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Kurt Hess
Lembegleitung im Mathematik: -Unterricht: Anspriiche, Funktionen, Bedingungen und Realitaten
Zusammenfassung:
In samtlichen Fachdidaktiken und Bildungswissenschaften dominiert seit einigen Iahren eine (sozial-)konstruktivistische Orientierung, welche traditionelle, behavioristisch gepragte Didaktikkonzepte sukzessive abl5st. Die Studie von Hess (2003) erhellt, inwiefern sich diese Neuorientierung in den fachdidaktischen Einstellungen von Lehrpersonen der ersten drei Grundschuljahre spiegeJt und inwiefern sie in der konkreten Lernbegleitung zu erkennen ist. Die Ergebnisse zeigen primar eine deutlich konstruktivistische Einstellung der Lehrpersonen und sekundar eine geringe Koharenz zur Umsetzung sowie eine Benachteiligung der schwacheren Rechnerinnen und Rechner wahrend der individuellen Lernbegleitung.
Abstract:
In recent years, (social-)constructivist approaches have dominated mainstream didactics and educational science. They have been gradually replacing more traditional behaviourist-oriented didactic concepts. The study by Hess (2003) describes to what extent this reorientation of approach is apparent in teachers' attitudes towards methodology in the first three years of primary school. It also describes the degree to which this reorientation is reflected in teachers' support of the learning process. The results suggest that a marked constructivist orientation has only been adopted to a limited extent. A second finding reveals that high achievers in arithmetic are more stimulated to learn through active discovery than lower achievers.
1 Konstruktivistisch orientierte Fachdidaktik
Dass sich Fachdidaktiken an konstruktivistischen Erkenntnistheorien orientieren, ist in Fachkreisen unbestritten, zumindest was die Kemaussagen betreffen: a) Wissen wird nicht passiv aufgenommen, sondem yom denkenden Subjekt aktiv aufgebaut und b) "Kognition dient der Organisation der Erfahrungswelt des Subjekts und nicht der ,Erkenntnis' einer objektiven ontologischen RealiHit" (von Glasersfeld 1996, S. 96). Reusser (1999a) bezweifelt allerdings die Tauglichkeit dieser Grundlagen, urn didaktische Ansatze zu begriinden. Seiner Ansicht nach bediirfen sie einer sorgfaitigen padagogischdidaktischen Reflexion, bis sie in beabsichtigter Richtung greifen, weil es beim schulischen Lemen nicht nur urn die Frage "wie kornmt Erkenntnis zu Stande?" geht, sondem auch urn Momente der Verhaitenssteuerung.
Abschnitt 1 beschreibt die Charakteristik konstruktivistischer Erkenntnistheorien und den Kontrast zu behavioristischen Lehr-lLemtheorien. Daran anschliessend folgt die Skizzierung einer konstruktivistisch orientierten Mathematik-Didaktik.
(JMD 26 (2005) H. 3/4, S. 224-248)
Lernbegleitung im Mathematikunterricht 225
1.1 Konstruktivismus als Erkenntnistheorie
Konstruktivismus ist eine (Sammel-)Bezeichnung1 fur verschiedene Spielarten einer erkenntnistheoretischen Orientierung. Dessen Kemaussagen lauten: Wissen liisst sich weder durch die Sinnesorgane noch durch Kommunikation passiv aufnehmen, das lemende Subjekt erzeugt es in einem aktiven Konstruktionsakt (vgl. Abb. I). Die Giite der Konstruktionen lassen sich nicht an der Wahrheit, sondem nur an der Bewahrung in der ontologischen Realitiit messen, also an der Brauchbarkeit der individuellen Wahmehmungen, Begriffe oder Theorien. "Wirklichkeit ist damit immer kognitiv konstruierte Wirklichkeit" (Gerstenmaier & Mandl 1995, S. 868). In dies em Sinne dient die Kognition der Organisation subjektiver Erfahrungswelten und nicht der Erzeugung "objektiver" Erkenntnisse uber eine ontologische Realitiit.
Erfahrung Wissen
Kognitive Struktur
Bisherige Konstruktionen deuten die
Abb. 1: Wahrnehmung und Erkenntnisgewinn als aktive Konstruktionsleistung des Subjekts
Abb. 1 zeigt den Prozess der kognitiv konstruierten Wirklichkeit. Bereits die Wahmehmung ist ein kognitiv gesteuerter Akt. Die Sinneszellen - beispielsweise die Stabchen und Zapfchen in der Netzhaut des Auges - konnen nicht "wahr"-"nehmen". Sie werden lediglich durch Lichtwellen gereizt und senden diese Reize in einem unspezifischen Code an das Gehim. Die Interpretation des subjektiv wahrgenommenen Objektes ist also eine Konstruktionsleistung unserer kognitiven Strukturen, unserer Erfahrungen und unseres Wissens.
Auf dies em Fundament grundet der sozialkonstruktivistisch-dialogische Ansatz von Urs Rufund Peter Gallin (1999a, 1999b). In der ersten Auseinandersetzung mit einer-
Eine ausfuhrliche Gegeniiberstellung der verschiedenen konstruktivistischen Ansatze leistet Diesbergen (1998). Reusser (1999a, S. 7) unterscheidet zwischen den philosophisch-erkenntnistheoretischen und den empirisch-sozialwissenschaftlichen Spielarten des Konstruktivismus. Gerstenmaier & Mandl (1995) schlagen eine ahnliche Strukturierung vor: Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie als philosophische Ausrichtung und "neuer" Konstruktivismus mit soziologischen, kognitionswissenschaftlichen und psychologischen Zugangen. Die dritte Kategorie fuhrt Ansatze der Instruktionspsychologie und der empirischen Padagogik an.
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individuellen Konstruktionsprozessen Spielraum bietenden - Aufgabe suehen Lemende ihren eigenen Weg, sie stellen im Dialog mit anderen Kindem ihre Erfahrungen dar und erhalten yom Gegentiber Einbliek in deren subjektiven Konstruktionen. Die Generierung eines Regelwissens ist erst am Ende des Lemprozesses vorgesehen. Das Lehrmittel von Ruf und Gallin (1995) tragt analog dieses Dreisehrittes den Titel Ich mache es so! Wie machst du es? Das machen wir abo Der soziale Austauseh tiber singulare Erfahrungen ist fUr die Kinder spannend, weil das Lemen von individuellen Wegen und Losungen ausgeht und nieht yom Reproduzieren vorgegebener Wege.
Die radikalen Konstruktivisten urn Heinz von Foerster, Paul Watzlawiek und Ernst von Glasersfeld gebrauehen geme Metaphem, urn das konstruktivistisehe Paradigma darzustellen. In der Blindenmetapher moehte z.B. ein blinder Wanderer jenseits eines Waldes einen Fluss erreiehen. Er sueht aus den vie len offenen Wegen (s)einen moglichen aus. Aueh nach reieher Erfahrung mit verschiedenen Wegen kennt der Wanderer nie die ontologisehe Realitat des Waldes, sondem immer nur seine erfahrenen Wege, die er durch Anstossen an Baumen gefunden hat. (von Glasersfeld 1998, S. 19)
Die Metapher bietet der Kontrastierung mit der behavioristischen Orientierung und der anschliessenden Skizzierung einer konstruktivistisch orientierten Mathematik-Didaktik gute Ankntipfungsmogliehkeiten.
1.2 Kontrastierung zu einer behavioristischen Orientierung
Nach behavioristiseher Auffassung von Lemen wiirde die Blindenmetapher anders lauten: Eine BlindenfUhrerin lauft dem Wanderer mit einer Gloeke voraus und lotst ihn durch den Waldo Als Belohnung wirkt eine materielle Verstarkung und nicht das Erfolgserlebnis, das Ziel erreicht zu haben. Da der Blinde moglichst nirgends anstossen solI, lauft er einfaeh dem Glockenton nacho Das Wissen tiber den Wald besteht auch nach zahlreichen Wiederholungen aus der Erfahrung "dem akustischen Signal naehlaufen" und waldspezifischen Sinneseindrueken (z.E. Geruche und Gerausehe). Die Auseinandersetzung mit den Baumen und die Erfahrungen mit versehiedenen Wegen bleibt weit gehend aus.
Behavioristische Lemtheorien machen Aussemeize, assoziative (willktirliche) Verkntipfungen, Fehlervermeidung, Ergebnisorientierung, mechanische Wiederholungen und extrinsische Motivationsquellen fUr den Lemerfolg verantwortlich. Die Lemenden nehmen darin eine passive Rolle ein. Demgegeniiber betonen konstruktivistische Theorien die Bedeutung internal ablaufender Lemprozesse, in welchen Fehler (an Baumen anstossen) wichtige Erfahrungen sind. 1m Zentrum stehen aktive, intrinsisch motivierte und urn Verstehen bemiihte Suchprozesse der Lemenden.
Tab. 1 fasst diese beiden Auffassungen yom Lehren und Lemen in einer stiehwortartigen Gegeniiberstellung zusammen. Der Gefahr, dass sie durch ihre Verktirzung und Polarisierung schwarz/weiss farbt, sollen einige Bemerkungen entgegenwirken: 1. Die Unterrichtskomplexitat lasst sich nicht auf die beiden Pole reduzieren. Manche Unterrichthandlungen finden ihre didaktische Begrundung ausserhalb der dargestellten Kategorien (vgl. Hess 2003, S. 159-168). Dazu ein Beispiel aus der referierten Studie, welche die Lembegleitung zwischen den beiden Polen auswertet: "Die Lehrerinnen geben knappe und unterrichtlich wirksame Impulse, damit sie [wahrend der Lembegleitung aueh ... ; Anmerkung KH 2005] die Begleitung der ganzen Klasse wahmehmen und eine gewisse Lemkultur ,warm halten' konnen. Die disziplinarisch und unterrichtsokonomisch motivierte Lembegleitung findet also ihre Begrundung eher in der alltagsdidaktischen Not-
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wendigkeit als im Einstellungskonzept" (ebd., S. 199-200). 2. Die Hinwendung zu einem neuen Paradigma kann nieht im Sinne eines Entweder-oder, sie muss im Sinne eines Sowohl-aIs-aueh gesehen werden (vgl. Reusser 1999b). Begrundung: WeiI beim mathematisehen Lemen Verstehensprozesse und die Erzeugung operativer Beziehungen im Zentrum stehen, erseheinen behavioristisehe Theorien im vorliegenden Kontext eher in einem schalen Licht. Sie tragen aber ein grosses Potenzial, wenn es z.B. urn die Stabilisierung von Verhaltensmustem oder urn Automatisierungsprozesse geht.
Tab. 1: Gegenuberstellung konstruktivistischer und behavioristischer Theorien
Behaviorismus Konstruktivismus
Lehren Lemen Lehren Lemen
Sinnesreize reproduzieren, am singulare Konstruktio- aktives Lemen, am vermitteln Produkt orientiert nen ermoglichen Prozess orientiert
Fremdsteuerung Fremdbestimmtes, begleitete mitverantwortliches passives Lemen Selbststeuerung Lemen3
Belehrung bewusstloses Ler-nen!
Lembegleitung verstehendes Lemen
stoffliche Assoziatives Lemen komplexe exemplarisches Lemen Sezierung Lemumgebung
kleinschrittiges kleine Schritte an Kemideen kumulatives Lemen Vorgehen orientiertes Vorgehen
Defizite tilgen Vermeidung von Fehler sind wichtige Hoffnung auf Fehlem, Misserfolg Erfahrungen Erfolg
traditionelle innere einsames Lemen Instruktion substan- Dialogisches, Differenzierung zieller Aufgaben2 soziales Lemen
mechanische traditionelle innere WiederhoJung = natiirliche Wiederholung Differenzierung2 Automatisierung Differenzierung2
extrinsische extrinsische soziale Verstarkung intrinsische Motivation Verstarkung Motivation Lemziele erreichen
Lemverantwortung Lemverantwortun~ als liegt bei Lehrperson Mitverantwortung der
Schiller/-innen
Anmerkungen: I Die zugespitzte Bezeichnung stammt von Reusser (1999b, S. 13).2 Die Ausfuhrungen zu mathematisch substanziellen Aufgabenstellungen und zur natiirlichen Differenzierung folgen in Abschnitt 1.3 3 Die ublicheren Bezeichnungen wie 'eigenstandige Lerner' oder 'selbstandiges Lemen' wird didaktisch bewusst durch das Konzept einer zunehmenden Mitverantwortung ersetzt.
1.3 Grundziige einer konstruktivistisch orientierten MathematikDidaktik
Die in Absehnitt 1.1 zusammengefassten Kemaussagen lassen unsehwer erkennen, dass die Grundziige der heutigen Mathematik-Didaktik konstruktivistiseh orientiert sind. Die
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Betonung muss auf einer konstruktivistisch orientierten Mathematik-Didaktik liegen, weil sich eine Fachdidaktik nicht nur auf Erkenntnis- oder Lemtheorien stUtzen kann. Die singuHire Konstruktion bzw. die soziale Co-Konstruktion von Wissensstrukturen ist nur die eine - kognitionspsychologische - Seite, welche im Unterricht mit mathematischen (Gestaltung reichhaltiger Lemumgebungen), emotionalen (Motivation, SeIbstwertgefiihl), anthropologischen (eigene Verhaltenssteuerung der Lemenden) und sozialen Momenten (Lem- und Kommunikationskultur) in Interaktion tritt. Zwei mathematikdidaktisch sichtbare Konturen mit konstruktivistischer Ausrichtung werden in den nachsten beiden Abschnitten beIeuchtet und unter dem Aspekt Anspruche an Lehrpersonen und Lemende reflektiert.
1.3.1 Reichhaltige Lemumgebungen und natiirliche Differenzierung
Die konstruktivistisch ausgerichtete Lehrperson bietet mathematisch reichhaltige Aufgaben an, welche Schlilerinnen und Schlilem mit unterschiedlichen Kompetenzen singulare Zugriffe ermoglichen. Die alt bekannte Formel die Lehrperson holt die Schulerinnen und Schuler dort ab, wo sie stehen (vgl. Schwarzer & Steinhagen 1975) erflihrt damit eine grundlegende Reform: Die Lemenden sollen in den Lemumgebungen Ankniipfungsmoglichkeiten finden, damit sie seIber singulare Beziige zwischen Verfiigbarem und Neuem herstellen konnen (vgl. Abb. 2). In der konkreten Schulsituation hat es sich allerdings bewahrt, mit dem einen oder andem SchUler Lemvereinbarungen zu treffen, damit das Lemen verbindlicher wird. Der entscheidende Unterschied zum genannten Abholen des Schlilers besteht also aus einer kontinuierlich wachsenden Mitverantwortung des Schlilers beziiglich seines eigenen Lemens.
toffscgmcmicrung
Lcrnbegl eitung:
I-li lfe zur Bcarbc ilUng des vorgcgcbcncn Lcmscgmcnts
tmdi tioncl lc inncrc Ditlcrcnzicnillg: Tendcnz Produktorientierung
Design substanzicllc Lcnnungcbung
findcl1 - Sozialcr Austausch
natlirlichc DilTc rcnzicrung: Tcndcnz Pro7..cssoricnticnmg
cigcncs I .Cnla
segment
Abb. 2: Traditionelle innere und natilrliche DifJerenzierung (Hess 2003, S. 50)
Bei der tradition ellen inneren DifJerenzierung liegt die Zuteilung von stofflichen Segmenten, Schwierigkeitsgraden, Zahlenraumen, Aufgabenumfang etc. in der Verantwortung der Lehrperson. Der Prototyp einer naturlichen DifJerenzierung liegt beim sprachschOpferischen Texte schreiben vor: Die Lemenden bekommen ein Thema und schreiben dazu Gedanken auf, welche aus ihrem eigenen Erfahrungsrepertoire stammen. Jedes
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Kind greift auf seinen W ortschatz und seine Sprachkompetenzen zurUck, macht seine Fehler etc. Selbst wenn die SchUler im Unterricht vorausgehend SatzanHinge geiibt haben und diese in den Texten besonders beachten soIlen: Die einen wahlen Satzanfange, die in der Fortsetzung einfachere Satzkonstruktionen verlangen, andere wahlen sehr redundante SatzanHinge etc.
Die Mathematik-Didaktik sucht mit den reichhaltigen Lemumgebungen und der namrlichen Differenzierung in derselben Richtung (vgl. Hess 2003, S. 41-52). Eine mathematisch reichhaltige Aufgabe besteht z.B. aus einer sprachlich oder bildlich modellierten Sachsituation, welche die Schiilerinnen und Schiiler an ihrem eigenen Vorwissen ankniipfend mathematisieren. Die Lehrperson beabsichtigt mit einer solchen Aufgabe (im Unterschied zu traditionellen Textaufgaben), dass aIle Kinder mit ihrem Vorwissen Zugange und individuelle Losungswege finden. Bei der (dialogischen) Auswertung interessiert also nicht nur eine einzige richtige Losung, sondem verschiedene Fazetten von Losungsansatzen. Das dialogische Lemen von Ruf und Gallin (1999a, 1999b) basiert auf solchen offenen Situationskontexten, Renate Rasch (2003) zeigt an 42 Situationen auf, wie Kinder damit umgehen.
1.3.2 Lembegleitung
Eine konstruktivistisch orientierte und padagogisch reflektierte Fachdidaktik smtzt sich auf folgende vier Pramissen:
• 1. Priimisse: Ein Mathematik-Unterricht, der das aktive, mitverantwortliche Lemen ins Zentrum stellt, ist offen gegeniiber vieWiltiger Lehr- und Lemformen. Ein ausgewogenes Verhaltnis zwischen Instruktion und Konstruktion kann ebenso in einem kreativen Frontalunterricht mit anschliessenden dezentrierten Lemphasen erfolgen wie in einem projektartigen Unterricht.
• 2. Priimisse: Die Kinder sind beim individuellen Lemen auf eine Begleitung durch die Lehrperson - welche im Verlaufe der Lemprozesse eine abnehmende Steuerungsfunktion iibemehmen kann - angewiesen. Das von Reusser (l994b, S. 30) dargestellte Modell der cognitive apprenticeship geht z.B. davon aus, dass unerfahrenere Lerner einer engeren Fiihrung bediirfen als erfahrenere.
• 3. Priimisse: Die singularen bzw. dialogischen Lemprozesse und deren Begleitung durch die Lehrperson bediirfen der Einbettung in eine nach Autonomie strebende Unterrichtskultuf1 (vgl. 1.3.3).
• 4. Priimisse: Nach konstruktivistischem Verstandnis sollten Lehrpersonen die Suchwege und Konstruktionsprozesse der Kinder begleiten - sich also an deren rotem Faden des Denkens orientieren - und nicht eigene Losungsmuster beibringen oder iibersmlpen. Sie nehmen z.B. Losungswege oder Fehler auf, fragen nach den Entstehungsgeschichten und geben den Lemprozessen neue Impulse.
Bei einer Belehrung in behavioristischem Sinne reisst die Lehrperson die Kinder aus ihrem Denkprozess heraus, indem sie mit "das ist falsch - mache es so" reagiert. Der Unterschied zwischen der Belehrung und einer konstruktivistisch orientierten Lembegleitung kommt beim Lemen durch Interaktion zwischen den Reprasentationsebenen deutlich zum Ausdruck (vgl. Hess 2003, S. 72-81 sowie S. 229-233). Die konstruktivistisch orientierte Lehrperson bittet z.B. den SchUler, seinen Rechenweg mit Wendeplattchen zu legen. Sie erfahrt dadurch, wie er gerechnet hat und der Schuler ist gefordert, seinen
2 Unterrichtskultur wird als Oberbegriff von Lern- und Kommunikationskultur verwendet.
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symbolisch vollzogenen Weg auf eine enaktive Ebene zu ubersetzen. Fur ihn Offnen sich Moglichkeiten, vertiefte Einsichten in Strukturen zu gewinnen und der Lembegleiterin bieten sich diagnostische Anhaltspunkte, die wiederum zu neuen Lemimpulsen f'iihren konnen. Die belehrende Variante wiirde beinhalten, dass die Lehrperson aus dem symbolisch notierten ihre eigenen Schlusse zieht und mit direkten Anweisungen interveniert: "Lege zuerst die erste, dann die zweite Zahl und zum Schluss zahlst du aIle gelegten Plattchen". Es kommt zum Ausdruck, dass der behavioristische Ansatz und damit die traditionelle innere Differenzierung eher am Produkt "richtiger Losungsweg, richtiges Ergebnis" orientiert ist und der konstruktivistische mit seiner narurlichen Differenzierung an den Denk- und Lemprozessen (vgl. Abb. 2).
Unabhiingig der erkenntnis- oder lemtheoretischen Ausrichtung solI die Lembegleitung auch zu erweiterten Selbst- und Sozialkompetenzen fUhren. Angesprochen ist z.B. der Aufbau einer zunehmenden Mitverantwortung oder der Umgang mit Frustrationen. Auch sozial-emotional erfUllt die Lembegleitung wichtige Funktionen: Die Lemenden bekommen Zuwendung, Anerkennung und Verstarkung, welche ihren Lemprozessen wichtige Srutzen und neue Kraft geben konnen.
1.3.3 Anspriiche an Lehrpersonen und Lemende
Die Begleitung dieses individueIlen/sozialen Lemens greift wiederum auf kognitionspsychologischer Ebene. Deren Einbindung in eine produktive Unterrichtsdynamik stellt an die Lehrpersonen und die Lemenden aber einige weitere Anspriiche.
Eine nach Autonomie strebende Unterrichtskultur bildet die Basis dafiir, dass die Lehrperson Freiraume fur eine Begleitung mathematischer Lemprozesse findet. So lange diese mit organisatorischen, disziplinarischen und aufgabentechnischen Fragen beschaftigt ist, kann sie keine mathematisch inhaltliche Lembegleitung anbieten. Reusser (1999b) skizziert eine solche - Autonomie suchende - Unterrichtskultur und illustriert sie mit Beispielen wie Lempartnerschaften, unterschiedliche Formen des Kleingruppenunterrichts oder Reflexion anregende Werkzeuge (z.B. Lemtagebucher). Er verweist darauf, dass "Kinder die Fahigkeiten zur Selbstwahmehmung, Selbststeuerung und Selbstverantwortung ihres eigenen Lemens ( ... ) graduell zu entwickeln beginnen, wenn ihnen dazu Spielraume gewahrt und sie entsprechend angeleitet werden, das heisst, wenn das Ziel der Steuerungsautonomie des Lemens nicht bloss aIs Femziel ans Ende der Schulzeit verlegt, sondem mit Beginn der ersten Klasse als tagliche Prozessvoraussetzung schrittweise realisiert wird" (ebd. S. 14). Mit anderen Worten: Die Lehrperson tragt beim Aufbau der Unterrichtskultur eine Schlusselrolle. Ihr muss es yom ersten Schultag an bewusst sein, in welche Entwicklungsrichtung und mit welchen methodisch-didaktisch-organisatorischen Werkzeugen diese voranschreiten solI, damit ein zunehmend mitverantwortlicheres Lemen moglich wird.
Auch Wittmann (1995) fordert mit Bezug auf die Managementlehre, dass die Unterrichtsgestaltung vermehrt durch eine indirekte Steuerung (via mathematisch reichhaltiger Aufgaben und namrlicher Differenzierung) erfolgen solI. Damit sind Anspriiche an eine Lem- und Kommunikationskultur verbunden, die ein aktiv-entdeckendes Lemen ermoglichen, es in eine positive Fehlerkultur, in ein "Erforschungsinteresse an mathematischen Verknupfungsstrukturen" (vgl. Hess 1998) und in eine Anschauungskultur (Anschauungsmittel als epistemologische Werkzeuge an der Hand der SchUlerinnen und SchUler und nicht als didaktische Kriicken, die es moglichst schnell abzulegen gilt) einbinden.
Lernbegleitung im Mathematikunterricht 231
Die Tragfahigkeit einer Unterrichtskultur hangt von unterrichtspragmatisch begrundbaren elementaren Voraussetzungen ab, wie z.B. der Einhaltung regulierter Umgangsformen, der Organisation der dezentrierten KHi.rung von Schtilerfragen oder vom Verbindlichkeitscharakter von Aufgaben, die von Schulem gewahlt werden (vgl. Hess 2003, S. 197, 199). Die Beantwortung der von Krauthausen (1997) gestellten Frage, ob dieser modeme Unterricht aus einem bunten Markttreiben mit unverbindlichen BuffetAngeboten und einem didaktisch organisierten Chaos bestehe, hangt also wesentlich von der angestrebten bzw. aufgebauten Unterrichtskultur abo
Die skizzierten Anspruche verdeutlichen: Die paradigmatische Neuorientierung des Mathematik-Unterrichts setzt das aktive SchUlerlemen ins Zentrum. Dennoch bleiben Lehrerinnen Schlusselfiguren mit komplexen Aufgaben. Reusser (1999b, S. 14) beschreibt dies anschaulich mit einer metaphorischen Aufzahlung: "Der Funktionsmix und die Komplexitiit der Anforderungen an die Rollen von Lehrerinnen und Lehrem sind zu anspruchsvoll, als dass sie sich auf einfache Begriffe reduzieren liessen. Lehrpersonen bleiben ( ... ) auch kiinftig vieles in einem. Neben Stoffdarstellem und Lemberaterinnen auch: Entwicklungshelferinnen, Ratgeber, Anleiterinnen, Pauker, Giirtner, Zureder, Kritikerinnen, Gespriichspartner, Beschlitzerinnen, Teamarbeiter, Animateure, Moderatoren, Trainer, Fiirsprecherinnen, Zensoren, Tr6ster, Friedensstifterinnen, Unterhalterinnen und Sozialarbeiter". Die mit einer solchen Aufzahlung geweckten Assoziationen lassen allgemein didaktische Rollenanforderungen - wie sie die Praxis stellt - in einer beispielhaften Palette aufscheinen. Sie wei sen insofem auf die Relativitat der folgenden Darstellung - einer empirischen Untersuchung zu didaktischen Einstellungen und fachdidaktischen Umsetzungen - hin, als diese aus einer grossen unterrichtlichen Komplexitiit eindimensionale Erhebungen und Analysen vomimmt. (Diese Bemerkung bringt der Autor aus einer kritischen Distanz zu seiner eigenen Studie an. Auch die folgenden Kapitel 2 und 3 werden aus einer solchen Warte dargelegt)
2 Didaktische Einstellung von Lehrpersonen
Die Studie von Hess (2003) geht den beiden Fragen nach, inwiefem die didaktische Einstellung (Belief) von Lehrpersonen der ersten drei Grundschuljahre der aktuellen mathematik-didaktischen Stossrichtung entspricht und mit welcher Koharenz die fachdidaktische Umsetzung wiihrend dezentrierten Lembegleitungsphasen erfolgt.
2.1 Profil der empirischen Studie
Die Stichprobe zur Messung der Beliefs umfasste eine Treatment- (N = 65) und eine Kontrollgruppe (N = 33) aus dem Kanton Thurgau (CH). Die ersteren haben sich im Schuljahr 98/99 (12) auf freiwilliger Basis entschieden, auf das eher konstruktivistisch orientierte Zahlenbuch (Hengartner & Wieland 1995) umzusteigen, wiihrend die Kontrollgruppe weiterhin mit einem traditionellen Lehrmittel arbeitete (vgl. Abb. 3).
232 Kurt Hess
tl t2 13 I
t4 I
t5 I
I Unterricht mit ZB / mit TG Lehnnittel / Weiterbildung
I
Belief-Erhebung I .. . .... ................ ....... .. ........ ......... ......... .. .... 8elief-Erhebung II
t6 I
I
I I
Utrechter-Test I ... ... ..... .. .. ... ... ... ................ _ ..................... ........ Ut rechter-Test II
Interview
Videostudie
Fragcbogen
Abb. 3: Forschungsplan
Anmerkungen: ZB = Zahlenbuch, TG = Thurgau(er), Weiterbildung = monatliche Weiterbildungsveranstaltungen (mit Inhalt klinischer Unterrichtsexperimente; vgl. Krauthausen 1998).
Die Messung der Beliefs umfasste einen Pra- und ein Jahr spater einen Posttest (Messzeitpunkte t1 und t5). Zwischen den beiden Messzeitpunkten erfolgten in der Treatmentgruppe verschiedene Interventionen: Schiilertests eingangs des Schuljahres (t2 und t6; Utrechter-Test; vgl. Hengartner & Rothlisberger 1995) mit anschliessenden halbstandardisierten Interviews mit Lehrpersonen (13), Weiterbildungsveranstaltungen (zwischen t2 und t6), Videoaufnahme einer Mathematik-Lektion mit Auswertungsgesprach und begleitender Fragebogenerhebung (t4).
Lehrpersonen mit Zahlenbuch: Lehrpersonen mit kantonalem Treatmentgruppe Lehrrnittel: Kontrollgru~e
Untersuchungsteil A: Einstellunl!;skonzept Lehrerinnen 1. bis 3. Klasse
Anzahl Lehrerinen N=65 N=33
Untersuchungsteil C: Mathematischer Schiilertest 1. Klassen
Anzahl Klassen N=23 N=7
Anzahl Schiiler N=334 N=93
Untersuchunl!:steil B: Vi ,.1: 1. Klassen ~ r--
'--'---
Anzahl Klassen N= 12 N=7 I--f-
Abb. 4: Stich proben der drei Untersuchungsteile
Der zweite empirische Teil bestand aus den erwahnten Videoaufnahmen (N = 19), aus welchen die Lehr-/Lemdialoge wahrend dezentrierten Lemphasen herausgefiltert und analysiert wurden. Diese Stichprobe bestand aus einer Teilmenge derjenigen der Einstellungsmessung (vgl. Abb. 4). Sie teilt sich wiederum in eine Treatment- (N = 12) und eine Kontrollgruppe (N = 7). Damit die lnteraktionen mit mathematisch schwacheren und
Lernbegleitung im Mathematikunterricht 233
starkeren Lemem separat ausgewertet werden konnten, losten 334 Schulerinnen und SchUler aus den Treatmentklassen und 93 aus den Kontrollklassen in der ersten Schulwoche der ersten Klasse einen Pra- und Ende des Schuljahres einen Posttest (UtrechterTest; ebd.).
2.2 Einstellungskonzept und Veranderung
Die (fach-)didaktische Einstellung (belief) unterliegt einer subjektiven Logik mit Strukturcharakter und tragt je nach theoretischer Position einen grosseren affektiven, kognitiyen oder konativen (handlungsbezogenen) Anteie. Die Handlungsrelevanz von Beliefs wird in neuerer Zeit auch in Frage gestellt (vgl. Mass 2005, S. 122) bzw. als Veranderungsresistenz ausgewiesen (vgl. Staub & Stem 1998). In der Sozialpsychologie wird die Nichmbereinstimmung zwischen affektiven, kognitiven und konativen Aspekten auch mit der Dissonanztheorie von Festinger (1959) beschrieben. Bei der Uberprufung des Zusammenhangs zwischen Einstellungskonzepten und didaktischen Handlungen gilt es, zwischen Kompetenzen und Performanzen4 zu unterscheiden und einen kritischen Blick auf analytisch herausgefilterte Verhaltensausschnitte zu werfen, da Verhalten stets in Beziehungsgeschichten eingebunden ist und sensibler Kontextanalysen bedarf. 1m Anschluss an die Studie von Pehkonen und Tomer (1996, S. 6) wurde folgende Definition von Belief vorgenommen: "Beliefs setzen sich aus relativ uberdauemdem subjektivem Wissen von bestimmten Objekten oder Angelegenheiten sowie damit verbundenen Emotionen und Haltungen zusammen". In Zusammenhang mit Veranderungsprozessen ist die Formulierung "von relativ iiberdauerndem subjektivem Wissen" von zentraler Bedeutung.
Shaw, Davis & McCarty (1991) stellen ein dynamisches und nach heutigen Gesichtspunkten pauschales Modell flir den Gesinnungswandel von Lehrpersonen dar (vgl. Abb. 5). Neuere Ansatze (z.B. Gellert 2003, Jungwirth 2004 oder Maass 2005) konnen darin eine Verortung finden. 1m dargestellten Modell konnte die Vision aus einer konstruktivistischen Orientierung bestehen, welche zur Gestaltung reichhaltiger Lemumgebungen und einer namrlichen Differenzierung motiviert. Bei der unterrichtlichen Realisierung k6nnten StOrungen zur Resignation und einer Ruckkehr zu bewahrten didaktischen Mustem ruhren. Das entscheidende Moment rur die Veranderung didaktischer Einstellungen liegt in der Bereitschaft, eine Verpflichtung zu ubemehmen, das heisst, die StOrungen zu reflektieren und an der Umsetzung gewisse Anpassungen vorzunehmen. Die Identifikation mit der Vision kann also durch reflektierte Erfahrungen prozesshaft wachs en, bis die padagogische Verpflichtung gegeniiber Verunsicherungen bei Schwierigkeiten uberwiegt.
4
Es wird im englischsprachigen Raum seit Jahren eine breite Diskussion zu didaktischen Einstellungen bzw. Beliefs gefUhrt. 1m Rahmen dieser Publikation wird die Diskussion nicht aufgegriffen. Empfohlene Literatur fUr den Einstieg in die Diskussion: Grigutsch (1996), Grigutsch, Raatz & Tomer (1998). Es ist schwierig, aus komplexen Unterrichtssituationen isolierte didaktische Kompetenzen von Lehrpersonen zu filtem und sie in einen Zusammenhang mit Beliefs zu stellen. Die im Unterricht gezeigten Performanzen sind stets im Verbund mit verschiedensten zu erfiillenden Rollenerwartungen und zeitlich gewachsener Beziehungsgeschichten (zwischen Lehrpersonen und Lemenden) zu interpretieren.
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Etwas differenziertere Theorieentwiirfe zu Veranderungsprozessen im Mathematikunterricht liefert Gellert (2003) mit seinem Beitrag zur Exzeptionalitat (Aussergewohnlichkeit) und Alltaglichkeit der Veranderung von Mathematikunterricht und Jungwirth (2004) mit ihrem Beitrag zu Lehrerpraktiken in Neuerungskontexten.
Kulturumgebung
Vision
reflektiere reflektieren
Storung L-_______ ----' Verpflichtung
reflektieren
Abb. 5: Dynamik des didaktischen Gesinnungswandels (Shaw, Davis & McCarty 1991)
2.2.1 Exzeptionalitat und Alltaglichkeit der Veranderung von Mathematikunterricht
Gellert (2003) beschreibt zwei Zyklen, die Lehrpersonen bei Veranderungsprozessen durchlaufen. Der eine lasst sich als ein Schwanken zwischen Zufriedenheit und Arbeitsaufwand bezeichnen. Er geht davon aus, dass eine diffuse Unzufriedenheit mit dem Unterrichtsalltag bei der Lehrperson nach einer Klarung und anschliessend nach einer Erhohung des Arbeitsaufwandes fiihrt. Wenn Zweifel am Nutzen der Erhohung des Arbeitsaufwandes autkommen, wird der Arbeitsaufwand wiederum reduziert und zu einer vorher Unzufriedenheit aus16senden Unterrichtspraxis zurUckgekehrt. Als letzte Station des Veranderungsprozesses steht die Zufriedenheit durch Ausbleiben von Misserfolgen. Wahrend der erste Zyklus an Gewohnung orientiert ist, ist der zweite eher am Exzept, das langsam zur Gewohnheit wird bzw. an sich entwickelnden Routinen, orientiert. Die im referierten Ansatz von Shaw, Davis & McCarty (1991) "iibernommenen Verpflichtung en bei Storungen" sind bei Gellert (2003) als diffuse UnzuJriedenheit mit dem Unterrichtsalltag und Klarung der Ursachen der UnzuJriedenheit sowie als ErhOhung des Arbeitsaufivandes auszumachen (ebd., S. 159). Ais bedeutsam "erscheinen die Einsicht in die Notwendigkeit von Veranderung sowie die Bereitschaft, Routinen infrage zu stellen, da es im Kern darum geht, ob Routinen aktualisiert oder konserviert werden" (ebd., S. 167). Gellert weist darauf hin, dass der BegriffInnovation nicht statisch im Sinne einer zeitlich begrenzten Massnahme zu verstehen ist, bei der eine als defizitar bewertete Praxis moglichst schnell durch eine Idealvorstellung ersetzt wird. Sein Vorschlag beinhaltet, professionelle Entwicklung als kontinuierlichen Vorgang bzw. als Zyklus sich entwickelnder Routinen zu verstehen. Diese dynamische Sicht von Innovation geht einher mit einem "schon wahrend der Studienzeit" (ebd., S. 168) vermittelten Selbstverstandnis ei-
Lernbegleitung im Mathematikunterricht 235
ner kontinuierlichen beruflichen Fortbildung und der Selbstverstandlichkeit einer beruflichen Kooperation.
2.2.2 Lebrerpraktiken in Neuerungskontexten
Jungwirth (2004) untersuchte mit dem soziologisch-ethnografischen Forschungsansatz Praktiken von Lehrpersonen, welche diese in Neuerungskontexten zur Anwendung bringen. Ihr "Interesse gilt der Art und Weise, wie Lehrpersonen agieren, wenn Sie drangehen, ihren Unterricht zu verandern" (ebd. S. 91). Sie richtet also ihren Fokus auf die Binnenperspektive der Lehrpersonen, indem sie auf Memos von diversen Gesprachen mit ihnen, auf Beobachtungen von Gesprachen unter Lehrpersonen, e-mail-Korrespondenzen, Telefonatsnotizen, Interviews und Videoaufzeichnungen von Unterriehtslektionen zurUck greift und naeh ethnografischer Auswertungslogik analysiert und interpretiert. Das Spannende an diesem Forschungsansatz ist die Erhebungs- und Auswertungsnahe zum Forsehungssubjekt.
Folgende Ergebnisse zu Lehrerpraktiken in Neuerungssituationen hat Jungwirth heraus gearbeitet:
• Die Vorbereitungen der Lehrpersonen richten sich bei besonderen Formen des Unterrichtens (als Neuerungskontext) auf grosse Linien des Unterrichts. Es wird also zunachst der Rahmen geklart, wann z.B. die zeitlichen Bedingungen bestimmte Aktivitaten zulassen bzw. begiinstigen. 1m Zweifelsfalle miissen Neuerungsanliegen den Gegebenheiten angepasst werden, denn das normale schul ische Leben geht vor.
• Das Schulbuch ist nicht der alleinige Bezugspunkt in Neuerungskontexten. Die Lehrpersonen recherchieren im Internet, kontaktieren Personen und suchen Bibliotheken auf, urn passende Aufgaben "fur den anderen Unterricht" zu finden.
• In Neuerungskontexten wandelt sich der Lehrer - metaphoriseh gesprochen -vom "Bastler" zum "Ingenieur". Der Bastler versucht mit dem Material auszukommen, das verfugbar ist, der Ingenieur stellt Fragen "an das Universum" und versucht zur Beantwortung neue Mittel zu entwickeln.
• Lehr- und Lernziele spielen in Neuerungskontexten eine beseheidene Rolle. • Wiederkehrend steht das Machbare im Sinne von handlungsrelevantem Wissen
und Alltagslosungen im Zentrum der Antizipation von Neuerungskontexten. Dieses Maehbare kommt in einem Aktionsforschungsprogramm analog den fehlenden Zielsetzungen aueh ohne konkrete Fragestellungen aus. Die Lehrpersonen orientieren sich an der Wiederherstellung von Normalitat: "Es wird abgezielt auf Beseitigung oder Minimierung des Ungewohnlichen, des Zweifels" (ebd. S. 100). Und genau hier setzt der oben dargestellte Vorschlag von Gellert (2003) an: Professionelle Entwicklung sollte nieht statisch im Sinne einer zeitlich begrenzten Masssnahme, sondern als kontinuierlicher Vorgang bzw. als Zyklus sich entwickelnder Routinen verstanden werden.
• In diesem kritisierten Veranderungsverstandnis bleibt auch die Diskussion iiber didaktische Konzepte aus. Die Lehrpersonen sprechen eher grundsatzliche Positionen wie entdeekendes Lemen an, aber kaum Mathematikspezifisches.
• Die Erwartung eines besonderen mathematisehen Gewinns ist Ausschlag gebend fur das Praktizieren neuer Lernformen.
• Klassische Muster des fragend-entwickelnden Unterrichts greifen auch in neuen Lehr-/Lernsituationen.
236 Kurt Hess
• In Neuerungskontexten mit Aktionsforschungsprogrammen erfolgen rasche Interpretationen "Die Daten scheinen fUr sich zu sprechen. Man kann hierin eine Reproduktion der Bewertungspraxis der Profession sehen: Lehrerinnen sind sich gewohnt und entsprechend versiert darin, SchUlerdokumente rasch zu beurteilen und daraus ihre Schliisse zu ziehen" (ebd. S. 99).
Den Lehrpersonen geht es also in Neuerungskontexten vomehmlich urn die Bewaltigung von Unterrichtssituationen und weniger urn die Begrundung und Analyse durch Zielsetzungen bzw. wahrend Aktionsforschungsprogrammen urn Fragestellungen. Die Kardinalfrage, warum Veranderungsprozesse im Alltag eingeleitet werden, vermag Jungwirth mit ihrer Untersuchung allerdings nicht schliissig zu klaren, sie gibt uns aber Hinweise, indem sie eine pragmatisch orientierte Handlungstheorie heranzieht: Handeln fUhrt zum Zweifeln, wenn jemand nicht mehr seinen bewahrten Gewohnheiten folgen kann. "Dies ist die Phase des realen Zweifels. Aus dieser Phase heraus fiihrt nur eine Rekonstruktion des unterbrochenen Zusammenhangs. Die Wahmehmung muss neue oder andere Aspekte der Wirklichkeit erfassen, die Handlung muss an anderen Punkten der Welt ansetzen oder sich selbst umstrukturieren" (Joas, zit. in ebd., S. 106). Diese allgemeinen Aussagen zur Begrundung von Handlungen, die Veranderungen einleiten, lassen uns zur Studie von Hess (2003) zuruckkehren. Aus den Interviewdaten (t3) kann ein Aspekt aus Jungwirths Forschungsbericht bestatigt werden: Die erste spontane Reaktion auf die Frage, wie die Lehrpersonen mit ihrer heterogenen Klassensituation umgehen, beantworteten die meisten mit einem Achselzucken und dem Kommentar "das machen wir schon irgendwie, das sind wir uns gewohnt, das ist halt so" (ebd. S. 218). Die Machbarkeitsfakten und die eher sparlich geausserten mathematikdidaktischen Argumente gehen also auch aus dieser Studie hervor. Zudem konnen die meisten Lehrpersonen ihre bewahrten Gewohnheiten (z.B. Seite fUr Seite aus dem Lehrmittel abarbeiten) weiter verfolgen, auch wenn der Interviewer ihnen ein heterogenes Klassenprofil eines Schiilertests - der als Neuerungskontext wahrend der ersten Schulwoche der ersten Primarklasse stattfandzeigt (vgl. ebd., S. 217-225).
2.3 Messung der didaktischen Einstellung
Die Messung der didaktischen Einstellung erfolgte tiber das erwahnte Instrument Einstellungen zum Mathematikunterricht von Staub und Stem (1998), welches einer Ubersetzung aus dem Englischen von Peterson, Fennema, Carpenter & Loef (1989) entspricht. In diesem Paper and Pencil-Test beurteilten die Lehrpersonen zu den Messzeitpunkten tl und t5 (N = 98) 48 Glaubenssatze auf einer fUnfteiligen Ratingskala zwischen iiberhaupt nicht einverstanden und sehr einverstanden5
.
Beispiele: • Lehrerinnen und Lehrer sollten SchUler ermutigen, ihre eigenen Losungswege
fUr Mathematikaufgaben zu suchen, auch wenn diese ineffizient sind (Item 2). • SchUler benotigen ausfUhrliche Anleitungen dazu, wie Textaufgaben zu IOsen
sind (Item 46). 1m ersten Beispiel lasst sich die Zustimmung einer konstruktivistischen und die Ablehnung einer behavioristischen didaktischen Orientierung zuordnen und im zweiten Beispiel umgekehrt. Aus der Beurteilung aller Items resultiert fUr jede Lehrpersonen ein
Die vollstandigen Beurteilungskategorien lauteten: iiberhaupt nieht einverstanden, eher einverstanden, unentsehieden, eher nieht einverstanden, iiberhaupt nieht einverstanden.
Lernbegleitung im Mathematikunterricht 237
numeriseher Wert, der zwischen 1 (konstruktivistische Orientierung) und 5 (behavioristische Orientierung) liegt.
2.4 Hauptergebnisse
Die Lehrpersonen der Treatment- und der Kontrollgruppe orientieren sich nach dem Praund Posttest sehr konstruktivistisch (vgl. Tab. 2) und es sind keine statistiseh signifikanten Unterschiede zwischen den beiden Gruppen und Messzeitpunkten (tl und t5) festzustell en.
Tab. 2: Mittelwerle aus der Erhebung der didaklischen Einslellung
Treatmentgruppe (N = 65) Kontroligruppe (N = 33) Pratest (t1), M = 2.05 (SD = 0.40) M= 2.15 (SD = 0.37) Posttest (t5) M = 2.00 (SD = 0.40) M = 2.16 (SD = 0.44)
Anmerkung: Die Messzeitpunkte des Pra- und Posttests sind mit 11 und 15 bezeichnet, weil zwischen Pra- und Posttest weitere Erhebungen stattfanden (vgl. Abb. 3).
1m Detail ergaben sich aus den Hypothesenprufungen folgende Hauptergebnisse: 1. Unter den Erstklass-Lehrpersonen (Teilmenge der Gesamtstichprobe) zeigten
die Umsteigerinnen aufs Zahlenbueh (Treatmentgruppe) zu den Zeitpunkten tl und t5 eine signifikant konstruktivistischere Orientierung gegenuber der Kontrollgruppe, welche weiterhin mit einem traditionellen Lehrmittel arbeitete [t (28) = -2.07, p = .048 < .05/ t (28) = -2.50, p = .02 < .05). Dieses Teilergebnis ist von Bedeutung, weil im zweiten Forschungsfenster ausschliesslich Lehrpersonen mit ersten Klassen in die Videostudie einbezogen wurden.
2. Die didaktisehe Einstellung und der Lehrmittelwechsel sind nieht altersabhangIg.
3. Konstruktivistischer orientierte Lehrpersonen besuchten eher Weiterbildungskurse, welche dieser Gesinnung entsprechen als behavioristisch orientierte.
4. Der Weehsel auf ein konstruktivistisch orientiertes Lehrmittel wirkte sieh nieht auf die Einstellungskonzepte aus. Diese blieben zwischen den Messzeitpunkten t1 und t5 stabil.
5. Die (minimalen) Veranderungen in den didaktisehen Einstellungen k6nnen nieht auf das Lehrmittel zuruekgefiihrt werden.
Die quantitative Studie wurde durch ein Interview mit 30 Erstklass-Lehrpersonen erganzt. Darin gaben diese Auskunft (Zeitpunkt t3; naeh der schriftlichen Belief-Erhebung), warum sie auf der Ratingskala einzelne Items urn zwei und mehr Einheiten abweichend yom konstruktivistischen Pol beurteilten (in Item 2 beurteilten sie z.B. unentschieden, eher nicht einverstanden oder iiberhaupt nicht einverstanden; vgl. Kap. 2.3). Die qualitative Auswertung der Antworten ergab die in Tab. 3 dargestellten Argumentationstypen, mit welchen die Lehrpersonen ihre behavioristisch orientierten Urteile begrundeten.
Tab. 3: Begriindungskategorien der Item-Beurteilungen
• Mangelndes Verstehen der Aussage • Spraehprobleme (Fremdspraehigkeit) • Subjektive Interpretation des Items • Aspekte zum aktiv-entdeckenden Lemen
• Argument "schwachere Reehner" • Behavioristische Orientierung
238 Kurt Hess
Die Begriindungskategorien "mangelndes Verstehen" und "subjektive Interpretation" k6nnen pauschalisiert als ein Antwortgeben auf eine nicht gestellte Frage gedeutet werden. Die Kategorien "schwachere Rechner" und "behavioristische Orientierung" sind entweder auf eine Minderheit bezogen behavioristisch geHirbt oder grundsatzlich (vgl. Kap. 1.2 und 2.2.2). Die Antworten zu "Sprachprobleme" verweisen darauf, dass fremdsprachige Kinder hiiufig die Aufgabenstellung nicht verstehen. Argumente in der Kategorie "aktiv-entdeckendes Lemen" weisen in eine konstruktivistische Richtung, fedem aber aus vieWiltigen didaktischen Griinden die Absolutheit der Aussage abo Dies erfolgt im Sinne der Differenzierung zwischen mitverantwortlichem und eigenstandigem Lernen, mit Betonung auf ersterem.
Eher behavioristisch beurteilte Items begriinden die Lehrpersonen also mehrheitlich didaktisch und nicht auf der linearen Achse zwischen den erkenntnis- oder lemtheoretischen Polen Konstruktivismus und Behaviorismus.
Die Auswertung der Interviews erfolgte uber die von Mayring (1997, S. 62) dargestellten inhaltsanalytischen Techniken. Nach Sichtung des gesamten Datenmaterials konnten sechs Kategorien gebildet und diesen (mit genugender Interrateriibereinstimmung) auch Aussagen der Lehrpersonen zugeordnet werden. Es folgte eine erste Paraphrasierung nach festgelegten Regeln (ebd.). Durch Streichung nicht inhaltstragender Textstellen und der Ubersetzung auf eine grammatikalische Kurzform lies sen sich gr6bere inhaltliche Ballaste abwerfen. Nach dieser Datemeduktion lagen einheitlich geordnete und auf den substanziellen Kern reduzierte Aussagen vor. Die Textstellen wurden durch Vereinheitlichung des Abstraktionsniveaus und Reduktion durch Selektion (Streichen bedeutungsgleicher Paraphrasen) einer zweiten Paraphrasierung unterzogen. Es folgte eine letzte Zusammenfassung durch Konstruktion und Integration: Paraphrasen mit ahnlichem Inhalt fanden Zusammenschluss in einer neu konstruierten Kurzform. legliches Streichen von bedeutungsgleichen Textstellen wurde numerisch ausgezahlt und erscheint hinter den paraphrasierten Aussagen als eine in Klammem gesetzte Zahl. Wiederholte bedeutungsgleiche Aussagen derselben Person wurden nicht mitgezahlt.
2.5 Interpretation der Befunde zur didaktischen Einstellung
Das erste Forschungsfenster weist darauf hin, dass die didaktische Einstellung von Lehrpersonen der ersten drei Grundschuljahre weit gehend mit dem heutigen mathematikdidaktischen Mainstream ubereinstimmt. "Dafiir sprechen die stabilen Messwerte, die Altersunabhangigkeit und die Resistenz der Einstellungskonzepte gegenuber Interventionseinflussen, z.B. durch ein neues Lehrmittel. Auch die mundlichen Argumente der Lehrerinnen zu vorausgehend behavioristisch beurteilten Belief-Items beinhalten keine Rechtfertigung einer Belehrungs-Didaktik. Die Konsequenzen, welche die Lehrerinnen aus den Vortest-Ergebnissen ihrer SchUler ziehen, sind analog: Es uberwiegen didaktische Bestrebungen nach narurlicher Binnendifferenzierung, individueller Zielerreichung und sozialem Lemen" (Hess 2003, S. 241). Es bleibt weit gehend eine unbeantwortete Frage, ob Lehrpersonen der unteren Grundschuljahre konstruktivistischer orientiert sind als solche in hOheren Klassen: Eine informelle Nachuntersuchung mit 60 Kindergartnerinnen - welche sich in einem Nachdiplomkurs zur Grundschullehrerin der ersten und zweiten Klasse nachqualifizieren - ergab, dass diese noch deutlich konstruktivistischer eingestellt sind als die Lehrpersonen der ersten drei Grundschuljahre. Aus einer Untersuchung von Staub und Stem (1998) mit 27 Grundschullehrem der 3. und 4. Klasse steht
Lernbegleitung im Mathematikunterricht 239
die didaktische Einstellung mit einem Wert von M = 2.66 zu Buche. In der Fachliteratur sind Hinweise zu finden, dass es flir Lehrpersonen im Verlaufe der Schuljahre zunehmend schwieriger wird, padagogisch Wtinschbares fachlich urnzusetzen. In den unteren Klassen besteht jedenfalls eine ausgepragte Vorstellung tiber einen entwicklungsorientierten Unterricht, welcher von einem aktiven Lemen und von den Erfahrungen der Schtilerinnen und Schtiler ausgeht (vgl. Gellert 1999).
Die als behavioristisch notierten Abweichungen bei der Beurteilung einzelner Items begrundeten die Lehrpersonen vorwiegend tiber didaktische Bedingungen und Erfahrungen mit schwacheren Rechnem und Fremdsprachigen und sie verwiesen auf den angesprochenen Funktionsmix, den sie im Unterricht zu erflillen haben (vgl. Kap. 1.3.3). In Anbetracht vorliegender Forschungsergebnisse ware es eine wichtige Aufgabe der Weiterbildung, die von den Lehrpersonen ausgeschlossenen Schtilergruppen in den Fokus zu nehmen und den Lehrpersonen ein erweitertes didaktisches Repertoire, positive Erfahrungen und Praxis gebundene Reflexionsm6glichkeiten anzubieten. Solche begleiteten didaktischen Erfahrungen sollten die Chance Offnen, vorhandene Beliefs auf aIle Schtilerinnen und Schtiler bezogen zu verfolgen und eine padagogische Verpflichtung auch bei auftauchenden Schwierigkeiten zu tibemehmen (vgl. Abb. 5).
Dass der (frei wahlbare) Umstieg auf ein neues Lehrmittel nicht mit dem Einstellungskonzept korreliert, kann in verschiedenen altemativen Entscheidungsfaktoren eine Begrundung finden, z.B. in der gestalterischen Gefalligkeit, der Wirksamkeit des Werbemanagements oder im Sozialprestige.
Ein weiterer Grund flir die fehlende Korrelation ist darin zu suchen, dass die Treatment- und die Kontrollgruppe nicht trennscharf auseinander zu halten sind. "Fast die I-Ialfte der Umsteigerinnen setzt neben dem Zahlenbuch flankierend das kantonale Lehrmittel ein. Umgekehrt orientieren sich 43% der Lehrerinnen, welche hauptsachlich mit dem Thurgauer Lehrmittel unterrichten, auch am Zahlenbuch" (Hess 2003, S. 170). Lehrerin (L 28) unterrichtet z.B. weiterhin mit dem bisherigen Lehrmittel, obwohl aus ihren Einschatzungen ein sehr konstruktivistischer Belief-Wert von 1.7 resultierte. Sie ausserte sieh kurz uncl klar: "Mit clem traclitionellen Lehrmittel kann ieh ebenso einen Unterricht gestalten, wie es die Autoren des Zahlenbuchs vorschlagen" (ebd., S. 169). Die offenbar fliessenden Ubergange zwischen Treatment- und Kontrollgruppe 16sen in empirisch-wissenschaftlicher Hinsicht vielleicht eine Konstemierung aus. Die Mehrfachorientierung an Lehrmitteln scheint aber eine reale Tatsache zu sein, die - als Teilergebnis - in die Daten durchschlagen solI (vgl. Jungwirth 2004).
Es erstaunt nicht, dass die (marginalen) Veranderungen in der didaktischen Einstellung unabhangig des eingesetzten Lehrmittels erfolgen. Dies lasst sich tiber die fehlende Trennscharfe zwischen den Vergleichsgruppen und tiber den Stellenwert des Lehrmittels bei der Generierung didaktischer Einstellungskonzepte begrunden. Ein Lehrmittel ist lediglich gedrucktes Papier, dessen Realisierung und die Interpretation didaktischer Erfahrungen hangen eher von subjektiven Einstellungen ab als von Intentionen seitens eines Lehrmittels. Die Lehrpersonen bilden also keine (Lehrmittel-)Realitaten ab, sie suchen und entwickeln aus der eigenen Erfahrung heraus ihren didaktischen Weg. "Da Lehrmittel keine Direktiven auferlegen k6nnen und sich nicht selbst verwirklichen, tragen die didaktischen Konstruktionen der Lehrerinnen die Verantwortung daflir, auf welchem
6 Vergleich mit den Kindergartnerinnen: M = 1.81, mit Lehrpersonen der ersten Klasse: M = 1.96, mit Lehrpersonen der ersten bis dritten Klasse: M = 2.09. Der Wert I entspricht dem konstruktivistischen, der Wert 5 dem behavioristischen Endpunkt der Skala.
240 Kurt Hess
Weg sie welche Unterrichtinhalte umsetzen und welche Erfahrungen sie damit machen" (ebd., S. 173). Aber eben: Veranderungsprozesse gehen von reflektierten StOrungsque1-len aus, welche z.B. durch SchUler, Kolleginnen, Eltem, Fachartikel etc. hervorgerufen werden. Die Bedeutung der Reflexion und des Perspektivenwechsels bringt die yom Autor zugespitzte Erkenntnis von Dick (1996) auf den Punkt: Der Aphorismus Erfahrung ist der beste Lehrer bedarf einer Prazisierung: "Gewohnheiten, die gestort und reflektiert werden, sind der beste Lehrer" (Hess 2003, S. 144; vgl. Abb. 5).
3 Lembegleitung als didaktisches Handeln
Das zweite Forschungsfenster geht dem didaktischen Handeln wahrend dezentrierter Lemphasen nacho Die Fragestellung lautet: "Was tun ( ... ) Lehrpersonen, wenn sie die Kinder beim individuellen Lemen begleiten, ihnen helfen oder sie unterstiitzen?"
Das empirische Design beinhaltet eine videografische Erhebung von 19 MathematikLektionen mit ersten Grundschulklassen (vgl. Abb. 3 und 4). Die Lehrpersonen erhielten den Auftrag, eine Lektion nach freier Themen- und Lehrmittelwahl zu gestalten. Die Hypothesen basierten Analysen der Lehr-ILemdialoge kommen nach der spezifischen Betrachtung der Rolle der Lehrperson wahrend der Lembegleitung zur Darstellung.
3.1 Die Rolle der Lehrperson als Lembegleiterin
Wahrend dezentrierter Lemphasen (z.B. in der Lemwerkstatt oder beim traditionellen Aufgabenlosen) kann die Lehrperson als Begleiterin auf Lemprozesse der SchUler/-innen einwirken. Die Gestaltung mathematisch reichhaltiger Aufgaben ermoglicht es diesen, eigene Zugange mit individuell vorhandenen Ressourcen zu tinden.
Dezentrierte Lemformen rufen nach einem sorgfaltigen Aufbau einer Lem- und Kommunikationskultur, damit es der Lehrperson gelingt, die verfUgbare Zeit von durchschnittlich 1.5 Minuten pro Lektion und SchUler fUr die Begleitung des mathematischen Lemens effektiv zu nutzen (ebd., S. 196). Die Gestaltungsfreiheiten innerhalb dieser Rolle hangen wesentlich yom Ausmass der Mitverantwortung ab, den die SchUlerinnen und SchUler tibemehmen (konnen) und der lehrerseits vorgenommenen Organisation dieser Lernzeit. Unterrichtspraktisch bedingt dies z.B.: Fremdkontrollen durch Selbstkontrollen ersetzen, Lempartnerschaften zur Klarung aufgabentechnischer oder organisatorischer Unsicherheiten einrichten, disziplinarische Angelegenheiten einer teilautonomen Lemkultur tibergeben, Reflexionsgesprache tiber das Lemverhalten anbieten etc. Dies sind mogliche tragende Elemente, damit die Lembegleiterin nicht von anderen Aufgaben und damit verbundener Rollenerwartungen iiberdeckt wird.
Die Qualitat der Lembegleitung hangt auch davon ab, inwiefem sich die Lehrperson wirklich auf den einzelnen Lemprozess einlassen kann. Solange die Sorge urn denjenigen SchUler, der die Lemkultur torpedieren konnte, die Prozessbegleitung des Einzelnen einschrankt, sind inhaltliche Analysen der Lembegleitung eher fraglich. Dennoch: Der angesprochene Funktionsmix innerhalb der Rollen, welche die Lehrpersonen wahrend dem Unterricht wahrzunehmen haben, wird es nie ein laborahnliches Setting geben, das keine Rollendiffusionen abbildet. Aus Sicht der Gestalterin und Uberwacherin einer Unterrichtskultur ist es also verstandlich, wenn die Lehrperson einem SchUler eine ,,Anleitung zur Betriebsamkeit" gibt, wenn sie damit einer moglichen StOrung vorbeugen kann. In der folgenden Analyse von Lehr-/Lemdialogen wird ein solches Tun allerdings auf
Lernbegleitung im Mathematikunterricht 241
das Konto einer belehrenden Lembegleitung verbucht und bleibt mit den angesprochenen Zweifeln behaften.
3.2 Analyse der Lembegleitung
In den Klassen der 19 videografierten Mathematik-Lektionen setzten 12 hauptsachlich das Zahlenbuch ein (Treatmentgruppe) und 7 das kantonale Lehrmittel (Kontrollgruppe). Die Analyse der Lektionen fasst die praktizierten Unterrichtsformen und die verbalen Ausserungen der Lehrpersonen wahrend der Lembegleitung in Kategorien und unterzieht sie quantitativen und qualitativen Analysen. Die didaktischen Einstellungen werden mit den Lehr-lLemdialogen verglichen, wei 1 die erkenntnis- und lemtheoretischen Orientierungen darin vermutlich eher zum Ausdruck kommen als an einer unterrichtsorganisatorischen Oberflache. Die Vergleiche zwischen der Begleitung schwacherer und starkerer Rechner konnten durch vorausgegangene Schlilertests ermoglicht werden7
•
Aus der Kategorisierung der verbalen Ausserungen wiihrend der Lembegleitung kommen hier lediglich die beiden Hauptkategorien Eingehen auf den Denk oder Lernweg des Schulers (LB4) und den Schuler aus seinem Denk- und Lernweg reissen, dieser folgt dem Gedankengang der Lehrperson (LB6) zur Darstellung (vgl. ebd., S. 174-185). Die beiden Kategorien spiegeln die theoretisch polarisierten Ansichten konstruktivistischer und behavioristischer Auspragung.
"In der belehrend interpretierten Situation erteilt die Lehrerin Handlungsanweisungen ohne erkennbaren Bezug zur Lemerfahrung des SchUlers. Der Denkprozess findet in ihrem Kopf statt, der Schuler fiihrt lediglich die Handlung aus" (ebd., S. 200). 1m folgenden Beispiel eines behavioristisch (belehrend) gepragten Dialogs zwischen der Lehrperson LII und einem SchUler liegt die Rechnung ,,7 + 8" und zwei Stangen mit Steckkuben (die sie seIber zusammen gesteckt hat) auf dem SchUlertisch.
L: Acht und wie vie 1 gibt zehn? Zwei. Und wie viele bleiben von diesen Sieben ubrig, wenn du zwei absteckst? (Die Lehrerin steckt zwei Kuben von der Siebneran die Achterstange)
S: Wenn ich zwei von diesen wegnehme, bleiben noch fiinf. L: Mhm. Undjetzt zahlst du die Funf, die Funfnoch dazu. Zehn und fiinf? S: Funfzehn. L: Gibt fiinfzehn (schreibt es dem SchUler aufs Blatt). Acht und sieben gibt auch
fiinfzehn. (authentisches Transkript von Lehrperson LIl, 21 :52:26 - 22:13: 15) Hier ubemimmt die Lehrperson das Denken, das yom SchUler aufzubauende Strukturbewusstsein verkommt zur handelnden Betriebsamkeit nach Rezeptur. Das Lemen beschriinkt sich auf die Durchfiihrung einer diktierten medialen Obersetzung.
Bei der konstruktivistisch orientierten Lembegleitung (LB4) nimmt die Lehrperson die singularen Erfahrungen der SchUler und SchUlerinnen ernst und riickt sie ins Zentrum der Interaktion. Das folgende konstruierte Beispiel stiitzt sich auf den authentischen Dialog von LII und zeigt eine konstruktivistisch orientierte Moglichkeit im Umgang mit Fehlem auf:
7
L: Sieben und acht. Erklare mir, wie du vorgehst. S: Gibt fiinf.
Mit dies em Sampling liegt eine Verkmzung des Settings Mathematikunterricht VOf, die empirisch begriindbar ist, dem Anliegen bzw. den Fragestellungen aber nur annaherungsweise geniigen k5nnen.
242 Kurt Hess
L: Zeig mir, wie du das machst. S: (Zahlt acht Finger ab und beginnt beim neunten, sieben weiter zu zahlen. Sobald
zehn Finger gezahlt sind, schliesst er beide Hande und zahlt die restlichen funf des zweiten Summanden. Am Schluss streckt er runfFinger auf.)
L: Aha, du hast zuerst acht gezahlt und nachher sieben. Dann ist runf gleich viel wie sieben zahlen und acht zahlen?
S: Ja. L: Kontrolliere das! S: (Ftihrt ein analoges Zahlprozedere durch) Stirnrnt, gibt auch runf. L: Gibt sieben und acht mehr als sieben? S: Ja sicher. - Au, runf ist weniger als sieben. Ah, ich weiss, ich habe die zehn ver-
gessen, gibt runfzehn. (Konstruierte Variante zum Ausschnitt von Lll) Die Lehrperson geht in diesem Beispiel auf die Erfahrungen des Schtilers ein und gibt weiterfiihrende Impulse. Sie erfahrt seine Losungsstrategie und mit we1chen Hilfsmitteln er zu den Ergebnissen gelangt ist. Die konstruktivistisch orientierte Lernbegleitung tragt analog dem klinischen Interview sensu Piaget auch ein grosses diagnostisches Potenzial.
3.3 Hauptergebnisse
1. Die Lehrpersonen treten (statistisch gesehen) wahrend der halben Lektion in der Funktion der Lernbegleiterin auf (vgl. Abb. 6).
Zeit in Minuten (pro 45-Minutcn-Lcktion) 45
40
35
30
25
20
15
10
• Frontaluntcrricht
[) Lcrnbcglci tung
U IA 1..6 Ll It( til til LI" LI 6 U7 LI L19 LH 125 1.20 L27 US 1.29 LJO
Lektioncn
Abb. 6: Vergleich zwischen individualisierten Lernbegleitungsphasen und lehrerzentriertem Frontalunterricht
Die Streuung zwischen den einzelnen Lektionen ist aber sehr gross. In 11 von 19 Lektionen gibt es eine signifikante Dominanz von dezentrierten Lernsituationen gegeniiber frontalen Angeboten. Bei Ll7 kornrnt keine Frontalsituation vor und bei L23 iiberwiegt der Frontalunterricht mit ca. 36 Minuten gegeniiber 6 Minuten dezentrierten Lernens.
2. Eine Lektion dauert 45 Minuten, die Lernbegleitung durchschnittlich 23und frontale Unterrichtssequenzen 15.5. Die verbleibenden 6.5 Minuten gehen im
Lernbegleitung im Mathematikunterricht 243
Wesentlichen auf das Konto Unterrichtsorganisation (z.B. einrichten, aufraumen). Frontalunterricht setzt sich aus den Varianten fragend-entwickelnder Unterricht, Vorrnachen-Nachmachen, Demonstration, Organisationsklarung, Lehrerrnonolog und Frontalspiel zusammen. Auf die Mittelwerte bezogen stehen dezentrierte Lemforrnen in einem ausgewogenen Verhaltnis zu frontalen Sequenzen [t (18) = -1.56,p =.l3 > .05].
3. Die (behavioristisch orientierte) Belehrung uberwiegt gegenuber einer konstruktivistisch orientierten Lembegieitung [Z = -2.81, p = .01 < .05] (vgl. Abb. 7). Nur in 3 von 19 Lektionen dauert die konstruktivistische Begleitung langer als die belehrende. Es wurden nur die effektiven Sprechzeiten der Lehrpersonen zu mathematischen Inhalten gemessen (Die Auswertung erfolgte mit der SoftwareViprism®, die auch in der TIMSS-R-Studie verwendet wurde). Die ca. 15 Sekunden, die bei L17 mit einer konstruktivistischen Begleitung zu Buche stehen, bedeuten: Die Lehrperson hat wahrend dieser Zeit mit einem oder mehreren Schiilem in konstruktivistischem Sinne gesprochen. Zusammen mit den ca. 2.6 Minuten Belehrung ergibt dies bei L17 eine mathematisch-inhaltliche Lembegleitungszeit von knapp 3 Minuten (vgl. Abb. 7). Zum Vergleich: Die Lehrperson hat wahrend der ganzen Lektion (45 Minuten) einen dezentrierten Unterricht angeboten. Sie nutzte den Hauptteil der Lektion (42 Minuten) fur Herumlaufen, organisatorische, aufgabentechnische (z.B. mit welchem Schreibstift solI ich schreiben), disziplinarische und andere Angelegenheiten, welche sich nicht auf einen mathematischen Inhalt bezogen.
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Abb. 7: Dauer der konstruktivistischen und behavioristischen Lernbegleitung pro Lektion
4. Die Lehrpersonen unterstUtzen schwachere und starkere Rechner gleich lang [Z = -.60, p = .55 > .05]. Sie belehren aber eher die schwacheren als die starkeren [Z = -2.29, p = .02 < .05]. Die Quantitiit der Lembegleitung ist also vergleichbar, die Qualitat unterscheidet sich deutlich.
5. Die Einstellungskonzepte spiegeln sich nicht in der Qualitat der Lembegleitung. Die konstruktivistische Einstellung korreliert nicht mit einer gleich ge-
244 Kurt Hess
sinnten Lembegleitung und auch nicht in umgekehrter Richtung mit einer geringeren Belehrung [r = -.09,p =.29> .05 und r = .13,p = .30 > .05].
3.4 Interpretation der Befunde zur Lembegleitung
In Abb. 6 fallen die grossen Differenzen zwischen den einzelnen Klassen auf. Insbesondere reisst der Unterricht von Lehrperson L17 mit ausschliesslich dezentrierten Lemphasen aus der Streuung aus. Bei derselben Lehrperson besteht ein deutliches Missverhaltnis in Richtung einer belehrenden Lembegleitung (vgl. Abb. 7). Das Beispiel zeigt deutlich, dass ein dezentrierter Unterricht nicht mit einem konstruktivistisch orientierten Unterricht gleichgesetzt werden darf. Die didaktische Orientierung der Lehrperson Hisst sich also eher an der Qualitat der Lembegleitung als an didaktischen Lehr- und Lemformen ablesen.
Der erste Befund zeigt eine breite Streuung zwischen frontalen und dezentrierten Unterrichtsphasen. Er darf als giinstig beurteilt werden, wenn die Unterschiede auf padagogisch relevante Momente und individuelle Klassensituationen abgestimmt sind. Es ware spannend, solche Momente zu bestimmen und in Relation zu individueUen Klassensituationen auszuleuchten.
Das zweite Ergebnis Offnet einen breiten Interpretationsspielraum. Die konstruktivistisch orientierten Lehrpersonen setzen offenbar nicht urn, was sie geme mochten. Hier konnen die Variablen Unterrichtsbedingungen, Rollenkonfusionen und didaktische Kompetenzen in vieWiltige Beziehungen gebracht werden: Vielleicht mochte die Lehrperson den Denkweg des Einzelnen aufuehmen und ihm neue Impulse geben, gleichzeitig ist sie aber bestrebt, moglichst vielen Kindem eine Begleitung anzubieten. Mogliche Rollenkonflikte konnen z.B. durch relativ kurze Anleitungen zur "bewusstlosen Beschaftigung" gelOst werden. Es ware allerdings eine unzulassige VerkUrzung, wenn die Belehrung ausschliesslich auf den Faktor Zeit und die Rollenkonflikte zurUckgefuhrt wiirden. Auch die dritte Variable der didaktischen Handlungskompetenzen muss ins Spiel gebracht werden (vgl. Gellert 1999). Die kommunikativen Fahigkeiten und Absichten der Lehrperson sowie die Autonomie einer Lemkultur konnten die Bedingungen und damit die Qualitiit des einzelnen Lehr-lLemdialogs wesentlich verbessem. Wenn die Lehrpersonen in einer Richtung suchen, die sie im Unterricht nicht oder nur unbefriedigend umsetzen konnen, sollte die Lehrerinnen- und Lehrerweiterbildung bei den Handlungskompetenzen der Lehrpersonen ansetzen. Das Verhaltnis zu den Unterrichtsbedingungen und den Rollenkonflikten kann sich dadurch neu einstellen.
Zum dritten Ergebnis: Es darf als positives Zeichen beziiglich des Umgangs mit Heterogenitat gewertet werden, wenn sich die Lehrpersonen gleich viel Zeit nehmen fur die Begleitung schwacherer und starkerer Rechner. 1m Interview ausserten aber einige, dass es vor aHem starkeren vorbehalten sei, aktiv-entdeckend zu lemen. Diese Einschrankung losen die Lehrpersonen dadurch ein, dass sie den schwacheren eher Anleitungen zu einer Betriebsarnkeit geben, wohingegen starkere eher Impulse fur ein aktiv-entdeckendes Lemen erhaIten. Dies entspricht einer ungerechten Verteilung von Bildungschancen (vgl. Hess 2004a), zumal es geniigend Hinweise dafur gibt, dass ein aktiv-entdeckendes Lemen auch bei Schiilerinnen und SchUlem mit besonderen Lembediirfnissen greifen wiirde (vgl. z.B. Scherer 1995; Moser Opitz 2001).
Der vierte Befund deutet daraufhin, dass weniger der Faktor zeitliche Ressourcen als vielmehr die Handlungskompetenzen im dynamischen Verbund mit den (nicht aufgebau-
Lernbegleitung im Mathematikunterricht 245
ten) Unterrichtsbedingungen und den Rollenkonfusionen in Richtung einer behavioristisch gepragten Lembegleitung fuhren.
4 Didaktische Konsequenzen
4.1 Schlussbemerkungen zu den Hauptergebnissen
Vie1erorts finden (in der Schweiz) hitzige Diskussionen iiber die Lehrrnittelwahl und die Stufen iibergreifende Kompatibilitat unterschiedlicher Lehrwerke statt, in der Meinung, die Konzeptionen wiirden a) eins zu eins im Unterricht abgebildet und b) die Schiilerinnen und SchUler wiirden sich lehrrnittelspezifische Wissensstrukturen aufbauen. Die theoretischen Ausfiihrungen sowie die Ergebnisse zur didaktischen Einstellung und zur Lembegleitung zeigen, dass die Lehrpersonen in konstruktivistischer Richtung suchen, notabene unabhangig von unterrichtlich eingesetzten Lehrrnitte1n und dahinter liegender fachdidaktischer Konzeptionen. Die Lehrpersonen gestalten ihre Mathematik-Lektionen entsprechend eigener Absichten und Kompetenzen und es lassen sich weder in der didaktischen Unterrichtsgestaltung (z.B. beziiglich natiirlicher Differenzierung) noch beziiglich der Qualitat der Lembegleitung greifbare Lehrrnitte1einfliisse eruieren.
Die drei wichtigsten Befunde der Studie stecken den Rahmen fur die Ziehung von Konsequenzen:
• Die Lehrpersonen zeigen eine deutlich konstruktivistische didaktische Orientierung.
• Es besteht eine geringe Koharenz zwischen der Einstellung und der didaktischen Umsetzung wahrend der individuellen Lembegleitung.
• Schwachere Rechner sind beziiglich Unterstiitzung des individuellen Lemens benachteiligt.
4.2 Konsequenzen fUr die Lehrerinnen- und Lehrerbildung
Didaktische Einstellungen bestehen aus einem relativ iiberdauemden sUbjektiven Wissen und damit verbundenen Emotionen und Haltungen. Daher sollten angehende Lehrpersonen ihre Erfahrungen aus der eigenen Schulzeit mit neuen Lehr- und Lemerfahrungen erweitem k6nnen. In dieser Richtung reflektierte Erfahrungen zielen darauf ab, dass die Studierenden auch bei StOrungen angepeilte Visionen verfolgen und gemachte Erfahrungen nicht auf dem Konto "unrealisierbare Theorie" abhaken.
Realistische bzw. realisierbare Konsequenzen zum Befund, dass eine konstruktivistisch orientierte Lembegleitung nur bescheiden umgesetzt wird, sind auch auf allgemein didaktischer Ebene anzusiedeln. Sobald sich angehende Lehrpersonen weniger an ihren eigenen Lehrhandlungen orientieren, sondem das aktive Lemen der Kinder ins Zentrum rUcken, ist ein Schritt in die gewiinschte Richtung getan. Der weiter fiihrende Aufbau konstruktivistisch orientierter Unterrichtskonzeptionen ist an "langerfristige Entwicklungsprozesse gebunden, die erst im Zuge reflektierter Lemerfahrungen Bildungsressourcen freilegen" (Hess 2003, S. 248; vgl. Hess 2004b). Damit sind auch konkrete Erwartungen an die Weiterbildung verbunden.
246 Kurt Hess
4.3 Konsequenzen fUr die Weiterbildung
Die referierte Studie weist einerseits auf die konstruktivistische Einstellung der Lehrpersonen hin und andererseits auf deren dtirftige ~msetzung wahrend der Lembegleitung. Diese Diskrepanz erzeugt bei den Lehrpersonen ein Bediirfnis nach einer Weiterbildung, in der sie ihre ungelosten Fragen stellen durfen. (Derart prasentieren sich viele Lehrpersonen dem Autor, der auch Weiterbildungskurse leitet) Es spielt keine Rolle, ob die Lehrpersonen ihre Fragen auf die Unterrichtsbedingungen, auf die Erweiterung didaktischer Handlungskompetenzen, die multipel zu erfiillenden Rollen oder auf die Unterrichtskultur beziehen: Sie erwarten, dass sie mit ihren singularen Erfahrungen ernst genommen werden und auf ihrem didaktischen Lemweg neue Impulse und erweiterte Reflexionsmoglichkeiten erhalten. Insofem gelten die dargestellten Konsequenzen beziiglich Grundausbildung - Auseinandersetzung mit der eigenen didaktischen Einstellung, Konfrontation mit den singularen Lehr- und Lemerfahrungen, Orientierung am aktiven Lemen und Selbsterfahrungen mit konstruktivistisch orientierten Lehr- und Lemformen - auch fur die Weiterbildung. Erst wenn die Reflexion und die Erweiterung konkreter Erfahrungen durch neue Impulse im Zentrum stehen, bieten abstrakte theoretische Hintergrunde individuelle und empirisch prufbare Zugange. Die Weiterbildung solI also analog der Desiderata zum Anfangsunterricht an bereits gemachten Erfahrungen anknupfen (vgl. Selter 1995). Sie braucht nicht bei "Stunde Null" zu beginnen "und aus einer theoretischen Wolke heraus Botschaften zu verbreiten" (Hess 2003, S. 252).
4.4 Sonderpadagogische Anspriiche
Der dritte Hauptbefund geht aus der Analyse der Lembegleitung schwacherer Rechnerinnen und Rechner hervor: Diese erhalten eher eine Anleitung zur Betriebsamkeit, wohingegen starkere eher Impulse in Richtung eines aktiven und konstruktiven Lemens erhalten. Mogliche Interpretationen fiihren neben den Handlungskompetenzen der Lehrpersonen auch ungiinstige Unterrichtsbedingungen (z.B. Klassengrossen) und simultan zu erfiillende Lehrerrollen an.
Es bleibt festzuhalten, dass die qualitativ unterschiedliche Lembegleitung schwacherer und starkerer Rechner einer ungerechten Verteilung von Bildungschancen entspricht. Es gibt genugend Belege dafiir, dass alle Lemenden - also unabhiingig ihres Lemverhaltens und Leistungsvermogens - von einem aktiven und Verstehen erzeugenden Lemen profitieren. Wenn den Lehrpersonen Verstandnis entgegengebracht wird, dass sie die notwendige Zeit fiir eine konstruktivistisch orientierte Begleitung schwacherer Rechner nicht aufbringen konnen, weil sie neben der Begleitung aller Kinder auch eine Lernkultur aufrecht zu erhalten haben, dann sind die Bedingungen zu hinterfragen. (vgl. Hess 2004a)
Vieles lasst sich uber eine relativ autonome Lem- und Kommunikationskultur in dem Sinne regulieren, dass die Lehrperson einen erweiterten zeitlichen Spielraum fUr die Lembegleitung erhiilt. In integrativen Schulmodellen mit Schulischen Sonderpiidagogen im Unterricht konnen zudem die personellen Ressourcen der Grundschullehrpersonen wesentlich erweitert werden.
Lernbegleitung im Mathematikunterricht 247
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Adresse des Autors
Dr. phil. Kurt Hess Piidagogische Hochschule Zentralschweiz - PHZ Zug Institut fur Bildungsmanagement und Bildungsokonomie Zugerbergstrasse 3 CH-6300 Zug
Manuskripteingang: 30. September 2004 Typoskripteingang: 30. September 2005