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Leander Verlag THIS BOOK IS TOCOTRONIC

Date post: 13-Mar-2016
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Ein Lesebuch!
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www.leander-verlag.de

Leander

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This Book is TocoTronic ein

les

eBuc

h

Leander

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inhalT

Leander – Jena 1996/2013 7es giBT nur cool und uncool und wie man sich fühlT

Jörg aLbrecht 11was wir erinnern, wird wildnis

frank SpiLker 21TocoTronic TexT

Martin beyer 29michael ende, nur du BisT schuld daran

knarf reLLöM 37Jungs, hier kommT der masTerplan! BedienungsanleiTung für TocoTronic

dirk berneMann 41der Tag, an dem ich auszog eine hose zu kaufen, sie anzog, wieder auszog, dann aBer nichT wieder anzog und ein Bisschen mehr ich selBsT wurde (ohne hose)

LarS ruppeL 49neuBaugeBieT

feLix ScharLau und LinuS VoLkMann 53TocoTronic soundpower discovery Tour™ 2016

SebaStian LehMann 57JenseiTs des kanals

Leo LeowaLd 65

der SchorSch Von perSien zu kaMerun 71zu gasT im falschen anzug

petra anderS 77universal

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catharina rüSS 81>kapiTulaTion< wir sind viele

andy StrauSS 87ihre parTy wäre

pauLine füg 91heuTe nichT das meer

xóchiL a. Schütz 97nah am körper des leBens

MeLiSSa hötger 101viel gefühl und keine ahnung

patrick SaLMen 105zeiT & Benzin

JonaS zipf 109man haBe Ja auch noch den hund zu versorgen

thereSa hahL 113auf dem achTen ozean

katze (Marc SchuSter) 119die freiheiT der gesamTheiT.

MathiaS znidarec 123das hoTel, in dem die merkwürdigen Jugendlichen wohnen

MawiL 128wie ich mal Teil einer JugendBewegung wurde

andré herrMann 131aBgesagT

tobiaS graLke 137die füchse im Bau

thorSten heinz 145zwei geschichTen von mir

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naMe/künStLernaMe: Jörg albrecht arbeitet aLS: autor werke: beim anblick des bildes vom wolf; Moon tele Vision (mit Matthias grübel)

1. tocotronic-aLbuM in der eigenen SaMMLung: wir kommen, um uns zu beschweren

foLgendeS Lied eMpfehLe ich beiM LeSen MeineS texteS: neues vom trickser

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Jörg alBrechT

was wir erinnern, wird wildnis

Es ist nicht so leicht, sein Leben in ein Treatment für einen Spielfilm zu verwandeln. Aber irgendwie müssen wir das schaffen, sagt das Eichhörnchen, es sind noch knapp zwei Wochen, das werden wir schaffen! Wo waren wir denn gestern, bevor uns die Videos wieder mal so gekriegt haben, dass wir gar nicht merkten, wie viel Zeit sie uns stahlen? Vor ihnen auf dem Tisch: ein paar Polaroids, auf denen Menschen sitzen, stehen und liegen, die zum Zeitpunkt der Aufnahme dieser Polaroids zehn Jahre jünger waren als jetzt, und doch könnte man denken, sie müssten viel älter sein, doch es sind nicht sie, es sind die Farben, die Farben dieser alten, inzwischen verfallenen Polaroidfilme. Urgeil! sagt der neben dem Eichhörnchen, wie immer mit extrem gedehnten Vokalen. Und die, die den beiden gegenüber sitzt, sagt: Wenn die Dinge so weit weg sind, aber noch nicht weit genug, ist es schwer. Die Frage ist, wollen wir nur eine Geschichte erzählen, also die von dir oder dir oder mir, oder wollen wir, so wie wir es seit Wochen sagen, drei Geschichten auf einmal? Drei! Auf jeden Fall. Auf jeden Fall alle drei, sagen sie und nicken dazu, nicken sich zu. Und das sind sie: Der, der die Vokale dehnt die Trägerin des Fausthandschuhs und das Eichhörnchen.

Die Ausschreibung der Plattenfirma und der Stiftung zur Förderung der Kreativwirtschaft ist sonnenklar: ein Spielfilm, der zum zwanzigsten Jubiläum der Band eine ganz persönliche Geschichte vom Aufwachsen mit diesen Liedern und dem ganzen Drumherum erzählt. Wobei: Drumherum in Anführungszeichen steht. Und das heißt was?: Die befreundeten Bands aus Hamburg und anderen Städten als Drumherum. Die Mode der Band und sehr schnell die der Fans als Drumherum. Die Ausgrenzung durch andere, weil man diese Musik hörte, und gleichzeitig die Freundschaften, die nur durch diese Musik entstanden, als Drumherum. Aber wie erzählen wir das? Wir trafen uns 2007 hier, in dieser Stadt, doch vorher passierte ja schon einiges in den Städten, aus denen wir kamen. Und wem folgt die Kamera am Anfang? Uns allen, ganz demokratisch? Oder nur einem von uns? Wem? Und an welchem Ort? Am naheliegendsten: in der deutschen Provinz, also: Gordon. Recht naheliegend: Wien, also: Leopold, und mit ihm eine Stadt, in der diese Band immer wieder und von Anfang an spielte. Fernliegend: Helsinki, also: Satu, wann war da überhaupt das erste Konzert, oder gab es je eins?

Fünf Seiten haben sie schon, zwanzig ungefähr sollen es werden. Die drei sitzen an einem Tisch, große Filzstifte in der Hand, um die Bruchstücke, an die sie sich erinnern,

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zu visualisieren und herauszufiltern, was sich gut machen könnte in einem Drehbuch. Denn sie wollen es versuchen, wollen versuchen, ihre Geschichte zusammenzufassen, und zwar so, dass in naher Zukunft ein realisierbarer Spielfilm daraus werden kann. Sie wollen versuchen, ihre gemeinsame Geschichte erzählbar zu machen, und unweigerlich werden sie sich dabei selbst verschieben, mit aller Kraft verschieben müssen. Von: Wir haben das und das erlebt zu: Sie haben das und das – Aber wo fängt man an? Es muss doch nicht von vorne nach hinten erzählt werden, sagt Leopold, und ich meine jetzt auch nicht: eine Grundebene und dann ein Dutzend Flashbacks. Wie wärs mit Fehlern?, fragt Satu. Du bist ja immer für Fehler, sagt Gordon und nagt an einer Pekanuss. Ich meine nicht Fehler in der Erzählung, sagt Satu, sondern Verständnisfehler, ich habe in Helsinki diese Platten gehört und oft nur Fetzen verstanden, auch wenn meine Mutter mit mir Deutsch gesprochen hat, seit sie wusste, dass ich in ihrem Körper dabei war zu wachsen. Und Leopold sagt: Obwohl die Texte in meiner Sprache waren, habe ich sie anfangs falsch verstanden, zum Beispiel: Und geh in mein Zimmer / und bin dort ganz schön ich. Statt: und bin dort ganz für mich. Was für ein Irrtum!

Die erste Variante: als kitschig verworfen. Leopolds Vorschlag war es, beim Konzert irgendeiner jüngeren Band zu starten, die in derselben musikalischen Traditionslinie steht und die drei Freunde, die das Konzert besuchen, an die alten Zeiten erinnert, und das als MacGuffin nutzen [ja, Leopold verwendete dieses Wort] für den restlichen Film. Gordons Einwand: Welche jüngere Band würde sich bitte zu einem Filmauftritt hergeben, um nicht mehr als der MacGuffin zu sein? E-Mail-Voranfragen Leopolds an Ja, Panik und Die Heiterkeit blieben im Entwurf stecken oder ohne Antwort. Die zweite Variante: auch verworfen, viel zu detailliert. Ein Treatment, liebes Eichhörnchen, so Satus kleine, abschmetternde Rede, das ist eine vorläufige Struktur für das Drehbuch: grobe Entwicklungslinien, Motivationen, zentrale Fragen, und nicht, was du uns hier vorgelegt hast, ein Roadmovie, bei dem aus einem scheppernden Tapedeck die ganze Zeit Musik der Band läuft, samt Nebenhandlungen und ausladenden Dialogen. Die dritte Variante: zu kompliziert. Satus Faible für Familiengeschichten schlug sich in der Struktur nieder, in der nicht nur drei Hauptfiguren vorkommen sollten, sondern auch deren Eltern, Geschwister, Großeltern, Onkels, Tanten, Cousins und Cousinen, Gasteltern in anderen Ländern, Au-Pair-Mädchen, Tennis-, Fußball- und Leichtathletiktrainer und -mannschaftskollegen, Lehrer, Ausgehbekanntschaften, und so weiter, um so, Zitat Satu, nicht nur aus der Fansicht zu filmen, sondern auch aus der Sicht derer, die jahrelang, ja, jetzt doch fast zwei Jahrzehnte, mit diesem Fantum leben mussten. Okay! Okayokay, das ist zu viel. Nochmal von vorn.

Noch zehn Tage Zeit. Zum Runterkommen oder Reinkommen an den See fahren und dort spazieren. Das Eichhörnchen hält die Hand der Trägerin des Fausthandschuhs. Die Trägerin des Fausthandschuhs, die ihn heute gar nicht trägt, hält die Hand dessen, der die Vokale dehnt. Der, der die Vokale dehnt, hält die Hand des Eichhörnchens. Es geht immer im Kreis. Und aus welcher Perspektive stellen wir den Moment dar, in dem wir uns trafen? Leopolds Sicht: Wie er, mal wieder in die

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falsche Richtung gegangen, von der U-Bahn aus mit Mikroschweißtropfen auf der Stirn an der Halle ankommt, ein Mädchen mit einem Muff ihm entgegenkommt, nein, nicht entgegen, sie wollen beide auf die Treppe, von verschiedenen Seiten, zum Eingang, wo ein Junge mit einem Schild steht: TWO TICKETS FOR YOU?! Satus Sicht: Wie sie die Füße möglichst vorsichtig voreinander setzt, weil sie diese braunen Schuhe mit Absatz noch nicht gut genug kennt, und so achtet sie nur noch auf ihre Füße und die der anderen um sie herum, zum Beispiel die großen Füße eines Mannes, der auf sie zuläuft, als sie an der Halle ankommt, große Füße in schlichten weißen Turnschuhen, und dann ihre eigenen auf den Treppenstufen und dazu die großen Füße, und dann noch andere, kleinere, in schwarzen Halbschuhen, und darüber ein Schild und ein Junge oder Mädchen, nein, Junge, der das Schild hält. Gordons Sicht: Wie er dasteht und noch eine Minute warten will und dann rein, um den Anfang des Konzerts nicht zu verpassen, und wie er noch immer das Schild hält, und wie er nach links guckt und ein Mädchen auf die Halle zulaufen sieht, den Kopf leicht nach unten, hellbraune Haare, lockig, Brille, und wie er nach rechts guckt und einen Jungen sieht, kurze, dunkelblonde Haare, Parka, und wie er wieder nach links und wieder nach rechts sieht und sich fragt, warum man die Augen nicht in je verschiedene Richtungen drehen kann, und wie sie dann sowieso immer weiter auf ihn zukommen, bis beide direkt vor ihm stehen und Gordons Augen, ohne sich noch weiterzubewegen, beide ansehen können, dann seine linke Hand das Schild senkt und seine rechte zwei Karten hebt, die dritte: hinten in der Hosentasche.

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naMe/künStLernaMe: frank Spilker arbeitet aLS: Sänger, gitarrist, autor werke: roman: es interessiert mich nicht, aber das kann ich nicht beweisen (roman); ungefähr zehn Sterne platten. aktuell: die Sterne/für anfänger

1. tocotronic-aLbuM in der eigenen SaMMLung: alle

foLgendeS Lied eMpfehLe ich beiM LeSen MeineS texteS: du bist ganz schön bedient

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frank spilker

TocoTronic TexT

Als ich gegen neun Uhr abends den Laden aufschließe, hat sich schon wieder einiges verändert. Norbert hat etwas bauen lassen. Dieses Mal liegen durchsichtige Plexiglasplatten auf einem hastig errichteten Gerüst aus billigen, ungehobelten Zimmermannslatten. Es wird etwas mehr Raum geschaffen, so dass man auch bei Regen vor der Tür stehen kann. Das Ganze ist sehr schnell, aber mit Bedacht zusammengeschraubt worden. Der Schöpfer dieser Konstruktion hat sorgfältig darauf geachtet, dass keine Nägel oder Ähnliches herausstehen, an denen ein Betrunkener sich verletzen könnte, wenn er nicht aufpasst. Das war sehr umsichtig von ihm, weil das ja eine durchaus typische Eigenschaft von Betrunkenen ist, dass sie nicht aufpassen, und in ein paar Stunden wird es von der Sorte hier sehr viele geben. Den Schlüssel habe ich eben in einem Restaurant für Touristen am Fischmarkt abgeholt. Dort gibt es auch einen Briefkasten, wo man ihn abends  –  also eigentlich eher morgens – nach der Schicht reinschmeißen kann. Auf diese Art spart man sich die Umständlichkeiten, die eine persönliche Übergabe des Schlüssels mit sich bringen würde. Auf dem Weg in den Pudel habe ich das pittoreske Hamburg rechts liegen gelassen. Die Hafenkulisse, die ja eigentlich nichts anderes ist, als eine nachts hübsch beleuchtete gigantische Fabrik, die man aus ausreichender Entfernung als Landschaft wahrnimmt. Da die Geräusche der Entladung und der Schweißarbeiten bei Blohm und Voss, das ganze Elend entfremdeter Arbeit, nur gedämpft herüber dringen, kann man sich unbeschwert an ihr erfreuen.

Es riecht nach altem Rauch und Resten von Bier, noch bevor man die Tür aufmacht. Danach erst recht. Es kostet immer einige Überwindung den Laden zu betreten. Der erfahrene Türaufschließer weiß, dass in dem Moment, in dem man sich an der Tür zu schaffen macht, die Ratten in Scharen von den Futterplätzen zurück in ihre Löcher huschen. Nur dass man sie niemals zu sehen bekommt. Ich bilde mir immer ein, dass ich beim Eintreten den Lufthauch spüre, den ihre Flucht verursacht. Das ist aber natürlich Quatsch. Alles, was man von ihnen mitbekommt, sind Kotreste und angeknabberte Chipstüten. Das Gesundheitsamt lässt sich hier nicht blicken. Es ist vollkommen machtlos. Südlich der Reeperbahn kann man gegen Kakerlaken und Ratten nichts mehr ausrichten. Die Tiere haben gewonnen. Das weiß hier jeder. Der Gestank lässt mich beinahe ohnmächtig werden. Nachdem ich ganz schnell den

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Sicherungskasten aufgerissen und alle Schalter in die »ON«-Position gestellt habe, um vielleicht doch noch den ein oder anderen Nager zu Gesicht zu bekommen, stecke ich mir als erstes eine Zigarette an, um den Geruch zu übertünchen, oder vielleicht auch, weil ich das sowieso immer mache. Die Inneneinrichtung taucht auf. Es ist eine vollkommen unverändert übernommene ehemalige St. Pauli-Stube bürgerlicher Art, aus der man die Sitzmöbel entfernt hat. Das ist ein Markenzeichen der Läden in der Bernhard-Nocht-Straße zu dieser Zeit. Das Soul Kitchen, die Washington Bar, das Baton Rouge und eben der Pudel. Alle sehen ungefähr gleich aus. Es ist eine Form der Aneignung aufgegebener halbseidener St. Pauli Kaschemmen durch die Jugend. An den Wänden sind einige Antikunstwerke vom Flohmarkt und ein paar aus Kegelerbedarfsverbänden zusammengekaufte Bilder aufgehängt. Besucher, die mit den Ritualen dieses urdeutschen »Sports« nicht vertraut sind, erfahren dadurch erst, dass das Pudelwerfen unter Keglern ein fester Begriff ist, der mit Schnapsrunden bestraft wird. Die braunen, in den siebziger Jahren angebrachten Holzpaneele sind mit Tackernadeln überzogen. Mit diesen werden hier traditionell Mitteilungen an den Wänden angebracht. Konzertankündigungen, politische Aktionen, Kunstevents. Der Pudel ist nicht nur ein Schnapsloch, er ist auch ein Ort der Kommunikation. Im Gegensatz zu den Zetteln, die ständig erneuert werden, weil der nächste ehrgeizige Veranstalter sein Plakat dort hängen sehen will, wo Leute es sehen können, werden die Nadeln nie wieder entfernt. So ergibt sich im Lauf der Zeit ein eigenes Kunstwerk, das vor allem die Gefühle der Jugendlichen anspricht, die noch niemals ihr Zimmer aufräumen wollten. Es vermittelt einen Eindruck über die Wurzeln des Punk.

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ich fühle mich so komisch in leTzTer zeiT vielleichT liegT es daran, dassdie sonne scheinT

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naMe/künStLernaMe: dirk bernemann arbeitet aLS: autor werke: ich hab die unschuld kotzen sehen; und wir scheitern immer schöner (kotzen ii); Satt Sauber Sicher; ich bin schizophren und es geht mir allen gut; Vogelstimmen; hoffnung ist betrug (kotzen iii); trisomie so ich dir; asoziales wohnen

1. tocotronic-aLbuM in der eigenen SaMMLung: es ist egal, aber

foLgendeS Lied eMpfehLe ich beiM LeSen MeineS texteS: ich bin viel zu lang mit euch mitgegangen

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dirk Bernemann

der Tag, an dem ich auszog eine hose zu kaufen, sie anzog, wieder auszog, dann aBer nichT wieder anzog und ein Bisschen mehr ich selBsT wurde (ohne hose)» … ich bin viel zu lange mit euch mitgegangen und ich glaub nicht daran, dass ich jetzt nochmal umkehren kann …« tocotronic (1997)

Samstagmorgen. Aufwachen. Noch allein. Da blendet sich wie in einem schlechten Computerspiel von unten eine Mission ein: Du willst heute eine verdammte Hose kaufen! Du weißt, welche Schwierigkeiten entstehen können. Es geht um diesen Prozess des Kaufens und was man dafür alles in Kauf zu nehmen hat. Dieses ganze Gebilde, das sich Konsum nennt und tut, als sei es der Umstand, der alles zusammenhält, also in dieses Gebilde einzudringen, seine Regeln zu akzeptieren und so zu tun, als sei dies alles nur ein Tauschgeschäft, das Geld gegen Hose heißt. Und das soll mir auch noch Spaß machen. Ich verstehe ja, dass das Einkaufen von Dingen als marktwirtschaftliche Erhaltungsmaßnahme dient, aber ein Fest werde ich daraus nie machen können. Ich kaufe nur ein, damit ich eine Hose habe, da ich ohne Hose zu auffällig wäre. Schnell wäre ich etwas Unangepasstes und man würde mich aus dem Verkehr ziehen und beginnen, mir Dinge zu unterstellen, die ich nie gewollt habe. Sie würden mich denunzieren und am Ende wäre ich irgendwas zwischen Terrorist und Triebtäter. Und das alles würde man begründen mit der Ermangelung einer Hose.

Natürlich ist es ätzend, peinlich, kleinlich und irgendwie auch dumm von mir, das alles doof zu finden, aber ohne Hose finden mich alle scheiße und dieses Minimum der Anpassung schulde ich den Leuten. Und die Leute, die ich die Leute nenne, das sind nicht meine Leute. Ich weiß auch gar nicht mehr, wer meine Leute sind, da hat irgend so ein Identitätsverlust stattgefunden. Plötzlich stand ich da, von Leuten umgeben, die nicht mehr meine Leute waren. Manche hatten aufgehört, Musik zu hören, sie machten schon noch das Radio an, aber sie hatten aufgehört, es bewusst zu benutzen. Andere wurden Kleinfamilie oder Selbstverwirklichungstyp, es gab sogar welche, die genau das kombinierten. Einer meiner Leute ist sogar religiös geworden, hat in schwachen Momenten die falschen Bücher gelesen, den falschen Leuten ein wenig zu

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viel Zeit geschenkt und sucht jetzt in irgendeiner Anstalt zwischen Gesprächstherapie und Medikamenten irgendeine Erleuchtung und in diesem Lichtstrahl wahrscheinlich auch den Typen, der er mal gewesen ist.

Als ich vor die Tür trete, ist draußen Tocotronic-Wetter. Tocotronic-Wetter ist dieser Übergang vom Frühling in den Sommer oder vom Herbst in den Winter. Hauptsache irgendein Übergang. Tocotronic-Wetter hat die Angewohnheit, unter 20 Grad Celcius zu haben und irgendwas mit Wind ist auch immer da. Kurz nach oder vor einem Gewitter ist auch immer Tocotronic-Wetter. Ich mag dieses Wetter, weil man nicht weiß, in welche Richtung es tendieren wird. In so einer Wetterphase ist alles möglich. Und die Koexistenz verschiedener Möglichkeiten, die ist es doch, was so ein Leben noch irgendwie interessant machen kann. Wir müssen uns hier nicht entscheiden zwischen Essen und Hungern, sondern zwischen Bio, Fastfood und Feinkost.

Dann gehe ich in das, was die Leute die Stadt nennen. Leute tragen Tüten, Verantwortung, Kinder.

Sie kommen von überall her. Und jetzt sind sie hier und stellen etwas dar. Sie fliegen, bewegen sich behutsam, eilen, gleiten, wischen, hasten, heten, laufen, huschen, rasen, pesen, sausen, schlendern, quellen, tröpfeln, rinnen, sickern, zaudern. Sie schießen heraus, rieseln herum, wuseln umher, branden, fluten, plätschern, flattern, strömen und wandern. Die Innenstadt am Samstagvormittag ist gefüllt von Privatleuten, denen ihre Privatsphäre nichts mehr zu bedeuten scheint. Meinungen werden auf T-Shirts herumgetragen und Unterhosen in 10er-Packs gekauft. Nebenbei werden Sparmenüs für Nahrung gehalten und immer wieder der Blick auf das Handy, immer dieser nervöse Blick auf das Handy, weil sie denken, die Welt ginge unter, ohne dass sie es bemerken würden. Daher wird dauernd der Status der Welt abgefragt – nicht dass sie twittert Ich geh jetzt unter, ihr kleinen süßen Tiergesichter und ihr könnt nichts dagegegen tun, ach ja, die Apokalypse wird heiß, also zieht schon mal die Hose aus! Ja, das wäre mal eine Aussage von der Welt und dann Feuersturm und loder, loder und weg mit der Fußgängerzone, weg mit der Stadt, hinfort mit diesem Staat und dem angrenzenden Universum. Man wünscht sich so etwas, wie man sich als Kind ein Feuerwehrauto gewünscht hat.

Ich treffe mich in der Stadt mit Judith und Simon, damit ich nicht ganz allein bin. Judith und Simon sind nicht wirklich das, was ich Freunde nennen würde, aber sie eignen sich zur Vermeidung von Einsamkeit. Jetzt sitzen sie da rum, sehen einigermaßen nerdig verpennt aus, trinken, wie fast alle hier in diesem Laden Club Mate, wobei mir wieder mal auffällt, dass ich kalten Tee hasse, und Judith redet und Simon nickt und ich weiß nicht, was in ihren Leben so los ist, womit sie ihre Zeit verbringen, wenn ich sie mal nicht sehe, und Judith sagt: »Wichtig bei allen menschlichen Beziehungen ist die richtige Dosis zwischen Nähe und Distanz.« Simon guckt sie ernst an und ich befürchte ja schon fast, hier sind Beziehungsprobleme am Start und sagfrage »Hallo!?«, und glücklicherweise sind die beiden dann raus aus dieser seltsamen Emokiste und widmen sich mir, dem Neudazugekommenen.

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Wir reden Belanglosigkeiten, behaupten Verschiedenes, klären einander auf und dann merke ich, wie ich aggressiv werde, wenn Judith so komisch die Augen verdreht, so auf Mädchen macht und diese Geste als das letzte aller möglichen Argumente zu irgendeinem Thema im Raum stehen lässt und Simon noch versucht, das ganze argumentativ zu durchbrechen, aber scheitert. Und ich merke auch, wie ich ebenso aggressiv werde, wenn Simon seine Argumentation durch wissenschaftliche Statistiken stützt, deren Erscheinungsjahr und Ergebnisse er scheinbar auswendig gelernt hat. Verdammte Studenten. Können nicht verlieren. Und reden, reden, reden. Das Mitteilungsbedürfnis war noch nie so hoch und die Zeit vertickt und vergeht und verrinnt und ich brauche ja noch eine verdammte Hose und müsste dann sagen: »So uninteressant das alles auch ist, so ungern ich jetzt hier mit euch weiter diesen belanglosen Scheiß erörtern mag, ich muss jetzt glücklicherweise los, weil ich eine Hose kaufen will.« Das müsste ich sagen, aber ich sage: »Bis bald mal Freunde, muss los, Hose kaufen.« Wir umarmen uns wie Freunde, die wir nicht sind, Judith und Simon bleiben, ich gehe. Die Musik ist schlecht, die Getränke mies und der Laden trotzdem voll.

Dann durch dieses Getümmel. Gehen. Gehen. Gehen. Ich gehe. Alle gehen. Irgendwie geht es doch.

Und immer nur Gehen. Moderne Menschen, die gehen, sparen bau und sich ihre Hoffnungen fürs Finale auf. Ich gucke mir die Menschen an, die auch alle gehen, gehen, gehen. Emotionen äußern, Meinungen haben, weitergehen, vergessen. Sich Gesichter nicht merken können. Sich Geheimzahlen merken können. Und weitergehen, gehen, gehen. Bewegung ist wichtig und Stillstand nicht erlaubt. Und ich bemerke, dass Gehen anstrengend ist. Und ich bemerke, dass die Moderne auch vor mir keinen Halt macht; warum auch? Immer mit einem Bein in der Zukunft. Und ich bemerke, dass Meinungen äußern manchmal wie zur Mülldeponie fahren ist. Und ich bemerke, dass Emotionen zu äußern die missverstandenste Sprache der Welt sein kann. Und dann steh ich da rum, vor diesem Klamottenladen, und bin irgendwas zwischen Karate-Kid und Charakter-Kid.

Ich betrete dann einen dieser Klamottenläden und der beschallt mich mit bassbetonter Tanzmusik, um sich ein cooles Image zu geben und um mich außerordentlich hart zu nerven. Das ist diese Musik, die zu belanglos ist, um genau hinzuhören und zu laut, um wirklich die Möglichkeit zum Weghören zu haben. Auf Dauer löst das Dummheit aus, denn wer sehr lang mit akustischer Niedertracht beschallt wird, ohne Weggehen zu können, dessen Gehirn wird irgendwann Schaden nehmen. In den Gesichtern der Angestellten und Dauerkunden ist genau dieses Phänomen ablesbar.

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naMe/künStLernaMe: Mawil

arbeite aLS: comiczeichner

werke: wir können ja freunde bleiben; action Sorgenkind

1. tocotronic-aLbuM in der eigenen SaMMLung: digital ist besser

foLgende Lieder eMpfehLe ich beiM LeSen MeineS coMicS: die alten …

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mawil

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naMe/künStLernaMe: Linus Volkmann /felix Scharlau arbeitet aLS: ceos des poprentnermagazins Schinken omi werke: Schinken omi #1 – #3

1. tocotronic-aLbuM in der eigenen SaMMLung: Sind durch irgendeinen gratis-Sampler anfang 2012 auf die band gestoßen. fans der ersten Stunde!

foLgendeS Lied eMpfehLe ich beiM LeSen MeineS texteS: heinz »ich hab mit tocotronic bier getrunken«

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felix scharlau und linus volkmann

TocoTronic soundpower discovery Tour™ 2016

zum geleiT

Liebe Leserin, lieber Leser eines Buchs über Tocotronic! In unserer Funktion als die beiden wichtigsten deutschsprachigen Musikredakteure kommen wir unseren Popstars näher, als jene es sich im Entferntesten vorgestellt hätten. Der Unterschied zum offiziellen Stalker ist lediglich unser Diktiergerät und der laminierte Micky-Maus-Presseclubausweis. So gelang es uns auch immer wieder, die viel bestaunte Band Tocotronic zu interviewen. Ihre Redseligkeit gleicht dabei mehr und mehr einer sich schließenden Wunde. Irgendwann ist eben alles dicht. Im Folgenden wagen wir deshalb einen Ausblick. Wie geht markenverseuchter Musikjournalismus in der Zukunft, wie versteinerter wird diese wunderbare Band noch werden? Los geht’s.

Ein Nachmittag im September 2016. Wolken der Unwissenheit hängen über Hamburg. Wir treffen die vier Männer von Tocotronic™ in der Lobby des Hotels Atlantik™ an der Innen-Alster. Baron Dirk von Lowtzow raucht eine costa-ricanische Zigarre, Arne Zank erledigt ein 9-Felder-Sudoku™ auf seinem Nike-Air-Mac-Book™ , Jan Müller lutscht an einem Stock, Rick McPhail telefoniert mit der Zeitansage.

Hallo, wie geht’s euch?dirk: Ja, wie soll es schon gehen? In dieser Welt ohne Poesie?arne: Danke, gut!Jan: Wo bin ich?rick: Can you leise, bitte? [Ins Telefon] What was the next tone again?

Was denkt ihr eigentlich über den neuen Mazda 3000™?dirk: Gute Frage…

Ja, und?Jan: Unser Pladdn heißt doch ganz anners: »C.O.K.E.«™dirk: Aus meiner Feder floss/der Melancholie letzter Schloss. Nein, streicht das! Das

ist nicht gut! Ich will eure Abschrift auch später durch einen Anwalt abnehmen. Er schickt eine Depesche, wenn die Zeit ist reif.

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…und viele weiTere TexTe

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Leander

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