Date post: | 03-Apr-2016 |
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--- LESEPROBE ---
Venus auf Landpartie
Sterne lügen nicht
Julia Kleinschmidt
„[…] Eine spannende und witzige Geschichte, die nah bei der Wirklichkeit bleibt und keine lange Weile aufkommen lässt.
Ich habe dieses Buch sehr genossen.“
Severina auf Amazon
„.Eine wunderschöne Liebesgeschichte für Großstadtpflanzen
und Landmenschen, bei der Spaß garantiert ist - sehr empfehlenswert.“
A.W. auf Amazon
„[…] Witzig und spannend, mit sympathischen Charakteren.
Ich kann das Buch nur weiterempfehlen. “
Katrin F. via E-Mail
Über das Buch
Nicole ist 34, erfolgreich und liebt vor allem ihren Job.
Landleben erträgt die ehrgeizige Großstadt-Bankerin
höchstens beim Ausspannen in einem luxuriösen Wellness-
Tempel. Doch ihr geplanter Trip in die Gesundheitsoase – ein
Geschenk ihres Verlobten Axel – verläuft anders als geplant.
Bei einem unfreiwilligen Zwischenstopp gibt‘s statt Erholung
im Nobelhotel jede Menge Turbulenzen auf dem platten
Land.
Nicht nur die Suche nach dem kleinen Nik und die
„Schnitzeljagd“ nach Ferkel Fredy halten Nicole in Atem. Vor
allem der smarte Agraringenieur Hendrik treibt den Puls der
Karrierefrau mächtig in die Höhe. Als dann unerwartet auch
noch Axel aufkreuzt, steht die Welt der sonst so souveränen
Bankerin Kopf ...
Über die Autorin
Julia Kleinschmidt, 1972 in Köln geboren, arbeitete jahrelang
als Lokalredakteurin bei einer Tageszeitung. In Bonn studierte
sie Germanistik, bevor sie nach erfolgreichem Abschluss zum
Volontariat nach Ostwestfalen kam – und dort blieb.
Während ihrer Elternzeit erfüllte sie sich einen lang gehegten
Wunsch und schrieb ihren ersten Roman.
Julia Kleinschmidt ist verheiratet, hat zwei Kinder und wohnt
mit ihrer Familie auf einem Bauernhof. Die Autorin arbeitet
heute freiberuflich als Journalistin.
Impressum
Venus auf Landpartie (1. Auflage 2014)
Autor: Julia Kleinschmidt
Lektorat: Iris Bachmeier
Covergestaltung: Jasmin Waisburd
Bild: © Bigstockphoto.com
Copyright © 2014
Roman Verlag
http://www.romanverlag.com
207 Taaffe Place, Office 3A
Brooklyn, NY11205, USA
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.
Alle Rechte, auch die der Übersetzung, des Nachdrucks und der
Vervielfältigung des Werkes oder Teilen daraus, sind vorbehalten.
Kein Teil des Werkes darf ohne schriftliche Genehmigung des
Verlags in irgendeiner Form (Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes
Verfahren), auch nicht für Zwecke der Unterrichtsgestaltung,
reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme
verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen,
Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne
besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche
Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-
Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von
jedermann benutzt werden dürften.
Trotz sorgfältigem Lektorat können sich Fehler einschleichen. Autor
und Verlag sind deshalb dankbar für diesbezügliche Hinweise.
Jegliche Haftung ist ausgeschlossen, alle Rechte bleiben
vorbehalten.
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1
Prolog
Gemeinsames Singen stärkt das Wirgefühl. Doch musste es
ausgerechnet die italienische Nationalhymne sein? Nicole
sah zur Tafel. „Fratelli d’Italia, L’Italia s’è desta …“ Wo sonst
Kinderhände ungelenk Sätze wie „Uli trägt einen grünen
Pulli“ hinkritzelten, ging es jetzt heroisch zu. Aber Nicole
sprach kein Italienisch. Und sie hatte auch keinen blassen
Schimmer, warum sie ausgerechnet heute damit anfangen
sollte. Ob es den anderen genauso ging? Sie warf einen
Blick in die Runde. Wenn ja, ließen es sich die meisten
jedenfalls nicht anmerken. Wie selbstverständlich und mit
einem Lächeln auf den Lippen wiederholten sie laut, was
Klassenlehrerin Frau Rosenbändel ihnen vorsang. Um den
Lernprozess zu vereinfachen, fuhr die energische Blondine
mit einem altmodischen Zeigestock die Zeilen an der Tafel
entlang. Zum Glück hatte sie sich auf eine Strophe
beschränkt. Jetzt folgte der Refrain: „Stringiamoci a coòrte
…“
Auch Frau Rosenbändel lächelte. Ja, sie strahlte
regelrecht, während ihr Zeigestock von Wort zu Wort hüpfte.
Dann, endlich, hatte der Stock das Ende der letzten Zeile
erreicht. Der Gesang verstummte. Frau Rosenbändel senkte
den Arm, seufzte einmal tief und blickte dann zufrieden in die
Gesichter der Eltern. „Sehen Sie, meine Lieben, das habe ich
vorhin gemeint, als ich sagte: Gemeinsam kann man fast jede
Herausforderung meistern. Und so wie Sie sich gerade so
wunderbar an diesem italienischen Gesang probiert haben,
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so werden auch Ihre Kinder künftig jede Herausforderung
meistern können. Gemeinsam mit uns Lehrkräften.“
Nicole unterdrückte ein Gähnen. Wann kam die gute
Frau endlich zum Ende? Zuviel Pathos am Morgen konnte sie
nicht vertragen. Wobei: In einem Punkt hatte die Paukerin
recht. Die Mütter und Väter hatten eine große
Herausforderung gemeistert: Sie saßen – und sangen – seit
geraumer Zeit auf Stühlchen, die auf die Größe von
Grundschülern abgestimmt waren. Um einem Krampf
vorzubeugen, streckte Nicole das rechte Bein ein wenig aus
und schlug es über das linke. Dabei fiel ihr Blick auf ihre
Fußnägel. Ups, was hatte sie da denn gemacht? Am rechten
kleinen Zeh hatte sich eine hässliche verhornte Stelle
gebildet. Und sie hatte es nicht gemerkt. Wie peinlich. Und
das bei ihren offenen Sandalen! Sie stellte das rechte Bein
wieder zurück und schob den Fuß unauffällig ein wenig nach
hinten.
Da erhielt sie einen Rempler von rechts. „Geht Ihnen das
auch immer so?“, wisperte die dralle Rothaarige neben ihr.
„Ich hab’ auch ständig Probleme mit Hornhaut und weiß
einfach nicht, was ich dagegen tun soll. Und das mitten in
der Sandalen-Saison. Eincremen hat jedenfalls nicht
geholfen.“
„Probieren Sie’s doch mal mit einem elektrischen
Pediküregerät“, flüsterte Nicole zurück.
„Wie bitte?“ Die Rothaarige hatte offenbar nicht nur
Hornhaut am Fuß, sondern auch Verhärtungen im
Gehörgang.
„Elektrische Pediküre“, zischte Nicole etwas lauter. Laut
genug.
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„Ich merke schon, meine Lieben, Sie werden langsam
ungeduldig.“ Frau Rosenbändel hob die Stimme noch ein
wenig mehr. Ihr Blick blieb an Nicole haften. Sie hob
missbilligend die Brauen. „Störungen dulde ich nicht. Weder
von Kindern noch von deren Eltern“, sagte dieser Blick. Doch
ihre Stimme blieb freundlich. Sie wandte sich wieder an alle:
„So, dann wollen wir Ihre Kinder mal nicht länger auf die
Folter spannen. Ich würde sagen, holen Sie nun Ihre Buben
und Mädchen herein und wir heißen sie gemeinsam in ihrem
neuen Klassenzimmer willkommen.“
Erleichtertes Seufzen begleitete das allgemeine
Stühlerücken. Alles strömte zur Tür, um den eigenen
Nachwuchs als Erstes ins Klassenzimmer zu führen. Nicole
ließ sich etwas Zeit. Das Gedränge war groß genug. Sie fand
es überhaupt eine schwachsinnige Idee, am Einschulungstag
erst die Eltern in die Klasse zu bitten, während die I-
Dötzchen samt Schultüten draußen auf dem Flur warten
mussten. Aber na ja, offenbar regelte das jede Schule
anders.
Langsam wurde Nicole im Gedränge nach vorne
geschoben. An der Tür wartete Frau Rosenbändel. „Na, Frau
Lohmanns, die Aufregung hat Sie wohl auch ganz schön
ergriffen.“ Erneut traf Nicole ein Blick unter hochgezogenen
Brauen. „Wo ist denn Ihr Sohn? Oder ist’s ein Mädel?“
Nicole stutzte. Warum musste sie überlegen?
„Ja, ja, ich schaue, wo er, äh, sie steckt“, antwortete sie
ausweichend und trat auf den Flur. Hier war das Gewusel
noch größer. Zu den Eltern hatten sich noch die rund 25
Erstklässler nebst Geschwisterkindern und diversen anderen
Verwandten gesellt. Ein heilloses Durcheinander. Fast ratlos
sah sie sich um. Wonach suchte sie hier eigentlich? Oder
besser: Wen suchte sie?
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Und wieder hörte sie Frau Rosenbändels Stimme hinter
sich. „Alles klar, Frau Lohmanns? Vielleicht ist er bei Ihrem
Mann?“
Häh? Moment mal: er? Wieso er? Und wo war ihr
Mann? Weg? Durchgebrannt? Mit Kind? Wirre Gedanken
schossen ihr durch den Kopf. Sie schob sich aus dem Pulk
heraus. Sie brauchte unbedingt frische Luft und ging den Flur
entlang.
„Frau Lohmanns, hallo, was ist denn mit Ihnen? Geht’s
Ihnen nicht gut?“ Frau Rosenbändels Stimme tönte wie eine
Fanfare durch die Menge. Die Frau nervte nur noch. Nicole
musste unbedingt hier weg. Ihr Schritt wurde schneller. Sie
begann zu laufen. Der Flur schien kein Ende zu nehmen.
Rechts und links Türen, Türen, Türen. Wo ging’s hier hinaus?!
Endlich, eine Glastür führte ins Freie. Ein frischer Windhauch
blies Nicole ins Gesicht. Tief sog sie die Luft durch die Nase
ein. Und wachte auf.
Eine leichte Brise bewegte die Gardinen am geöffneten
Schlafzimmerfenster. Die Brise war mild. Die Luft roch nach
Sommer und ein wenig nach Regen. Kein Wunder nach dem
Unwetter am Nachmittag. Nicole setzte sich im Bett auf und
atmete einige Minuten lang ruhig ein und aus. Es war bereits
das zweite Mal, dass sie in dieser Nacht aufwachte. Aber
was war das denn um Himmels willen für ein Traum
gewesen? So etwas hatte sie ewig nicht mehr erlebt. Aber in
ihrem Leben war es auch lange nicht so turbulent
zugegangen wie in den vergangenen Wochen.
Einschulungstag, so ein Käse! Sie hatte doch gar keine
Kinder. Und ihren Kerl hatte sie auch noch gesucht! Lautes
Schnarchen verriet, dass es wirklich nur ein Traum gewesen
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war. Nicole drehte sich zur Seite. Zärtlich fuhr sie mit der
Hand durch das Haar, das unter der Decke hervorlugte.
Tatsächlich. Er hatte sich eingemummelt bis zur Nasenspitze.
Und das bei den Temperaturen! Das Schnarchen ging in ein
zufriedenes Grunzen über. Nicole lächelte und wandte ihren
Kopf dem Nachttisch zu. 4.30 Uhr zeigte der kleine Wecker
an. Noch hatte sie ein bisschen Zeit. Sie ließ sich ins Kissen
zurücksinken, gähnte herzhaft und schloss die Augen.
Minuten später schlief sie tief und fest.
6
Kapitel 1
„Großartig, Nicole, Sie waren einfach wieder großartig! Was
täten wir nur ohne Sie?“ Dr. Heinrich Tietzbrink strahlte über
das ganze Gesicht. Und das wollte etwas heißen. Der
Endfünfziger zählte körperlich nicht zu den Größten, was er
durch mehr Masse allerdings spielend ausglich. Jetzt
leuchteten seine Augen, die Wangen hatten sich tief rot
verfärbt, und Freude und Julihitze gleichermaßen trieben ihm
die Schweißperlen auf die Stirn. Kein Wunder. Der
gelungene Vertragsabschluss mit der Hamburger Reederei
bescherte dem privaten Bankhaus – und damit natürlich vor
allem seinem Boss Dr. Heinrich Tietzbrink – unterm Strich
bares Geld.
Nicole setzte ein bescheidenes Lächeln auf. Dabei
wusste sie genau, dass das gute Geschäft maßgeblich ihr
Verdienst war. „Ich bitte Sie, Dr. Tietzbrink“, sagte sie und
strich sich charmant und nur scheinbar verlegen eine dunkle
Haarsträhne hinters Ohr, „ich habe doch nur meinen Job
gemacht.“
„Ach, Frau Lohmanns, wenn alle meine Mitarbeiter ihre
Aufgaben so engagiert erledigen würden wie Sie.“ Seit mehr
als einer Minute schüttelte er ihr schon die Hand, als wolle er
sie nicht mehr loslassen. Geschmeichelt hatte Nicole ihn
gewähren lassen, doch jetzt reichte es.
„Wie gesagt, ich habe einfach nur meinen Job gemacht,
und den mache ich, wie Sie wissen, sehr gerne“, betonte sie
und befreite ihre Rechte – immer noch bescheiden lächelnd –
mit sanftem Nachdruck aus seiner verschwitzten Klaue.
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„Ja, ja, ich weiß, ich weiß, und darum will ich Sie auch
nicht mehr länger von ihrem wohlverdienten Feierabend
fernhalten. Sie werden sicherlich etwas Schönes vorhaben,
gerade bei diesem Traumwetter.“ Noch einmal schickte der
Bankenboss sein Strahlen zu Nicole hinauf und heizte die
Temperatur auf dem Flur damit um gefühlte weitere drei Grad
an. Dann schritt er in seinem maßgeschneiderten
Nadelstreifenanzug rasch von dannen und verschwand
hinter der dick gepolsterten Tür seines Chefbüros.
„Puh, geschafft.“ Nicole verharrte noch einen Moment,
atmete tief durch und rieb verstohlen ihre rechte Hand am
Rock ihres Kostüms trocken. Im Grunde war ihr Boss ein feiner
Kerl, doch seine Gefühlsausbrüche waren im ganzen Haus
berüchtigt – so oder so. Nur, dass sie zumeist die
Sonnenseite abbekam. Wenn Tietzbrink einen Mitarbeiter bei
einer Nachlässigkeit erwischte, konnte er fürchterlich wütend
werden. Nicole verkniff sich ein Grinsen, als sie an
Tietzbrinks frühere Sekretärin Gisela dachte, inzwischen im
Ruhestand. Die Arme hatte versehentlich wichtige Inhalte
einer Geschäftsvorlage an einen Mitbewerber gefaxt statt an
den Kunden – und dem Boss damit beinahe ein
Riesengeschäft vermasselt. Trotz gepolsterter Türen war
Tietzbrinks Gebrüll nahezu im ganzen Haus zu hören
gewesen.
Doch jetzt war wirklich Zeit für den Feierabend. Die
Verhandlungen mit der Reederei waren langwierig gewesen,
aber letztlich hatten sich Ausdauer und Engagement
ausgezahlt. Das Unternehmen gab Nicoles
Finanzierungsangebot für die dringend notwendigen
Neuinvestitionen den Vorzug, die Mitbewerber schauten in
die Röhre. Das musste gefeiert werden. Nicole schritt den
Flur hinab zum Aufzug. Während sie wartete, bis sich die
Türen öffneten, warf sie einen Blick in den Spiegel an der
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Wand. Ihre dunklen, langen Haare hatte sie im Nacken zu
einem schlichten Zopf zusammengebunden. Mit ihrem
dezenten beigen Kostüm und den passenden Pumps –
natürlich nicht zu hoch – trug sie ein ihrem Job
entsprechendes Outfit. Das schlichte Make-up und die
kleinen Perlenohrringe unterstrichen ihre elegante
Erscheinung. Natürlich ging’s in der Businesswelt in erster
Linie um Kompetenz, doch im Lotterlook gab’s hier nun
einmal keinen Blumentopf zu gewinnen.
Die Türen des Aufzugs öffneten sich und Nicole trat ein.
Sie wählte das Erdgeschoss, und mit einem leisen Surren
schlossen die Türen wieder. Kaum merklich ging es abwärts.
Nicoles Blick wanderte zu der kleinen Aktentasche, die unter
ihrem linken Arm klemmte. Sie hatte zum Glück alle wichtigen
Unterlagen dabei, das ersparte ihr einen erneuten Gang in
ihr Büro und somit auch den möglichen Kontakt mit einigen
Kollegen. Nicht, dass das Betriebsklima im Hause schlecht
gewesen wäre. Doch überall wurde mit harten Bandagen
gekämpft, und sie hatte einfach keine Lust auf den neidischen
Blick so manch ehrgeizigen Nachwuchsbankers. Denn dass
Nicole zum Chef zitiert worden war und warum, hatte
natürlich längst die Runde gemacht.
Mit einem sanften Ruck blieb der Aufzug stehen, die
Türen öffneten sich und Nicole betrat die Eingangshalle. Hier
herrschte trotz reger Geschäftigkeit eine gedämpfte
Geräuschkulisse. Dicker Teppich, elegantes Mobiliar; kleine
Sitzecken luden die Kunden zum Verweilen ein, bis sie von
ihren Beratern in die Büros gebeten wurden. Gediegen, das
war das Stichwort. Nicole sog die Luft durch die Nase ein
und musste ein wenig grinsen. Hier konnte man das Geld
buchstäblich riechen. Und das trotz Finanzkrise. Denn
während viele Großbanken weltweit auf das schnelle Geld
mit riesigen Gewinnen gesetzt hatten, hielt das private
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Geldinstitut an seiner Jahrzehnte bewährten konservativen
Marschroute fest. Und das zahlte sich jetzt aus. Die meisten Kunden haben ohnehin so viel Kohle, dass sie auf den schnellen Gewinn gar nicht angewiesen sind, dachte Nicole
und wandte sich zielstrebig dem Ausgang zu.
Draußen brannte die Julisonne vom wolkenlos blauen
Himmel – obwohl man den zwischen den hohen
Häuserzeilen des Geschäfts- und Bankenviertels kaum zu
sehen bekam. Es sei denn, man verrenkte sich den Hals. Die
akkurat bepflanzten Blumenrabatten sorgten zwischen so viel
Beton für ein paar bunte Farbtupfer, doch auch sie konnten
nicht verhindern, dass sich die Hitze zwischen den Blöcken
beinahe unerträglich staute. Rasch schritt Nicole die Straße
entlang, bog einmal rechts um die Ecke und erreichte bald
den Eingang zum Parkhaus, wo sie ihren kleinen Cityflitzer
untergebracht hatte. Sie schloss die Fahrertür auf, setzte sich
hinters Lenkrad und legte ihre Aktentasche auf den
Beifahrersitz. Kaum dass sie mit ihrem Wagen beim
Herausfahren die Schranke passiert hatte, ließ sie das
Verdeck zurückklappen. „Es geht doch nichts über oben
ohne“, freute sie sich und steuerte den Wagen stadtauswärts.
Nach einen guten Viertelstunde bog sie in die Tiefgarage ein
und stellte den Wagen auf ihren Parkplatz. Mit dem Aufzug
ging’s hinauf in die vierte Etage: Dachgeschoss. Es dauerte
einen kurzen Moment, bis Nicole den Wohnungsschlüssel in
der Tasche entdeckte. Er hatte sich in einer kleinen Falte
versteckt. Dann schloss sie auf und ließ die Tür sacht hinter
sich in Schloss fallen.
Angenehme Kühle empfing sie. Die Klimaanlage hatte
ganze Arbeit geleistet. Unterm Dach wäre die Hitze im
Sommer sonst kaum auszuhalten gewesen. Nicole schlüpfte
aufatmend aus ihren Pumps, hängte ihren Blazer an die
Garderobe und legte die Tasche ab. Dann entledigte sie sich
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noch schnell ihrer Nylonstrümpfe und trat barfuß ins
Wohnzimmer. Durch die Terrassentür und das große Fenster
flutete das Sonnenlicht herein. Auf zu viel Mobiliar hatte
Nicole nicht nur im Wohnzimmer, sondern in der gesamten
Wohnung verzichtet. Eine Couchecke mit Tisch, zwei kleine
Schränke, ein Sideboard – das war’s. Dennoch wirkte der
Raum nicht kahl. Die in einem zarten Gelbton getünchten
Wände und der helle Parkettboden mit zwei kleinen
Teppichen sorgten für wohnliche Atmosphäre.
Nicole öffnete die Terrassentür und ging hinaus. Die
Dachterrasse war nicht riesig, aber sie verriet Nicoles guten
Geschmack. In Tongefäßen versprühten Oleander, Jasmin
und ein kleines Olivenbäumchen mediterranes Flair. In einer
Ecke luden zwei Stühlchen und ein kleiner Tisch ein, dort
lange Sommerabende zu genießen.
Nicole trat über die terrakottafarbenen Fliesen an die
Brüstung, atmete tief durch und genoss den Blick auf die
Stadt. Es war eine ruhige Straße, in der Nicole wohnte.
Gepflegte Mehrfamilienhäuser, vorwiegend mit
Eigentumswohnungen, prägten das Bild. Und doch schlug
das Herz der Großstadt nur wenige Autominuten entfernt.
Und das war genau das, was Nicole liebte. Sicher zog sie
sich am Abend gern ein wenig von Großstadtlärm und Hektik
zurück. Doch auf das pulsierende Stadtleben mit seinen
Geschäften, auf das Treiben in Cafés, Bars und Restaurants
wollte sie nicht verzichten.
Auf dem Weg zurück ins Wohnzimmer warf Nicole einen
Blick auf ihren Anrufbeantworter. Ein rotes Lämpchen blinkte.
Das war bestimmt Axel. Und richtig, als Nicole die
Wiedergabetaste drückte, erklang Axels markante Stimme im
Raum: „Hallo, mein Engel! Wo steckst du denn? Ich schau’
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nachher bei dir vorbei. Ich habe eine Überraschung für
dich!“
Typisch, dachte Nicole und warf einen Blick auf ihre
Armbanduhr. Der Anruf war um kurz vor fünf eingegangen,
jetzt war es halb sechs. Und wenn Axel „nachher“ meinte,
konnte es sich nur noch um Minuten handeln, bis er vor der
Tür stand. Bingo. Nicole hatte sich im Bad gerade ein wenig
frisch gemacht und sich in der Küche ein Glas Wasser
eingegossen, als es an der Tür schellte. „Ich bin’s, mein
Engel“, quakte Axels Stimme durch die Sprechanlage.
Nicole drückte den Türöffner. Kurz darauf hielt der Aufzug in
der vierten Etage, und Axel steuerte zielstrebig auf Nicole zu,
die ihn an der geöffneten Wohnungstür empfing.
„Hallo, mein Engel!“ Axel Gutsohn, 39, sah aus, wie man
sich einen erfolgreichen Manager in der Werbebranche
vorstellte. Groß, schlank, gepflegt. Seine Haut zeigte eine
gesunde Bräune, und angesichts der Hitze draußen fiel gar
nicht auf, dass er mit regelmäßigen Sonnenbankbesuchen
nachhalf. Das dunkelbraune Haar trug er kurz geschnitten,
sein Dreitagebart verlieh ihm eine verwegene Note.
Doch der erste Eindruck täuschte. Axel war kein
Werbemann. Erfolgreich ja, allerdings als Boss eines
renommierten Bauunternehmens. Axels Eltern hatten die
florierende Firma aufgebaut, und Betriebswirt Axel mit
seinem exzellenten Händchen fürs Geschäft schickte sich an,
die erfolgreiche Unternehmensgeschichte fortzusetzen.
Edeltraut und Maximilian Gutsohn, seine Eltern, hatten
inzwischen solches Vertrauen in das unternehmerische
Geschick ihres einzigen Sprösslings, dass sie sich weitgehend
aus den Geschäften zurückgezogen hatten. Stattdessen
genossen sie die Früchte ihrer harten Arbeit; zurzeit befanden
sie sich auf einer Kreuzfahrt in der Karibik.
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„Mein Engel“, wiederholte Axel, stieß mit einem Fuß die
Wohnungstür hinter sich zu, drückte Nicole fest an sich und
umgab sie mit einer Wolke seines intensiven Rasierwassers.
Seine Hände glitten sanft an Taille und Hüfte seiner Freundin
hinab. „Ich wusste, dass du die Beste bist“, flüsterte er ihr ins
Ohr. Dann schob er sie ein Stück von sich weg, sah ihr in die
Augen und grinste: „Dein Verhandlungsgeschick ist erste
Sahne. Ich sag ja immer: Wenn du von deiner Bankerei mal
die Nase voll hast, komm zu mir in die Firma. Wir wären ein
unschlagbares Team. Wobei, das sind wir ja ohnehin schon“,
ergänzte er und klapste Nicole mit der rechten Hand auf den
Po.
„Hey, wir sind hier nicht auf einer deiner Baustellen.“ Mit
gespielter Empörung wehrte sich Nicole gegen diese Art der
Liebkosung, gleichwohl wissend, dass dies für Axel typisch
war. Sie gingen durchs Wohnzimmer und hinaus auf die
Terrasse.
„Ach, es ist doch immer wieder schön bei dir.“ Axel
reckte sich genüsslich.
„Das klingt fast so, als ob du in einem Ein-Zimmer-
Apartment im Souterrain hausen würdest, ohne Balkon und
Garten“, lästerte Nicole und dachte an Axels schicken Edel-
Bungalow mit Pool und Sauna am Stadtrand. Den hatten die
Arbeiter – natürlich größtenteils eigene Beschäftigte –
innerhalb kürzester Zeit hochgezogen. Überwiegend
schwarz, versteht sich.
„Nichts gegen mein bescheidenes Eigenheim, aber
deine Wohnung hat was. Sie hat Stil, genau wie du“, grinste
Axel und drückte sie wieder an sich, seine Hände suchten
den Reißverschluss ihres Rocks. „Hey, langsam, Freundchen“,
lachend wehrte Nicole ihn ab. „Erstens habe ich jetzt einen
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Bärenhunger und zweitens hast du eine Überraschung
angekündigt, schon vergessen?“
„Aber nein, mein Engel. Dein Wunsch sei mir Befehl. Ich
habe übrigens bei Alonso für uns etwas Schnuckeliges zu
essen bestellt.“ – er warf einen Blick auf seine Armbanduhr –
„Müsste bald hier sein. Und sobald wir uns gestärkt haben,
sage ich dir, was ich für dich habe.“
Es klingelte an der Tür. „Ich gehe schon, Engel. Such du
uns doch inzwischen ein schönes Fläschchen Wein raus“,
sagte Axel und ging in die Wohnung. Nicole folgte ihm,
schlüpfte an der Garderobe in ein Paar offene Sandaletten
und ging in die Küche. Im Kühlschrank lagerten noch drei
Flaschen guter Rotwein. „Mist, natürlich viel zu kalt“,
murmelte sie. Na, egal, bei der Wärme draußen hatte der
Rebensaft sicher schnell die gewünschte Temperatur. Sie griff
in einer Schublade nach dem Korkenzieher, öffnete die
Flasche und stellte sie in einen Messinghalter. Zusammen mit
dem Wein packte sie Besteck, Servietten und Gläser auf ein
Tablett und stellte es auf den kleinen Tisch auf dem Balkon.
An der Wohnungstür hörte sie Axel mit dem Mann vom
Bringdienst palavern. Dann fiel die Tür ins Schloss, und Axel
kam mit einer riesigen Tüte nach draußen, gefüllt mit jeder
Menge kleiner Schachteln, aus denen es verführerisch
duftete. Nicole warf einen Blick auf die große Tüte, ging
dann noch einmal hinein und kam mit einem klappbaren
Beistelltisch zurück. „So, jetzt haben wir Platz.“
Sie deckte den Tisch, während Axel die zahlreichen
Schachteln aus der Tüte auf dem Klapptisch ausbreitete.
„Mmh, wie das duftet!“ Nicole ließ sich seufzend auf einen
der beiden Stühle fallen und betrachtete beinahe andächtig
die italienischen Köstlichkeiten. Bruschetta, knuspriges
Pizzabrot, Melone mit Schinken, Tomate mit Mozzarella und
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Basilikum ... „Alonso“ war keiner der üblichen
Pizzabringdienste, wie es sie in jeder Stadt zuhauf gab: Zwei
Salate und zehn Pizzen auf der Karte, und dabei musste man
immer noch damit rechnen, dass die Pizza kalt ankam. Und
wer Pech hatte, bei dem klebte zudem beim Öffnen des
Kartons die Hälfte des Pizzabelags am Deckel. „Da Alonso“
war ein Edel-Italiener mit exklusiver Küche, die er auf
Wunsch auch nach Hause bringen ließ. Das hatte natürlich
seinen Preis. Aber für Axel spielte das keine Rolle. Er lebte,
um Geld zu verdienen und erfolgreich zu sein, und damit
natürlich auch seinen exklusiven Lebensstil zu finanzieren.
Und wenn Axel eines konnte, dann war es Geld machen.
Nicht nur, dass er über großes unternehmerisches Geschick
verfügte, dank seiner jovialen Art konnte er selbst bei großem
Konkurrenzdruck immer wieder Auftraggeber und
Geschäftspartner ins Boot holen. Und Nicole war in Axels
Augen das ideale weibliche Gegenstück: eine ehrgeizige,
erfolgreiche Frau, die außerdem noch blendend aussah.
Nicht unwichtig für einen Mann, der seinen Wohlstand und
Erfolg gerne nach außen zeigte.
Nicole hatte sich die ersten Bissen genussvoll auf der
Zunge zergehen lassen. Sie legte Gabel und Messer beiseite
und lehnte sich im Stuhl zurück. „Jetzt geht es mir wesentlich
besser!“
„Na, das klingt ja gerade so, als ob es dir vorher
schlecht gegangen wäre“, grinste Axel. „Aber bei dem Deal,
den du dem alten Tietzbrink beschert hast, ist das doch wohl
kaum möglich.“ Axel hob sein Glas und prostete Nicole zu.
„Mein Engel, ich bin stolz auf dich! Du bist die großartigste
Frau, die mir je begegnet ist. Und so viel Geschäftstüchtigkeit
und Engagement sollte man belohnen.“ Er griff nach seinem
Jackett, das er über die Stuhllehne gehängt hatte, und zog
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aus der Innentasche einen Umschlag hervor. „Hier, mein
Engel, das ist meine kleine Überraschung für dich. Ich hoffe,
du freust dich.“ Und er reichte ihr das Kuvert über den Tisch.
Neugierig öffnete Nicole den Umschlag und zog eine Karte
heraus. „Gutschein“ stand obendrauf. „Hey, du bist ja
verrückt“, freute sich Nicole, nachdem sie den Text
überflogen hatte.
Es war ein Gutschein über eine Woche in einem
Wellnesshotel in Norddeutschland. „Du wirst staunen. Von
Yogi-Tee über Massagen, Sauna und Whirlpool bis hin zu
Moorbädern kannst du dir dort alles aussuchen. Es ist das
ultimative All-inclusive-Verwöhn- und Relaxprogramm. Das
hast du dir verdient, mein Engel. Und der Laden ist wirklich
spitze. Ich hab den Tipp von einem Geschäftspartner
bekommen. Der ist regelmäßig dort.“
„Landschlösschen“, las Nicole laut den Namen vor.
„Keine Sorge, Engel“, grinste Axel, der Nicoles
Abneigung gegen zu viel „Gegend“ gut kannte. „Dieser
Luxustempel liegt zwar sehr ländlich, aber du brauchst keine
Angst zu haben, dass du morgens als Erstes einen langen
Spaziergang über einsame Wiesen und Felder machen
musst, umhüllt vom zarten Duft frisch abgelegter Kuhfladen.
Im Schlösschen wird dir so viel geboten, du brauchst das
Haus gar nicht groß zu verlassen. Es gibt sogar eine kleine
Bar und ein Restaurant dort. Für den Fall, dass du mal lieber
ein Viertel Roten schlürfen möchtest statt Yogi-Tee. Und
wenn’s dich doch nach Frischluft dürstet, gibt’s hinterm Haus
eine herrliche Terrasse mit angrenzendem Pool.“
„Na, dann“, schmunzelte Nicole. „Aber warum hast du
nur für eine Person gebucht? Kommst du nicht mit?“
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„Ich würde gerne“, entgegnete Axel mit echtem
Bedauern in der Stimme, „aber ich habe im Moment so viel
um die Ohren; außerdem läuft die Ausschreibung für den Bau
der Rathauserweiterung bald aus. Da müssen wir noch an
unserem Angebot feilen. Aber vielleicht kann ich mir ja ein
oder zwei Tage freinehmen.“
Nicole sah sich bereits entspannt auf einer
Massageliege, von kräftigen Männerhänden durchgeknetet,
da zuckte sie zusammen: „Mensch, ich habe doch noch gar
keinen Urlaub!“
„Na, hör mal, Engel. Der alte Geldsack wird ja wohl kein
Problem damit haben, dir kurzfristig ein paar Tage
freizugeben, nach allem, was du gerade erst wieder für
seine Firma geleistet hast.“
„Könnte schon sein, ansonsten müsste ich die Fahrt auf
später verschieben.“
„Ach was, das wird schon klappen. Und jetzt im Sommer
ist das Ausspannen doch am schönsten. So, und darauf
trinken wir jetzt einen.“ Erneut griff er zum Glas und stieß mit
Nicole an. „Du könntest doch auf dem Weg auch mal bei
deinen Eltern vorbeischauen“, meinte Axel nach einiger Zeit
der Stille, in der beide mit Genuss aßen. „Soweit ich weiß,
liegt das fast auf der Strecke. Und wohnt deine Schwester
nicht auch dort?“
„Ja, du hast recht, das wäre gar nicht verkehrt. Sobald
ich mit Tietzbrink wegen des Urlaubs verhandelt habe,
werde ich mal bei ihnen durchklingeln.“
„Tu’ das. Aber jetzt genug der Worte.“ Axel legte das
Besteck beiseite, schob seinen Teller zurück und stand auf. Er
ging um den Tisch herum und zog Nicole von ihrem Stuhl
hoch. Dann drückte er sie fest an sich und flüsterte ihr ins
17
Ohr: „Es gibt da noch ganz andere wichtige Dinge, die ich
jetzt unbedingt sofort klären möchte.“ Langsam schob er sie
über die Türschwelle zurück ins Wohnzimmer. Dort tastete er
sich zum Reißverschluss ihres Rocks vor und begann ihn zu
öffnen.
„Und das wäre?“, fragte Nicole leise, während sich eine
wohlige Gänsehaut über ihren ganzen Körper auszubreiten
begann.
„Trägst du was Schwarzes oder was Helles drunter …?“
18
Kapitel 2
Nicoles Blick schweifte zu der langsam dahinkriechenden
Blechkarawane, die sich nur etwa 50 Meter von ihr entfernt
über die Autobahn gen Norden quälte. Unglaublich, es war
doch jedes Jahr das Gleiche. Die großen Ferien hatten just
begonnen, da quetschten sich ganze Familien mit Kind und
Kegel in die Autos. Sie waren vollgepackt mit Koffern und
Taschen, und das Heck des Wagens schwebte nur wenig
über dem Asphalt. Bei diesem Anblick drängte sich die Frage
nach dem zulässigen Gesamtgewicht förmlich auf. Und kaum
hatte sich die Vorfreude auf sonnige Strände, Meer und
Sandburgen so richtig ausgebreitet – soweit sie in den
überfüllten Benzinkutschen überhaupt noch Platz fand –,
beendete ein Stau abrupt den Urlaub. Normalerweise rief
dieses fast schon rituelle Urlaubsverhalten bei Nicole nur
verständnisloses, nein, mitleidiges Staunen hervor. Sie flog
lieber. Und die Hauptferienzeit mied sie sowieso. Doch an
diesem Tag sorgte der Megastau bei ihr für Ärger, denn bis
soeben hatte Nicole mittendrin gestanden.
Es war Samstagnachmittag, und sie war auf dem Weg zu
ihrer Familie in Niedersachsen. Das heißt, eigentlich wollte
sie seit zwei Stunden dort sein. Doch gerade jenes
beschriebene Urlaubsphänomen war der Grund, dass sie
erst mal eine Pause eingelegt hatte. Unter normalen
Umständen schaffte sie die rund 450 Kilometer lange Strecke
in gut viereinhalb Stunden – und ohne Pause. Doch das
ständige Stop-and-go zermürbte. An der nächsten Raststätte
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hatte sie angehalten, getankt und sich erst einmal einen
starken Kaffee besorgt. Jetzt stand sie auf dem Parkplatz an
die Beifahrertür ihres Wagens gelehnt, den Pappbecher aus
dem Tankstellenshop in der rechten Hand. Sie betrachtete
den blechernen Bandwurm, der kein Ende zu nehmen schien.
„Dass auch immer alle zur gleichen Zeit loseiern müssen“,
seufzte sie und nippte an ihrem Kaffee. Nach Essen war ihr
im Moment gar nicht zumute. Ganz anders im Wagen
nebenan. Dort nahm ein älteres Ehepaar gerade einen
ausgiebigen Imbiss ein, vielleicht das verspätete
Mittagessen. Soweit Nicole erkennen konnte, hatten die
Senioren nicht nur reichlich Kartoffelsalat und Frikadellen
eingepackt. In den verschiedenen Tupperdosen lagen auch
hart gekochte Eier, belegte Brote und Gürkchen. Und das
Armaturenbrett zierte eine Tube Senf. Na denn, Mahlzeit.
Ein Auto weiter trompetete ein dunkelhaariger Machotyp
lautstark in sein Handy. Durch das geöffnete Seitenfenster
ließ er nicht nur seinen Gesprächspartner oder seine
Gesprächspartnerin, sondern auch die Umstehenden wissen,
dass er alle Autofahrer – sich selbst ausgenommen – für das
herrschende Verkehrschaos verantwortlich machte. Er
bezeichnete sie als „Idioten und Penner“. Und natürlich sei er
der Einzige weit und breit, der überhaupt richtig Autofahren
konnte ... Während der Kerl sich immer weiter in Rage
redete, fuchtelte er mit der rechten Hand wild in der Luft
herum, als habe er eine lästige Fliege im Auto.
Ein Stück weit entfernt tobten zwei Kinder unter den
wachsamen Augen ihrer Eltern mit einem Dackel über ein
Rasenstück. Papa und Mama nutzten ihr „Pinkelpäuschen“
zudem, um den Zustand des Gepäcks im und auf dem
Wagen zu kontrollieren. Keine schlechte Idee, bei der Beladung, überlegte Nicole. Gegenüber auf den
Busparkplätzen hatte soeben ein Reisebus gehalten. Er voll
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mit Fußballfans, wie man an den Trikots eines norddeutschen
Vereins unschwer erkennen konnte. Und offensichtlich waren
die Anhänger sehr siegessicher. Die strahlenden Gesichter in
dem feuchtfröhlichen Fanpulk, der sich nach und nach aus
den Türen zwängte und gen Toilettenhäuschen strebte,
sprachen Bände.
„Hey, Deern, Lust auf’n Bier?“ Ein junger Mann, über
dessen Bauch das Vereinstrikot deutlich spannte, hatte
Nicoles Blick offenbar missverstanden und winkte ihr fröhlich
zu. Nee, das fehlte mir jetzt gerade noch, dachte Nicole,
trank seufzend ihren Becher aus, zerknüllte ihn und warf ihn in
den nächsten Papierkorb. Dann setzte sich wieder hinters
Steuer.
Zu ihren Eltern war es nicht mehr weit, unter normalen
Umständen vielleicht noch eine halbe Stunde. Beim
Zurücksetzen warf sie einen letzten Blick auf das Ehepaar im
Wagen nebenan. Satt und zufrieden sahen die beiden aus.
Salat und Butterbrote waren verspeist, und auch die Senftube
hatte der ältere Herr jetzt weggenommen, sicherheitshalber.
Vielleicht, weil er nicht wusste, wie sich die starke
Sonneneinstrahlung auf die Haltbarkeit des Tubeninhalts
auswirken würde?!
Mit einem Schmunzeln reihte sich Nicole wieder in die
Blechlawine ein. Die beiden Herrschaften hatten sie an ihre
Eltern erinnert. Vor allem an die Zeiten, als Vater und Mutter
noch mit Nicole und ihrer kleinen Schwester Sandra
gemeinsam in den Urlaub gefahren waren; zumeist in die
Berge, denn plattes Land gab’s zu Hause genug. Der Kombi
von Friedhart Lohmanns war ebenso vollgepackt gewesen
wie die Wagen all der anderen Urlauber, die sich gerade mit
Nicole über die Autobahn quälten. Gut, dass Vater zwei
Außenspiegel am Wagen gehabt hatte, denn durch die
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Heckscheibe war kein Blick mehr möglich gewesen. Koffer,
Taschen und Tüten stapelten sich bis unter die Decke. Jedes
Mal hatte das Beladen des Wagens beinahe zu einem
Riesenkrach geführt. Friedhart war stets der Meinung, die
Hälfte des Gepäcks sei überflüssig. Eine Behauptung, der
Mutter Rosalind heftig widersprach. Schließlich könne man ja
nie wissen, wie das Wetter im Urlaub werden würde. Man
müsse ja auf alle Eventualitäten vorbereitet sein. Und
überhaupt: „Wenn irgendwas fehlt, dann sagst du immer:
‚Warum hast du’s nicht eingepackt?‘“, war die
Standardantwort der Mutter. Das sei ja wohl etwas ganz
anderes, moserte Friedhart dann zurück. Schließlich und
endlich gelang es aber doch immer wieder, das ganze
Gepäck im Wagen unterzubringen. Den Vogel abgeschossen
hatte allerdings einmal Nicoles Schwester Sandra: Weil sie
kurzfristig keine Urlaubsbetreuung für ihre beiden Goldfische
gefunden hatte, stand sie am Reisetag mit einem
Einmachglas in der Hand vor dem Auto. Das Gefäß war mit
einer durchlöcherten Zellophanfolie abgedeckt. Vater
Friedhart bekam fast einen Tobsuchtsanfall. Schließlich fuhren
die Goldfische aber doch mit. Übrigens ihre erste und letzte
Reise; sie wurden wohl durch das Geschaukel im Auto
seekrank und gingen wenig später ein.
Lautes Hupen ließ Nicole erschrocken zusammenfahren.
Sie hatte gar nicht bemerkt, dass es kurzzeitig zügiger
voranging, vor ihr klaffte eine große Lücke in der Kolonne. Sie
hob entschuldigend die Hand und schloss wieder zu ihrem
Vordermann auf. Ja, es war eine typisch gutbürgerliche
Familienidylle, die ihre Kindheit geprägt hatte. Und als sie
klein war, hatte sie das alles geliebt: das hübsche
Einfamilienhaus, den gepflegten Garten mit Schaukel und
Klettergerüst, den üppigen grünen Rasen, den der Vater
samstags mähte. Felder und Wiesen umschlossen das kleine
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Städtchen, im Sommer sahen die Kinder den Bauern bei der
Ernte zu, im Herbst machten sie auf den Feldern
„Stoppelschlachten“. Ihr Vater hatte einen gehobenen Job in
der Stadtverwaltung, ihre Mutter blieb der Kinder wegen zu
Hause, kümmerte sich neben dem Wohle ihrer Sprösslinge
um Haus und Garten. Ja, sie und ihre Schwester hatten es
sehr gut gehabt, und noch heute blickte Nicole voller
Dankbarkeit auf dieses Elternhaus. Doch es war der Tag
gekommen, als sie dieser Idylle einfach überdrüssig wurde.
Sie wollte raus, mehr erleben, mehr sehen. Sie wollte in die
großen Städte, dort, wo das Leben brodelte und vor allem
die jungen Menschen lockte.
Das laute Hupen ihres Hintermannes unterbrach Nicoles
Gedanken erneut. „Ja, ja, ist ja schon gut!“, murmelte sie,
während der Typ hinter ihr wild gestikulierte. Ach, das war
doch der Handy-Macho von vorhin. Klar, jetzt fühlte er sich
in seiner Einschätzung über andere Autofahrer bestätigt.
Egal. Trotzdem, Nicole beschloss, sich jetzt doch
ausschließlich auf den Verkehr zu konzentrieren, damit sie
nicht auf den letzten Metern auch noch einen Unfall baute.
Das hätte ihr gerade noch gefehlt.
Je näher ihr Heimatstädtchen rückte, umso mehr begann
es in ihrem Bauch zu kribbeln. Seit Weihnachten hatte sie ihre
Familie nicht gesehen, sie freute sich auf ihre Lieben. Und für
ein, zwei Tage ließ sich das gutbürgerliche Idyll sicher
ertragen. Außerdem war ihre Mutter eine exzellente Köchin
und hatte anlässlich des Besuchs ihrer Ältesten sicherlich
etwas Gutes gezaubert. Klar, Kartoffelsalat mit Würstchen und Senf, dachte Nicole.
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