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Lauten Dem Leben begegnen 1.Teil - Alcorde Verlag · Wie die Schildbürger zu ihrer Dummheit kamen...

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G E L E B T E S S C H I C K S A L

Dem Leben begegnenEin Lesebuch

Erzählungen aus Vergangenheitund Gegenwart

Für den Schulgebrauch herausgegebenvon Helga Lauten

alcordeverlag

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VORWORT

Dieses Lesebuch versammelt Erzählungen aus Vergangenheit und Gegen-wart, die – unabhängig vom allgemeinen Erzählstoff – als dichterischerLesestoff und natürlich auch als Arbeits- und Übungsmaterial im Deutsch-unterricht der beginnenden Mittelstufe an der Waldorfschule eingesetztwerden können.Die kurzen, in sich abgeschlossenen Geschichten – ob schicksalhaft, denk-würdig oder heiter – führen den jungen Menschen Lebenssituationen vorAugen, die sie in ihrem Menschsein berühren, Sinnfragen des Lebens inihnen anregen und so der Heranbildung und Pflege eines persönlichenWertebewusstseins dienen können.Mögen diese Erzählungen zugleich einen Zugang zur Welt der Dichtungeröffnen, deren Anliegen es ja ist, wesentliche Züge des Menschen undseines Daseins in der Welt durch die Sprachkunst in ihrer Bedeutungstiefeauszuloten und sie so im wahrsten Sinne des Wortes zu „ver-dichten“.

Helga LautenEssen, im Herbst 2009

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INHALTSVERZEICHNIS

GELEBTES SCHICKSAL

Siemens, WernerFrüheste Erinnerung 11

Malmberg, BertilDer Schlitten 12

Stifter, AdalbertPech 21

Fallada, HansLieber Hoppelpoppel – wo bist du? 28

Seidel, Ina und Heinrich WolfgangDie Orange 33

Fallada, HansFestessen 39

Guggenmos, JosefDie Andere 42

Carossa, HansDas Wettrennen 46

Schnurre, WolfdietrichVeitel und seine Gäste 51

Mansfield, KatherineDas Puppenhaus 58

Lindgren, AstridWer springt am höchsten? 66

Langour, FritzDie Hornissen 71

Maar, PaulDer doppelte Weihnachtsmann 77

Lenz, SiegfriedSo leicht fängt man keine Katze 81

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DENKWÜRDIGES

Hebel, Johann PeterKannitverstan 89

Volkmann-Leander, Richard vonDie künstliche Orgel 92

Plinius der JüngereDer Delfin (Ep. IX, 33) 94

Volkmann-Leander, Richard vonDer Wunschring 96

Guggenmos, JosefHund und Halunke 100

Vring, Georg von derDer Schwalbenschwanz 102

Tolstoi, LeoDie drei Söhne 106

Hebel, Johann PeterSeltsamer Spazierritt 106

Simrock, KarlDie teuren Eier 108

Hebel, Johann PeterDer kluge Richter 109

Kaschnitz, Marie LuiseDas Wunder 110

HEITERES

Wickram, JörgDie Reise ins Paradies 117

Hebel, Johann PeterSonderbare Wirtszeche 119

Goethe, Johann WolfgangIm Geräms 121

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Hebel, Johann PeterDas Mittagessen im Hof 122

Aurbacher, LudwigDie Rätsel 123

Tetzner, LisaVon einem klugen Alten 126

Lenz, SiegfriedDer Leseteufel 128

Hebel, Johann PeterDie leichteste Todesstrafe 133

Zaunert, PaulDas Gegengeschenk 133

Hebel, Johann PeterDas wohlfeile Mittagessen 135

Waggerl, HeinrichDer Rossheilige 136

Hebel, Johann PeterSuwarow 139

Waggerl, HeinrichDer Schulrat kommt 140

Lenz, SiegfriedSo war es mit dem Zirkus 141

Kästner, ErichWie die Schildbürger zu ihrer Dummheit kamen 146

Kästner, ErichDie Schildbürger bauen ein Rathaus 149

Kästner, ErichDie Lügengeschichten des Freiherrn von Münchhausen 153

Kästner, ErichMünchhausens Jagdgeschichten 154

Kästner, ErichWer war Till Eulenspiegel? 158

Kästner, ErichWie Eulenspiegel auf dem Seil tanzte 160

I N H A LT S V E R Z E I C H N I S

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Kästner, ErichWie Eulenspiegel Eulen und Meerkatzen buk 163

Kästner, ErichDon Quichotte will ein Ritter sein 165

Kästner, ErichDon Quichottes Kampf gegen die Windmühlen 166

ANHANG

Textquellen 171Bildnachweis 175

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Gelebtes Schicksal

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Werner SiemensFRÜHESTE ERINNERUNG

Meine früheste Erinnerung ist eine kleine Heldentat, die sich vielleichtdeswegen meinem Gedächtnisse so fest einprägte, weil sie einen

bleibenden Einfluss auf die Entwicklung meines Charakters ausgeübt hat.Meine Eltern lebten bis zu meinem achten Lebensjahre in meinem Geburts-orte Lenthe bei Hannover, wo mein Vater das einem Herrn von Lenthe ge-hörige „Obergut“ gepachtet hatte. Ich muss etwa fünf Jahre alt gewesensein und spielte eines Tages im Zimmer meines Vaters, als meine drei Jahreältere Schwester Mathilde laut weinend von der Mutter ins Zimmer geführtwurde. Sie sollte ins Pfarrhaus zu ihrer Strickstunde gehen, klagte aber, dassein gefährlicher Gänserich ihr immer den Eintritt in den Pfarrhof wehre undsie schon wiederholt gebissen habe. Sie weigerte sich daher entschieden,trotz allem Zureden der Mutter, ohne Begleitung in ihre Unterrichtsstunde zugehen. Auch meinem Vater gelang es nicht, ihren Sinn zu ändern; da gaber mir seinen Stock, der ansehnlich größer war als ich selbst, und sagte:„Dann soll dich Werner hinbringen, der hoffentlich mehr Courage hat alsdu.“ Mir hat das wohl zuerst etwas bedenklich geschienen, denn meinVater gab mir die Lehre mit auf den Weg: „Wenn der Ganter kommt, sogeh ihm nur mutig entgegen und haue ihn tüchtig mit dem Stock, dannwird er schon fortlaufen!“ Und so geschah es. Als wir das Hoftor öffneten,kam uns richtig der Gänserich mit hoch aufgerichtetem Halse und schreck-lichem Zischen entgegen. Meine Schwester kehrte schreiend um, und ichhatte die größte Lust, ihr zu folgen; doch ich traute dem väterlichen Rateund ging dem Ungeheuer zwar mit geschlossenen Augen, aber tapfer mitdem Stocke um mich schlagend entgegen. Und siehe, jetzt bekam derGänserich Furcht und zog sich laut schnatternd in den Haufen der auchdavonlaufenden Gänse zurück.Es ist merkwürdig, welch tiefen, dauernden Eindruck dieser erste Sieg aufmein kindliches Gemüt gemacht hat. Noch jetzt, nach fast 70 Jahren,stehen alle Personen und Umstände, die mit diesem wichtigen Ereignisseverknüpft waren, mir klar vor Augen. Daran knüpft sich die einzige mirgebliebene Erinnerung an das Aussehen meiner Eltern in ihren jüngeren

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Jahren, und unzählige Male hat mich in späteren schwierigen Lebenslagender Sieg über den Gänserich unbewusst dazu angespornt, drohendenGefahren nicht auszuweichen, sondern sie durch mutiges Entgegentreten zubekämpfen.

Bertil MalmbergDER SCHLITTEN

Das Haus, in dem Ake wohnte, hatte einen schrecklichen Hauswart. Erwar riesengroß, hatte einen langen, gelblichen Bart und böse Augen.

Man konnte sich wirklich vor Bergström fürchten.Er hatte sieben Kinder, sieben kleine Rotznasen, und der jüngste hießLüttjohann.Eines Tages, als Ake mit Paulchen Altin im Sande saß und eine Eisenbahnbaute, schleppte sich Lüttjohann mit einem Korb über den Platz vor demgroßen Haus.„Wo gehst du hin, Lüttjohann?“, erkundigte sich Paulchen.„In die Brauerei.“Während Lüttjohann die Gartentür öffnete, hatte Paulchen einen Einfall.„Komm, wir gehen mit“, sagte er.„Warum denn?“, fragte Ake.„Weil ich was Feines weiß“, versprach Paulchen.Sie standen auf und liefen durch das Gartentor.„So, nun bekommst du Gesellschaft, Lüttjohann“, sagte Paulchen.„Hm“, machte Lüttjohann.„Aber du hast ja keine Mütze“, begann Paulchen. „Eine Mütze musst duhaben, wenn du mit uns gehst.“Und dabei stülpte er dem Kleinen den Korb über den Kopf.Lüttjohann sagte nichts dazu, denn er war gewöhnt, sich mit allerhand ab-zufinden. Paulchen nahm ihn bei der rechten und Ake bei der linken Hand,und so gingen sie die Straße hinauf, drei Knirpse, von denen der kleinsteeinen Korb als Kopfschmuck hatte.Die drei kleinen Burschen bogen in eine Seitenstraße ein, und bald kamensie ins Freie, wo das Land beginnt; denn größer war die Stadt nicht.

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Geradeaus ging die Straße in einen holprigen Weg über, der sich zwischenbunten, wogenden Feldern dahinschlängelte. Rechts zweigte eine richtigeStraße ab, die aber auch nur auf einer Seite mit Häusern besetzt war.„Hier soll ich rechts gehen, hat Bergström gesagt“, sagte Lüttjohann undzeigte die Straße hinunter.„Bist du verrückt?“, entgegnete Paulchen. „Da kommst du nie zurBrauerei.“„Nicht?“, fragte Ake erstaunt.Paulchen legte den Zeigefinger auf den Mund und blinzelte Ake zu zumZeichen, dass er still sein sollte.„Ist doch klar, dass er da nicht hinkommt. Weil er doch geradeaus gehenmuss.“Lüttjohann war unschlüssig.„Ja, aber ... Bergström hat gesagt ...“, wiederholte er.„Du hast dich eben verhört“, beteuerte Paulchen.Ake sah Paulchen verwundert an. Er hatte noch nie erlebt, dass jemand soungeniert log. Einen Augenblick lang dachte er, er müsste Lüttjohann viel-leicht doch sagen, wie es sich wirklich verhielt. Aber er hatte Angst,Paulchen würde ihn dann verachten.Und so schwieg er.Es war nicht schwer, Lüttjohann etwas vorzumachen, denn mit seinem Ver-stand war es nicht weit her, und außerdem war er ja erst vier Jahre alt.„Geht ihr nicht mit?“, fragte er.„Nein, wir müssen umkehren“, antwortete Paulchen. „Aber du brauchstimmer nur geradeaus zu marschieren, in einem fort.“Lüttjohann seufzte, denn der Feldweg dehnte sich unendlich lang vor ihm.Doch er ging ergeben drauflos.Ake und Paulchen blieben noch eine Weile stehen und sahen, wie er aufdem holprigen Pfad fortstolperte, immer noch den Korb auf dem Kopf.Als Lüttjohann nicht mehr zu sehen war, kehrten die beiden um und liefenden Weg zurück, den sie gekommen waren; und sie lachten und lachten.Wie die Wilden galoppierten sie durch das Gartentürchen, warfen sich aufdie Erde und lachten. Ake am meisten. Aber als er nicht mehr lachen konn-te, schlug sein Herz beklommen.Je später es wurde, desto unruhiger wurde Ake. Als er in seinem Bett lag

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und schlafen sollte, konnte er kein Auge zutun. Freilich hoffte er, dassLüttjohann um diese Zeit schon nach Hause gekommen war, aber sicherhatte er kein Bier mitgebracht. Und natürlich hatte er Bergström erzählt, wiesie ihn auf den falschen Weg gelockt hatten. Es lief Ake kalt über den Rü-cken, wenn er an den kommenden Morgen dachte.Plötzlich hörte er Stimmen im Schlafzimmer, der Vater war heimgekommen.„Denk dir“, sagte er zu Akes Mutter, „ich habe unterwegs Bergström ge-troffen. Er ist ganz außer sich.“„Was ist denn passiert?“, fragte die Mutter. „Ist er wieder krank?“„Nein, Lüttjohann ist verloren gegangen. Er hat ihn in der ganzen Stadtvergeblich gesucht. Alle Leute, denen er begegnet ist, hat er gefragt, ob sienicht einen kleinen Stöpsel mit einem großen Korb gesehen hätten. Aberohne Erfolg.“„Hat er sich denn nicht an die Polizei gewandt?“„Das will er nicht. Er will nichts mit der Polizei zu tun haben. Du weißt ja, wieer ist. Ich habe ihm versprochen, mitzugehen und ihm suchen zu helfen.“Ake wurde eiskalt.Es war seltsam: In Wirklichkeit wusste Ake ganz genau, dass es für ihn nureines zu tun gab: ins Schlafzimmer zu laufen und dem Vater alles zu beich-ten. Es gab wirklich keine andere Möglichkeit, das war ganz unverkennbar.Aber er tat es nicht.Stattdessen lag er mäuschenstill.Auch als er hörte, wie der Vater „Auf Wiedersehen“ sagte und wegging,gab er keinen Laut von sich. Er wusste, wie müde der Vater am Abendimmer war, und doch ließ er ihn in die schwarze Nacht hinausgehen auf dieSuche. Ake biss in seine Decke, um nicht laut schluchzen zu müssen. HeuteMorgen hatte sich die Welt so ruhig und klar vor ihm ausgebreitet. Nun waralles anders. Er war ein Schuft geworden.Die Esszimmeruhr hatte noch oft geschlagen, ehe der Vater endlich zurück-kam.„Habt ihr ihn gefunden?“, fragte die Mutter.„Ja“, antwortete der Vater.Ake war immer noch wach. Freilich war er ab und zu ein wenig eingeschlum-mert, aber stets nur für kurze Zeit; und es war ein unruhiger Schlaf gewesen.Lüttjohann war gerettet. Das konnte man von Ake nicht sagen.

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„Erst als wir jeden Hof und jeden einzelnen Garten durchsucht hatten“,erzählte der Vater, „kam ich auf den Gedanken, der Junge könnte vielleichtaufs Land hinausgegangen sein. Und das stimmte. Aber, Himmel! Muss derarme Kerl in der Dunkelheit getrabt sein. Erst nach einer Stunde sind wirauf ein kleines Bündel mitten auf dem Weg gestoßen. Da war der Jungezusammengesackt und schlief, und es war ganz unmöglich, ihn wach zu

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bekommen. Bergström nahm ihn auf den Arm und trug ihn nach Hause.Und denke dir nur, den Korb für das Bier hatte er sich auf den Kopf ge-stülpt.“„Warum denn?“„Ja, wer das wüsste!“Nach einer Weile fragte die Mutter: „Bergström war wohl sehr glücklich?“„Er redet ja nicht viel“, antwortete der Vater, „das ist nicht seine Art. Aberals wir uns trennten, gab er mir doch die Hand und murmelte: Dank für dieHilfe!“Ake vernahm, wie der Vater sich wusch und dann zu Bett ging; bald darauferlosch die Lampe.Doch lange lag Ake mit offenen Augen da und starrte in die Dunkelheit.Der Junge, der am nächsten Morgen in Akes Bett erwachte, war nicht dergewöhnliche Ake, der seine Augen an jedem neuen Tag aufschlug wie voreinem blumengeschmückten Geburtstagstisch mit allerlei schönen Gaben.Heute also würde es geschehen. Wenn Bergström nicht schon wusste, werLüttjohann auf den falschen Weg gelockt hatte, so konnte es bestimmt nichtmehr lange dauern. Lüttjohann würde wohl nicht schweigen.Ake hielt sich den ganzen Tag weit entfernt von der Kellertreppe im entge-gengesetzten Teil des Hauses auf. Da saß er in halber Höhe auf der Leiter, ließdas Hinterteil durchhängen und zog die Knie bis ans Kinn. Zu den Mahlzeitenmusste er freilich hinunter, und dabei dachte er jedes Mal: Jetzt kommt’s.Aber es kam nicht.Das Frühstück ging vorüber, ohne dass sich etwas ereignete, doch als Akesich wieder auf seiner Leiter in Sicherheit befand, war er noch genausounruhig.Am Mittag wird es mich schon erwischen, dachte er.Er schlich zum Mittagessen. – Aber es geschah nichts.Auch das Abendessen ging vorbei, ohne dass das Entsetzliche eintraf. Dadachte Ake: Sicher kommt er, wenn ich im Bett liege, und zieht mir dieDecke herunter.Er sprach sein Abendgebet, und dann wurde die Lampe gelöscht; lange lager wach und horchte auf Schritte draußen vor dem Fenster.Es blieb aber alles still, und so schlief er ein, ganz erschöpft von seinerUnruhe.

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Als er zu einem neuen Tag erwachte, war er noch immer von der gleichenAngst erfüllt.Aber das Entsetzliche ließ auf sich warten.Es kam heute nicht, es kam morgen nicht, und in der ganzen folgendenWoche kam es auch nicht. Schnee fiel, und es wurde Winter, und bunteVögel pickten in dem Futterhäuschen am Fensterbrett. Aber es kam nicht.Und nach und nach ließ Akes Angst nach, und er dachte immer seltener anseine böse Tat. Nur hie und da noch überraschte er sich selber dabei, dasser nicht so recht glücklich war.Eines Tages saß Ake in Vaters Arbeitszimmer auf dem Fußboden, währenddie Eltern ihren Nachmittagskaffee tranken. Er hatte den Papierkorb ausge-leert, denn er suchte etwas.Plötzlich klingelte es an der Korridortür.Nach einer Weile kam Elin herein und sagte, Bergström sei draußen undwolle den Herrn Doktor sprechen.Ake fühlte, wie sein Gesicht brennend rot wurde, aber in der nächsten Se-kunde war ihm, als ob alles Blut in die Zehen strömte und sein Herz zuschlagen aufhörte.Der Vater erhob sich und ging auf den Flur.„Was ist denn mit dir?“, fragte Akes Mutter. „Du bist so blass. Ist dirschlecht?“„Nein“, antwortete Ake leise.Er drehte sich um, damit die Mutter sein Gesicht nicht sehen konnte.Es war ein entsetzliches Warten. Endlich wurde die Flurtür geöffnet, und derVater ging mit Bergström ins Treppenhaus, dann konnte er ihre Stimmennicht mehr hören. Deshalb hatte also Bergström seine Wut so lange mit sichherumgetragen, um erst zuzuschlagen, wenn Ake sich sicher fühlte.Plötzlich ging die Tür auf, und der Vater stand auf der Schwelle.„Komm mal mit, Ake!“, sagte er. „Aber beeil dich!“Ake stand vom Boden auf. Die Knie zitterten ihm, und er klapperte mit denZähnen.Neben der Flurtür stand irgendetwas auf Kufen. Es schien ein ganz neuer,noch unlackierter Schlitten zu sein.„Siehst du etwas?“, fragte der Vater.„Ja“, antwortete Ake.

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„Was siehst du?“„Bergström“, flüsterte Ake.„Du bist doch ein kleiner Dummkopf“, sagte der Vater. „Siehst du denn denSchlitten nicht? Den hat Bergström für dich gezimmert. Nun bedank dichauch schön!“Ake rührte sich nicht vom Fleck. Er begriff nichts.„Hast du nicht gehört?“, fragte der Vater. „Du sollst die Hand geben unddanke schön sagen.“„Kein Dank nötig!“, sprach Bergström dazwischen. Er setzte die Mützeauf, die er in der Hand gehalten hatte. „Was ich getan habe, war nur demHerrn Doktor zuliebe – aus keinem anderen Grunde.“Und damit ging er.Der Vater und Ake blieben stehen, und der Vater fragte: „Warum hast dudich nicht bei Bergström bedankt? Freust du dich nicht?“Ake schwieg.„So lange hast du dir einen Schlitten gewünscht, und nun hast du einen.“Der Vater legte die Hand auf Akes Kopf und sah ihm ins Gesicht, aber Akeschlug die Augen nieder.„Du siehst aus, als wenn dir etwas ganz Trauriges geschehen wäre. – Aberjetzt geh und zieh dich an, sonst wird’s zu spät, und du kannst den Schlittennicht mehr ausprobieren.“In diesem Augenblick riss Ake sich los und stürzte, wie er ging und stand,ohne Mütze und Mantel zur Haustür hinaus. Der Vater sah ihn das Gartentoraufreißen und die Straße hinauf verschwinden.Ake lief und lief.Er wusste weder warum noch wohin. Er bog um eine Ecke undgeriet auf den Feldweg, auf dem Lüttjohann damals davongetrabtwar. Vielleicht trieb ihn ein unbestimmtes Gefühl, dass jemand hinterihm her wäre und ihn zwingen wollte, mit dem neuen Schlitten zufahren. Aber er dachte nicht daran. Als er endlich nicht mehr laufenkonnte, warf er sich keuchend in eine Schneewehe und weinte jammer-voll.Als Ake von seinem Dauerlauf nach Hause gekommen war, aß er schwei-gend seinen Abendbrei und war froh, dass niemand ihn nach dem Grundseines seltsamen Verhaltens fragte.

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Die Zeit verging ...Ake war oft draußen mit seinem alten, wackligen Rodelschlitten, doch denneuen Rennschlitten rührte er nicht an. Er hatte ihn auf den Speicher ge-stellt und ging in weitem Bogen um ihn herum. Er wich ihm genauso sorg-fältig aus wie dem Hauswart Bergström.Eines stand wohl fest: Lüttjohann hatte nichts erzählt.Das Merkwürdige war nur, dass ihn das nicht erleichterte. Im Gegenteil.Ake war beinahe noch schlimmer zumute als während der Zeit, da er vorBergströms Wut gezittert hatte. Die Eltern bemerkten, dass er mitunter ganzstill dasaß, ohne zu spielen, und erst nach einem tiefen Seufzer schließlichseine Beschäftigung wieder aufnahm.Ake wurde immer stiller und verschlossener, auch gegen seine Eltern. Under war launisch geworden. Bald war er fügsam wie ein Lamm, bald wiederkonnte er plötzlich störrisch sein wie ein Ziegenbock.Eines Tages hatte er sich eine Höhle aus Schnee gebaut, nicht größer, alsdass er gerade zusammengekauert darin sitzen konnte. Und während er sowie ein kleiner, verlassener Eskimo hockte und aus seiner Grotte heraussah,wurde plötzlich der Höhleneingang von zwei langen Beinen verdunkelt, under hörte eine polternde Stimme:„Aha, da drinnen sitzt du also, anstatt Schlitten zu fahren!“Ake gab keine Antwort, er hielt den Atem an.„Komm heraus, ich habe ein Wort mit dir zu reden“, gebot die Stimme.Aber Ake dachte, jetzt gelte es nur, ganz still zu sitzen.„Heraus mit dir! Oder ich reiße dir die Höhle ein.“Ake rührte sich nicht.Da streckte sich ein langer Arm in die Grube hinein und ergriff den Jungenam Bein, und im nächsten Augenblick hatte er Ake an die Luft gesetzt. Dergefürchtete Bergström stand vor dem schreckerstarrten Ake und kaute mitden langen, schwarzen Zähnen auf seinem gelblichen Bart.„Warum exmierst du den Schlitten nicht? Geht er vielleicht nicht? Wie?“,brummte er.„Doch“, antwortete Ake. Er sah sich vorsichtig nach einer Möglichkeit zurFlucht um.„Und warum exmierst du ihn dann nicht?“Was?“, fragte Ake. Er verstand Bergströms seltsamen Ausdruck nicht.

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„Hab dich nicht so! Warum fährst du nicht mit dem Schlitten? Warum stehter die ganze Zeit auf dem Speicher? He?“„Damit er nicht nass wird“, sagte Ake.„Aber so sag mir doch zum Henker, was an dem Schlitten fehlt.“„Nichts fehlt daran“, beteuerte Ake.„Donnerwetter, bist du störrisch!“Jetzt geriet Ake außer sich. „Ich will ihn nicht haben“, schrie er tränener-stickt. „Ich will ihn nicht haben. Ich will ihn nicht haben.“Bergström stand einen Augenblick starr und fand keine Worte; er ließ Akelos. Endlich schimpfte er:„Das ist mir ein eingebildetes Teufelspack!“Ake starrte auf ein ausgerissenes Knopfloch an Bergströms Jacke. Plötzlichkam es wie eine Eingebung über ihn. Er wollte nun alles sagen.„Ich will ihn nicht haben, weil ich Lüttjohann mit auf den falschen Weggebracht habe“, erklärte er laut und deutlich.Er richtete seine Augen unverwandt auf Bergström, beinahe trotzig underwartete, dass er im nächsten Augenblick erschlagen im Schnee liegenwürde; es war nicht anders möglich.Aber seltsam, es sah so aus, als ob Bergström mit der Antwort zufriedenwäre. Er holte tief Atem. Dann spuckte er aus.„Das habe ich doch die ganze Zeit gewusst. Glaubst du, Lüttjohann hatkeinen Mund zum Reden?“Ake war es mit einem Mal leicht ums Herz geworden. Es kam ihm vor, als obwochenlang ein Pfropfen in seinem Hals gesteckt hätte; nun war er ihn los.„Du möchtest wohl gerne wissen, warum ich dir den Schlitten gemachthabe, obwohl du bei einem solchen Streich mitgespielt hast? Das will ich dirsagen.“ Bergström hob den Kopf mit den geröteten Augen, in denen dasWeiße glänzte, und sah über Ake hinweg mit einem beinahe träumerischenAusdruck.„Dass Jungens Lausekerle sind, weiß ich, solange ich denken kann; das istnichts Neues für mich. Aber dass ein besserer Herr mitten in der kohl-schwarzen Nacht mit einem armen Teufel hinausgeht, um den sich sonstkein Mensch kümmert, um seinen Rotzbuben suchen zu helfen, das ist fürmich etwas Neues gewesen. Und deshalb hast du den Schlitten bekom-men, obwohl du Prügel verdient hättest.“

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Der Hauswart drehte sich um und ging zur Kellertreppe. Und zum ersten Malbemerkte Ake, wie müde er von hinten aussah und wie schwer seine Schrittewaren. Dann sah er ihn langsam in seinem Kellerloch verschwinden.Er selbst blieb noch lange auf dem gleichen Fleck stehen und scharrte mitdem Fuß im Schnee. Er sann und sann. Dann lief er zu seinem Vater hinein.Und dort beichtete er zum zweiten Male die böse Tat, die er so lange ver-schwiegen hatte.Aber abends rodelte er mit dem neuen Schlitten am Schulhügel.Heute kostete es fünfundzwanzig Öre, davon sollte ein Unterseeboot ge-kauft werden.Ake meinte, es müssten viele Unterseeboote werden, so schwarz war esvon Menschen. Es wimmelte von großen und kleinen Schlitten, Rennschlit-ten und Flachschlitten, die so schwer waren, dass man sie von Pferden hin-aufziehen lassen musste. Hinter einer Schneewehe wurde Grog gekocht.Und alles schrie und juchzte und rief: „Achtung!“ und die Kufen kreischten.Damen und Herren, Jungen und Mädchen waren da, und auf beiden Seitender Abfahrt standen Leuchtpfannen, deren wilde Flammen gleich großenFahnen über dem weißen Schnee und dem schwarzen Gewimmel flatter-ten. Oben auf dem Hügel spielte eine Militärkapelle.

Adalbert StifterPECH

Vor meinem väterlichen Geburtshause, dicht neben der Einfahrt indasselbe, liegt ein großer, achteckiger Stein von der Gestalt eines sehr

in die Länge gezogenen Würfels. Der Stein ist sehr alt. Im Sommer saß ger-ne am Abend der Großvater auf dem Steine und rauchte sein Pfeifchen. Ichsaß gerne im ersten Frühling dort, wenn die müder werdenden Sonnenstrah-len die erste Wärme an der Wand des Hauses erzeugten.Unter den Dingen, die ich von dem Steine aus sah, war öfter auch ein Mannvon seltsamer Art. Er kam zuweilen auf der Hossenreuther Straße mit einemglänzenden, schwarzen Schubkarren heraufgefahren. Auf dem Schubkarrenhatte er ein glänzendes, schwarzes Fässchen. Seine Kleider waren zwar

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vom Anfange an nicht schwarz gewesen, allein sie waren mit der Zeit sehrdunkel geworden und glänzten ebenfalls. Wenn die Sonne auf ihn schien,so sah er aus, als wäre er mit Öl eingeschmiert worden. Er hatte einen brei-ten Hut auf dem Haupte, unter dem die langen Haare auf den Nacken hin-abwallten. Er hatte ein braunes Angesicht, freundliche Augen, und seineHaare hatten bereits die gelblich weiße Farbe, die sie bei Leuten untererStände, die hart arbeiten müssen, gerne bekommen. In der Nähe der Häu-ser schrie er gewöhnlich etwas, was ich nicht verstand. Infolge dieses Schrei-ens kamen unsere Nachbarn aus ihren Häusern heraus, hatten Gefäße in derHand, die meistens schwarze, hölzerne Kannen waren, und begaben sichauf unsere Gasse. Während dies geschah, war der Mann vollends nähergekommen und schob seinen Schubkarren auf unsere Gasse herzu. Da hielter stille, drehte den Hahn in dem Zapfen seines Fasses und ließ einem je-den, der unterhielt, eine braune, zähe Flüssigkeit in sein Gefäß rinnen, dieich recht gut als Wagenschmiere erkannte, und wofür sie ihm eine AnzahlKreuzer oder Groschen gaben. Wenn alles vorüber war und die Nachbarnsich mit ihrem Kauf entfernt hatten, richtete er sein Fass wieder zusammen,strich alles gut hinein, was hervorgequollen war, und fuhr weiter. Ich war beidem Vorfalle schier alle Male zugegen; denn wenn ich auch eben nicht aufder Gasse war, da der Mann kam, so hörte ich doch so gut wie die Nach-barn sein Schreien und war gewiss eher auf dem Platze als alle andern.Eines Tages, da die Lenzsonne sehr freundlich schien und alle Menschenheiter und schelmisch machte, sah ich ihn wieder die Hossenreuther Straßeherauffahren. Er schrie in der Nähe der Häuser seinen gewöhnlichen Ge-sang, die Nachbarn kamen herbei, er gab ihnen ihren Bedarf, und sie ent-fernten sich. Als dieses geschehen war, brachte er sein Fass wie zu sonsti-gen Zeiten in Ordnung. Zum Hineinstreichen dessen, was sich etwa an demHahne oder durch das Lockern des Zapfens an den untern Fassdauben an-gesammelt hatte, hatte er einen langen, schmalen, flachen Löffel mit kur-zem Stiele. Er nahm mit dem Löffel geschickt jedes Restchen Flüssigkeit,das sich in einer Fuge oder in einem Winkel versteckt hatte, heraus undstrich es bei den scharfen Rändern des Spundloches hinein. Ich saß, da erdies alles tat, auf dem Steine und sah ihm zu. Aus Zufall hatte ich bloßeFüße, wie es öfter geschah, und hatte Höschen an, die mit der Zeit zu kurzgeworden waren. Plötzlich sah er von seiner Arbeit zu mir herzu und sagte:

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„Willst du die Füße eingeschmiert haben?“ Ich hatte den Mann stets füreine große Merkwürdigkeit gehalten, fühlte mich durch seine Vertraulich-keit geehrt und hielt beide Füße hin. Er fuhr mit seinem Löffel in das Spund-loch, langte damit herzu und tat einen langsamen Strich auf jeden der bei-den Füße. Die Flüssigkeit breitete sich schön auf der Haut aus, hatte eineaußerordentlich klare, goldbraune Farbe und sandte die angenehmen Harz-düfte zu mir empor. Sie zog sich ihrer Natur nach allmählich um die Run-dung meiner Füße herum und an ihnen hinab. Der Mann fuhr indessen inseinem Geschäfte fort, er hatte ein paar Male lächelnd auf mich her-geblickt, dann steckte er seinen Löffel in eine Scheide neben das Fass,schlug oben das Spundloch zu, nahm die Tragbänder des Schubkarrens aufsich, hob Letzteren empor und fuhr damit davon. Da ich nun allein war undein zwar halb angenehmes, dessen ungeachtet aber auch nicht ganz beru-higtes Gefühl hatte, wollte ich mich doch auch der Mutter zeigen. Mit vor-sichtig in die Höhe gehaltenen Höschen ging ich in die Stube hinein. Es wareben Samstag, und an jedem Samstage musste die Stube sehr schön gewa-schen und gescheuert werden, was auch heute am Morgen geschehen war,so wie der Wagenschmiermann gerne an Samstagen kam, um am Sonnta-ge dazubleiben und in die Kirche zu gehen. Die gut ausgelaugte und wie-der getrocknete Holzfaser des Fußbodens nahm die Wagenschmiere meinerFüße sehr begierig auf, so dass hinter jedem meiner Tritte eine starke Tappeauf dem Boden blieb. Die Mutter saß eben, da ich hereinkam, an demFenstertische vorne und nähte. Da sie mich so kommen und vorwärts-schreiten sah, sprang sie auf. Sie blieb einen Augenblick in der Schwebe,entweder weil sie mich so bewunderte, oder weil sie sich nach einemWerkzeuge umsah, mich zu empfangen. Endlich aber rief sie: „Was hatdenn dieser heillose, eingefleischte Sohn heute für Dinge an sich?“Und damit ich nicht noch weiter vorwärtsginge, eilte sie mir entgegen, hobmich empor und trug mich, meines Schreckes und ihrer Schürze nicht ach-tend, in das Vorhaus hinaus. Dort ließ sie mich nieder, nahm unter derBodenstiege, wohin wir, weil es an einem andern Orte nicht erlaubt war,alle nach Hause gebrachten Ruten und Zweige legen mussten, und wo ichselber in den letzten Tagen eine große Menge dieser Dinge angesammelthatte, heraus, was sie nur immer erwischen konnte, und schlug damit solange und so heftig gegen meine Füße, bis das ganze Laubwerk der Ruten,

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meine Höschen, ihre Schürze, die Steine des Fußbodens und die Umgebungvoll Pech waren. Dann ließ sie mich los und ging wieder in die Stube hinein.Ich war, obwohl es mir schon von Anfange an bei der Sache immer nicht soganz vollkommen geheuer gewesen war, doch über diese fürchterlicheWendung der Dinge, und weil ich mit meiner teuersten Verwandten dieserErde in dieses Zerwürfnis geraten war, gleichsam vernichtet. In dem Vor-hause befindet sich in einer Ecke ein großer Steinwürfel, der den Zweckhat, dass auf ihm das Garn zu den Hausweben mit einem hölzernen Schlä-gel geklopft wird. Auf diesen Stein wankte ich zu und ließ mich auf ihnnieder. Ich konnte nicht einmal weinen, das Herz war mir gepresst, und dieKehle wie mit Schnüren zugeschnürt. Drinnen hörte ich die Mutter und dieMagd beratschlagen, was zu tun sei, und fürchtete, dass, wenn die Pech-spuren nicht weggingen, sie wieder herauskommen und mich weiter züch-tigen würden.In diesem Augenblicke ging der Großvater bei der hintern Tür, die zu demBrunnen und auf die Gartenwiese führt, herein und ging gegen mich hervor.Er war immer der Gütige gewesen und hatte, wenn was immer für einUnglück gegen uns Kinder hereingebrochen war, nie nach dem Schuldigengefragt, sondern nur stets geholfen. Da er nun zu dem Platze, auf dem ichsaß, hervorgekommen war, blieb er stehen und sah mich an. Als er denZustand, in welchem ich mich befand, begriffen hatte, fragte er, was esdenn gegeben habe, und wie es mit mir so geworden sei. Ich wollte michnun erleichtern, allein ich konnte auch jetzt wieder nichts erzählen, dennnun brachen bei dem Anblicke seiner gütigen und wohlmeinenden Augenalle Tränen, die früher nicht hervorzukommen vermocht hatten, mit Gewaltheraus und rannen in Strömen herab, so dass ich vor Weinen und Schluch-zen nur gebrochene und verstümmelte Laute hervorbringen und nichts tunkonnte, als die Füßchen emporheben, auf denen jetzt auch aus dem Pechenoch das hässliche Rot der Züchtigung hervorsah. Er aber lächelte und sag-te: „So komme nur her zu mir, komme mit mir.“Bei diesen Worten nahm er mich bei der Hand, zog mich sanft von demSteine herab und führte mich, der ich ihm vor Ergriffenheit kaum folgenkonnte, durch die Länge des Vorhauses zurück und in den Hof hinaus.In dem Hofe ist ein breiter, mit Steinen gepflasterter Gang, der rings anden Bauwerken herumläuft. Auf diesem Gange stehen unter dem Überdach

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des Hauses gewöhnlich einige Schemel oder derlei Dinge, die dazudienen, dass sich die Mägde beim Hecheln des Flachses oder anderen,ähnlichen Arbeiten darauf niedersetzen können, um vor dem Unwetter

geschützt zu sein. Zu einem solchen Schemel führte er mich hinzu undsagte: „Setze dich da nieder und warte ein wenig, ich werde gleich wieder-kommen.“Mit diesen Worten ging er in das Haus, und nachdem ich ein Weilchengewartet hatte, kam er wieder heraus, indem er eine große, grünglasierteSchüssel, einen Topf mit Wasser und Seife und Tücher in den Händen trug.Diese Dinge stellte er neben mir auf das Steinpflaster nieder, zog mir, derich auf dem Schemel saß, meine Höschen aus, warf sie seitwärts, gosswarmes Wasser in die Schüssel, stellte meine Füße hinein und wusch sie solange mit Seife und Wasser, bis ein großer, weiß- und braungefleckterSchaumberg auf der Schüssel stand, die Wagenschmiere, weil sie nochfrisch war, ganz weggegangen und keine Spur mehr von Pech auf der Hautzu erblicken war. Dann trocknete er mit den Tüchern die Füße ab und frag-te: „Ist es nun gut?“

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Ich lachte fast unter Tränen, ein Stein nach dem andern war mir währenddes Waschens von dem Herzen gefallen, und waren die Tränen schon lindergeflossen, so drangen sie jetzt nur noch einzeln aus den Augen hervor. Erholte mir nun auch andere Höschen und zog sie mir an. Dann nahm er dastrocken gebliebene Ende der Tücher, wischte mir damit das verweinte An-gesicht ab und sagte: „Nun gehe da über den Hof bei dem großen Ein-fahrtstore auf die Gasse hinaus, dass dich niemand sehe, und dass du nie-manden in die Hände fallest. Auf der Gasse warte auf mich, ich werde dirandere Kleider bringen und mich auch ein wenig umkleiden. Ich gehe heu-te in das Dorf Melm, da darfst du mitgehen, und da wirst du mir erzählen,wie sich dein Unglück ereignet hat, und wie du in diese Wagenschmiere ge-raten bist. Die Sachen lassen wir da liegen, es wird sie schon jemand hin-wegräumen.“Mit diesen Worten schob er mich gegen den Hof und ging in das Haus zu-rück. Ich schritt leise über den Hof und eilte bei dem Einfahrtstore hinaus.Auf der Gasse ging ich sehr weit von dem großen Steine und von der Haus-tür weg, damit ich sicher wäre, und stellte mich auf eine Stelle, von welcherich von ferne in die Haustür hineinsehen konnte. Ich sah, dass auf dem Plat-ze, auf welchem ich gezüchtigt worden war, zwei Mägde beschäftigt wa-ren, welche auf dem Boden knieten und mit den Händen auf ihm hin undher fuhren. Wahrscheinlich waren sie bemüht, die Pechspuren, die vonmeiner Züchtigung entstanden waren, wegzubringen. Die Hausschwalbeflog kreischend bei der Tür aus und ein, weil heute unter ihrem Neste im-mer Störung war, erst durch meine Züchtigung, und nun durch die arbeiten-den Mägde. An der äußersten Grenze unserer Gasse, sehr weit von derHaustür entfernt, wo der kleine Hügel, auf dem unser Haus steht, schongegen die vorbeigehende Straße abzufallen beginnt, lagen einige ausgehau-ene Stämme, die zu einem Baue oder zu einem anderen ähnlichen Werkebestimmt waren. Auf diese setzte ich mich nieder und wartete. Endlich kamder Großvater heraus. Er hatte seinen breiten Hut auf dem Haupte, hatteeinen langen Rock an, den er gerne an Sonntagen nahm, und trug seinenStock in der Hand. In der andern hatte er aber auch mein blau gestreiftesJäckchen, weiße Strümpfe, schwarze Schnürstiefelchen und mein grauesFilzhütchen. Das alles half er mir anziehen und sagte: „So, jetzt gehenwir.“ Wir gingen auf dem schmalen Fußwege durch das Grün unsers Hügels

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auf die Straße hinab und gingen auf der Straße fort, erst durch die Häuserder Nachbarn, auf denen die Frühlingssonne lag, und von denen die Leuteuns grüßten, und dann in das Freie hinaus. Dort streckte sich ein weitesFeld und schöner, grüner Rasen vor uns hin, und heller, freundlicher Sonnen-schein breitete sich über alle Dinge der Welt. Wir gingen auf einem weißenWege zwischen dem grünen Rasen dahin. Mein Schmerz und mein Kum-mer war schon beinahe verschwunden, ich wusste, dass ein guter Ausgangnicht fehlen konnte, da der Großvater sich der Sache annahm und michbeschützte; die freie Luft und die scheinende Sonne übten einen beruhigen-den Einfluss, und ich empfand das Jäckchen sehr angenehm auf meinenSchultern und die Stiefelchen an den Füßen, und die Luft floss sanft durchmeine Haare.Als wir eine Weile auf der Wiese gegangen waren, wie wir gewöhnlich gin-gen, wenn er mich mitnahm, nämlich, dass er seine großen Schritte milder-te, aber noch immer große Schritte machte, und ich teilweise neben ihmtrippeln musste, sagte der Großvater: „Nun sage mir doch auch einmal, wiees denn geschehen ist, dass du mit so vieler Wagenschmiere zusammenge-raten bist, dass nicht nur deine ganzen Höschen voll Pech sind, dass deineFüße voll waren, dass ein Pechfleck in dem Vorhause ist, mit Pech besudelteRuten herumliegen, sondern dass auch im ganzen Hause, wo man nur im-mer hin kommt, Flecken von Wagenschmiere anzutreffen sind. Ich habedeiner Mutter schon gesagt, dass du mit mir gehest, du darfst nicht mehrbesorgt sein, es wird dich keine Strafe mehr treffen.“Ich erzählte ihm nun, wie ich auf dem Steine gesessen sei, wie der Wagen-schmiermann gekommen sei, wie er mich gefragt habe, ob ich meine Füßeeingeschmiert haben wolle, wie ich sie ihm hingehalten und wie er auf je-den einen Strich getan habe, wie ich in die Stube gegangen sei, um michder Mutter zu zeigen, wie sie aufgesprungen sei, wie sie mich genommen,in das Vorhaus getragen, mich mit meinen eigenen Ruten gezüchtiget habe,und wie ich darnach auf dem Steine sitzen geblieben sei.„Du bist ein kleines Närrlein“, sagte Großvater, „und der alte Andreas istein arger Schalk, er hat immer solche Streiche ausgeführt und wird jetztheimlich und wiederholt bei sich lachen, dass er den Einfall gehabt hat.Dieser Hergang bessert deine Sache sehr. Aber siehst du, auch der alteAndreas, so übel wir seine Sache ansehen mögen, ist nicht so schuldig, als

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wir andern uns denken; denn woher soll denn der alte Andreas wissen, dassdie Wagenschmiere für die Leute eine so schreckende Sache ist und dasssie in einem Hause eine solche Unordnung anrichten kann; denn für ihn istsie eine Ware, mit der er immer umgeht, die ihm seine Nahrung gibt, die erliebt, und die er sich immer frisch holt, wenn sie ihm ausgeht. Und wie soller von gewaschenen Fußböden etwas wissen, da er jahraus, jahrein, beiRegen und Sonnenschein mit seinem Fasse auf der Straße ist, bei der Nachtoder an Feiertagen in einer Scheune schläft und an seinen Kleidern Heuund Halme kleben hat. Aber auch deine Mutter hat Recht; sie musste glau-ben, dass du dir leichtsinnigerweise die Füße selber mit so viel Wagen-schmiere beschmiert habest und dass du in die Stube gegangen seist, denschönen Boden zu besudeln. Aber lasse ihr nur Zeit, sie wird schon zur Ein-sicht kommen, sie wird alles verstehen, und alles wird gut werden. Wennwir dort auf jene Höhe hinaufgelangen, von der wir weit herumsehen, wer-de ich dir eine Geschichte von solchen Pechmännern erzählen, wie der alteAndreas ist, die sich lange vorher zugetragen hat, ehe du geboren wurdest,und ehe ich geboren wurde, und aus der du ersehen wirst, welche wunder-baren Schicksale die Menschen auf der Welt des lieben Gottes haben kön-nen. Und wenn du stark genug bist und gehen kannst, so lasse ich dich inder nächsten Woche nach Spitzenberg und in die Hirschberge mitgehen,und da wirst du am Wege im Fichtengrunde eine solche Brennerei sehen,wo sie die Wagenschmiere machen, wo sich der alte Andreas seinen Vorratimmer holt, und wo alles, und wo also das Pech her ist, womit dir heute dieFüße eingeschmiert worden sind.“„Ja, Großvater“, sagte ich, „ich werde recht stark sein.“

Hans Fallada*LIEBER HOPPELPOPPEL – WO BIST DU?

Es war einmal ein kleiner Junge, der hieß Thomas. Dem hatten seineGroßeltern zum ersten Weihnachtsfest einen kleinen Hund aus schwar-

zem Plüsch geschenkt mit Hängeohren und frechen braunen Augen, eineArt Dackeltier, aber auf Rädern. Und da die Achsen dieser Räder nicht imMittelpunkt saßen, sondern seitlich, hoppelte und wogte das schwarze Stoff-

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geschöpf auf und nieder, als haste es wild und über alle Kraft imaginärenHasen nach. Darum taufte der Vater den Hund „Hoppelpoppel“, und alsThomas etwas älter geworden war und sprechen konnte, genehmigte aucher diesen Namen. Er liebte den Hund sehr, immer mußte er bei ihm sein,auch im Schlaf durfte er ihn nicht verlassen, und er wachte sehr genaudarüber, daß die Eltern nicht nur ihrem Sohn, sondern auch dem Hoppelpop-pel gute Nacht sagten. Es war eben eine richtige Liebe.Nun geschah es, daß Toms Eltern an einen neuen Wohnsitz verzogen, weit,weit weg. Der kleine Thomas blieb während der Umzugstage bei der gutenTante Kunjä und mit ihm natürlich Hoppelpoppel – wie hätte Tom sonst beiTante Kunjä schlafen können?Nach einer Weile war es dann so weit: Tante Kunjä fuhr mit Tom und demHund nach dem neuen Häuserchen. Auf dem Bahnhof erwartete sie der Va-ter, und der kleine Tom war so selig und verlegen über dies Wiedersehen,daß er schnurstracks seinen Kopf durch des Vaters Beine steckte und so denabfahrenden Zug betrachtete.Dann gingen die drei Hand in Hand durch den Wald zur Mummi ins neueHäuserchen, und da kam plötzlich ein Augenblick, da Tante Kunjä an-gedonnert stehen blieb. „O Gott, habe ich nun doch den Hoppelpoppel inder Bahn liegengelassen!“Der Vater machte rasch eine Kopfbewegung und sagte: „Still! Still! Hier hatder Herr so viel neue Eindrücke, daß er ihn einfach vergißt.“Tom sagte noch gar nichts. Er marschierte stramm auf seinen Beinchenzwischen den beiden Großen und sah die herrlich hohen Bäume mit denPieksenadeln an. Dann kam ein Zwinger mit einem Hund, und nun standdie Mummi unten auf einer Treppe und hielt die Arme weit auf. Sie gingendurch eine große Tür auf einen weiten Balkon, und plötzlich war da untenein langes, langes Wasser, und ein Dampfer kam um die Waldecke, und einKahn, zwei Kähne, viele Kähne ...Es wurde Abend, und der kleine Junge mußte ins Bett. Er war müde undselig aufgeregt, aber als ihn die Mutter über die Bettleiter hob, sagte er:„Hoppelpoppel.“Der Vater sagte ernst: „Hoppelpoppel fährt mit der Puffbahn, Thomas.Hoppelpoppel kommt morgen.“

* Auf Wunsch des lizenzgebenden Verlags folgt diese Geschichte der alten Rechtschreibung.

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Das Kind sah seine Eltern fragend an, erst sagte es nichts, als aber dann dasLicht ausgemacht wurde, bat es wieder dringend: „Hoppelpoppel.“„Thomas muß jetzt schlafen“, sagte die Mutter streng und machte die Türvon außen zu. Die Eltern standen atemlos und lauschten. Nein, kein Ge-brüll, kein Weinen, sondern Stille. – „Er wird sich beruhigen“, sagteMummi. „Aber besser ist doch, du gehst morgen zur Bahn und machst eineVerlustanzeige.“„Schön“, sagte der Mann. „Obgleich es keinen Zweck hat. Denn der Zugfährt weiter nach Polen, und die werden uns grade einen Hoppelpoppelzurückschicken.“Am nächsten Morgen machte der Vater seine Verlustanzeige, dann kamder Nachmittagsschlaf – aber nein, es kam kein Nachmittagsschlaf.„Hoppelpoppel.“„Hoppelpoppel kommt bald.“„Nun! Gleich!“„Thomas muß schlafen.“Gebrüll, Wut, Trostlosigkeit, Jammer, nur kein Schlaf. Und am Abend dassel-be. Das neue Häuserchen und das viele Wasser und der Garten und derHund im Zwinger und die vielen Dampfer – alles nichts. Hoppelpoppel, lieberHoppelpoppel – wo bist du? Hoppelpoppel, ein alberner schwarzer Stoffhund,war eine finstere Wolke am Himmel, nach drei Tagen überhing sie alles.„Also ich fahre morgen nach Berlin und kaufe einen neuen Hoppelpoppel“,sagte der Vater zur Mummi.„Vielleicht kriegst du solch einen gar nicht?“„Soll das, bitte, hier so weitergehen?“Der Vater fuhr also, und schließlich fand er auch seinen Stoffhund, erfand genau den Hoppelpoppel. Er war lange umhergelaufen, er hatte vielFahrgeld ausgegeben, aber: Heute nacht wird Tom endlich wieder ruhigschlafen.Der Vater war so glücklich über den kleinen Hund, am liebsten hätte eraller Welt Gutes getan. Da war im Abteil ein Kind, es war natürlich keinKind wie der Thomas, nein, sondern ein dunkles, blasses Kind, es warein meckriges Kind, es war ein schwieriges, störendes Kind, aber es warein Kind ... Es saßen noch zwei Herren im Abteil, das hielt den Vaternicht ab, er machte Kuckuck mit dem Kind, er lenkte es ab, er half der

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Mutter, so gut er konnte, aber es verschlug nichts, es blieb ein schwierigesKind.Der Vater nahm aus dem Netz das kleine, braune Paket, das Kind sah zu.Er schnürte langsam das Paket auf, das Kind sah genau hin.Was da wohl drin ist?Er faltete das Papier auf, ließ ein bißchen sehen, mehr ...„Hoppelpoppel“, sagte der Vater ernst.„Wauwau“, antwortete das Kind selig.Es wurde nun doch eine sehr gute Bahnfahrt. Siehe, der dicke, brummigeHerr in der Ecke war ein rechter Großvater, er zog den Hoppelpoppel aufder leeren Bank zu sich hin. Hoppelpoppel hoppelte. Der Vater zog ihn amSchwanz zurück. Das Kind jauchzte.Manchmal ging eine kleine Sorgenwolke über des Vaters Herz. „Wie weitfahren Sie?“ fragte er die Mutter des Kindes.„Bis Neu-Bentschen. Und Sie?“„Oh, ich muß viel früher ’raus. Ihr Junge wird ja den Hund bis dahin überhaben.“„Das weiß ich nicht“, sagte die Frau. „Wenn er was liebt, dann liebt er esauch richtig.“„Na, eine Weile fahren wir ja auch noch“, sagte der Vater nachdenklichund ließ den Hund bellen.Der Vater kramte das braune Papier wieder vor und den Bindfaden: „Nunpaß auf, jetzt geht Hoppelpoppel schlafen.“Das Kind sah aufmerksam zu, aber dann, als der Hund im Papier ver-schwand, fing es an zu weinen. „Hoppäpoppä“, sagte es klagend.Alle redeten auf das Kind ein, das Kind weinte stärker, der Vater sagte: „Ichbrauche ihn ja schließlich nicht eingepackt mitzunehmen, er kann ihn janoch den Augenblick halten ...“Das Kind nahm den Hoppelpoppel in den Arm, es lächelte, es lächelte –lieber Himmel! Es war doch ein sehr ähnliches Kind ...Der Zug fuhr langsamer, der Zug hielt.„Nun gib dem Onkel den Hoppelpoppel!“Das Kind hielt den Hund fest.„Willst du wohl artig sein, gibst du –!“„Aussteigen –!“

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„Du sollst den Hund loslassen.“„Gib mir doch den Wauwau, bitte, bitte! Ich habe auch einen kleinen Jungen.“„Sie wollen noch raus? Bitte beeilen!“Alles ging durcheinander, das Kind weinte schmerzlich, der Schaffnerschimpfte. Eine Hand (es war die Hand der Mutter) riß an der klammerndenKinderhand, das Weinen wurde lauter. Der Vater stand draußen mit seinemHoppelpoppel, er dachte verwirrt: Wenn er was liebt, dann liebt er es auchrichtig.Der Zug fuhr an, der Vater riß die Tür wieder auf, warf den Hund ins Abteil.Der Zug fuhr schneller, am Fenster waren Mutter und Kind zu sehen, dasKind hielt den Hoppelpoppel.Der Mann ging langsam durch den dunklen Wald nach Haus, er hatte esnicht eilig. Wenn er zu Haus ankommen würde, würde sein Junge geradeins Bett gebracht werden, er würde sehnsüchtig betteln: Hoppelpoppel! DerMann bereute nicht, der Mann schalt sich nicht, er war nur traurig. Irgend-etwas war nicht in Ordnung auf dieser Welt, irgend etwas stimmte nicht:Dem einen geben, daß der andere weint –?Der Mann schloß die Tür auf, oben krähte der Tom. Der Mann ging langsamund leise die Treppe hinauf, er hing leise den Mantel fort, er zog seineHausschuhe an, schließlich mußte er doch die Tür aufmachen.Da aß sein kleiner Sohn am Tischchen den Haferbrei, und auf demTischchen stand der Hoppelpoppel. Der Hoppelpoppel mit einem langen,langen Zettel am Hals.„Sieh nur, Mann!“ sagte die Mummi.Auf dem Zettel standen viele bahnamtliche Vermerke, aber da stand auch:Zbaszyn (Bentschen). Kleine schwazze Hund, särr biese. Beißt ... „Kleineschwazze Hund, särr biese ...“, sagte der Vater langsam. Komisch: Plötzlichwar die Welt wieder in Ordnung.

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Ina und Heinrich Wolfgang SeidelDIE ORANGE

Die Geschichte begab sich, als die Eltern einmal miteinander verreist unddie Ama und Werner allein waren; und das war schließlich ganz gut.

Es war an einem schönen Morgen im Monat Mai, und Werner wachte sehrfrüh auf, aber gar nicht so vergnügt wie sonst, selbst wenn es regnete. Daslag daran, dass ihm gleich einfiel, was gestern Abend gewesen war. Er warschon im Bett gewesen und hatte sich in Erwartung des gewohnten Gute-nachtbesuches der Ama mit den beiden Maikäfern beschäftigt, die, reich-lich mit Blätternahrung versehen, in einem Pappkasten wohnten, dessen De-ckel von ihm vorsorglich mit vielen Löchern durchbohrt war. Dann war dieAma ins Zimmer gekommen, und es war ihm gleich aufgefallen, dass sietraurig aussah, was er gar nicht mochte. Erst hatte sie die Vorhänge zugezo-gen und hatte ihm dann die Maikäfer weggenommen, ohne seiner Anre-gung zu folgen, festzustellen, ob es „Müller“ oder „Schuster“ wären. Dannhatte sie sich auf den Stuhl am Bett gesetzt, was auch ungebräuchlich war,denn sonst setzte sie sich doch immer gemütlich zu ihm auf den Bettrand;und schließlich hatte sie ihn gefragt, ob er in der Religionsstunde schon dieZehn Gebote gehabt hätte. Er hatte sich besonnen und gesagt: „Du sollstdeinen Vater und deine Mutter ehren“ – es war das einzige, was ihm in derEile einfiel, und, soweit er sich erinnerte, war überhaupt in keinem Gebot dieRede von dem Verhalten Großmüttern gegenüber. Darauf hatte sie gesagt:Ja, das wäre das vierte, aber ob er nicht auch das siebente wüsste? Unddann war eben alles sehr peinlich geworden. Er hatte sich wirklich nichtsdabei gedacht, als er am Vormittag die Orange von dem Riesenhaufen Oran-gen genommen hatte, der bei der Frau Simmerl auf dem Gestell nebendem Ladentisch lag, während die Rosa Brot, Margarine, Grieß und nochsonst allerhand eingekauft und sich dabei mit der Frau Simmerl über dasStiftungsfest des Turnvereins unterhalten hatte. Die Orange war dann inseiner Hosentasche gewesen; er hatte sie auf dem Heimweg gegessen undder Rosa gesagt, er hätte sie gefunden. Er hatte sich nichts daraus gemacht,dass sie gesagt hatte, so etwas könne er ihr nicht weismachen. Aber nunhatte sie es unnötigerweise mit der Ama besprochen.

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Die Ama hatte dann eine Art, über den Vorfall zu sprechen, die jede eigeneStellungnahme von vornherein ausschloss; es schnürte einem die Kehlezusammen, und man hatte genug damit zu tun, Haltung zu bewahren undnicht zu heulen. Auch brachte sie es mit einer einzigen Frage aus ihm her-aus, wer ihm das vorgemacht habe, so ganz einfach etwas hinzunehmen,was ihm nicht gehörte; sie fragte nämlich: „Hast du das von Rudi gelernt,Obst zu stehlen?“ Den Rudi musste er unbedingt in Schutz nehmen, dennwenn der ihm auch den Vers beigebracht hatte: „Kommst du mit – zu FrauSchmidt – übern Zaun – Äpfel klaun?“, so wusste er doch ganz genau,dass es nicht der Rudi gewesen war, der ihm gesagt hatte, die Frau Simmerlwüsste überhaupt nicht, wie viel Orangen sie hätte, und sie würde es nie-mals merken, wenn man eine nähme, solange sie nicht hinschaute. Dashatte vielmehr der Huber Franzl zu ihm gesagt – und schon hatte er vor-wurfsvoll geantwortet: „Nein – vom Huber Franz!“Erst als die Ama mit dem Kopf genickt und gesagt hatte: „So, so – vomHuber Franz! Das hätte ich aber dem Huber Franz wirklich nicht zuge-traut“, wurde ihm klar, was er angerichtet hatte. Da war nun nichts mehrübriggeblieben, als die Decke über den Kopf zu ziehen und nicht mehr zumVorschein zu kommen, auch nicht, als die Ama noch etwas ganz Überra-schendes gesagt hatte. Anstatt nämlich wie sonst zum Abschluss ihrerabendlichen Unterhaltung zu sagen: „So – und nun wollen wir beten, Wer-ner!“, hatte sie gesagt: „Eine Orange kostet zehn Pfennig. Ich lege dir hierein Zehnerl hin, Werner – es gehört dir!“ Er meinte, es ganz deutlich ver-standen zu haben, aber konnte er seinen Ohren trauen? Wieso schenkteihm die Ama jetzt auf einmal ein Zehnerl für eine Orange? Endlich war esihm unter der Decke so heiß geworden, dass er es nicht mehr aushaltenkonnte. Er hatte mit einem Auge hinausgeschaut und gesehen, dass dasZimmer leer war. Die Ama war gegangen, ohne ihm gute Nacht zu sagen,aber es war noch hell genug, dass er das Zehnerl, das auf dem hölzernenStuhl am Bett lag, deutlich hatte sehen können. Er hatte sich gar nicht dar-über gefreut. Er hatte die Augen fest zugekniffen und unbehaglich gedacht:„Fällt mir gar nicht ein!“ – denn im Grunde hatte er ganz gut gewusst,wozu ihm die Ama das Zehnerl hingelegt hatte.Weil nun aber diese ganze Unterhaltung sehr anstrengend für ihn gewesenwar, war er ganz plötzlich eingeschlafen, und jetzt erst beim Aufwachen

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fiel ihm die ganze unangenehme Sache von neuem ein. Er hätte gernangenommen, es sei nur ein böser Traum gewesen; aber leider lag da

das Zehnerl noch aufdem Stuhl und glänzte ineinem Sonnenstrahl auf,der durch die Vorhangs-palte drang. Nun kamauch schon jemand, umihn zu wecken; er mach-te die Augen schnell zu,als schliefe er noch, aberes half nichts, es war dieAma persönlich.„Aufstehen, Werner –es ist die höchste Zeit!“sagte sie und ging gleich

wieder hinaus, ohne abzuwarten, dass er die Augen aufmachte. Sie hattegenau gewusst, dass er wach war.Als er zum Frühstück kam, saß sie in ihrem Stuhl und las die Zeitung. Sonstpflegte sie die Zeitung hinzulegen, wenn er ihr den Gutenmorgenkuss gab;heute aber sagte er nur guten Morgen und kletterte kleinlaut auf seinenSitz, aber sie hörte nicht auf zu lesen und war ganz hinter der Zeitung ver-borgen. Das war teils angenehm, teils doch recht bedrückend. Er aß seinBrot und trank seine Milch, alles war langweilig; sonst war es immerbesonders gemütlich, allein mit der Ama zu frühstücken. Heute wollte keineUnterhaltung in Gang kommen, auch nicht, als er mitteilte, er wolle dieMaikäfer doch lieber freilassen und heute Nachmittag neue fangen. „Tu dasnur!“, sagte die Ama, und als er dann wieder aus dem Garten hereinkamund seinen Schulranzen aufnahm, las sie immer noch, und als er „Auf Wie-dersehen!“ sagte, sagte sie „Adieu!“ – ein ganz komisches Wort, das eseigentlich gar nicht gab und das er nicht mochte. Sonst sagte sie dochimmer: „Behüt dich Gott!“Es gelang Werner, sich in ein Pferd zu verwandeln und mit klapperndemSchulranzen in schnellem, kurzem Trab an dem Laden der Frau Simmerlvorbeizukommen, worauf er alsbald den Huber Franzl sichtete und einholte.

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Da der Huber Franzl ja von nichts wusste und sich nicht anders benahm wieimmer, so verging der komische Druck, den Werner den ganzen Morgengefühlt hatte, für eine Weile. In der Schule schien es ihm heute besondersschön zu sein, so dass er diesmal gar nicht froh war, als die vier Stundenherum waren und er den Heimweg antreten musste. Es fiel ihm ein, dass erden anderen Weg gehen könnte, der eigentlich ein Umweg war, aber denVorteil hatte, nicht an dem Laden der Frau Simmerl vorbeizuführen, und soschloss er sich dem Franzl nicht wieder an, sondern schlug sich seitwärts.Obgleich er unterwegs drei neue Maikäfer fing und sie mühsam in der Ho-sentasche bändigte, wo sie unangenehm krabbelten, beeilte er sich immerweniger, je näher er dem heimischen Gartenzaun kam. Still und unauffälligschlüpfte er durch das hintere Gartenpförtchen hinein, ohne wie gewöhnlichlaut zu pfeifen oder zu singen, damit man wisse, er sei wieder da. DasHaus lag in der Mittagssonne, als schliefe es; die Verandatür, durch die ersonst immer hineinkam, war verschlossen. Aus dem offenen Küchenfensterkam der lang gezogene Gesang der Rosa, und sie sang, was sie immersang: „Wenn die Blümlein – leise zittern – und die Abendlüfte wehn ...“,ein Lied, das die Ama nicht mehr hören mochte; und auch daran merkte er,dass es so war, wie er sich gleich gedacht hatte: Die Ama war nicht zuHause. Er hatte es sich gleich gedacht, weil alles so leer und so still war; dieAma machte ja gewiss nicht viel Wirbel um sich her, aber wenn sie nicht dawar, hatte eben alles gleich ein anderes Gesicht. Ja, die Ama wäre in dieStadt gefahren, sagte die Rosa, als sie ihm die Haustür aufmachte. Siedachte nicht mehr an die Orange, das fühlte er, aber er musste nun immer-fort daran denken. Obgleich es interessant war, einmal in der Küche essenzu dürfen, machte es ihm heute gar keinen Spaß, und als die Rosa eineAnspielung auf ein Zehnerl machte, das in seinem Zimmer läge, sagte er,das hätte ihm die Ama geschenkt; aber nun schmeckte ihm gar nichtsmehr.Die Rosa musste dann in die Waschküche, und er ging in den Garten, umdem Zehnerl nicht zu begegnen. Als ihm die Maikäfer wieder einfielen, dieer ganz vergessen hatte, da waren sie weg, und als er zu seinem Sandhau-fen kam, da war der ausgezeichnete Tunnel, den er gestern angelegt hatte,eingestürzt, und das hatte natürlich die gelbe Katze getan, die immer überden Zaun kam und der es ganz gleich war, wohin sie trampelte. Werner

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bekam einen rechten Zorn auf die Katze und glaubte auf einmal zu wissen,warum heute alles so traurig war, obgleich die Sonne schien und die Amselsang und die Stiefmütterchen freundlich neugierig auf ihn blickten wie jedenTag. Der Tunnel war hin, und als er ihn neu aufbauen wollte, rutschte derSand immer nach, und als er in seinem Eimerchen Wasser geholt hatte, umihn anzufeuchten, goss er es aus Versehen auf einmal aus. Es gab eineÜberschwemmung und einen großen Matsch, und nun hielt der Sand erstrecht nicht mehr. So kam ein Kummer zum anderen; er trollte sich ins Hausund wollte eigentlich zu Rosa, weil er so einsam war, aber als er seine Schu-he ansah, die von nassem Sand starrten, hielt er es doch für besser, für sichzu bleiben. Auf dem Gang lag sein Schulranzen, wo er ihn hingeworfenhatte; er nahm ihn beim Riemen und schleifte ihn hinter sich her ins Kinder-zimmer: Wenn alles so langweilig war, konnte er auch ebenso gut dieSchularbeiten gleich machen. Mitten in den Vorbereitungen aber, die darinbestanden, dass er ein Segelschiff, einige Fische und wellenbewegtes Ge-wässer, darüber links oben die Sonne, auf seine Schiefertafel malte, fiel ihmdas verwünschte Zehnerl ins Auge: Die Rosa hatte es beim Aufräumen aufden Tisch gelegt. Er wischte die Sonne wieder aus und benutzte das Geld-stück, um dem Gestirn mit seiner Hilfe einen unübertrefflich gerundetenUmriss zu verleihen, was eine sehr befriedigende Wirkung ergab. Dennochwar ihm jetzt wieder alles verleidet; er löschte das ganze Gemälde mit demSchwamm aus und rieb die Tafel trocken. Den Lappen legte er, ohne hinzu-sehen, aber zielsicher über das Zehnerl, nun war es so gut wie nicht vorhan-den. Plötzlich fiel es ihm ein, dass er ja jetzt eigentlich einmal zum Bachhinunterlaufen und ein Wehr bauen könnte, wofür die Ama immer so we-nig Auffassung hatte; bis sie zurück sein würde, wäre er bestimmt wiederdaheim, und sie brauchte es gar nicht zu erfahren. Dieser Plan stimmte ihnzwar nicht freudiger, war aber immerhin verlockender als die Aussicht, dieTafel nun von oben bis unten mit „Morgenstunde hat Gold im Munde“ voll-schreiben zu müssen und auf der anderen Seite das „Einmalvier“ schriftlichunter Beweis stellen zu sollen. Während die Rosa in der Küche mit demGeschirr klirrte und plärrend dazu sang: „ ... und du willst mir’s Herz verbit-tern – und du willst schon wieder gehn ...“, stahl er sich aus der Haustürund – lief nun der Ama gerade in die Arme, die soeben durch das Gartentorkam. Mit ihr kamen eine Dame und ein Herr, alle drei schienen vergnügt

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und angeregt zu sein. Es war keine Zeit mehr, sich unbemerkt zurückzuzie-hen, die Ama hatte aber auch keine Zeit, ihn zu fragen, wohin er wollte.Sie sagte nur: „Ach, da bist du ja!“, und er musste guten Tag sagen. Es gabdie unvermeidlichen Sprüche, wie immer, wenn Besuch kam – wie alt erwäre – ach, und schon so groß! – wem er ähnlich sähe – er hörte schongar nicht mehr darauf hin. Beiläufig sagte die Ama etwas über Schuhe-wechseln und Händewaschen und Schularbeiten, kümmerte sich aber nichtweiter um ihn und ging mit den Gästen ins Haus und ins Wohnzimmer. Ertrottete hinterdrein. Die Rosa hatte aufgehört zu singen, er hörte, wie dieAma rief, es sollte Kaffee gemacht werden, und Kuchen hätte sie mitge-bracht, und dann hockte er wieder an seinem Tisch. Der Griffel quietschte,und er schrieb zweimal Mohrgenstunde mit einem h, bis er merkte, dassdas nicht stimmte, musste alles wieder auswischen und von vorne anfangen.Erst versuchte er es mit dem Zeigefinger und etwas Spucke, das gab abereine solche Schmiererei, dass er doch wieder mit Schwamm und Lappenarbeiten musste. Da lag es nun wieder vor ihm und starrte ihn an, dasZehnerl – und da hatte er schon wieder Mohrgen... geschrieben – und jetztwar es genug!Plötzlich war er vom Stuhl gerutscht, hatte das Zehnerl ergriffen und warzum Zimmer, zur Haustür, zum Garten hinaus so schnell wie im Traum.Seine Beine wirbelten mit ihm davon, der Weg zur Frau Simmerl war nochniemals so kurz gewesen. Er sauste zum Laden hinein und prallte gegenden Ladentisch, mitten zwischen die beiden Frauen, die dort mit ihren Ta-schen standen und schwatzten, während die Frau Simmerl gerade beimRechnen war und gar nicht aufblickte. Werner reckte die festgeschlosseneHand aus: Klatsch! wollte er das Zehnerl vor die Frau Simmerl hinknallen –aber nun war es an seiner Handfläche festgeklebt, und er musste die andereHand zur Hilfe nehmen. Immerhin erledigte sich alles beinahe so schnell,wie er es sich vorgenommen hatte. „Für eine Orange!“, stieß er atemloshervor und war schon auf dem Rückweg, als die Frau Simmerl anfing, hinterihm drein zu zetern, was er denn eigentlich wolle. Als er die Wegbiegunghinter sich hatte, änderte er seine Geschwindigkeit und verfiel in vergnügtenTrott, denn ihm war auf einmal sehr wohl. Einzig, dass ihm kurz vor derGartenpforte die Rosa mit dem Milchkübel begegnete, die ihrerseits aufdem Weg zu Frau Simmerl war, beschattete vorübergehend seine Zufrieden-

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heit, aber er gab ihr keine Antwort auf ihre Erkundigung, wo er denn gewe-sen sei; und auch, als sie bei ihrer Rückkehr beziehungsvoll zu dem Fensterhinaufschmunzelte, hinter dem er wieder über seiner Tafel saß, beachteteer sie nicht. Denn es ging sie nichts an.Der Besuch blieb lange. Werner bekam auch sein Abendbrot in der Küche;es war ihm lieb. Als die Ama die Gäste zur Gartenpforte geleitete, war dieSonne im Untergehen. Vielleicht würde sie nun nach ihm rufen, dachteWerner, der sich im hinteren Garten, wo die Schaukel war, aufhielt; abersie rief ihn nicht. Er sah sie ins Haus zurückgehen, und dann hörte er, wiesie in der Küche mit Rosa sprach; zwar hörte man ihre Stimme kaum, ob-gleich das Fenster weit offenstand, aber wie immer war das, was die Rosazur Unterhaltung beitrug, sehr deutlich vernehmbar. Es blieb also Wernernicht verborgen, dass die Rosa berichtete, wie die Frau Simmerl sie aus-gefragt habe wegen des Zehnerls, das ihr der Werner „hingehaut“ habe,um dann „davonzuschießen wie nix Gutes“. „Ja mei’, Frau Simmerl, habich g’sagt, wie halt Kinder sind, sag ich, es hat ihm halt g’reut, hab ichg’sagt ...“Dann hörte Werner nichts mehr, denn jemand machte das Fenster zu.Gleich darauf kam die Ama wieder heraus, und nun rief sie nach ihm.Langsam, sehr langsam kam er den Weg hinauf; er wusste noch nicht, ober weinen würde, aber es war ihm fast so. Nun sagte die Ama: „Werner –du wolltest mir doch den Teich auf der Wiese mit den Tieren zeigen ...“,und plötzlich war das Weinen gar nicht mehr nötig.

Hans Fallada*FESTESSEN

In echter Räuberstimmung unternahmen einmal mein Bruder Ede und icheine kühne Expedition in die Speisekammer, deren Eingang direkt neben

der Küchentür lag, so daß wir jeden Augenblick überrascht werden konnten.Als wir aber erst drin waren, vergaßen wir jede Gefahr: Von weißemZuckerguß glänzend, standen vor uns die beiden großen Baumkuchen, dieam Vormittag ein Konditorjunge gebracht und die seitdem mein und Edes

* Auf Wunsch des lizenzgebenden Verlags folgt diese Geschichte der alten Rechtschreibung.

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Herz erregt hatten. Ich kannte als der ältere sehr wohl meine Pflicht: Ichstreckte meine Hand aus, brach eine Zacke ab, und schon war sie in mei-nem Munde!„Mir auch eine Nase! Ich will auch solche Nase!“ verlangte Ede, und schonum einen Mitschuldigen zu haben, sagte ich: „Brich dir selber eine ab!“Aber bald dachten wir nicht mehr an Schuld und Unschuld. Diese Nasenschmeckten zu verführerisch, wir brachen immer mehr ab. Hielten wir unszuerst an einen Baumkuchen, und zwar an seinen unteren Rand, so triebuns bald die Lust immer weiter. Damit wir einander nicht ins Gehege kä-men, teilten wir die Kuchen unter uns auf: Ede brach links, ich rechts dieNasen. Ein unheilvoller Stern stand in dieser Nacht über meinem Elternhaus:kein Mensch kam in die Speisekammer und störte uns bei unserm frevlenBeginnen.Wie wir es – nach einem überreichlichen Nachtessen – geschafft haben, istmir noch heute unerklärlich. Jedenfalls standen in Kürze die beiden Baum-kuchen völlig nasenlos vor uns. Jetzt doch ein bißchen bedenklich, schautenwir einander an, selbst wir konnten nicht übersehen, daß dies Prachtstückerheblich an Schönheit eingebüßt hatte.„Ich glaub’, wir gehen gleich ins Bett“, meinte ich schließlich.„Und das Erdbeereis?“ gab Ede zu bedenken.„Wenn sie das sehen“, sagte ich düster, „bekommen wir bestimmt keinErdbeereis!“„Vielleicht denken sie, Baumkuchen sind so?“ schlug Ede vor.Ich zuckte nur hoffnungslos die Achseln.„Oder wir sagen einfach, der Konditorjunge hat’s gemacht!“„Am besten gehen wir ins Bett“, wiederholte ich. „Ich stell’ mich schlafend.“„Dann werde ich schnarchen“, entschied Ede. „Du bist der ältere, zu dirkommen sie überhaupt zuerst.“Wir lagen noch nicht lange in unseren Betten, als wir eine gesteigerte Un-ruhe auf dem Gang bemerkten. Dann hörten wir die aufgeregte Stimmemeiner Mutter von der Küche her. Wir machten, daß wir unter die Deckenkrochen. Ede fing sofort an, in der lächerlichsten Weise zu schnarchen. Eswar oft, meistens, sehr schön, der ältere von uns beiden Brüdern zu sein,doch hätte ich in dieser Stunde mein Erstgeburtsrecht für noch weniger alsein Linsengericht gerne hergegeben. Später hörte ich sogar Vaters Stimme

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aus dem Küchenbezirk. Man bedenke, unser Verbrechen war so riesengroß,daß beide Gastgeber von der Tafel weggerufen wurden! Ich konnte mir denUmfang der uns drohenden Strafe nicht einmal ausdenken!Aber was dann eintrat, war schlimmer als jede Strafe: Es trat nämlich garnichts ein. Ich lag mit immer stärker klopfendem Herzen in meinem Bett underwartete das Jüngste Gericht. Aber niemand kam. Ich wartete, ich flehte fastum Erlösung: Niemand kam. Ede war längst richtig eingeschlafen, und im-mer noch lag ich wach, schlaflos über tausend Möglichkeiten grübelnd. Ichlag, wie man so sagt, die ganze Nacht wach, schließlich wäre mir dieschlimmste Strafe lieber gewesen als dieses Warten. Als ich dann hörte, wiesich Frau Pikuweit von unserer Minna und Charlotte verabschiedete, drehteich mich mit einem tiefen Seufzer zur Wand. Ich war böse mit meinen Eltern,daß sie das Schwert der Rache so lange über mir schweben ließen.Und der nächste Morgen kam, die Eltern schliefen noch. Als Frühstück be-kamen wir Jungens Baumkuchen, die Schwestern aber Butterbrote. Siewollten protestieren, Charlotte, übermüdet, sehr unwirsch, sagte nur, derHerr Rat habe es angeordnet. Als wir in der Schule unsere Frühstücksbroteauspackten, fanden wir keine Brote, sondern Baumkuchen. Beim Mittages-sen – Vater war auf dem Gericht – blieb Mutter recht kühl zu uns, sagteaber kein Wort von Baumkuchen. Dafür mußten wir ihn essen, nur Baumku-chen, während die anderen sich an den herrlichsten Resten delektierten. Siebekamen auch Eis!Vesper, Abendessen: Unser Speisezettel hieß unverändert Baumkuchen. Dernächste Tag: Baumkuchen! Die anderen aßen zu Mittag Brühkartoffeln mitschöner grüner Petersilie und schierem Rindfleisch, wir hatten Baumkuchen!Es wurde uns immer schwerer, unsern Hunger mit Baumkuchen zu stillen.Wir fanden, Baumkuchen war ein überschätztes Gebäck. Bald entdecktenwir, daß wir Baumkuchen haßten! Expeditionen nach Speisekammer undKüche blieben erfolglos: Die Speisekammer war verschlossen, und aus derKüche wurden wir prompt verjagt.Ein dritter Tag zog herauf – Baumkuchen! Wurden diese elenden beidenBaumkuchen denn nie alle! Und immer starrten uns die Bruchstellen, andenen die Nasen gesessen hatten, anklagend an. Wir wagten nicht zumeutern, wir wagten nicht einmal zu bitten ... Mit immer lahmeren Kinn-backen kauten wir an unserm Baumkuchen ...

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Und das Allerschlimmste war dabei, daß nie jemand ein Wort über unsereetwas gleichförmige Speisenfolge verlor. Es schien das Selbstverständlichste,daß wir allein mit Baumkuchen ernährt wurden, von Urzeiten her, bis in alleEwigkeiten!Wagten die Schwestern in ihrer albernen Gänsemanier wirklich einmal, überunsere Leidensmienen zu gniggern, so brachte sie ein strenger Blick meinerEltern sofort wieder zur Ruhe. Selbst Minna und Charlotte, die sonst immersofort bereit waren, uns zu bedauern, verloren nicht ein Wort über dieseunsere Prüfung. Mein Vater sagte ihnen selten etwas, aber tat er es, sofolgten sie ihm blindlings. Sie liebten ihn beide schwärmerisch wegen seinerGüte und Gerechtigkeitsliebe, die alte mürrische Minna ebensosehr wie diejunge vergnügte Charlotte.Ach Gott, was wären Ede und ich glücklich gewesen, wenn wir wie andereJungens eine kräftige Tracht Prügel gekriegt hätten! Aber mein Vater warweder für Prügel noch für Schelten, alles Gewaltsame und Laute wider-strebte seiner Natur. Er strafte haargenau auf dem Gebiet, auf dem mangesündigt hatte. Die Gier nach Baumkuchen strafte er durch Übersättigungmit Baumkuchen. Auch der Dümmste begriff dies ohne Wort ...Und schließlich war der Baumkuchen dann alle. Den Mittag, ich weiß esnoch, gab es westfälische dicke Bohnen, süßsauer, mit Räucherfleisch, einEssen, dem ich bis dahin immer abgeneigt gewesen war. Ich aß davon wieein Verhungerter. „Junge, du ißt dich ja wohl zuschanden!“ rief meineMutter, als ich mir den Teller zum dritten Mal füllen ließ.Vater aber sagte nur: „Sieh da! Sieh da!“ und lächelte mit all den vielenFältchen um seine Augenwinkel.

Josef GuggenmosDIE ANDERE

Ich glaube, das Mädchen ist dumm“, sagte Eva. „Schau bloß, Mutter, wiees dasteht!“ Im Nachbargarten stand ein Mädchen in der Sonne. Es

mochte etwa in Evas Alter sein. Mit der Hand hielt es eine Rute gegen denBoden. Jetzt machte es einen unsicheren Schritt.„Nein, Eva“, sagte die Mutter, „das Mädchen ist nicht dumm – das Mäd-

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chen ist blind.“ „Oh!“ Eva war betroffen. Das war ja sehr traurig. Und fürEva war es ärgerlich. Sie hatte sich schon gefreut, ein Mädchen gleich inder Nachbarschaft zu haben, mit dem sie im Winter Ski fahren und im Som-mer baden gehen konnte. Aber damit war es nun nichts; eine blinde Freun-din ist so gut wie keine Freundin.

Vögel sangen, die Sonneschien. Es war Ostersonntag.Evas Eltern hatten mit ihr ei-nen kleinen Ausflug hinaus anden Stadtrand zu ihrem neuenHaus gemacht. Der Neubauwar schon im Herbst errichtetund überdacht worden. Insechs Wochen sollte der großeUmzug sein. Das gab noch vielArbeit, aber alle drei warensehr glücklich, bald ein eige-nes Haus und einen schönenGarten zu haben.Die Eltern gingen in den Bau,um noch einmal einen Gangdurch die Räume zu tun. Eva

blieb im Garten. Ein leuchtend gelber Zitronenfalter kam vom Walde her. Erflog quer durch den Garten, dann über die Hecke und drüben an dem blin-den Mädchen vorbei. Die Arme merkte nichts von der kleinen gelbenPracht, die dicht an ihr vorübergaukelte.Bald darauf kamen drüben zwei Jungen aus dem Haus gerannt, beide jün-ger als das Mädchen. Einer versuchte den andern zu kriegen. Als sie dieSchwester stehen sahen, spielten sie Fangen um sie herum, und schließlichbegannen sie, das hilflose Mädchen sich gegenseitig zuzustoßen.Endlich erschien die Mutter. „Schämt euch!“, rief sie den Jungen zu. „Nichteinmal heute an Ostern könnt ihr Christine in Ruhe lassen!“Christine schien eben dem Weinen nahe gewesen zu sein, aber sieklagte nicht.„Mutter“, sagte sie, „blühen jetzt die Märzbecher schon? Ich möchte so

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gern einen Märzbecher sehen.“ „Ja“, sagte die Mutter. „Aber bei uns imGarten sind sie in diesem Jahr ausgeblieben.“ –Eva ging nachdenklich in den Neubau. Die Eltern standen im Wohnzimmer.Wohnlich sah es hier freilich noch wenig aus. Noch nicht einmal der Fußbo-den war gelegt.„Das Mädchen da drüben heißt Christine“, berichtete Eva. „Jetzt hat Chri-stine gerade zur Mutter gesagt, sie möchte so gern Märzbecher sehen. War-um sagt sie das? Sie weiß doch selber, dass sie nichts sehen kann.“ „Blinde

sagen oft so“, entgegnete derVater. „Wenn sie sagen, sie ha-ben etwas gesehen, dann meinensie, sie haben es befühlt. Wennman etwas mit den Fingern abge-tastet hat, dann weiß man ja so-zusagen auch, wie das Ding aus-sieht. Und Blinde, die viel mehrauf das achten, was sie mit denFingern fühlen, bekommen einviel feineres Gefühl. – Aber wirfahren ja erst in zwei Stunden indie Stadt zurück. Eva, willst du

nicht inzwischen mit Christine einen kleinen Gang in den Wald tun? Duweißt ja, dort hinten, bei der Quelle am Hang, ist alles weiß von Märzbe-chern.“ Eva schämte sich, dass sie nicht selber darauf gekommen war.Christines Mutter war sehr erfreut, als sich Eva als neue Nachbarin vorstellteund Christine zu einem Spaziergang abholte. Eva erfuhr, dass Christine erstvor einem Jahr das Augenlicht verloren hatte. Sie hatte Krebs in den Augengehabt, und man hatte erst das eine und bald darauf auch noch das andereAuge herausnehmen müssen. Jetzt waren Glasaugen eingesetzt.„Zeig mir Bäume!“, bat Christine, als sie durch den Wald gingen.Zwei Stämme standen dicht beieinander. Eva legte Christines rechte Handauf den einen und die linke Hand auf den andern Baum.„Eine Fichte! – Eine Tanne!“ sagte Christine und strahlte.„Die kenne ich nicht einmal so auseinander“, gestand Eva.„Aber das sind doch ganz verschiedene Bäume! Schau, die Fichte hat über

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und über rundliche Schuppen, und die Tanne ist fast ganz glatt.“ „Ja, jetztsehe ich es auch. – Und was ist das?“„Eine Hainbuche.“„Wirklich? Ich habe mir gedacht, es ist eine gewöhnliche Buche.“„Nein, nein, so sehnig und mit einem solchen Gitterwerk von Wülsten, daskann nur die Hainbuche sein.“ „Aber was ist das für ein Baum?“, fragteEva lachend und führte Christines Hand auf den Boden. „Oh! Ein Busch-windröschen!“, freute sich Christine. Eva entdeckte etwas zwischen demdürren Laub am Boden und gab es der andern. Es war ein Schneckenhaus,schwer und noch mit einem Kalkdeckel verschlossen.Christines Finger gingen ein ums andere Mal dem schönen Lauf der Win-dungen nach, dann legte sie das Schneckenhaus wieder auf den Bodenund deckte es ein wenig mit Laub zu.„Du hast es ja verkehrt hingelegt“, meinte Eva. „Nein, die Haustüre mussoben sein“, erklärte Christine. „Durch den Deckel atmet die Schnecke.“„Wer hat dir denn das alles gesagt?“ Christine schien eine sehr große Liebezur Natur zu haben. Da musste es doppelt furchtbar sein, nun auf einmalnichts mehr zu sehen.„Mein Vater. Er ist vor einem Jahr gestorben. Im vergangenen Jahr ist allespassiert. Im Februar ist mein Vater gestorben. Und im Mai war dann das mitmeinen Augen.“Eva erschrak. Wie Schweres hatte dieses Mädchen mit dem stillen Gesichtzu tragen! Und wie lächerlich waren dagegen ihre eigenen Sorgen! Tage-lang, wochenlang konnte sie sich manchmal über kleine, alberne Dingeärgern. – Und plötzlich wusste Eva, zum ersten Mal in ihrem Leben, dass eswichtiger und beglückender ist, eine Aufgabe zu haben, die einen ausfüllt,als alle möglichen Vergnügen und Abenteuer. Jetzt hatte sie jemand, für densie da sein konnte. „Christine“, sagte Eva, „wenn wir in unser neues Hausgezogen sind, dann geh’ ich alle Tage mit dir spazieren. – Und dann musstdu mir vieles zeigen!“ „Ja!“, sagte Christine glücklich. Jetzt war auch fürsie Ostern geworden.


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