlichen Misserfolg wurde er depressiv und durch viele Selbstversuche mit Lachgas, Äther und Chloroform schließlich chloroformsüchtig. Als er in New York im Battery Park im Rausch zwei Frauen mit Säure bespritzte, wurde er inhaftiert. Er tötete sich anderentags, am 24.01.1848, durch einen Schnitt in die Art. femoralis. Horace Wells im MGH am 25.01.1845

4 Bert P: “Sur la possibilité d´obtenir, à l`aide du protoxyde d´azote, une misensibilité de long durée et l´innocuité de cet anesthésique. Compt. Rend. Acad. d. sc: 87:728-730.

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1904 Sauerbruchs Unterdruckkammer3, zum 1905 Ludolph Brauer Überdruckatmung. Letzten Mal gebaut in München 1918.

Beides waren Spontan-Atmungs-Verfahren mit der Druckdifferenz von 15 bis 20 cm H2O.

In der Unterdruckkammer waren Beine und unteres Abdomen des Patienten von einer Manschette umkleidet, die unter dem Atmosphärendruck der Außenseite stand – Ausdruck Sauerbruchs prinzipiellen Irrtums bezüglich der Unterdruckatmung.

Überdrucknarkoseapparat Brauer- DRAEGER 1906 Ludolph Brauer (1865-1951)

Emerson „Chest Respirator“. Damit 1959 erste Bronchoskopie in Narkose unter Muskelrelaxation in Göttingen (Stoffregen und Stenger HNO 9, 69-73, 1960). In dieser Weise haben wir einige hundert Bronchoskopien durch-geführt.

3 Brand, L.: „Im Vergleich zu einem Endotrachealtubus ein etwas zu groß geratenes Gerät“. Illustrierte Geschichte der Anästhesie.

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Karikatur von Hans Killian auf dem ersten Kongress deutscher Anästhesisten in Hamburg 1927: „Mit was sollen wir nach diesem Kongress noch narkotisieren?“ Vorsitzender war der Freiburger Chirurg Eduard Rehn, der auf der Abschlusssitzung allen Bestre-bungen nach einer Verselbständigung der Anä-sthesiologie als eigenes medizinisches Fachgebiet vehement widersprochen hat.7 Rehn, E: Bericht zur 90. Versammlung Deutscher Natur-forscher und Ärzte in Hamburg. Zbl f Chir 1929;3: 174. Trotz hervorragender Schulen Rudolf Stich (1875-1960) in Göttingen, Victor Schmieden (1874-1945) in Frankfurt, Ferdinand Sauerbruch (1875-1951) in Berlin und anderer, fürchtete man einen Macht-verlust der Chirurgie. Die Geschichte beweist, Sauerbruch et alii haben die deutschsprachig orientierte konti-nentale Chirurgie für ein halbes Jahrhundert in die Auszeit gebracht.

Ich habe 1950 noch eine Gastvorlesung von Prof. Sauerbruch bei Prof. Georg Konjetzny im UKE erlebt. Im amerikanischen Bürgerkrieg war der Hauptverbandsplatz durch eine weithin sichtbare Stange („Pole“) mit vor dem blauen Himmel im Wind flatternden blutdurchtränkten weißen Baumwollbinden („Sharpie“) gekennzeichnet. Als „Barberpole“ symbolisiert es in den USA noch heute das Handwerk der Friseure (Bader, Barbiere). Aus „Der Sanitätsdienst 1861-1865“:

„Sofern vorhanden, erhielt der Ver-

wundete irgendein Betäubungsmittel, bevor das Messer angesetzt wurde. Die Ärzte bevorzugten Chloroform und hiel-ten dem Patienten einen getränkten Schwamm oder ein Tuch über die Nase, bis sich sein Körper vollkommen ent-spannt hatte. Auch Äther und Laudanum (Tinctura Opii) wurden verwendet“.

Max Liebermann (1847-1935): Prof. Ferdinand Sauerbruch (1875-1951)

7 Vis a tergo war die unterschwellige Sorge der Chirurgen, dass das gegenüber der historisch akademisch etablierten „Medizin“ gerade als selbständig erreichte Fach durch Diversifikation geschmälert werden könnte. Nicht allzu lange zuvor waren sie noch Bader gewesen (aus Sicht der Internisten „ländliche Volksärzte zweiter Klasse“). „Weil Barbiere mit scharfen Messern feinfühlig umgehen konnten, schienen sie für bestimmte chirurgische Noteingriffe qualifiziert (´Steinschneider´)“. „Während akademisch ausgebildete Mediziner an Universitäten ihre Ausbildung erhielten, war für Landärzte (Chirurgen), Wundärzte und Bader eine nicht akademische Ausbildung an der Schule für Landärzte ausreichend“ (Wikipedia).

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Weil sich Inhalationsnarkose und Operationsgebiet überschneiden, waren Zahn- und HNO-Ärzte historische Protagonisten der Narkose und ihrer technischen Anwendung.

Als ich 1957, hundert Jahre später, von der Chicago University nach Göttingen kam, war die Colton-Technik der 1860er in der HNO-Klinik „still in use“: Zur Adenotomie mussten die Kleinkinder in einer Art Liegestuhl über eine Maske pures Lachgas inhalieren, bis sie blauverfärbt bewusstlos wurden. Dann entfernte der HNO-Kollege mit einem Schälmesser blitzartig die Rachenmandel, und im gleichen Augenblick wurden die kleinen Patienten von der narkotisierenden Schwester maximal vornübergebeugt, um zu verhindern, dass sie Blut aspi-rierten. Obwohl es funktionierte, habe ich das Erstickungsverfahren beendet.

In der Göttinger HNO-Klinik wurde 1957 auch noch die um den Hals gehängte Junker´sche Chloroformflasche verwendet, seit 1952 mit Trilen (C2HCl3 Trichloräthy-len). Beides beredter Ausdruck, wie sehr sich seit der Jahrhundertwende die Narkose-technik in der angelsächsischen Welt durch Spezialisten weiterentwickelt hatte, während sie im deutschen Sprachraum stagnierte.5 Das zeigt die bereits 1893 gegründete „Society of Anesthetists“ in England.

Ferdinand Adalbert Junker von Langegg (1829-1901), geb. in Wien, lebte überwiegend in London (als F. Ethelbert). Seine Chloroform-Flasche entwickelte er 1867.

Sauerbruchs inhibierende Rolle hat sein Schüler Rudolf Nissen, Basel, auf den Punkt gebracht:6

Rudolf Nissen (1896-1981) 5 Beim Abschied in Chicago der Dekan zu mir: “Why don´t you stay here? We are going to offer you at the end of this year a permanent Professorship. Why, for heaven´s sake, are you going back to Goettingen, to the ´deutsche Obermedi-zinalgeheimratsmedizin!´” 6 Nissen, R: “Historical development of pulmonary Surgery”. Amer J Surg 89, 9, 1955

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Futuristischer Entwurf des letzten MMH-Kammerrespirators 2010 von Dr. Raymondos, MH Hannover

Tankrespirator MHH 1 auf einem Bett „Reiselunge Schneider“ 1980 (MH Hannover)

„Isolette-Respirator“ (Kombination aus Inkuba- tor und Tankrespirator), Air-Shields 1965 8: „Die funktionelle Trennung erfolgte durch eine sehr weiche Schultermanschette in Irisblendenform“.

Moderne „Eiserne Lunge“ Ich frage mich, welche Indikation es heute noch für die Neuauflage dieses antiquierten Beatmungsverfahrens ge-ben könnte - mir ist keine eingefallen. Alles bestätigt nur den historischen Irrtum der ein halbjahrhundert alten sog. Unterdruckbeatmung. 8 Aus F. Marx und A. Silvermann: „Die Entwicklung der Säuglingsinkubatoren“. Hansisches Verlagskontor Lübeck 1986, S. 59.

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„Eiserne Lunge“ 1937 mit einem Poliomye- Eiserne Lunge von Emerson 1940. Der Kopf ragt aus

litis-Kind. einem ledernen Nackenkragen. Der Elektromotor un- ter dem Tank erzeugt den Unterdruck über einen Zie- harmonikabalg.

Emerson Iron Lung Emergency Iron Lung Ambulance 1937 DRAEGER „E 52“ 1955 (!)

„Raumrespirator“ 1932 aus zusammengeschweißten Blechplatten. Daraus ragen rechts die Köpfe von vier synchron beatmeten Patienten. Im Bedarfsfall war in der Mitte ein 5. Platz verfügbar. Der „Room sized Respirator“ wurde noch in den ersten 50er Jahren bei Poliomyelitisepidemien verwendet (Children´s Hospital Boston).

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„Hustenpistole“ (Tussomat)

Um die meist tödliche Aspiration erfolgreich zu behandeln, habe ich 1955 die Hustenpistole (Coughing Pistol) erfunden, mit der durch künstliche Hustenstöße alle Fremdkörper aus der Lunge entfernt werden können, auch aus Bronchiolen und Lungenbläschen.

Konstruktionszeichnung und Original der „Hustenpistole“ aus Messing 1955 bei abgenommener Deckplatte. Der verstellbare Bypass-Ring am hinteren Laufende, um die Intensität des Hustenstoßes zu dosieren, erwies sich später als überflüssig.

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Aus der Habilitationsschrift Dr. Raymondos, MH Hannover:

„Negativdruckbeatmung bei einer Patientin mit ARDS und bereits ausgeprägter Fibrose nach drei Wochen Beatmung. Dieser erste Einsatz des Kammerrespirators erfolgte im Mai 2002, zwei Monate nachdem bei der Eröffnung der Intensivstation der unmittelbar davor fertig gestellte Kammerrespirator öffentlich vorgestellt worden war. Die Patientin verstarb vier Tage nach Therapiebeginn“.

Ich verfüge über eine 1½-jährige Eiserne Lunge-Erfahrung: 1961 habe ich mit einer DC-3 die 31-jährige Frau eines deutschen Botschafts-sekretärs in einem afrikanischen Land von Paris nach Göttingen geholt. Sie hatte in

Afrika drei Monaten zuvor eine Poliomyelitis-Infektion erlitten, war atemgelähmt und wurde in Paris mit einer Eisernen Lunge beatmet, weil sie sich kategorisch einer Tracheotomie verweigert hatte. Ihr Ehemann musste beruflich zurück nach Bonn, und ich sollte seine Frau in Göttingen in einer EL weiterbeatmen. Dazu habe ich eine „Dräger E 52“ besorgt, die mir aus meiner Zeit im MPI-Heidelberg vertraut war. Während des Fluges von Paris nach Hannover und im NAW nach Göttingen habe ich sie intubiert und mit einem Bird Respirator beatmet. Die langdauernde Eiserne Lunge-Beatmung war für Patientin, Ärzte und Personal eine aufwendige Last. Wiederholt musste in der orthopädischen Werkstatt ein besser abdichtender Kragen aus Leder hergestellt und umständlich angepasst werden. Wir hatten ihr auch ein gläsernes Pult zum Buchlesen gebaut. Für bestimmte Maßnahmen wurde über den Dom beatmet, z. B. zum Waschen, Betten, usw. Das alles war schwierig, ist aber komplikationslos verlaufen.


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