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Lasst uns leben

Date post: 04-Jan-2017
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Page 1: Lasst uns leben
Page 2: Lasst uns leben

Sein bester Freund war der Adler

MARK ZORRO

Laßt uns leben!�

Im schrillen Diskant gellte die Frauenstimme. Der gefesselte Sternträger zuckte zusammen. Er zerrte an den Fesseln. Seine Schläfenadern schwollen an. Die Augen wollten ihm aus den Höhlen quellen. »Bleib ganz ruhig, Maiswell!« knurrte der schwarzhaarige Mann heiser, der den Sheriff mit der Waffe bedrohte. »Wenn du für die Befreiung von Fraigh sorgst, wirst du sie bald Wiedersehen.«

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Auf der Treppe wurde ein Poltern laut Zwei Männer erschienen. Sie zerrten die zitternde Frau Maiswells die Treppe herunter. »Pete!« schrie Anne Maiswell laut. »Pete, hilf mir doch! Hilf mir um Himmels willen!«

Die drei Männer lachten höhnisch. Der Schwarzhaarige stieß den Colt ins Holster und legte der sich verzweifelnd wehrenden Frau einen Knebel an. Dann gab er seinen Kumpanen einen herrischen Wink.

Gleich darauf waren die Verbrecher mit der Frau verschwunden.

Der Planwagen vor dem Sheriff-Office fiel niemand in Gregortown auf. Mitternacht war vorüber. Die meisten Bürger schliefen. Die paar betrunkenen Weidereiter, die aus dem Corner-Saloon kamen, brauchten ihre Aufmerksamkeit für den schwankenden Stepwalk.

Die Fremden ließen einen vorübertorkelnden Mann passieren. Sie verharrten in der Türnische des Sheriff-Office, bis auch die Schnapsfahne hinter dem Betrunkenen verweht war.

Der vorausgehende Mann trug einen breitkrempigen Hut. Er spähte mißtrauisch um sich, bevor er die Straße betrat und vor dem Planwagen stehenblieb.

Auf seinen Wink hin trugen die Freunde des Schwarzhaarigen die geknebelte Frau herbei. Anne Maiswells Widerstand war längst erlahmt. Sie fügte sich ins Unvermeidliche. Sie hatte Angst und konnte sich nicht erklären, was diese Entführung zu bedeuten hatte.

»Los, steigen Sie auf, Lady!« forderte der Schwarzhaarige die Frau auf. Er half ihr auf den Kutschbock und ließ die Frau auf dem Wagen, von der Plane verdeckt, Platz nehmen.

»Du bleibst hier, Ben!« bestimmte der Wortführer. »Daß ihr mir ja keine Geschichten macht!«

Dieser Ben sah aus wie ein Hereford-Bulle. Sein Haar war kurzgeschoren und kringelte sich auf dem runden Schädel.

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Nacken schien Ben Frimmley überhaupt keinen zu besitzen. Sein Kopf mußte unmittelbar auf dem Rumpf angewachsen sein.

»Beeilt euch, Cole!« knurrte er und kletterte auf den Wagen. Cole Grant und ein hochgeschossener Bursche mit einem

bleichen, bartlosen Gesicht und rotem Haar stapften los. Der Junge war bestenfalls Mitte Zwanzig. Dennoch beherrschte er sein schmutziges Handwerk.

Die zwei Männer überquerten rasch die Straße und gingen zielstrebig auf das Haus von Richter Keyl zu. Vor dem Haus blieben sie stehen. Cole pochte an die Tür.

Ein Fenster wurde geöffnet im Obergeschoß. Schemenhaft zeigte sich das Gesicht des Richters.

»He, was ist los da unten? Wißt ihr, wie spät es ist?« »Kommen Sie, Richter!« rief Grant mit krächzender

Stimme. »Der Sheriff braucht Sie. Sie sollen ins Jail kommen!« »Was soll das?« fragte Keyl ärgerlich. »Wenn der Sheriff

Probleme hat, ist das seine Sache. Ich bin nicht sein Kindermädchen. Ich hab’ meinen Schlaf redlich verdient. Verschwindet endlich!«

Der Richter wollte sich zurückziehen, aber Grant ließ nicht locker.

»Kommen Sie schon, Keyl! Es geht da um Mord.« »Mord?« wieder streckte Keyl den Kopf aus dem Fenster.

Er fluchte. »Warum kommt Maiswell nicht selbst?« »Der Sheriff kann nicht weg. Er hat Gefangene. Er will die

Kerle nicht aus den Augen lassen.« Der Richter fauchte böse. »In Ordnung! Ich komme runter.

Geht schon zum Sheriff!« »Wir warten auf Sie!« »Meinetwegen«, erwiderte Keyl mißgelaunt. »Aber seid

still! Macht keinen Lärm!«

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Cole Grant warf seinem jungen Begleiter Tim Link einen triumphierenden Blick zu. Seine Züge verhärteten sich wieder. Dann flüsterte er Tim zu: »Den werden wir uns sofort schnappen, wenn er die Tür öffnet, Junge!«

Tim Link preßte die schmalen Lippen aufeinander. Er nickte zustimmend.

Die Männer bezogen links und rechts des Eingangs Aufstellung.

Richter Keyl ließ nicht lange auf sich warten. Als die beiden vor der Tür die Schritte im Haus hörten, zogen sie die Waffen.

Der Riegel wurde zurückgeschoben, dann die Tür aufgezogen.

Der Richter trat heraus. »Verdammt, was ist in Maiswell gefahren? Ich wohne schon

eine Ewigkeit hier, aber noch nicht einmal hat er mich aus dem Bett geholt. Welcher Teufel reitet diesen Idioten? Will er mich auf den Arm nehmen?«

Keyl hatte das letzte Wort kaum über den Lippen, da sauste der Coltknauf herunter. Augenblicklich sackte der Mann zusammen. Grant packte den Ohnmächtigen. Er trug ihn ein Stück, dann rollte er ihn hinter einen Brennholzstapel.

»Hier liegt er richtig«, lachte er trocken. »Bis er aufwacht, sind wir über alle Berge.«

Die Männer machten kehrt. Sie eilten zur Haustür, hasteten durch die Halle zur Treppe. Die Stufen knarrten, als die zwei nach oben stürmten.

Der drahtige Cole Grant hatte sich das Fenster gemerkt, an dem der Richter sich zuerst gezeigt hatte. Dort mußte sich das Schlafzimmer befinden.

Polternd krachten die Männer ins Zimmer. Mit einem lauten Schreckensruf fuhr Claire Keyl, die Frau

des Richters, aus dem Bett. Sie hatte ein langes, helles Nachthemd an und trug eine Nachthaube.

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Abwehrend, die Hände vorgestreckt, blieb die schlanke Frau vor dem Bett stehen. Sie starrte die Eindringlinge furchtsam an.

»Zieh’n Sie sich was über, Ma’am! Wir machen eine kleine Spazierfahrt. Sie werden mächtig Spaß daran haben.«

Grant war eisern entschlossen, seinen Plan durchzuführen. Weder der ängstliche Blick einer Frau noch die Verwünschungen eines Mannes oder die Angst vor den zu erwartenden Folgen seiner Tat konnten ihn davon abhalten.

»Spazierfahrt? Ich… verstehe nicht, was… wieso?« »Tun Sie, was mein Freund sagt, Lady!« fauchte Link.

»Wenn Sie nicht schneller machen, nehmen wir Sie in diesem Kostüm mit.«

Claire Keyl, die zu einem zitternden Bündel geworden war, faßte sich allmählich.

»Einen Augenblick«, bat sie mit vibrierender, leiser Stimme. »Ich will nur schnell zum Schrank. Dort sind meine Kleider. Ich…«

Sie sprach den Satz nicht zu Ende, sondern hastete zum Kleiderschrank. Sie öffnete die Tür. Über die Schulter beobachtete sie die in der Dunkelheit nur undeutlich auszumachenden Männer.

Mit fliegenden Fingern räumte die Frau einige Wäschestücke beiseite. Sie zwang sich, ruhiger zu werden.

Ihre Finger berührten kühles Metall. Die Hände trafen auf einen Sechsschüsser, den der Richter gewöhnlich dort aufbewahrte. Zögernd nahm die Frau die Waffe heraus.

»Was haben Sie mit meinem Mann gemacht?« Claire Keyl mußte reden, damit die beiden Männer nicht

hören konnten, wie sie den Hammer des Colts spannte. »Keine Sorge! Er ist in Ordnung. Hat nur eins über die Rübe

bekommen«, antwortete Grant grinsend. »Wir werden ihm nichts tun, falls Sie vernünftig sind. Wir brauchen ihn vielleicht noch. Wir wollen nämlich einem Freund ‘n Gefallen tun. Verstehen Sie?«

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»Ich verstehe nicht…« Mrs. Keyl gab sich Mühe, die Männer abzulenken und in ein

Gespräch zu verwickeln. Aber Grant erkannte dies sehr rasch. »Keine Debatten, Lady!« fauchte er die Frau an. »Ich bin

nicht zum Plaudern gekommen. Ziehen Sie was über! Ich werd’ Ihnen noch ‘ne ganze Menge erklären. Aber dazu ist jetzt keine Zeit.«

Claires Nasenflügel bebten. Sie preßte die vollen Lippen zusammen.

Der Hammer des Colts war zurückgezogen und eingerastet. Die Banditen hatten das Klicken nicht gehört.

Soweit die Frau erkennen konnte, hatte keiner ihrer Entführer eine Waffe in der Hand.

Plötzlich ruckte die Frau herum. Sie richtete die Waffe auf Cole Grant.

»Hände hoch!« stieß sie hervor. »Keine Bewegung! Ich schieße sofort, wenn Sie…«

Mrs. Keyl war kein Mann. Sie konnte mit dem schweren Sechsschüsser im Notfall zwar schießen, aber sie hatte nicht die geringste Kampferfahrung und sie redete zuviel.

Die hübsche, rothaarige Frau – sie mochte Ende Zwanzig sein – brachte den angefangenen Satz nicht zu Ende. Denn plötzlich schnellte der hochgewachsene Tim Link auf sie zu. Sein bartloses, blasses Gesicht leuchtete unmittelbar vor ihr auf.

Dieser Angriff erfolgte so rasch, daß die Frau gar nicht dazu kam, abzudrücken. Sie zuckte zusammen, schrie erstickt auf.

Erst als die Schrecksekunde vorüber war, wollte sie den Finger krumm machen. Sie schloß die Augen. Da spürte sie einen stechenden Schmerz im rechten Handgelenk. Ein neuer Schrei entrang sich ihr.

Die Waffe polterte zu Boden. Link umklammerte das Handgelenk der verwirrten Frau. Er preßte es zusammen.

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»Hör mal zu, Lady!« zischte er erbost. »Versuch nicht noch mal, uns reinzulegen. Wir behandeln dich wie eine Lady, solange du dich so benimmst. Wenn du es aber willst, dann kannst du es auch anders haben.«

»Schuft! Sie gemeiner Schuft!« Claire Keyl rieb sich das schmerzende Handgelenk, das der

Mann inzwischen losgelassen hatte, und ging zum Schrank zurück. Daraus nahm sie Unterwäsche, Männerhosen und eine Jacke. Außerdem packte sie einige Röcke in eine Korbtasche.

Cole Grant hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Er starrte die Frau des Richters an wie ein Reptil. Seine Augen glitzerten.

»Gehen wir!« befahl er. Aus seiner Tasche holte er ein Tuch, das er Claire Keyl als Knebel umband. Dann führten die Verbrecher die Frau auf die menschenleere nächtliche Straße. Sie brachten sie zum Planwagen, in dem Anne Maiswell saß.

Anschließend eilten Grant und Link noch einmal zurück zu der Stelle, wo sie den Richter hatten liegen lassen. Sie hoben den Ohnmächtigen hoch und trugen ihn zum Jail. Dort legten sie ihn in die Zelle neben den Sheriff, dessen Gesicht sich vor Wut und Zorn erneut verfärbte.

»Da ist ein Zettel, Maiswell«, erklärte Grant kalt lächelnd. »Wir haben deine Frau und die vom Richter. Schätze, ihr seid schlau genug und tut das, was wir wollen. Sonst habt ihr euch die Folgen selbst zuzuschreiben. Klar?«

Ein dumpfes Stöhnen kam vom Sheriff. Er konnte nicht reden, denn der Knebel verhinderte das.

»Hör zu, Sternträger! Ihr habt genau drei Tage, um Joe Fraigh aus dem Staatsgefängnis Wichita rauszuholen. Wenn er frei ist, soll er ein Telegramm nach Salina schicken. Wir holen es dort irgendwann ab. Keine billigen Tricks, Amigo. Wir fallen nicht darauf rein. Vergeßt niemals, daß wir deine Frau und die des Richters als Geiseln haben.«

Der Sheriff bewegte sich nicht. Nur seine Augen redeten eine deutliche Sprache. Sie drückten den ganzen Haß aus, den

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dieser Mann gegen den Verbrecher empfand. Gnadenlosen Haß, der den Sheriff zum erbarmungslosen Feind machte.

»Ich leg’ den Zettel auf deinen Schreibtisch! Versucht nicht, uns einzuholen. Denkt immer an die Frauen!«

Der Sheriff schloß die Augen. Die Anstrengung, sich zu beherrschen, hatte ihm den Schweiß auf die Stirn getrieben. Der festsitzende Knebel hinderte ihn beim Atmen.

Cole Grant verließ die Zelle. Er schloß die Tür hinter sich ab und steckte den Schlüssel ein. Dann ging er zum Schreibtisch, legte den Zettel ab und beschwerte ihn mit dem Colt des Sheriffs.

Tim Link, der neben der Tür stand, beobachtete durch das kleine Fenster die Straße.

Grant legte Link die Hand auf die Schulter. »Komm, Kleiner! Jetzt lassen wir den beiden mal Zeit, sich etwas zu überlegen.«

Die Tür fiel krachend hinter den zweien ins Schloß. Und schon wenig später hörte der Sheriff, wie ein Planwagen abfuhr.

* * *

Pete Maiswell konnte die geradezu unglaubliche Ruhe des untersetzten Mannes vor sich nicht verstehen. Er kratzte sich am Hinterkopf und unterdrückte seine Wut. Doch sooft er in das Gesicht von US-Marshal Colorado blickte und die unbewegten Züge sah, hatte er das Gefühl, zerplatzen zu müssen.

»Die Kerle wollen also das Telegramm in Salina abholen?« fragte Colorado. »Wird wohl einen Tag dauern, bis ich dort bin, was?«

Zweifelnd wog der Sheriff den Kopf hin und her. »Einen Tag? Nun, ich würde sagen, daß es mindestens zwei Tage

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dauert. Auch dann, wenn Sie Ihr Pferd verdammt hernehmen, Mann.«

Colorado erhob sich. »So viel Zeit habe ich nicht«, erwiderte er. »Von meiner Dienststelle wird alles veranlaßt, daß Joe Fraigh aus dem Staatsgefängnis entlassen wird. Am dritten Tag wird das Telegramm in Salina ankommen. Zumindest hoffe ich das. Sobald Fraigh das Telegramm abgeschickt hat, muß alles wie am Schnürchen klappen.«

»Was soll das heißen? Meine Frau und die des Richters sind als Geiseln bei den Banditen. Ihr wollt sie doch nicht aufs Kreuz legen?«

Colorado zuckte die Schultern. »Tut mir leid, Sheriff. Aber der Gouverneur hat sich geweigert, Fraigh für immer laufenzulassen. Man will ihn, sobald er das Telegramm abgeschickt hat, wieder festnehmen.«

Maiswell war kalkweiß geworden. »Verrückt!« schrie er auf. »Völlig verrückt! Wissen Sie, was die Banditen mit den Frauen anstellen, wenn sie erfahren, daß sie hereingelegt worden sind?«

Colorado hob beruhigend die Hand. »Keine Sorge, Sheriff. Das werden wir verhindern. Denn ich bin in Salina, sobald die Banditen das Telegramm abholen.«

»Umbringen wird er sie!« rief der Sheriff erstickt. »Umbringen, Mann.«

Colorado räusperte sich. »Wir wollen den Teufel nicht an die Wand malen, Maiswell. Grant und seine zwei Begleiter sind schlau genug, daß sie wissen, was sie erwartet, wenn sie die Geiseln töten.«

»Ach, reden Sie doch keinen Quatsch, Mensch! Die machen wahr, was sie angedroht haben. Die bringen die Frauen kaltschnäuzig um.«

Ein ärgerlicher Zug zeigte sich auf dem Gesicht von Colorado.

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»Werden Sie doch nicht gleich hysterisch, Maiswell! Wir müssen Ruhe bewahren.«

»Den Teufel werde ich tun«, erwiderte Maiswell grimmig. »Wenn Sie mich fragen, dann sind diese Hundesöhne in die Sümpfe geritten. Kein Schwein wird sie dort finden. Aber mir sind einige Männer bekannt, die sich in den Sümpfen auskennen. Wenn ich mit diesen Männern losreite…«

»Sie bleiben hier!« fiel Colorado dem Sheriff ins Wort. »Wenn Sie mit einer Posse aufbrechen und die Banditen sehen Sie, dann ist es so gut wie sicher, daß Ihre Frau und die Frau des Richters den Tod finden.«

Die Tür zum Sheriff-Office wurde aufgestoßen. Richter Keyl kam herein. Er wirkte noch zerbrechlicher als sonst. Seine Haut war von einem fahlen Gelb überzogen. Um seine Augen lagen dunkle Ringe. Ein gequältes Lächeln grub sich in die Mundwinkel, als er auf Colorado zuging und ihm die Hand drückte.

»Da sind Sie ja«, stellte er monoton fest. »Ich habe eben noch einmal mit dem Gouverneur telegrafiert. Er sagt, daß von ihm aus alles getan wird.«

»Was wird getan?« bellte Sheriff Maiswell. »Überhaupt nichts tun sie. Sie wollen Fraigh freilassen, damit er telegrafieren kann. Und dann wollen sie ihn wieder einfangen.«

Richter Keyl schien der Schlag zu treffen. Fragend und unsicher blickte er Colorado an. »Stimmt das? Ist das wahr, Marshal?«

Colorado zuckte die Schultern. »Ich kann’s nicht ändern, Richter. Aber ich denke, man darf ruhig davon ausgehen, daß die Banditen keine Verbindung zueinander haben. Das soll ihr Verhängnis werden.«

»Sind Sie noch zu retten, Mensch?« Sheriff Maiswell ruderte wild mit den Armen. »Sorgen Sie dafür, daß die Geiseln freikommen. Wenn meine Frau… Ich meine, wenn den Frauen etwas geschieht, dann…«

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Colorado konnte die Erregung des Sheriffs nur zu gut verstehen. Aber sollte er deshalb den beiden Männern irgendwelche Hoffnungen machen, die er mit fadenscheinigen Begründungen versah?

Der Richter schien der Vernünftigere der beiden zu sein. Deshalb wandte sich Colorado an ihn.

»Richter Keyl, sorgen Sie dafür, daß der Sheriff keine Dummheiten macht. Er würde damit seine Frau und Ihre Frau mehr gefährden, als wenn er zurückbleibt und abwartet, bis er ein sicheres Ergebnis erfährt.«

Der Richter nickte abwesend. »Well, dann reite ich jetzt los, Sheriff.« Colorado wandte sich ab. Er ging zur Tür. Seine Worte, die

er ganz monoton gesagt hatte, klangen so bedeutungsschwer in den Ohren der beiden Männer, daß sie zusammenzuckten.

Die beiden Männer starrten noch lange Zeit auf die Tür, als Colorado bereits seinen prächtigen Mustanghengst King bestiegen hatte und losgeritten war.

* * *

Der fette Mann mit dem Doppelkinn, der hinter dem Schreibtisch saß, war nervös. Immer wieder blickte er auf das Zifferblatt seiner Taschenuhr, die nervtötend gleichmäßig tickte.

Ab und zu wurde die Stille vom Telegrafen unterbrochen oder durch ein Räuspern. Es stammte von dem hageren Mann, dessen eckiges Kinn sich im Gegenlicht unnatürlich groß ausnahm. Eine lange, schmale Nase, ein breiter Mund und graue Augen ließen den Mann trotz seines farblosen Aussehens gefährlich erscheinen. Auf seiner Brust glitzerte ein Messingstern.

Der andere Mann, der sich in der Telegrafenstation aufhielt, war einen halben Kopf kleiner als der Sheriff. Sein Körper sah

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aus wie der eines durchtrainierten Boxers. In der Armbeuge trug er eine doppelschüssige Schrotflinte, deren Läufe abgesägt waren.

»Er kommt nicht, Sheriff«, krächzte der Hilfssheriff mit trockener Kehle. »Wirst sehen, der kommt nicht.«

Der Telegrafist hob den Kopf. »Ich denk’ auch, daß er nicht mehr kommt«, sagte er

mürrisch. Der Sheriff verzog den Mund. Er setzte zu einer Erwiderung

an, als Schritte aufklangen. Die Tür wurde nach innen aufgedrückt. Ein

schwarzhaariger, sehniger Mann trat ein. Seine Holster waren tief geschnallt. Die Griffschalen der beiden Peacemaker glänzten.

Als der Schwarzhaarige die Sternträger sah, stutzte er, dann grinste er und ging zu dem hüfthohen Tresen.

Der Telegrafist schluckte. Schwerfällig wandte er sich um. »Mister?« fragte er und starrte den Fremden neugierig an. »Ich hab’ ‘n Telegramm«, knurrte der Fremde. Er ließ sich

Papier und Stift aushändigen, um die Nachricht zu notieren. Dabei blickte er verstohlen auf die Gesetzeshüter.

Der Stift kratzte auf dem Papier. Der Fremde schob den beschriebenen Zettel über den Tresen

und reichte ihn dem Telegrafisten. Der Fette nahm das Papier an sich, überflog den Text. Während des Lesens ging eine Verwandlung mit dem

Dicken vor. Er hatte die ganze Zeit über die Lippen bewegt. Plötzlich wurde er starr. Das gesunde Rosa verschwand von seinen Wangen und machte fahlem Gelb Platz. Dann zeigte sich eine Reihe rötlicher Flecken auf dem bartlosen Gesicht.

»He, Mister! Das… Sheriff, das ist er.« Kreischend stieß der Telegrafist diese Worte hervor. Dabei

deutete er aufgeregt, auf dem Fremden.�

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Der Hilfssheriff hob ruckartig die Schrotflinte. Und der Sheriff von Salina riß den Sechsschüsser aus dem Holster.

»Sie sind verhaftet, Mann! Nehmen Sie die Pfoten hoch!« Der Schwarzhaarige schien damit gerechnet zu haben. Er

ging ein kleines Stück zurück und hob zögernd beide Hände. Ein breites Grinsen zeigte sich auf seinem Gesicht.

»He, ihr seid mir richtig. So also wollt ihr uns aufs Kreuz legen. Ihr seid schlaue Brüder. Aber leider nicht schlau genug, Sheriff. Denn wenn ich nicht innerhalb von vier Stunden im Versteck bin, werden die Geiseln abgemurkst.«

Der Sheriff schnaubte. Seine Augen wurden zu engen Schlitzen.

»Was mit den Geiseln geschieht, ist nicht mein Problem, Amigo. Ich will nur dich und deine Freunde. Das andere geht mich nichts an. Du bist verhaftet.«

Das hatte Cole Grant offenbar nicht erwartet. Da er die Frauen als Geiseln hatte, fühlte er sich völlig sicher. Er konnte nicht wissen, daß der Sheriff von Salina auf die Geiseln keine Rücksicht nehmen würde.

Grant juckte es in den Fingern, als der Sheriff ihn aufforderte, die Hände noch höher zu heben. Der Hilfssheriff entwaffnete ihn. Doch Cole Grant, darauf erpicht, jede sich bietende Chance auszunützen, wartete nur, bis der Sternträger unmittelbar hinter ihm stand. Plötzlich kauerte er sich zusammen, wirbelte herum, wuchtete dem Gesetzeshüter die Ellbogen in den Leib, stieß ihm die Beine weg, warf sich zu Boden.

Während des Falls riß er den Peacemaker aus dem Holster. Obwohl benommen und einer Ohnmacht nahe, reagierte der

Hilfssheriff noch. Verzweifelt wollte er Grant gegen das Schienbein treten.

Der Sheriff von Salina hatte den Peacemaker in der Hand, und so fiel es ihm nicht schwer, schneller zu sein als der Schwarzhaarige, der eben die Waffe hochbrachte.

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Der Bandit sah eine grelle Stichflamme aus der Mündung des Peacemakers schießen. Ein Knall zerriß die Stille.

Grant spürte einen höllischen Schlag an seiner Rechten. Er hatte das Gefühl, sein Arm würde von tausend Messern zerfleischt. Die Waffe wurde ihm aus der Hand geprellt und schlitterte durch den Raum.

»Verfluchter Teufel!« stieß er hervor und blitzte den Sheriff wütend an. »Das wirst du noch bereuen, Sheriff!«

Der Gesetzeshüter gab dem Verbrecher keine Antwort. Er warf dem Hilfssheriff, der sich am Boden wand, einen mitleidlosen Blick zu. Dann stieß er den Colt nach vorn.

»Los, herunter mit dem Gurt! Und wenn du Mätzchen machst, dann ist es um dich geschehen, mein Freund.«

Mit langsamen, vorsichtigen Bewegungen öffnete Grant die Gurtschnalle und ließ die Waffe zu Boden fallen.

»Und jetzt nimmst du die Pfoten wieder hoch!« Grant war blaß vor Wut. Er sah ein, daß er den beiden

Männern unterlegen war. Er hatte einen Fehler gemacht. Der Hilfssheriff kam wieder auf die Beine. Er knirschte mit

den Zähnen. Es war nicht schwer zu erraten, daß er sich für die harten Schläge an Grant rächen würde.

Und genau das geschah. Bevor der Sheriff von Salina es verhindern konnte, warf sich der Hilfssheriff nach vorn. Seine Rechte kam wie ein Dampfhammer. Sie bohrte sich in den Leib des Banditen.

Grant gab einen erstickten Laut von sich. Er ging zu Boden. Dem Sheriff riß die Geduld. Er sprang nach vorn, packte

den Hilfssheriff am Kragen, zerrte ihn hoch und verabreichte ihm eine schallende Ohrfeige.

»Da, das hast du für deine verdammte Unbeherrschtheit. Und jetzt nimm dich zusammen! Der Kerl ist wichtig für uns. Wenn wir ihn nicht mehr haben, können wir die Spur der anderen nicht finden.«

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Die demütigende Behandlung, die er hatte hinnehmen müssen, ließ den Hilfssheriff vor Wut kochen. Dennoch erfüllte er die Wünsche des Sheriffs. Auf einen Wink des Gesetzeshüters hin bückte er sich und zog Cole Grant hoch.

Der Bandit war benommen, stand schwankend da und hatte offensichtlich nicht mehr die geringste Lust, nochmals Widerstand zu leisten.

Der Sheriff vollführte mit seinem Peacemaker eine bezeichnende Geste. »Los, Freundchen, gehen wir! Und wehe, wenn du dich daneben benimmst. Vergiß nicht, du hast nur eine Chance, deinen Hals zu retten, solange du lebst.«

Cole Grant wußte ganz genau, daß der Sheriff keine Späße machte. Er würde ihn kalt über den Haufen schießen, wenn er einen Fluchtversuch wagte.

Der Hilfssheriff ging voraus. Ihm folgte Grant und zum Schluß kam der Sheriff von Salina, der seinen Sechsschüsser auf den Rücken von Cole Grant gerichtet hatte.

Die Männer gingen die Straße hinunter. »He, Grant! Bevor ich es vergesse, dein Freund Fraigh ist

bereits aus dem Gefängnis heraus. Sie haben ihn freigelassen. Hier ist das Telegramm. Soll ich es dir vorlesen?«

»Scher dich zum Teufel, du verdammter Bastard!« »He, wer wird denn gleich so böse sein? Warte, ich lese es

dir vor.« »Laß mich in Ruhe damit, verdammt.« »Schön, wie du willst. Jedenfalls weißt du jetzt, daß er frei

ist.« Grant überlegte krampfhaft. Und dann kam ihm eine Idee,

wie er vielleicht seinen Hals retten konnte. Plötzlich blieb er stehen. Der Hilfssheriff merkte das zunächst nicht. Er ging weiter.

Erst als er den Ruf des Sheriffs vernahm, zuckte er zusammen und drehte sich rasch um.

»Ich warne dich, Grant!«

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»Keine Sorge, Sheriff. Ich will dich nicht angreifen. Ich will dir nur was sagen. Wenn du mir jetzt keine Gelegenheit dazu gibst, zurückzureiten zu meinem Versteck, dann sind die beiden Frauen geliefert. So haben es meine Freunde und ich ausgemacht. Und du bist an den Folgen schuld.«

Der Sheriff lachte leise auf. »Das denkst du nur, mein Junge. Ich bin nicht schuld. Deine

Freunde bringen die Frauen um. Und das wird deinen Hals kosten.«

Cole Grant sah ein, daß auch dieser Weg nicht zum erhofften Erfolg führte. Er resignierte, senkte den Kopf und ging, als der Sheriff ihm die Waffe zwischen die Schulterblätter drückte, hinter dem Hilfssheriff her.

Während des restlichen Weges schwiegen die drei Männer. Ein einzelnes Pferd stand vor einem Hitchrack in der Nähe

des Sheriff-Office. Ein prächtiger Mustanghengst, dessen herrlicher Körperbau Kraft, Energie und Ausdauer verriet.

Der Hilfssheriff schob die Tür zum Sheriff-Office auf. Er ging bis zur Mitte des Raumes und legte dort die Waffe auf den Schreibtisch.

Grant passierte die Tür und hinter ihm kam der Sheriff. Kaum hatte der Gesetzeshüter von Salina seine Füße richtig

im Office, als plötzlich eine schneidende Stimme aufklang. »Hände hoch! Waffen weg! Aber rasch!«

Cole Grant glaubte, der Schlag würde ihn treffen. Er wandte sich ganz langsam um und sah den Hilfssheriff und den Sheriff die Hände hochnehmen. Die Waffen des Sheriffs polterten zu Boden.

Der Mann, der die beiden Gesetzeshüter mit einem Sechsschüsser bedrohte, war Cole Grant unbekannt. Er hatte ein kantiges Gesicht und eine etwas gedrungene Gestalt. Seine Augen waren leicht zugekniffen, nicht eine einzige Bewegung schien ihnen zu entgehen.

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»He, Fremder! Schätze, das wirst du noch mächtig bereuen.«

»Halt’s Maul, Sheriff! Du bist nicht gefragt. Und du«, der Mann wandte sich an Cole Grant, »holst jetzt sofort deine Waffen! Nimm auch einige Schießprügel vom Sheriff mit. Ich denke, die können wir gebrauchen.«

Cole Grant brachte den Mund kaum zu vor Staunen. Aber rasch verwandelte sich dieses Staunen in Mißtrauen.

»He, Amigo, was soll das? Was willst du? Ich kenne dich nicht.«

»Ich dich auch nicht. Und jetzt spar dir deinen Atem! Wir müssen verschwinden.«

Cole Grant nahm seinen Waffengurt wieder an sich. Er schnallte ihn um. In der Zwischenzeit ging der andere Mann nach vorn. Er richtete seinen Peacemaker auf die Brust des Sheriffs.

»Los, in die Zelle mit euch!« Zusammen brachten die beiden Männer den Sheriff und den

Gehilfen in die Zelle. Dann knebelten sie die beiden und sperrten schließlich die Tür hinter sich ab.

»Hast du ein Pferd?« Die Frage war an Cole Grant gerichtet. »Es steht draußen vor der Stadt. Ist noch ein gutes Stück zu

Fuß.« »Gut, dann steig mit auf meinen Hengst.« Der Schecke schnaubte unruhig, als das Gewicht von zwei

Männern auf seinem Rücken lastete. Doch auf das Kommando des Reiters trabte er willig an.

»He, Mann, ich möchte jetzt wissen, was für einer du bist. Warum hast du mich herausgehauen?«

Der dunkelhaarige, gedrungen wirkende Mann lächelte. »Ich hab’ eben was dagegen, wenn solche Idioten wie dieser Sheriff und sein Gehilfe irgendwelche Leute einsperren. Vor ein paar

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Monaten haben sie hier meinen Bruder ins Jail gesperrt und seither habe ich ihn nicht mehr gesehen. Ich suche nach ihm.«

»Wie heißt du?« »Man nennt mich Colorado. Und wer bist du?« »Grant heiße ich. Meine Freunde nennen mich Cole. Ein

paar Kumpels von mir sind in der Nähe versteckt. Sie warten auf mich.«

Sie hatten das Pferd von Cole Grant erreicht. Colorado verhielt den Schecken und ließ Cole absteigen.

Der Bandit bestieg den Braunen, dessen Zügel an einem dünnen Baumstamm befestigt waren.

»He, was hast du jetzt vor, Colorado? Du mußt doch untertauchen. Wenn die zwei Kerle mit dem Stern entdeckt werden, dann stellen die glatt eine Posse auf die Beine. Und dann wird’s höllisch heiß werden.«

»Kann sein, aber ich laß mich nicht erwischen.« »Das sagst du so leicht. Wenn du willst, kannst du mit mir

in die Sümpfe reiten. Ich kenn’ mich dort ein bißchen aus. Ich zeig’ dir einen Weg, auf dem du allein weiterfindest. Da suchen sie dich ganz bestimmt nicht.«

Colorado nickte. »Einverstanden. Worauf warten wir noch?«

Die Männer trieben die Pferde an. Sie ritten rasch und hatten bald den Rand der Sümpfe erreicht.

Cole Grant kannte den Weg offenbar sehr gut. Immer wieder beobachtete er von der Seite seinen Begleiter. Er bemerkte, daß dieser nach oben blickte und nach einem Punkt im stahlblauen Himmel Ausschau hielt. Dieser Punkt war ein Adler, wie Cole Grant sehr schnell feststellen konnte.

»Sei vorsichtig! Du mußt genau auf dem Pfad bleiben. Wenn dein Pferd danebentritt, gerätst du in den Sumpf. Und da kommst du nicht mehr raus.«

Grant hatte kaum die Worte über den Lippen, als er plötzlich einen Schrei ausstieß. Er deutete nach hinten.

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»Verdammt, sie kommen schon!« schrie er. Und da knallte auch schon der erste Schuß.

Colorado zog die Winchester aus dem Scabbard. Er hebelte eine Patrone in den Lauf und wollte auf die Verfolger anlegen. Es hatte wenig Sinn zu schießen, denn die Posse aus Salina war noch viel zu weit entfernt.

»Nicht schießen, es bringt nichts! Los, reiten wir! Schnell, folge mir!«

»Wohin denn?« »Reite mit mir! Reite mit in unser Versteck! Vielleicht paßt

du zu uns.« »Wer sind deine Freunde? Und warum seid ihr im Sumpf?« »Erklär’ ich dir später, Mann. Jetzt haben wir keine Zeit,

lange zu quatschen. Jedenfalls haben wir guten Grund, daß wir hier sind.«

Cole Grant trieb sein Pferd an. Plötzlich raschelte es rechts von ihm.

»Eine Schlange! Sei vorsichtig! Eine Schlange!« Das Reptil, das aus dem kniehohen Gras herauskam, gab ein

gefährliches, durchdringendes Zischen von sich. Grants Pferd erschrak. Mit einem urplötzlichen Satz schnellte es nach vorne. Grant, der sich gerade noch am Sattelhorn festhalten konnte, stieß einen unterdrückten Fluch aus. Er konnte nicht verhindern, daß sein Brauner vom Pfad abkam und mit den Vorderläufen im Sumpf versank.

Der zähe Brei aus Schlamm legte sich wie eine zweite Haut um die Vorderläufe und zog das Pferd rasch hinunter.

Das Tier wieherte schrill und voller Angst. Es versuchte, auszukeilen und überschlug sich beinahe.

Colorado sprang aus dem Sattel. Er hastete nach vorne. »Herunter vom Tier!« rief er. »Los, mach schon, Mann!

Schnell, herunter!« Mit vereinten Kräften versuchten die beiden Männer, das

Pferd aus dem Sumpf zu ziehen. Aber ihre Mühen waren

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vergeblich. Unerbittlich und gnadenlos zog der zähe Brei das Tier wie ein gieriger Polyp in die Tiefe. Es hatte nur wenige Sekunden gedauert, bis es bereits bis zur Brust im Schlamm stak.

Grant stand da. Sein Gesicht war fahl. Er fluchte und er ruderte verzweifelt mit den Händen.

»Gib dem Tier den Gnadenschuß. Dann muß es nicht so lange leiden.«

Colorado reichte dem Banditen seine Winchester. Unschlüssig hielt Cole Grant die Waffe in den Händen. Er

zögerte, auf das Pferd zu schießen. Colorado nahm die Winchester wieder an sich. Er konnte

nicht mitansehen, wie das Tier sich abquälte. Das Tier wußte ganz genau, daß es keine Rettung mehr zu erwarten hatte.

Der Marshal legte an. Er zielte kurz und drückte dann ab. Laut hallte der Knall über den Sumpf. Und dann herrschte wieder Stille. Eine Stille jedoch, die nicht beruhigend, sondern sehr bedrohlich wirkte.

»Komm, steig auf! Wir müssen wieder zu zweit auf meinem Tier reiten.«

Colorado winkte dem Verbrecher zu und kletterte in den Sattel.

* * *

Das Versteck der Banditen befand sich auf einer Art Halbinsel, die von brackiger, stinkender Brühe umspült war.

Ben Frimmley, der krummbeinige Bandit, hatte einen genialen Einfall. Ihm paßte es nicht, daß er ständig auf der Hut sein sollte, damit die Geiseln nicht flohen. Und um auf Nummer Sicher zu gehen, hatte er Anne Maiswell und Claire Keyl in einem kleinen Boot auf jene fast kreisrunde Insel gebracht, die kaum vierzig Schritt von ihrem Lager entfernt war. Dort konnten die Frauen bestimmt nicht fliehen. Dieser

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Ort war sicherer als das beste Jail in den Staaten. Wenn sie versuchten, schwimmend von der Insel wegzukommen, war ihnen der Tod sicher. Kaimane, Schlangen und eine Unzahl anderer gefährlicher Tiere lauerten darauf, daß sich jemand in das brackige Wasser wagte. Und selbst wenn es den Frauen gelingen sollte, den Tieren zu entkommen, würden sie garantiert im Sumpf den Tod finden.

Die Insel war etwa fünfundzwanzig Fuß breit, vierzig Fuß lang. Einige Büsche und Bäume befanden sich darauf.

Mit Entsetzen hatten die beiden Frauen ihren neuen Aufenthaltsort erforscht. Sie ekelten sich maßlos vor den Scharen von Spinnen und Schnaken. Unerhört vielfältig waren die zahlreichen Arten von Insekten. Grauen und Angst erfaßten die Frauen, sooft sie eine Schlange oder einen Kaiman sahen. Und nicht minder schrecklich empfanden sie es, daß sie in dieser völlig abgeschiedenen Welt keine Möglichkeit hatten, sich zu pflegen. Sie konnten sich nicht einmal waschen, ohne Gefahr zu laufen, von einer Schlange gebissen zu werden.

Für Anne Maiswell und Claire Keyl wurde das Leben zur Hölle. Sie beteten. Sie flehten alle Heiligen an, daß bald der Tag kommen möge, an dem sie wieder die Freiheit erhielten. Doch dies war nicht mehr als ein Wunschtraum. Vielleicht würde er wahr werden. Doch sehr zuversichtlich waren die beiden Geiseln nicht.

Ben Frimmley stand am äußersten Ende der Halbinsel. Nur ein einziger schmaler Pfad verband sie mit dem Festland. Und diesen Pfad hatte Cole Grant benutzt, als er nach Salina geritten war.

Ein uraltes Boot lag vertäut in einem schmalen Rinnsal. Leise schwappte das Wasser dagegen. Höllische Hitze ließ Gasblasen im Sumpf aufsteigen. Schwärme von Moskitos machten das Leben zur Qual. Scheußlicher Gestank machte das Atmen schwer.

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Seit Tagen schon hatte Ben Frimmley rasende Kopfschmerzen. Das Klima in den Sümpfen war entsetzlich schlecht. Frimmley ärgerte sich, daß Cole Grant nicht auf seinen Vorschlag eingegangen war, einen Hügel als Versteck auszusuchen. Von dort oben hätten sie zumindest einen Überblick über das Land gehabt und jeden nahenden Verfolger rechtzeitig ausmachen können. Außerdem wäre die Luft wesentlich besser gewesen dort oben, denn hin und wieder strich zumindest ein Windstoß über die Sümpfe, wovon jedoch in den Niederungen nichts zu bemerken war. Wie eine stickige, heiße Käseglocke lag die Hitze über dieser unwirtlichen Gegend.

Cole Grant jedoch hatte die Ansicht vertreten, daß sie im Sumpf wesentlich mehr Chancen haben würden, ihre Stellung zu behaupten, falls sie angegriffen würden.

Tim Link, die Rotznase, war natürlich auf Cole Grants Seite. So war es immer.

Link kam heran. Er atmete schwer. »Siehst nicht sehr gut aus, Junge«, bemerkte Frimmley.

»Hast du Fieber?« Link rann der Schweiß in Strömen über das Gesicht. Seine

Kleider klebten an der Haut. »Kann sein«, sagte er. »Hoffentlich bringt Cole eine gute Nachricht, Mensch. Ich halte es nicht mehr aus in diesem verdammten Land. Da verreckt man ja.«

Frimmley grinste. Er verzog sein Gesicht und spie aus. »Ich will dir was sagen, Kleiner«, knurrte er. »Wenn du

denkst, daß es schon damit getan ist, daß Grant mit einer guten Nachricht zurückkommt, dann irrst du dich. Wir müssen uns erst noch mit Fraigh treffen, bevor alles vorüber ist.«

Link hörte nicht zu, was sein Kumpan ihm erzählte. Er blickte hinüber auf die Insel im Sumpf. Seine Augen glänzten.

Frimmley folgte dem Blick des Jungen. Er sah, daß Claire Keyl den Oberkörper entblößt hatte und sich wusch. Als die

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Frau drüben bemerkte, daß die beiden Männer sie beobachteten, wandte sie sich rasch um und drehte ihnen den Rücken zu.

»He, Kleiner! Solltest dich besser um deine Gesundheit kümmern!« knurrte Frimmley und grinste anzüglich.

Ein Schuß zerriß die drückende Stille. Link und Frimmley zuckten zusammen. Sie verharrten,

blieben wie erstarrt stehen. Dann rannten sie zum Lagerplatz, rissen ihre Waffen an sich und gingen rasch in Deckung.

»Verflucht, Kleiner, da treibt sich einer rum. Wenn man uns findet, ist die Hölle los. Runter in Deckung!«

»Soll ich ihn erschießen?« »Müssen wir wohl«, knurrte Frimmley. »Wenn er uns sieht,

dann verrät er uns. Und dann ist es um uns geschehen.« »Mensch Frimmley, aber wenn der Kerl, der sich da

herumtreibt, plötzlich verschwindet, dann suchen sie ihn doch.«

»Sollen sie. Aber bis dahin ist einige Zeit vergangen.« Die Nerven der beiden Verbrecher waren zum Zerreißen

gespannt. Sie warteten, spähten auf den Pfad, wagten kaum zu atmen.

Nach geraumer Zeit hörte man das Schmatzen von Pferdehufen im weichen Boden. Und gleich darauf hörten die Männer Stimmen.

»Noch nicht schießen! Ich werde es dir rechtzeitig sagen«, zischte Frimmley seinem Begleiter zu.

Link nickte. Seine Hände zitterten. Die Aufregung nahm ihn schwer mit. Außerdem wurde er vom Fieber gequält.

Ein Mustanghengst tauchte auf. Im Sattel saß ein Mann, den die beiden Verbrecher noch nicht gesehen hatten. Und hinter ihm saß ein anderer.

Frimmley hatte schon seine Waffe angelegt. In diesem Moment erkannte er Cole Grant.�

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»He, das ist ja Cole!« rief er erleichtert. Er wollte sich schon erheben, doch da kam ihm die Idee, daß man ihm und seinem Begleiter vielleicht nur eine Falle stellen wollte.

Cole Grant lächelte grimmig, als er über die Kruppe des Pferdes rutschte und auf die Erde sprang. Er hob die Hand. »He, Freunde! Da sind wir.«

Frimmley und Link lösten sich aus der Deckung. Sie standen auf und gingen auf ihren Kumpan zu.

»Wer ist das?« fragte Frimmley. »Der ist in Ordnung«, entgegnete Grant. »Wenn er nicht

gewesen wäre, würde ich jetzt im Jail von Salina sitzen. Ich hab’ ihn mitgebracht, weil sie uns verfolgt haben.«

»Verdammt, das schmeckt mir aber gar nicht«, knurrte Frimmley wütend

Einige Sekunden lang starrte er Colorado unverwandt an. Er neigte den Kopf zur Seite und immer wieder streifte sein Blick den untersetzten Fremden. Irgendwie wirkte dieser Mann auf Frimmley ungemein gefährlich. Doch der Bandit hätte beim besten Willen nicht zu sagen vermocht, warum er ganz tief in seinem Inneren ein leises Zittern verspürte.

War es die Gelassenheit, die Colorado ausstrahlte? Oder war es eine Erinnerung, die in Frimmley nur noch ganz undeutlich und verwischt vorhanden war?

Grant wandte sich zu Colorado. »Das also sind meine Freunde. Der Krummbeinige ist Ben Frimmley und der Kleine, das ist Tim Link. Eine Rotznase, aber ein sehr fähiger Bursche. Und das ist Colorado. Er ist ‘n feiner Kerl. Schätze, der wird zu uns passen.«

»Colorado?« fragte Frimmley leise. »He, den Namen hab’ ich doch schon irgendwann mal gehört.«

Der US-Marshal bemühte sich, seinen Schreck zu verbergen. Er hatte Ben Frimmley erkannt. Und zwar war es schon Jahre her, daß er mit diesem Verbrecher zu tun gehabt

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hatte. Aber er konnte nicht ausschließen, daß Ben Frimmley bald auf den Gedanken kam, wer er wirklich war.

* * *

Colorado war sofort aufgefallen, daß die beiden Frauen sich nicht im Lager befanden. Er fragte sich umsonst, was die Banditen mit den Geiseln getan hatten. Es wurde auch nicht darüber gesprochen. Erst als die Dämmerung anbrach, bekam er von selbst eine Antwort auf die Frage, die er nicht gestellt hatte.

Grant und Frimmley fuhren hinüber zu der Insel. Sie benutzten das alte Boot und stakten es mit einigen zugeschnittenen langen Ästen hinüber.

Link hielt sich bei Colorado auf. Der Kleine fieberte ziemlich heftig.

Seine Augen glänzten und er wirkte in diesem Zustand wie ein Kind, das hilflos ist und nicht weiß, was es tun soll.

»He, Kleiner! Warte, ich lege dir einen Umschlag auf die Stirn. Dann geht es dir wieder besser.«

Der Angesprochene schüttelte heftig den Kopf. »Nein, ich verzichte.«

Colorado drehte sich eine Zigarette. Er steckte sie an und rauchte nachdenklich vor sich hin.

Plötzlich begann Link unvermittelt zu reden. »Sag mal, Colorado, ein Galgenvogel bist du nicht. Du siehst anders aus. Du bist keiner von unserer Sorte.«

Colorado runzelte die Stirn. Er wandte sich dem Jungen langsam zu. Und dadurch gewann er Zeit, sich eine Antwort zu überlegen.

»Wofür hältst du mich denn, Kleiner?« Tim Link hob die Schultern und ließ sie wieder sinken.

»Keine Ahnung. Auf alle Fälle weiß ich, daß du keiner bist wie

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wir. Oder keiner wie Grant oder Frimmley. Dein Gesicht ist anders. Deine Augen sehen ganz anders aus.«

»Ach, was du nicht sagst. Du bist wohl einer von denen, die am Gesicht eines Menschen sofort erkennen, was hinter seiner Stirn steckt?«

»Yea, ich glaube schon, daß man dies erkennen kann. Mein Vater hat dies immer erkannt. Er hat sich nie geirrt.«

Die Unterhaltung nahm allmählich Formen an, daß es geraten schien, schleunigst ein anderes Thema zu wählen. Der Junge erkannte trotz seines Zustandes, daß er nicht einen Schurken vor sich hatte. Das konnte sehr peinlich werden. Wenn er seine Beobachtung weitererzählte und dadurch Frimmley oder Grant mißtrauisch machte, konnte es für Colorado sehr unangenehm werden. Ausgerechnet jetzt, wo er sich in einer sehr vielversprechenden Lage befand.

Durch das geschickte Manöver, mit dem der US-Marshal den Verbrecher Grant aus dem Jail aus Salina befreit hatte, war es ihm gelungen, sofort ein ganz bestimmtes Vertrauensverhältnis zwischen sich und dem Schurken aufzubauen. Grant hatte keinen Verdacht geschöpft und ihm jedes Wort abgekauft, das er ihm gesagt hatte.

»Du kannst mich auch für einen Heiligen halten, Junge«, brummte Colorado mißmutig. »Das ist mir sogar lieber. Ein Beweis mehr, daß mein Gesicht so brav aussieht, wie ich mir das immer gewünscht habe. Dann fällt wenigstens jeder auf mich herein.«

Obwohl er sich darüber im klaren war, daß er einen ausgewachsenen Verbrecher vor sich hatte, der vor keinem Mittel zurückschreckte, um sein Ziel zu erreichen, hatte Colorado mit dem Jungen Mitleid. Kein Mensch wird als Verbrecher geboren. Und ganz bestimmt war Tim Link in Bahnen geraten, aus denen er nun nicht mehr heraus konnte. Welche Umstände dabei eine wesentliche Rolle gespielt hatten, war jetzt nicht mehr festzustellen. Aber irgendwo in Tim Link

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mußte es einen weichen Kern geben. Dort mußte der Junge noch empfänglich sein für das Gute im Menschen.

Die Unterhaltung hatte einen toten Punkt erreicht. Tim Link starrte in den langsam bleigrau werdenden Himmel. Er dachte nach.

Colorado beobachtete den jungen Mann unauffällig. Das Gesicht des Jungen war gezeichnet von zahlreichen Narben. Obwohl Tim noch sehr jung war, wirkte seine Miene im dämmrigen Licht traurig und verbittert. Sein Gesicht sah sehr alt aus.

Auf der Insel, auf der sich die beiden Frauen befanden, klangen erregte Stimmen auf.

Anne Maiswell und Claire Keyl redeten aufgeregt durcheinander. Dazwischen waren die Stimmen der beiden Verbrecher zu hören.

Colorado versuchte, aus den Gesprächsfetzen, die er erlauschte, etwas zu verstehen. Aber das Leben, das jetzt überall im Sumpf begann, war von einer ungeheuren Geräuschkulisse umgeben. Frösche quakten, der Sumpfbrodelte. Überall war Plätschern, Knacken, Knistern, Zischen, Lispeln und Säuseln zu vernehmen. Und Myriaden von Moskitos fielen gierig über die Menschen her. Es war unmöglich, sich ihrer zu erwehren.

Tim Link erhob sich. Er ging zurück zum Lager und steckte das Feuer an. Bald loderten die Flammen auf. Der beizende Rauch vertrieb wenigstens einige der blutsaugenden Biester.

Colorado fragte sich, wie sich Cole Grant nun weiter verhalten würde. Er wußte, daß sein Freund Fraigh in Freiheit war. Das hatte der Sheriff von Salina laut und deutlich verkündet Andererseits aber befand sich auch eine Posse auf den Fersen der Banditen.

Natürlich war das Telegramm, das der Sheriff von Salinaangeblich in Händen hatte, ebenso fingiert wie der Überfall,

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den Colorado auf den Sheriff und dessen Gehilfen ausgeführt hatte. Er hatte sich zuvor mit den beiden abgesprochen.

Diese List hatte zwar zu einem ersten Erfolg geführt, damit war aber noch nichts gewonnen. Noch stand die Frage offen, ob die Banditen nicht doch erfahren würden, daß ihr Freund nicht freigekommen war.

Man mochte Cole Grant eine ganze Menge zutrauen. Doch Colorado wehrte sich dagegen, diesen Mann für dumm zu halten. Er war sicher, daß die drei Schurken mit Fraigh ein ganz bestimmtes Zeichen vereinbart hatten oder einen Treffpunkt, um sicher zu sein. Und so konnten Stunden oder Tage, vielleicht auch Wochen vergehen, bis sie genau Bescheid wußten.

Für den US-Marshal bedeutete das, daß er die Geiseln auf dem schnellsten Weg in Sicherheit bringen mußte.

So, wie Colorado die Lage einschätzte, standen die Chancen sehr schlecht. Obwohl es ihm leichtgefallen wäre, die Banditen zu übertölpeln, hatte er keine Aussichten, heil durch den Sumpf zu kommen und die Frauen in Sicherheit zu bringen.

Der Marshal blickte sinnierend auf die Insel. Sein erster Schritt würde wohl sein, daß er zu den Frauen kam. Vielleicht ließ sich sogar eine Möglichkeit finden, daß er das Boot der Banditen nahm und es drüben bei der Insel befestigte. Damit hatte er den Verbrechern den Weg zunächst abgeschnitten. Und somit hätte er zwischen den Frauen und deren Entführern eine gewisse Distanz geschaffen, die wenigstens einen Teil der erforderlichen Sicherheit verschaffte.

Colorado und der Sheriff von Salina hatten vereinbart, daß die Posse aus der Stadt den Banditen nur sehr langsam folgen sollte. Am liebsten hätte es der Marshal gesehen, wenn das Aufgebot an der Grenze zu den Sümpfen haltgemacht und dort gewartet hätte. Doch soweit hatte er den Sheriff nicht überreden können.

Dies aber hieß, daß Colorado sich erst recht beeilen mußte.

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* * *�

Ben Frimmley hatte lange gegrübelt und nachgedacht, und dann war die Erinnerung zurückgekehrt. Eine anfangs sehr verwischte Erinnerung, die aber allmählich immer deutlichere Formen annahm.

Das Essen, das die Banditen den Frauen auf die Insel gebracht hatten, war nicht nur spärlich, sondern auch ungenießbar.

Grant und Frimmley stellten wie die meisten Männer, die sich in der Wildnis durchschlagen müssen, keine Ansprüche an das Essen. Bei den beiden Frauen war das jedoch etwas anders. Trotz aller Überwindung waren sie nicht in der Lage, das halbverbrannte Fleisch einer Wildgans hinunterzuwürgen. Nicht einmal der schreckliche Hunger, der in ihren Eingeweiden wühlte, konnte die Frauen bewegen, die Nahrung zu sich zu nehmen.

Dies hatte zu einer sehr erregten Debatte zwischen den Banditen und den Geiseln geführt. Wie nicht anders zu erwarten, endete die Diskussion damit, daß Grant den Gefangenen erklärte, sie hätten überhaupt nichts mehr zu erwarten, wenn sie sich mit dem nicht bescheiden würden, was er ihnen vorsetzte.

Als Grant und Frimmley wieder im Boot saßen und den Rückweg antraten, räusperte sich Frimmley.

Grant merkte, daß sein Kumpan etwas loswerden wollte. »Was willst du?« fragte er. »Kennst du diesen Colorado schon länger?« »Seit heute. Is’ aber ‘n Kerl, der in Ordnung ist. Ich habe

eine Nase dafür.« »Du hast dir die Nase wahrscheinlich verbogen, Mensch.

Ich hab’ mit diesem Hundesohn schon mal etwas zu tun gehabt. Weißt du, wen du uns da mitgebracht hast?«

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»Was soll dieses Gewäsch? He, was willst du damit sagen? Willst du mich vielleicht auf den Arm nehmen?«

»Er ist ein Bulle. Verdammt noch mal, Grant, das ist ein Bulle, dem du auf den Leim gegangen bist. Er sieht aus, als könnte er kein Wässerchen trüben. In Wirklichkeit aber ist er ein ganz gefährlicher Hund. Er ist schlimmer als eine Klapperschlange. Und wenn er dich erst einmal hat, dann läßt er dich nie mehr los. Er ist einer der härtesten Kerle, die es überhaupt gibt.«

Cole Grant war wie vor den Kopf geschlagen. Er starrte seinen Gefährten aus großen Augen an. Dann hüstelte er, räusperte sich verlegen und platzte schließlich heraus: »Dich hat wohl ein Pferd getreten, du Idiot! Wie kommst du denn auf solchen Blödsinn?«

Frimmley hob beschwichtigend die Hand. »Nicht so laut, Mann. Er hört uns sonst. Aber ich bin hundertprozentig sicher, er ist ein Bulle. Und wenn wir den Kerl nicht sofort unschädlich machen, dann hetzt er uns den Teufel auf den Hals.«

»Bist du wirklich sicher?« krächzte Grant. »Todsicher«, erwiderte Frimmley. »Der Name hat sich in

mein Gedächtnis eingebrannt. Ich kann ihn in meinem ganzen Leben nicht vergessen. Das war damals drüben in Kansas. Mitten im Winter. Ich wäre beinahe erfroren. Wir hatten nichts mehr zu fressen und nichts mehr zu saufen. Die Tiere sind uns unter dem Hintern weggestorben. Und dann ist auch noch dieser verdammte Schuft gekommen. Er und sein Adler…«

»Adler?« fragte Grant überrascht. »Hast du gesagt, er hat einen Adler?«

Frimmley nickte. »Yea, er hat einen Adler. So einen riesigen Burschen. Und dieses verdammte Vieh ist zum Kampf abgerichtet.«

»Einen Adler? Himmel noch mal, ich hab’ doch so einen Vogel gesehen.«

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»Siehst du, er ist es also. Glaubst du es mir jetzt?« Grant schien erstarrt zu sein. Er hatte aufgehört mit dem

Staken und sein Gesicht sah aus wie eine aus Stein gehauene Maske. »Er hat mich reingelegt. Dieser verfluchte Hund! Er hat mich reingelegt. Aber das werde ich verhindern. Ich werde ihn zum Teufel jagen. Der Sumpf soll ihn verschlingen. Aber vorher mache ich mir noch einen Spaß mit ihm. Ich werde ihn windelweich prügeln.«

»Er darf nicht merken, daß wir ihn durchschaut haben«, warf Frimmley ein. »Denn wenn er nicht mißtrauisch wird, dann können wir ihn leichter übertölpeln. Aber sobald dieser Hundesohn erst einmal etwas spitzkriegt, ist er in der Lage, uns bei lebendigem Leib zu zerreißen.«

Die Worte von Frimmley hatte Cole Grant überhaupt nicht mehr gehört. Er war mit seinen Gedanken schon an ganz anderer Stelle.

»Dann ist dieses verfluchte Telegramm auch nicht richtig gewesen. Die wollten uns nur hinhalten. Aber gut, sie wollen es so haben. Und jetzt werden eben wir handeln. Sollen die beiden Geiseln eben vor die Hunde gehen. Jetzt werden wir zeigen, daß wir nicht mit uns spielen lassen. Erst überwältigen wir diesen Hundesohn, dann treten wir mit diesen hinterlistigen Schurken in Verbindung, die einen Stern auf der Brust tragen. Wir geben ihnen eine letzte Frist. Und wenn sie auch dann noch nicht bereit sind, endlich so zu verhandeln, wie wir es uns vorstellen, dann werden wir den Dingen ihren Lauf lassen. Aber da sie uns schon hereinzulegen versucht haben, müssen sie mindestens fünfzigtausend Eier ausspucken. Das soll der Handel sein, den ich jetzt vorschlagen würde.«

Frimmley kratzte sich am Schädel. »Und was willst du machen, wenn sie auf deinen Vorschlag eingehen?«

»Dann können wir auch nichts anderes machen, als daß wir die beiden Geiseln töten und den Bullen auch. Bis die gefunden

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werden, sind ein paar hundert Jahre vergangen. Der Sumpf ist tief und er schweigt. Er gibt seine Opfer nicht mehr her.«

»Aber Tim darf nichts davon wissen«, begann nun Frimmley wieder zu reden. »Der Kleine ist noch zu weich dazu. Ich weiß nicht, ob er nicht durchdreht, wenn er merkt, was wir vorhaben. Es ist vielleicht besser, wenn wir ihn aus der Geschichte noch herauslassen.«

»Dazu ist es zu spät«, entgegnete Grant. »Er muß mit uns tun, was wir für richtig halten. Und irgendwann muß er auch einmal lernen, daß es im Notfall wichtig ist, hart zu bleiben.«

Das Boot näherte sich der Halbinsel. Unter dem Kiel knirschte bereits feiner Sand und schmatzte der Sumpf.

Vorsichtig stiegen Grant und Frimmley aus. Sie gingen nebeneinander auf das Lagerfeuer zu.

Grant lockerte den Colt, bevor er in den Lichtkreis des Feuers trat, an dem Colorado und Tim Link saßen.

* * *

Colorado fiel es im Unterbewußtsein auf, daß sich die Banditen sehr langsam dem Feuer näherten. Er hatte auch bemerkt, daß sie sich auf dem Boot sehr lange und offensichtlich sehr erregt miteinander unterhielten. Das war nach der wenig ermutigenden Feststellung, daß Frimmley und er sich kannten, ein sehr besorgniserregendes Zeichen. Also war ihm wieder eingefallen, welche Verbindung zwischen ihm und dem US-Marshal bestand.

Als Grant hinter ihm ans Feuer trat, blickte Colorado hoch. Er sah das Gesicht des Banditen. Es war hart Die Züge wirkten verkniffen. Die Schlitzaugen schienen Colorado durchbohren zu wollen.

Aber der US-Marshal bewegte sich nicht. Er rührte sich nicht von der Stelle und tat, als hätte er nichts bemerkt. Er

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stellte sich harmlos und unwissend, obwohl er nun auch den letzten Beweis hatte, daß seine Rolle verraten worden war.

Grant blieb hinter dem Marshal stehen. Er sprach kein Wort. Colorado blickte ins Feuer. Er wirkte schläfrig. In Wahrheit

jedoch waren seine Sinne angespannt, seine Nerven zitterten und seine Muskeln waren bereit zum plötzlichen Zuschlagen.

Grant wartete, bis von der anderen Seite Frimmley ans Feuer kam. Die Verbrecher verständigten sich durch Blicke.

Colorado sah, daß Frimmley leicht zwinkerte. Und das wertete der US-Marshal als den entscheidenden Moment, in dem der Angriff beginnen sollte.

Mit einem explosionsartigen Satz schnellte der Marshal hoch. Dies kam so überraschend für die angriffsbereiten Verbrecher, daß sie so verblüfft waren wie selten vorher in ihrem Leben. Sie waren nicht in der Lage, sofort zu handeln. Wie erstarrt standen sie da. Wenn auch nur für Sekundenbruchteile.

Colorado genügte diese kurze Zeitspanne. Er rammte seinem Hintermann Grant die geballte Rechte in den Leib, schickte rasch einen glasharten Haken hinterher, dann trat er ihn mit dem Stiefelabsatz gegen das Schienbein, und schon hetzte der US-Marshal in die Dunkelheit hinein.

Colorado spielte nicht nur in einer Hinsicht mit dem Leben, denn gleich krachten schon die ersten Schüsse und übertönten alle anderen Geräusche. Gleich darauf brüllte auch der Colt von Frimmley auf. Er spie grelle Mündungsflammen aus und glühendes Blei.

Die Kugeln schlugen in bedrohlicher Nähe von Colorado ein.

Aber der Marshal hatte weniger Angst, von einer der Kugeln getroffen zu werden. Mehr befürchtete er, in der Dunkelheit in ein Sumpfloch zu geraten. Denn das hätte für ihn das Ende bedeuten müssen.

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Dennoch hetzte der Marshal in die Richtung, wo er inzwischen schon schwach die Umrisse des Bootes ausmachen konnte.

Mit einem gewaltigen Sprung setzte der Marshal ab. Er erreichte das Boot, stürzte, rollte sich auf den Rücken und richtete sich dann auf.

So schnell er konnte, riß der Marshal die Stange an sich, mit der Frimmley gestakt hatte. Dann setzte er alle Kräfte ein, um möglichst schnell von der Halbinsel aus auf die Insel zu gelangen, auf der sich die beiden Frauen befanden.

Inzwischen waren jedoch Cole Grant und Frimmley näher herangekommen. Die beiden feuerten, was das Zeug hielt.

Link, der nun seinen ersten Eindruck, was Colorado betraf, als zutreffend betrachten mußte, dieser Tim Link zögerte noch, auf Colorado zu schießen. Irgend etwas in ihm hielt ihn davon ab.

Der US-Marshal bot die beste Zielscheibe, die er sich vorstellen konnte.

Wenn die Verbrecher einigermaßen zielsicher schießen würden, dann mußten sie ihn zwangsläufig durchlöchern. So hieß es, möglichst schnell viel Raum zwischen sich und die Banditen zu bringen. Die Dämmerung würde dem Marshal zu Hilfe kommen. Denn in ihrer Ummantelung verwischten sich die Konturen und verschwammen die Umrisse. Sie ließ nicht zu, daß die Banditen noch einen gezielten Schuß abgeben würden.

Das Boot schien sich im Schneckentempo zu bewegen, obwohl Colorado alles tat, um das Tempo zu beschleunigen. Die Kugeln der Banditen klatschten ringsum ins Wasser. Sie bohrten sich in das morsche Holz. Sie ließen Fontänen aufspritzen.

Colorado ging in die Knie. Zum Glück schützte ihn jetzt schon das diffuse Licht.

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Colorado konnte nur auf sein Glück vertrauen. Er bekam die Stange wieder zu fassen und stieß sie in den nachgiebigen, seichten Untergrund.

Mit einem Ruck wurde das Boot schneller. Aber die Stake hatte sich so tief in den Sumpf gebohrt, daß der Marshal sie nicht mehr rechtzeitig herausziehen konnte. Deshalb entglitt sie ihm.

Der Marshal stieß einen Fluch aus. Inzwischen hatte sich Grant wieder erholt. Er hatte das

Röhrenmagazin seiner Winchester nachgeladen und feuerte es nun wieder leer. Dann brüllte sein Peacemaker auf. Die Abstände, in denen die Schüsse knallten, waren kurz und regelmäßig. Und das heiße Blei flog dem Marshal um die Ohren.

Inmitten dieses Kugelgewitters konnte Colorado nichts tun, als sich gestreckt auf den Boden des Bootes zu legen. Er machte sich so flach wie möglich. Irgendwann mußten die Banditen aufhören, weiter auf ihn zu schießen.

Nicht ein einziges Mal hatte Colorado bisher zurückgeschossen. Denn er wollte den Männern am Ufer seine Position nicht auch noch durch die auffallenden Mündungsblitze verraten. Doch die Entdeckung, die er nun wahrnahm, ließ in seinen Adern das Blut gefrieren.

Das Boot trieb, von irgendeiner Strömung angezogen, wieder an das Ufer, von dem Colorado abgelegt hatte.

Der Marshal riß den Sechsschüsser heraus. Er zielte sorgfältig auf Frimmley. Als er abdrückte, als er die Augen schloß, um von dem Mündungsblitz nicht geblendet zu werden, bewegte sich der Bandit blitzschnell. Irgendein Zufall, ein böser Teufel, der Colorado übel gesonnen war, mußte ihm eingegeben haben, daß schon im nächsten Augenblick ein heißes Bleistück auf ihn zufliegen würde.

Dennoch schaffte es Frimmley nicht, der Reichweite der Kugel ganz zu entkommen. Ein heiserer, lauter

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Schmerzensschrei klang auf. Und für Sekunden fiel kein einziger Schuß.

Doch schon wenig später, als die Banditen seine neue Position klar erkannt hatten, belegten sie den Marshal abermals mit heißem Blei.

Um sich zu retten, gab es nur ein Mittel. Colorado mußte ebenfalls schießen, was das Zeug hielt. Dann zwang er die Banditen dazu, in Deckung zu gehen.

Während einer weiteren Feuerpause versuchte der Marshal, das Boot mit den Händen, die er als Paddel benutzte, vom Ufer wieder wegzubringen. Sein Vorhaben klappte nicht auf Anhieb. Es dauerte geraume Zeit, bis er das Boot allmählich bewegen konnte.

Weitere Bleigewitter fegten über den US-Marshal hinweg. Erneut mußte sich Colorado auf den Bauch legen, sich ganz flach machen. Er bemerkte besorgt, daß die Banditen sich näher ans Ufer der Halbinsel heranschoben. Damit wurde die Situation noch akuter und gefährlicher. Denn die Durchschlagskraft der Gewehrkugeln reichte leicht aus, die Bootswand zu durchlöchern. Und je näher die Männer dem Wasser waren, um so besser konnten sie zielen.

Colorado richtete sich ungeachtet der vorbeisurrenden Geschosse auf. Er kniete im Boot. Er mußte die Insel erreichen. Und das so schnell wie möglich. Jede Sekunde, die er zögerte, die er verlor, konnte sein Leben kosten.

Mit beiden Händen ruderte der Marshal. Er hatte alle Muskeln angespannt und war stets darauf gefaßt, eine Kugel zu fangen. Sein Nackenhaar stellte sich auf. Und seine Schultern spannten, als er daran dachte, welch scheußliches Gefühl es sein würde, wenn sich eine Unze Blei in seine Muskeln bohrte.

Colorado war so sehr damit beschäftigt, das Boot aus dem unmittelbaren Gefahrenbereich zu bringen, daß es für ihn völlig unerwartet kam, als das Boot mit dem Kiel auf Grund lief.

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Der heftige Ruck ließ den Marshal vornüberstürzen. Er konnte sich mit den ausgestreckten Armen abfangen. Eine Frauenstimme klang schrill auf.

Colorado, im Begriff vom Boot ans Land zu springen, erstarrte in der Bewegung. Er hatte nicht mehr an den Sumpf gedacht.

»Hierher!« schrie die Frau. Ihre Stimme kam von weiter rechts.

Noch einmal kniete Colorado sich ins Boot. Jetzt konnten die Banditen ihn bestimmt nicht mehr sehen. Denn der Bewuchs am Ufer der Insel schützte den Mann im Boot mit seinem Schatten, mit dem das Boot verschmolz.

Hastig ruderte der Marshal weiter. Die Frau gab ihm durch ihre inzwischen leiser gewordenen Rufe immer wieder die Richtung an, in die er sich fortbewegen mußte.

Endlich gewahrte der Marshal eine schmale Rinne, die auch die Banditen benützt hatten, als sie auf der Insel anlegten.

»Kommen Sie! Rasch, kommen Sie, Fremder! Die schießen Sie sonst tot.«

Colorado spürte zwei Frauenhände, die seine Rechte umklammerten und ihn aufs feste Land zogen. Schemenhaft erkannte er die Umrisse eines blassen Gesichtes. Dann hörte er die Stimme der anderen Frau.

»Wer sind Sie?« fragte die zweite Stimme. Colorado wollte der Frau eine Antwort geben. Doch da regte

sich die erste auf. »Laß das, Claire! Wir müssen jetzt sehen, daß wir vom Ufer

wegkommen. Sonst erwischen sie uns.« Allein schon die Tatsache, daß die Entführer auf den Mann

schossen, stellte für Colorado eine Art Legitimation dar. Denn das Handeln der Banditen besagte eindeutig, daß er nicht ihr Freund sein konnte.

»Ich will aber wissen, mit wem wir es zu tun haben.« Das war Anne Maiswell, die sich ziemlich ungehalten gab.

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Colorado stolperte hinter der Frau her, die ihn weiterführte. Und bald erreichten sie einen Platz, den die Frauen in der kurzen Zeit zu einem kleinen Lager ausgebaut hatten. Ein Dach aus Zweigen schützte vor dem nächtlichen Tau. Die Mittel, die ihnen zur Verfügung gestanden hatten waren zwar primitiv, aber die Frauen hatten sich zu helfen gewußt. Und vor allen Dingen waren sie hier vor den Kugeln der Verbrecher auf der Halbinsel sicher.

Claire Keyl ließ die Hand Colorados los. »Wir sind hier sicher«, sagte sie. »Sie können sich setzen.

Da finden Sie eine Matte, die wir heute nachmittag geflochten haben.«

Colorado setzte sich schwer atmend. Links und rechts von dem Marshal ließ sich eine der Frauen

nieder. Dann blickten sie den Marshal erwartungsvoll an. »Ich will Ihre Fragen gleich von vornherein beantworten«,

begann der Marshal zu sprechen. »Ich bin US-Marshal Colorado. Eigentlich wollte ich Ihnen ebensowenig sagen wie den Banditen. Aber da sich die Situation nun so entwickelt hat, kann ich es ja ruhig verraten. Mir ist es durch einen Trick gelungen, von Grant mitgenommen zu werden. Ich habe ihn aus dem Jail befreit. Eine andere Möglichkeit, auf das Versteck der Banditen zu stoßen, habe ich leider nicht gesehen.«

»Marshal?« wiederholten die Frauen wie aus einem Munde. Sie seufzten und sie konnten offenbar nicht glauben, daß richtig war, was Colorado erzählte.

Colorado nickte. »Yea, ich bin Marshal. Und ich bin hier, um Sie zu befreien.«

* * *

Der hagere, grobknochige Sheriff von Salina war mit dem Ablauf des ersten Teiles ihres Planes sehr zufrieden. Die Banditen hatten den hingeworfenen Köder geschluckt. Und nun

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war es für den Sheriff kein großes Problem mehr, die Frauen zunächst für sicher vor dem Zugriff der Banditen zu halten. Er war überzeugt, daß der US-Marshal längst gehandelt hatte. Und daraus leitete der Sheriff das Recht ab, ja sogar die Pflicht, mit der Posse weiter in die Sümpfe hineinzureiten. Denn nun brauchten sie keine Rücksichten mehr zu nehmen auf das Leben der Geiseln.

Dem Gesetzeshüter war da etwas eingefallen. Er hatte es allerdings Colorado noch nicht verraten, denn die Idee war ihm erst gekommen, als der Marshal bereits mit Cole Grant unterwegs war.

Wenn sie den Pfad entlangritten und kurz vor dem Lager der Bande haltmachen würden, dann hatten sie den Schurken den Weg abgeschnitten.

Gesagt, getan. Es war keine Frage für den Sheriff von Salina, daß er das Wagnis, in die Sümpfe zu reiten, auf sich nehmen würde.

Obwohl sie in dieser Gegend zu Hause waren, wagten sich die Männer gewöhnlich nicht allein in diese tückische Landschaft. Die meisten mieden sie ängstlich und schlugen einen großen Bogen darum. Gemeinsam jedoch, in einer Posse, wagten die Männer wesentlich mehr.

Sie hatten fast die Hälfte des Pfades hinter sich, als die Dunkelheit hereinbrach. Die Männer weigerten sich, jetzt noch weiterzureiten. Obwohl der Sheriff alle Überredungskünste aufbot, sie dazu zu bewegen. Zu deutlich stand für die Männer die Gefahr im Vordergrund, daß sie sich in den Sümpfen verirren und in Lebensgefahr geraten würden. Keiner kannte die Sümpfe so genau, keiner konnte sagen, wie die sicheren Pfade verliefen.

Und dann brach mitten in der Nacht ein Feuergefecht los, das die lagernden Männer sehr deutlich hören konnten.

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Fluchend rannte der Sheriff umher. Er lauschte, redete leise vor sich hin und fluchte immer wieder. Es waren gesalzene Sprüche, die er hervorstieß.

Der Gesetzeshüter spürte den heftigen Juckreiz in den Fingern und er hätte liebend gerne in den tobenden Kampf eingegriffen. Aber die Vernunft gebot ihm, bei seinen Leuten zu bleiben. Er lauschte in die Nacht. Plötzlich hörte das wütende Feuergefecht auf.

Und von diesem Moment ab herrschte erneut beängstigende, bedrückende Stille in den Sümpfen. Die Männer, die der Posse angehörten, brachten die ganze Nacht über kein Auge zu. Dem Sheriff von Salina fiel es nicht sehr schwer, sie kurz vor Morgengrauen wieder in die Sättel zu bekommen.

Die Männer grollten, aber sie saßen auf, froh, sich endlich wieder bewegen zu können. Jedem von ihnen war es unheimlich, in dieser ungewohnten, fremden, tückischen Landschaft zu verweilen. Sie wollten zusehen, daß sie möglichst rasch den übernommenen Auftrag durchführten und anschließend schleunigst wieder nach Hause zurückritten.

Da sich niemand zurechtfand und wohl auch keiner die Verantwortung für das Leben der Männer auf sich nehmen wollte, übernahm der Sheriff die Führung. Er hatte mehr Mut als genaue Ortskenntnisse.

Dies sollte sich auch sehr bald rächen. Denn der Sheriff ritt voraus. Er hatte ein ziemlich flottes Tempo eingeschlagen. Plötzlich sackte sein Reittier weg.

Der Sheriff schrie auf und kletterte dann, so hastig er konnte, aus dem Sattel. Eine Minute später bereits war sein Pferd im zähen Brei versunken. Es hatte nur einmal gewiehert. Schrill und voller Todesangst. Der Schrei der gequälten Kreatur hörte sich an wie der Todesschrei eines Menschen. Und so ähnlich wirkte er auch auf die Gemüter der Männer im Aufgebot.

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Mit zitternden Knien stand der Sheriff vor jener Stelle, wo sein Pferd im zähen Brei versunken war. Er war kreidebleich, als er sich zu den Männern umwandte.

»Himmel noch mal!« stieß er hervor. »Ich glaube, wir reiten doch besser zurück.«

Der plötzliche, durch den heftigen Schreck verursachte Sinneswandel des Gesetzeshüters sollte jedoch nicht lange anhalten. Er rauchte eine Zigarette, und als er sie wegschnippte, räusperte er sich. »Ich hab’s mir überlegt, Männer. Wir werden doch weitermachen. Es wär’ ja gelacht, wenn wir diesen verdammten Sumpf nicht überqueren könnten.«

Die Zuversicht, die der Sheriff seinen Leuten vorgaukeln wollte, stieß auf wenig Gegenliebe. Die Männer fühlten sich etwa so, wie sich Seeleute auf einem sinkenden Schiff fühlen mußten. Keiner konnte sagen, wann der feste Boden unter seinen Füßen nachgab und auch er versinken würde. Keiner durfte sich einen Fehltritt leisten. Die Nerven der Männer waren angespannt bis zum äußersten.

Der Sheriff tastete sich an den Reittieren vorbei und wartete dann eine Weile. Er rang mit sich. Längst hatte er das unwillige Gemurmel und die Aufregung seiner Männer mitbekommen. Er hatte ihr Murren gehört, und da änderte er seine Entscheidung noch einmal.

»Los, ziehen wir uns doch zurück, Leute. Wendet die Pferde! Aber seid vorsichtig, daß mir ja keiner verunglückt.«

Schritt für Schritt stapfte der Gesetzeshüter voran. Er stand oft bis zu den Knöcheln, manchmal bis über die Waden im Schlamm. Aber unten, unter dieser weichen Oberfläche, fand er immer wieder festen Boden. Nur einmal glaubte er, plötzlich zu versinken.

Es war ein Schreckensbild ganz besonderer Art, als das Pferd des Sheriffs in dem zähen Schlamm einfach weggesackt war. Dem Sheriff grauste es, wenn er sich vorstellte, daß es

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auch ihm oder seinen Gefolgsleuten so gehen konnte. Er biß die Zähne zusammen. Seine Hände waren zu Fäusten geballt. Hart stieß er die Luft durch die Nase aus.

Schon lange bedauerte der Gesetzeshüter inzwischen seinenÜbereifer. Er ärgerte sich, daß er die Weisungen von US-Marshal Colorado nicht so befolgt hatte, wie jener es sich gewünscht hatte.

Während er daran dachte, achtete der Gesetzeshüter kaum auf den Weg. Plötzlich sank er ein.

Sofort stieß der Sternträger einen gellenden Schrei aus. Er ließ sich auf den Rücken fallen.

Die rasche Reaktion des Sheriffs bewirkte, daß er nicht weiter einsank als bis zu den Knien. Mit dem Rücken lag er auf festem Boden.

Sofort eilten einige Männer nach vorne. Mit vereinten Kräften zerrten sie den Gesetzeshüter aus dem Schlamm. Allerdings blieben die Stiefel des Sheriffs hängen.

Was sie insgeheim befürchtet hatten, war plötzlich eingetreten. Durch irgendeinen Umstand war der Wasserspiegel des Sumpfes plötzlich gestiegen und hatte einen weiteren Teil des Erdreichs im Sumpfgelände aufgeweicht.

»Das bedeutet, wir sitzen hier fest«, bemerkte der Sheriff bitter. Am liebsten wäre er aus seiner Haut gefahren.

»Wir sitzen fest!« rief einer aus der Posse hysterisch. »Soll das heißen, daß wir diese verdammten Sümpfe nicht wieder verlassen können?«

Der Sheriff nickte. »Vorläufig wenigstens nicht, Wir müssen warten, bis der Wasserspiegel wieder gesunken ist. Wenn die Sonne wieder drauf brennt, können wir damit rechnen, daß sich der Boden nach einem Tag wieder so weit gefestigt hat, wie er sein muß, daß wir gefahrlos draufsteigen und vielleicht sogar darüberreiten können.«

Die Aussichten, die der Sheriff seinen Leuten schilderte, rissen keinen zur Begeisterung hin. Im Augenblick lastete die

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Sorge auf den Seelen der Männer, wie sie den Sumpf wieder verlassen konnten.

Was den Sheriff aber noch mehr mit Besorgnis erfüllte, war die Tatsache, daß in der Ferne am Horizont drohende Gewitterwolken aufzogen. Sollte wirklich ein Unwetter über dem Land niedergehen, war möglicherweise auch der Platz, auf dem sie Zuflucht gefunden hatten, nicht mehr lange sicher. Er würde ebenso aufweichen wie die meisten festen Inseln in diesem höllischen Gebiet.

Der Sheriff von Salina sprach vorerst nicht über seine Sorgen. Die Männer hatten längst bemerkt, wie es um ihre Sicherheit stand. Vielleicht würden sie ihn sogar zerfleischen, weil er sie in eine nahezu ausweglose Situation gebracht hatte.

Der Gesetzeshüter zermarterte sein Gehirn. Er mußte einen Ausweg finden. Er durfte nicht tatenlos zusehen und wie gelähmt abwarten, was ihnen ein ungnädiges Schicksal bringen würde. Schließlich war er verantwortlich für Leben und Gesundheit dieser Männer.

* * *

Als der Morgen anbrach, bemerkte Colorado, daß die drei Banditen nicht untätig geblieben waren. Am Ufer der Halbinsel, über der eine durchsichtige Dunstwolke lag, entdeckte der Marshal ein klobiges Gefährt. Es war ein ungefüges Floß, das allerdings seinen Zweck höchstwahrscheinlich erfüllen würde.

Das hieß, die Banditen würden im Lauf des Tages versuchen, die Insel einzunehmen.

Claire Keyl und Anne Maiswell, beide in Männerkleidung und ziemlich verwahrlost aussehend, durchschauten ebenso die Absicht der Verbrecher wie Colorado.

»Wir müssen weg, Marshal!« rief Anne Maiswell gehetzt. Sie atmete hastig und blickte den Marshal aus großen blauen

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Augen an. »Wenn Cole Grant und seine Lumpen auf die Insel kommen, sind wir verloren.«

Colorado legte eine Hand auf ihren Arm. »Seien Sie unbesorgt«, redete er auf die Frau des Sheriffs ein. »Noch sind sie nicht hier. Wir werden ihnen zuvorkommen. Packen Sie die paar Sachen ein, die Sie haben, ich sehe einstweilen nach dem Boot. Und Mrs. Keyl soll einen starken Ast suchen, den wir zum Staken benützen können.«

Anne Maiswell schlich gebückt zu ihrer Leidensgefährtin. Sie redete mit ihr, dann begann sie, rasch die in dem behelfsmäßigen Lager herumliegenden wenigen Utensilien zusammenzupacken, die sie mitnehmen wollten.

Claire Keyl machte sich inzwischen auf die Suche nach einem starken Ast. Sie graute sich vor dem Getier, das auf Schritt und Tritt vorzufinden war. Aber sie biß die Zähne zusammen und umklammerte mit der Rechten das Bowiemesser, das Colorado ihr gegeben hatte.

Der Marshal schlich bis an das Ufer heran. Er war durch das dichte Zweigwerk gedeckt. Nur auf den letzten paar Yards konnten die Banditen ihn entdecken.

Das Boot hatte einige Kugeln aufgefangen. Ein Teil war in der Bootswand steckengeblieben, andere hatten die morsche Holzwandung durchschlagen.

Solange das Boot leer war, befanden sich die Einschußstellen über der Wasserlinie. Wenn jedoch Colorado und die zwei Frauen in dem Gefährt Platz genommen haben würden, mußte Wasser eindringen.

An der nassen, klebrigen Leine zog es Colorado noch weiter in die kleine Rinne. Er spähte hinüber zur Halbinsel. Als er feststellte, daß er nicht beobachtet wurde, beugte er sich nach vorn und beförderte das Boot mit einem kräftigen Ruck auf festen Untergrund.

Mit Blättern, Schilf und Gras und etwas Schlamm dichtete der Marshal die durchlöcherte Bootswand notdürftig ab.

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Anschließend schleppte er das Gefährt über die Insel. Er wollte es auf der anderen Seite wieder ins Wasser lassen.

Die beiden Frauen halfen ihm. Sie hatten eingesehen, daß sie sich selbst helfen mußten. Das Warten auf Rettung kostete nicht nur zu viele Nerven, sondern es war in ihrer Situation unter Umständen auch noch tödlich. Nach einiger Zeit schweißtreibender Arbeit hatten die drei Menschen das Boot im Wasser. Colorado half den Frauen ins Boot und eilte dann noch einmal zur anderen Seite der Insel, um nach den Verbrechern Ausschau zu halten.

Der Marshal sah, wie Grant und seine Kumpane eben das Floß bestiegen. Rasch machte er kehrt und rannte zurück zu den Frauen.

»Sie kommen!« rief er ihnen zu. »Wir müssen uns beeilen, damit sie uns nicht gefährlich werden.«

Gehetzt blickten Anne Maiswell und Claire Keyl den untersetzten Mann an. Sie waren mit allem einverstanden, was Colorado sagte, denn auf ihn allein setzten sie alle Hoffnungen. Seine Anwesenheit war für sie gleichbedeutend mit der sicheren Rettung.

Colorado nahm den langen Ast, den die Frau des Richters mit dem Bowiemesser mühsam abgehackt hatte. Damit begann er, das Boot auf die Wasserfläche hinauszuschieben.

Zum nächsten Stück Land mit festem Boden betrug die Entfernung gut und gern zweihundert Yards. Und dahinter befand sich nur noch ein Gewirr von schmalen Fahrtrinnen, in denen sie zwar mit dem Boot weiterkamen, wo jedoch die Banditen mit dem Floß nicht mehr folgen konnten.

Diese Gelegenheit zu entkommen, mußten sie nützen. Mit kräftigen Stößen beförderte Colorado das Boot weiter. Zwischen ihnen und den Verbrechern befand sich die Insel. Bis Grant und seine Gefährten merkten, daß die Flüchtlinge längst von der Insel verschwunden waren, wollte Colorado bereits das keilförmige, bewachsene Eiland erreicht haben.

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Die Frauen schwiegen. Sie waren nervös. Unruhig spähten sie zurück. Sofort wollten sie das Auftauchen der Verfolger melden, wenn sie sie sahen.

Fast lautlos glitt das Boot über das Wasser. Nur die Stange, die immer wieder in das Wasser eingetaucht wurde und sich tief in den weichen Boden bohrte, verursachte schmatzende Geräusche und ein leises Plätschern. Jedesmal, wenn er das Boot weiterstakte, mußte der Marshal alle Kraft aufwenden, um die Stange wieder vom Sumpf zu befreien.

Kleine Büschel Schilf, Schlingpflanzen, Ansammlungenvon Laub auf dem brackigen Wasser und treibende Äste und Zweige bildeten Verstecke für Getier aller Art. Einige morsche Baumstümpfe, die sich mit Wasser vollgesogen hatten, waren an der Oberfläche kaum zu erkennen.

Je mehr sich das Boot von der Insel entfernte, um so mehr wurde die Hoffnung der beiden Frauen genährt, daß sie den Verbrechern nun endlich entkommen waren. Colorado hingegen war nicht so optimistisch. Er kannte sich in den Sümpfen nicht aus und er unterschätzte nicht die Gefahren, die diese wilde, unwegsame Gegend barg.

So lange, bis die keilförmige Insel erreicht war, schwiegen Anne Maiswell und Claire Keyl. Sie atmeten erst auf, als die ersten überhängenden Büsche sie vor den Blicken der Verfolger abschirmten.

Anne richtete sich halb auf. »Da!« rief sie plötzlich. Sie deutete auf die Insel, die sie gerade verlassen hatten. Grant war dort aufgetaucht. Er hatte das Boot eben noch im Gewirr der Blätter verschwinden gesehen.

Colorado grinste. »Keine Angst, Lady!« sagte er. »Vorerst sind wir vor den

Kerlen sicher.« Noch hatte Colorado den Mund nicht wieder geschlossen,

als ein abermaliger schriller Schrei ihn alarmierte. Anne Maiswell deutete mit ausgestrecktem Arm voraus.

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Im seichten Wasser bewegte sich etwas. Grünlichbraun, länglich wie ein Baumstamm, schob es sich auf das Boot zu. Ein Alligator.

Die Augen des Reptils waren zu erkennen und die hellen scharfen Zähne leuchteten auf, als es den Rachen öffnete.

Die Frau des Sheriffs war kreidebleich geworden. Sie konnte sich kaum noch bewegen vor Schreck. Colorado erfaßte die auf sie zukommende Gefahr sofort. Mit einer leichten Drehung änderte er die Fahrtrichtung des Bootes und hielt von der Insel weg. Er blickte in die Runde.

Der Alligator war riesig groß. Und offensichtlich war er nicht das einzige gefräßige Ungeheuer, das hier lauerte. Die ganze Insel schien von diesen häßlichen Tieren bewohnt zusein. Überall zwischen Blattwerk und überhängenden Pflanzen, zwischen Laub und modrigen, verkrüppelten Bäumen lauerten sie. Ab und zu klang das scharfe schnappende Geräusch auf, wenn sie den Rachen schlossen. Und jedes Mal rann den drei Menschen die Gänsehaut über den Rücken.

Drei, vier Tiere schoben sich ins Wasser. Sie hielten auf das Boot zu, das eben an dem ersten riesenhaften Alligator vorbeifuhr, der sich bereits in der Nähe befand.

Eile war geboten. Höchste Eile. Denn die Tiere sahen keineswegs friedlich aus. Offenbar wurden sie durch die Annäherung dieses unbekannten Wesens, das so viel Geräusch verursachte, gereizt.

Sie brauchten das Boot nur einmal kräftig zu rammen oder mit einem wuchtigen Hieb ihres schuppigen Schwanzes zu treffen, dann würde das Gefährt umkippen und die Insassen mußten Opfer dieser gefräßigen Biester werden.

Zu allem Unglück zeigte es sich nun auch noch, daß die notdürftig verstopften Löcher in der Bootswand Wasser durchließen.

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»Schöpfen! Wir dürfen nicht zu viel Wasser ins Boot bekommen. Nehmen Sie die Hände, wenn nichts anderes da ist!«

Colorados Worte kamen halblaut. Er behielt die Nerven. Die Alligatoren waren durch irgendein Ereignis ziemlich aufgebracht. Wenn er sie nun auch noch durch lautes Schreien erschreckte, konnte er entweder bewirken, daß die Tiere sich flüchtend zurückzogen oder daß sie sich auf das Boot stürzten.

Unverzüglich machten die beiden Frauen sich daran, Colorados Befehl nachzukommen. Mit bloßen Händen begannen sie, das eingedrungene Wasser aus dem Boot zu schöpfen. Sie hüteten sich ängstlich, ihre Hände weiter als unbedingt nötig über den Rand des Bootes zu strecken.

Mit gleichmäßigen Stößen bewegte Colorado das Boot weiter. Schon sah es aus, als wären die drei Menschen endgültig in Sicherheit vor den Bestien. Doch da schob sich erneut ein riesenhafter Alligator heran. Mit wuchtigen Schwimmstößen kam er näher. Es sah aus, als taxierte er die Menschen im Boot, ob sie als Beute für ihn taugten. Und dann entschloß er sich zum Angriff.

Mit enormer Geschwindigkeit schoß das Tier plötzlich auf das sich bewegende Gefährt zu.

Gleichzeitig schrien die Frauen auf. Sie ließen sich ins Boot zurückfallen.

Colorado riß den Ast hoch. Er sah den aufgerissenen Rachen des Ungetüms und stieß mit Gewalt die Stange in diesen Schlund. Sie bohrte sich weit hinein.

Ein gurgelndes Bellen, dann schnappte das Maul zu. Der Ast wurde beinahe abgehackt. Mit dem Schwanz

peitschte das Tier das Wasser. Der mächtige Körper wirbelte herum und die schuppigen Stummelbeine fuhren dicht am Bootskörper vorüber.

Diese plötzliche Attacke und die heftigen Kampfbewegungen im Wasser lockten auch die anderen

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Bestien an. Sie witterten offensichtlich Beute und wurden dadurch magisch angezogen.

Mit Mühe konnte Colorado den Ast aus dem Maul des Tieres herausreißen. Er hoffte, der Alligator würde sich zurückziehen. Aber der Schmerz und das aus dem Schlund herausquellende Blut peinigten die Bestie. Sie reizten das Tier bis zum Wahnsinn.

Mit einigen gewaltigen Sätzen halb schwimmend, halb fliegend, schoß der Alligator erneut auf das Boot zu.

Colorado mußte schießen. Er riß den Sechsschüsser heraus und feuerte in den aufgerissenen, blutenden Schlund.

Drei-, viermal bellte der Peacemaker auf. Die ersten beiden Kugeln schienen dem Reptil nichts auszumachen. Dann aber zeigte sich die Wirkung. Der dritte und der vierte Schuß trafen schon einen Kadaver. Das gefährliche Biest drehte sich im Todeskampf um die eigene Achse.

Blutrot färbte sich das Wasser, das von dem Kampf aufgewühlt worden war. Fontänen spritzten empor und zahlreiche Wirbel ließen das Boot tänzeln.

So als wollte das bereits entseelte Tier die Menschen noch mit in den Tod reißen, stieß es sich abermals nach vorn. Es war eine letzte Zuckung. Und damit verfehlte der Alligator haarscharf das Boot.

Mit einem beherzten Stoß brachte Colorado sich und die Frauen mit dem Boot aus der Reichweite des Ungeheuers.

Kaum hatten sie die Stelle passiert, als sich schon die anderen Alligatoren auf ihren verendeten Artgenossen stürzten.

Ein heiseres, wütendes Bellen, unterbrochen vom scharfen, schnappenden Geräusch der zusammenschlagenden Kiefer, war der letzte Eindruck, den die drei Flüchtenden von der schaurigen Szene bekamen.

Die Frauen hatten sogar vergessen, weiter Wasser zu schöpfen. Sie blieben in der Hocke, verharrten so und starrten auf die sich vor ihren Augen abspielende blutige Szene.

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Die Alligatoren konnten ihre Aggressionen an dem verendeten Artgenossen austoben. Sie hatten damit reichlich Futter und waren von dem sich entfernenden Boot abgelenkt.

Colorado war es nicht behaglich gewesen in diesem Kampf. Er wischte sich rasch die Schweißperlen von der Stirn. Dann glitt das Boot schon in einen schmalen Kanal, der von den wuchernden Grasinseln noch nicht verschlossen war.

Der Boden des Bootes war vom Wasser bedeckt. Bis zu den Knöcheln reichte es. Colorado wies mit der Hand auf die nasse Kleidung der Frauen.

»Schöpfen Sie das Wasser aus dem Boot!« forderte er sie erneut auf. »Oder wollen Sie, daß wir untergehen?«

Die Frauen schraken auf. Fieberhaft begannen sie dann, das Wasser aus dem Boot herauszuschöpfen.

* * *

Cole Grant war vor Wut ganz grün geworden im Gesicht. Er starrte hinüber auf die keilförmige Insel, hinter der eben das Boot mit Colorado und den Frauen verschwand.

»Verdammter Hund!« brüllte er auf. »Das wirst du noch büßen. Ich schwör’s dir. Ich bring’ dich um, du Teufel.«

Frimmley, der mehr Besonnenheit an den Tag legte, schnaufte nur wütend. Er legte seinem Kumpan die Hand auf die Schulter.

»Noch sind sie ja nicht aus dem Sumpf«, knurrte er. »Dort, wo die hinfahren, werden sie nicht glücklich. Da finden sie auf keinen Fall festen Boden unter den Füßen. Außerdem ist das Boot nicht dicht. Die versinken irgendwo und dann fressen sie die Alligatoren.«

»Und, was nützt mir denn das? Ich will diesen verdammten Bullen und die Frauen lebend. Was habe ich davon, wenn sie irgendwo in den Sümpfen abkratzen?«

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Tim Link, immer noch im Fieber, schluckte. »Wir brauchen nur zu bluffen«, sagte er. »Niemand weiß, ob wir die Wahrheit sagen oder nicht.«

»Der Junge hat recht«, stimmte Frimmley zu. »Wenn wir zusehen, daß einer von uns wieder mit den Kerlen in Salina Verbindung aufnimmt und ein Telegramm schickt, dann können wir noch was retten.«

Grant fluchte. Die Wut schnürte seine Kehle zu. Wütend stampfte er auf.

»Verdammt, diese lausige Geschichte ist schiefgelaufen. Wir hätten es von Anfang an anders machen sollen.«

»Was regst du dich denn auf?« fragte Frimmley. »Das hat jetzt wenig Sinn. Retten wir, was noch zu retten ist.«

Link, der die Unterhaltung aufmerksam verfolgte, entpuppte sich trotz seiner Jugend und trotz seines angeschlagenen Gesundheitszustandes als kühler Rechner. Er hütete sich jedoch, seine Überlegenheit in dieser Hinsicht deutlich zu zeigen.

»Wenn ich nach Salina durchkomme, könnte ich vielleicht das Telegramm aufgeben«, schlug er vor. »Ich kann mir vorstellen, daß der Richter und der Sheriff von Gregortown die Hosen gestrichen voll haben, wenn sie erfahren, daß wir inzwischen auch den Bullen in unserer Gewalt haben.«

Frimmley stieß seinen Ellbogen in Grants Flanke. »Der Vorschlag ist nicht schlecht«, sagte er. »Ich bin dafür,

daß Link es einmal versucht.« »Schön, soll er«, ließ sich Grant überreden. »Aber ich werd’

verrückt, wenn ich daran denke, daß dieser verdammte Colorado mit den Frauen verduftet ist. Wir müssen die drei kriegen. Los, Frimmley, komm mit! Wir müssen die drei einholen! Auf jeden Fall.«

Die Banditen kletterten wieder auf ihr Floß. Mit vereinten Kräften stakten sie zu der Halbinsel. Dort ging Tim Link an Land. Er sollte versuchen, mit Colorados Pferd nach Salina

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durchzukommen. Grant gab ihm einige Instruktionen mit auf den Weg.

Der Junge wiederholte wortgetreu, was sein Anführer ihm aufgetragen hatte. Dann ging er zum Lager. Er sattelte King.

Der Mustanghengst, den die ungewohnte Witterung des Jungen störte und der die Behandlung von Colorado gewohnt war, stampfte unruhig mit den Vorderhufen. Er tänzelte etwas, ließ es aber zu, daß Tim Link in den Sattel kletterte.

Als der junge Mann jedoch die Zügel ergriff und den Schecken antreiben wollte, zeigte der prächtige Mustanghengst, was in ihm steckte.

Plötzlich keilte er aus. Er bockte, sprang hoch, bäumte sich auf, vollführte wilde Sprünge, um den Reiter abzuschütteln.

Tim Link war ein guter Reiter. Er klammerte sich fest, versuchte, das Pferd zu parieren, aber er bekam es nicht richtig in seine Gewalt.

Ein heftiger, erbitterter Zweikampf zwischen Pferd und Reiter entspann sich. King tat sein möglichstes, doch es gelang ihm nicht, den Reiter tatsächlich loszuwerden. Und plötzlich wurde der Schecke lammfromm. Es schien, als hätte er niemals ein so bösartiges, bockiges Biest sein können, wie er vor einer Minute noch gewesen war.

Tim Link grinste. »He, du aufsässiger Teufel! Wenn du dich noch mal so

verdammt anstellst, dann bringe ich dir bei, daß du bei mir solche Mätzchen nicht bringen kannst.«

King trabte los, als er den Druck der Schenkel des Reiters spürte.

Hoch oben im blauen Himmel kreiste Sky. Der Adler hatte die Szenen, die sich unter ihm in den Sümpfen abspielten, genau verfolgt. Nichts war ihm entgangen. Mehrmals hatte er einige Signalschreie ausgestoßen.

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Nun sank der treue Adler in großen Spiralen allmählich tiefer herunter. Instinktiv fühlte er, daß sein Freund Colorado ihn jetzt brauchte.

Bevor der Adler hinter dem dichten Laubgürtel verschwand, sah er den Jungen, der mit King den Pfad nahm, auf dem er aus den Sümpfen herauszukommen hoffte. Link hatte keine Angst. Dazu trug wahrscheinlich auch das Sumpffieber bei, das den schmächtigen Körper des mageren, hochgeschossenen Burschen quälte.

Da King zu keinerlei Beanstandungen mehr Anlaß gab, klopfte Tim Link dem Schecken auf die Mähne. Er kraulte ihn und sagte dazu: »Bist ein braves Pferd. Du wirst es gut haben bei mir.«

* * *

Grant hatte die Zähne zusammengebissen. Er ärgerte sich maßlos darüber, daß so viel schiefgelaufen war in ihrem Unternehmen, das anfangs so erfolgversprechend ausgesehen hatte.

Frimmley, der insgeheim längst in Betracht gezogen hatte, daß ihr Versuch, Joe Fraigh freizubekommen, fehlgeschlagen war, regte sich weniger auf. Wenn sie erreichten, was sie beabsichtigten, so sollte alles seine Ordnung haben. Erreichten sie das jedoch nicht, dann hatte er für sich selbst wenigstens nichts verloren, sondern er war in Sicherheit.

Frimmley verstand den fanatischen Einsatz von Grant nicht mehr. Denn er hatte nicht die Absicht, sein Leben einzusetzen für Fraigh. Der Bandit, der in Wichita auf den Galgen wartete, hatte sich um seine Leute nie so sehr gekümmert, wie diese sich jetzt um ihn kümmerten.

Das Floß glitt träge über das Wasser. Grant stakte, während Frimmley mit der Winchester mitten auf dem Floß stand. Er

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war bereit, sofort zu schießen, sobald er eine Bewegung wahrnahm.

Die Banditen erreichten die Insel, hinter der eine Viertelstunde vorher Colorado mit den beiden Frauen verschwunden war.

Aufmerksam musterte Grant das Ufer. Er sah die zahlreichen Alligatoren, die sich dort aufhielten. Ein spöttisches Grinsen zeigte sich auf seinem Gesicht.

»Schätze, daß der Bulle mit den Frauen eine Menge Schwierigkeiten haben wird, wenn er dort an Land gegangen ist«, knurrte er.

»Er ist nicht auf den Kopf gefallen. Wir sollten den Burschen nicht ein zweites Mal unterschätzen.«

Mit einer wegwerfenden Handbewegung wischte Grant die Argumente seines Kumpans beiseite.

»Denkst du, ich bin vielleicht so bekloppt, daß ich nicht selbst nachdenken kann?« fragte er bissig. »Du darfst dir deine Kommentare sparen. Daß der lausige Bulle verdammt nicht auf den Kopf gefallen ist, das weiß ich selber.«

Frimmley deutete auf eine schmale Rinne. Das Wasser dort war noch braun. Aufgewühlter Schlamm hatte sich noch nicht abgesetzt.

»Da hinein sind sie gefahren«, sagte er. »Aber da können wir nicht durch, weil das Floß zu breit ist.«

Grant schnappte nach Luft. Er musterte die Fahrrinne. Dann schüttelte er ärgerlich den Kopf.

»Wir werden eben dieses verdammte Stück umgehen«, entschied er. »Los, nimm die zweite Stange und hilf mir!«

Frimmley nahm die Winchester herunter. Er griff nach der zweiten Stange und half Grant, das Gefährt weiter voranzutreiben.

Cole Grant kannte sich im Sumpf einigermaßen aus. Er hielt sich nicht zum ersten Mal in dieser Gegend auf, die von

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wenigen Menschen betreten wurde. Unerfahrene, die sich hier verirrten, kamen selten lebend zurück.

Mit vereinten Kräften brachten die Banditen das Floß rasch weiter. Sie gelangten zu einer weiteren Rinne, die zwischen den verlandeten Flächen durchführte. Die Durchfahrt war breiter. Sie konnte das Floß ohne Schwierigkeit aufnehmen.

Irgendwann, das war Grant klar, würde sich diese Rinne mit der kreuzen, welche die Flüchtenden genommen hatten.

So weit die Sicht reichte, entdeckten die beiden Männer nichts als Gras. Hohes, verdorrtes, raschelndes Schilf.

Plötzlich hörten die Verbrecher ein Rauschen. Nicht weit voraus.

Grant fuhr hoch. Er legte seine Stange auf das Floß, griff nach der Winchester und stellte sich breitbeinig auf das schwankende Gefährt.

»Sie müssen ganz in der Nähe sein«, zischte Frimmley. Grant nickte. Seine Miene drückte Spannung und

gleichzeitig Triumph aus. Das Floß verlor Fahrt. Es streifte den Schilfgürtel. Ein

kleiner Ruck ging durch die zusammengefügten Balken. Dann stand das Fahrzeug still.

Frimmley und Grant lauschten mit angehaltenem Atem. Plötzlich hörten sie zwei Frauenstimmen.

Grant ließ sich neben Frimmley auf die Knie nieder. Er fuhr jedoch sofort wieder hoch, als seine Knie die Planken des Floßes berührten. Denn in der Nacht zuvor hatten Colorados Kugeln sein rechtes Bein verletzt.

Frimmley verkniff sich ein schadenfrohes Grinsen. Er starrte geradeaus.

Doch Grant bemerkte, daß sein Kumpan seinetwegen grinste.

»Ich werde es diesem Hund heimzahlen«, preßte er heraus. »Er soll tausend Tode sterben. Jetzt gehört er uns. Ich leg’ ihn um, diesen Schnüffler.«

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Frimmley legte den gestreckten Zeigefinger über die Lippen, um seinem Gefährten anzudeuten, daß er sich ruhig verhalten sollte.

Drüben, wo vorher noch die Frauenstimmen zu hören gewesen waren, klang nun eine Männerstimme auf.

Die Banditen lauschten und ihre Mienen wurden freundlicher. Denn nun wußten sie genau, daß die Gesuchten in unmittelbarer Nähe waren. Aber sie konnten nicht verstehen, was der Mann zu den beiden Frauen sagte.

»Los, wir müssen noch weiter«, drängte Grant. Er nahm wieder eine der Stangen zur Hand und stakte.

Frimmley erhob sich ebenfalls. In diesem Augenblick war unmittelbar vor dem Floß ein

Rauschen zu vernehmen. Ein Boot tauchte auf. Grant ließ seine Stange fallen. Er riß die Winchester hoch. Der erste Schuß peitschte über den Sumpf. Das mannshohe

Gras und der Schlamm verschluckten die Geräusche. Sofort hebelte Grant eine zweite Patrone in den Lauf. Er

hatte die Insassen des Bootes noch nicht ausgemacht. Deshalb feuerte er auf den Bootskörper.

Ein heftiger Ruck ging durch das Boot. Dann gellte eine Frauenstimme auf.

* * *

Der dicke Telegrafist von Salina war nicht so faul, wie er aussah. Sofort nach dem Aufbruch des Sheriffs aus der Stadt hatte er ein Telegramm nach Gregortown geschickt und dem Sheriff und dem Richter mitgeteilt, wie weit inzwischen die Befreiung der Geiseln gediehen war. Der Telegrafist gab auch die Hoffnung des Sheriffs von Salina weiter, daß Colorado vermutlich die Frauen längst befreit haben würde, bevor die Posse noch eintreffen konnte.

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Sheriff Maiswell und Richter Keyl, die auf Colorado ihre ganze Hoffnung setzen mußten, waren erleichtert. Sie machten sich sofort auf den Weg und sie trafen an jenem Morgen in Salina ein, als dort alles auf die Rückkehr der Posse aus den Sümpfen wartete.

Der erste Weg von Maiswell führte ins Sheriff-Office. Maiswell fand nur einen Hilfssheriff vor und ließ sich von diesem über den neuesten Stand der Dinge unterrichten.

Daß jener Mann nicht viel wußte, war nur verständlich. Alles, was er sagen konnte, war, daß die Posse bald zurückkehren sollte. Aber auch, daß in den Sümpfen heftige Regengüsse niedergegangen waren.

Maiswell begriff, was dies zu bedeuten hatte. Durch die Regenfälle mußte der Wasserspiegel des Sumpfes ansteigen. Das führte dazu, daß zahlreiche trockene Inseln wieder überschwemmt und dadurch in weiches, nachgiebiges, tückisches Gelände verwandelt wurden.

Der Richter explodierte förmlich vor Ungeduld. »Wir müssen in den Sumpf, Sheriff!« rief er, als Maiswell

ihm die Neuigkeiten erzählte. »Sind Sie wahnsinnig, Richter? In den Sumpf gehen ist so

gut wie glatter Selbstmord. Genausogut könnte ich Ihnen einen Colt in die Hand drücken und Ihnen sagen, Sie sollen ihn an die Schläfe halten und den Finger krumm machen. Das wäre auch nichts anderes als Selbstmord.«

Der Richter schüttelte verzweifelt den Kopf. »Aber Colorado kann in Schwierigkeiten kommen«, meinte er.

»Das kann jeder«, stimmte Maiswell zu. »Auch wir können in Schwierigkeiten kommen. Vor allem dann, wenn wir uns in die Sümpfe hineinwagen. Wir kennen das Gelände überhaupt nicht. Und ich möchte nicht unbedingt da unten in der verdammten kalten, dreckigen Brühe mein Ende finden.«

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Der Richter rang die Hände. »Um Himmels willen, Maiswell. Wir können doch nicht die Hände in den Schoß legen und abwarten, was sich ereignen wird.«

»Brauchen wir auch nicht. Aber wir müssen von hier aus alles unternehmen, um einen sicheren Ort zu finden, an den wir Colorado und die beiden Frauen sofort nach ihrer Rückkehr bringen.«

Maiswell strahlte schon wieder Zuversicht aus. Obwohl sein Verstand sagte, daß die Rettung durch Colorado keineswegs so sicher war, glaubte der Sheriff nur zu gerne an die positiven Aspekte, welche die Nachricht seines Kollegen von Salina in ihm wachgerufen hatten.

»Wir sollten uns zunächst mit dem Gouverneur in Verbindung setzen«, schlug Maiswell vor. »Mal sehen, was mit dem lausigen Banditenhäuptling ist. Sie können den Burschen in der Todeszelle behalten.«

»Ich habe ein schlechtes Gefühl dabei«, gestand der Richter. »Wir haben noch nicht die geringste Sicherheit, daß Colorados Einsatz die erwarteten Erfolge bringt.«

»Ach, was für Sicherheiten hat man denn überhaupt, mein Lieber?« ließ sich Maiswell vernehmen. »Wir müssen schließlich eine Kleinigkeit riskieren. Und diesem Hundesohn traue ich eine ganze Menge zu, Richter.«

»Ich auch. Und deshalb macht es mir große Sorgen, was mit den Frauen geschehen wird. Nehmen wir doch einmal den Fall an, er hat sich verirrt. Dann sind unsere Frauen auch jetzt noch der Willkür der Banditen ausgesetzt.«

»Verdammt miese Planung«, regte sich der Sheriff auf. »Da will jeder der Klügste sein und jeder gibt seinen Kommentar dazu. Und was herauskommt, das sind solche idiotischen Einsätze, bei denen jeder gegen den anderen arbeitet.«

»Nun«, ließ sich Richter Keyl wieder vernehmen. »Sicherheiten haben wir überhaupt keine. Und ich bin dafür,

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daß Colorado lieber etwas riskiert, bevor er keinen Erfolg vorweisen kann.«

»Das ist leicht gesagt«, erwiderte der Sheriff. »Ich weiß«, entgegnete der Richter. »Auch einem solchen

Mann kann der Zufall einen dicken Strich durch die Rechnung machen.«

»Zufall hin oder her, Richter. Wir werden jetzt jedenfalls mal sehen, daß die Sache ein Ende bekommt. Ich spüre es richtig, daß die Geiseln in Sicherheit sind.«

»Hoffentlich«, brummte der Richter. Er war nicht so sehr überzeugt wie der Sheriff.

Maiswell schlug den Weg zum Telegrafenbüro ein. Das Blockhaus am Ende der Stadt bildete die beste und schnellste Verbindung zur Außenwelt. An manchen Tagen war der Teufel los. An Tagen, an denen der dicke Telegrafist nicht mehr aus dem Fluchen herauskam. Und solche Tage verdammte er in alle Ewigkeit.

An diesem Tag aber befand sich nur ein einziges Pferd am Hitchrack vor der Hütte. Ein Schecke. King.

Maiswell und Keyl traten ein. Hinter dem Tresen hockte der Dicke. Er hatte seine

Schirmmütze tief ins Gesicht gezogen. Vor dem Mann stand ein schmaler, hochgewachsener

Bursche, der dem Telegrafisten eben den Text für eine Nachricht diktierte. Als die beiden Männer ins Office stapften, wandte der Kunde sich um.

Maiswell und Keyl waren nicht minder überrascht als der bartlose, blaßgesichtige Mann, der sie mit schreckgeweiteten Augen anstarrte.

Dann reagierte Maiswell. Er schnaubte wütend, schnellte nach vorn, krallte seine Finger in den Hals des schlanken Mannes. Der Sheriff von Gregortown stieß einen Fluch aus. Er schmetterte seine geballte Rechte in den Leib des Hochgewachsenen. Dann wartete er, bis der Bursche

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zusammenklappte, beide Hände auf den Magen preßte. Und jetzt erst versetzte der Sheriff ihm noch einmal einen knallharten Schwinger.

Tim Link seufzte, als sein Kopf in den Nacken gestoßen wurde. Mit dem Schädel knallte er gegen den Tresen und rutschte ohnmächtig daran herunter.

»Mister«, würgte der Telegrafist heraus. »Sie sind wohl verrückt? Das ist ein… das ist…«

Maiswell winkte ab. »Eine Telegrafenstation«, ergänzte er den Satz. »Ich weiß, was das ist. Weißt du, wer der da ist?«

Der Dicke schüttelte fassungslos den Kopf. »Das ist ein Bandit, Amigo«, erklärte der Sheriff von

Gregortown und regte sich. »Ein Bandit, der sich mit zwei anderen Hundesöhnen in den Sümpfen aufhält. Was für einen Text hat er dir gegeben?«

Der Dicke zögerte nur ganz kurz, dann reichte er einen halb beschriebenen Zettel über den Tresen.

Maiswell überflog den Text. Ein Grinsen, das sich auf dem Gesicht des Sheriffs gebildet hatte, gefror.

Keyl, der Maiswell beobachtete, wurde kalkweiß. »Was steht auf dem Zettel?« fragte er hastig. Maiswell reichte ihm den Wisch. »Ich habe es mir gedacht. Verdammt, das konnte nicht

anders sein«, begann Keyl zu jammern. »Jetzt haben sie also auch Colorado. Unsere Frauen sind verloren, Sheriff.«

Maiswells Züge verhärteten sich. »Schweigen Sie!« fauchte er den Richter an. »Noch ist

nichts sicher, Mann. Wir haben zum Jammern noch keinen Grund.«

Keyl gewann die Fassung wieder. Er zerknüllte den Zettel und gab ihn Maiswell zurück.

Der Sheriff lehnte sich an den Tresen. »Du wirst den Text nicht durchgeben, Dicker«, erklärte er.

»Ich bin Sheriff Maiswell aus Gregortown. Und das ist Richter

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Keyl. Der Gouverneur erhält jetzt von uns kein Bittgesuch mehr. Der wird von den Banditen keine Nachricht mehr bekommen. Zu lange schon haben wir uns auf die Einsicht und die Hilfe von oben verlassen. Jetzt wird es endlich Zeit, daß wir handeln und uns nicht länger auf andere verlassen.«

»Was soll das?« fragte Keyl gehetzt. »Das sehen Sie doch«, knurrte Maiswell böse. »Wir haben

uns öfter als ein dutzendmal an den Gouverneur gewandt. Jetzt habe ich die Lust verloren. Unsere Frauen sind vielleicht schon nicht mehr am Leben. Die Banditen können ebensogut bluffen, wie sie die Wahrheit sagen können. Wenn sie Colorado wirklich haben, kann das niemand nachprüfen, nicht wahr? Sie werden sich nicht schwertun, die Geiseln irgendwo im Sumpf verschwinden zu lassen. Wenn ihr Kumpan dann frei ist, haben wir alles getan, um die Forderungen zu erfüllen. Und sie lachen uns noch aus.«

»Sie wollen doch nicht plötzlich auf eigene…« »Und ob ich auf eigene Faust losgehen will«, bekräftigte

Maiswell grimmig. »Ich habe mich lang genug beherrscht. Jetzt habe ich die Schnauze voll und ich werde mich jetzt selbst in den Kampf einschalten. Ich habe Colorado vertraut. Ich habe auch dem Gouverneur vertraut… warum das alles? Warum vertraue ich nicht einfach auf mich selbst? Sehen Sie, Keyl, ein Mensch hat nur eine beschränkte Ausdauer. Und er kann nur ein gewisses Quantum Geduld aufbringen. Dieses Quantum ist bei mir erreicht. Das Maß ist voll. Ich werde jetzt nur noch das tun, was ich für richtig halte.«

Abrupt wandte sich Maiswell um, bückte sich, packte Tim Link am Kragen, zog den Burschen hinter sich her aus der Hütte. Ohne sich um die erstaunten Blicke der Bürger von Salina zu kümmern, schleifte Maiswell den Ohnmächtigen hinter sich her und durch die Main Street.

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Erst vor dem Sheriff-Office lockerte der Sheriff den Griff. Er ließ den jungen Banditen in den Staub fallen, ging zwei Schritte bis zur Tür und stieß diese auf.

Der Hilfssheriff von Salina schnellte von seinem Sitz hoch. Die Augen wollten ihm aus den Höhlen quellen, als er den vor dem Office liegenden Mann sah.

»Was zum Teufel soll das, Mister? Sie sind der Sheriff von Gregortown und nicht von Salina.«

»Ganz recht, mein Lieber«, gab Maiswell zurück. »Betrachten Sie mich aber nicht als Sheriff, sondern als Mann, der seine Frau retten will.«

Der Hilfssheriff schüttelte seinen irischen Schädel. »Was soll denn das? Warum haben Sie diesen Kerl umgelegt?«

Pete Maiswell vollführte eine verächtliche Geste. »Himmel noch mal, sehen Sie sich diesen Burschen doch an, Mann! Der ist nicht hinüber. Ich habe ihm nur das Gehirn ein bißchen durcheinandergeschlagen. Und damit Sie wissen, warum, Amigo: das ist einer von den Hundesöhnen, hinter denen der Sheriff von Salina her ist. Außerdem werden sie von Colorado gehetzt. Und der Richter hier und ich, wir sind auch hinter ihnen her. Sperren Sie den Lumpen ein, bevor ich mich an ihm vergreife!«

Der Hilfssheriff bekam einen roten Kopf. Er packte Tim Link und zerrte den Banditen ins Office. Er öffnete das Jail und warf den Mann auf den Boden der Zelle. Dann suchte er in der Kleidung des Ohnmächtigen nach Waffen. Als er nichts fand, erhob er sich wieder, ging hinaus und schloß die Gittertür hinter sich ab.

»Wollen Sie jetzt auch in den Sumpf reiten?« »Natürlich«, erwiderte Maiswell, »und wenn alle anderen

versagt haben, ich werde es schaffen, das verspreche ich Ihnen!«

»Vorausgesetzt, Sie sind in der Lage, zunächst durch den Sumpf zu kommen«, dämpfte der Hilfssheriff die Sicherheit

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Maiswells. »Ich warne Sie, Maiswell. Mit dem Sumpf ist nicht zu spaßen. Wen der einmal hat, den gibt er nicht mehr frei.«

»Ist mir völlig egal«, knurrte Maiswell. »Bin nicht scharf darauf, mir noch lange Vorträge anzuhören. Meine Frau ist vielleicht schon tot. Denken Sie, daß ich Verbrecher laufenlassen werde? Diese Hunde sollen nicht ungestraft davonkommen, das habe ich mir geschworen.«

Richter Keyl ließ sich von der Wut des Sheriffs anstecken. Er konnte keinem der Argumente Maiswells widersprechen, denn in allen Punkten hatte dieser recht. Bisher hatten sich die beiden Männer nur auf die Hilfe anderer verlassen, und damit schienen sie in jeder Hinsicht schlecht gefahren zu sein. Niemand konnte für die Frauen etwas tun außer sie selbst.

»Halten wir uns nicht mehr lange auf, Sheriff. Wir müssen weiter.«

Der Richter handelte sich mit diesem unerwarteten Drängen einen erstaunten Blick seines Begleiters ein.

»Moment noch, Richter. Erst werde ich mir diesen Kerl vorknöpfen. Ich werde ihn dazu bringen, daß er auspackt, und dann wissen wir mehr.«

»Das wird er aber nicht!« Die drei Männer wirbelten herum. Sie sahen Tim Link, der

sich in seiner Zelle aufgerichtet hatte. »Schert euch zum Teufel! Ihr könnt sicher sein, daß ihr eure Frauen nicht mehr lebend seht, wenn ihr mich nicht sofort freilaßt!«

Diese Drohung wirkte auf den Sheriff von Gregortown ungefähr so wie ein rotes Tuch für einen angriffsbereiten Kampfstier. Der Gesetzeshüter zuckte zusammen, dann rannte er los. Vor der Zellentür blieb er stehen.

»Wenn du jetzt noch einmal dein dreckiges Maul aufmachst, dann kann ich für nichts mehr garantieren. Du verdammte kleine Ratte, man sollte dich vernichten wie Ungeziefer!«

Richter Keyl, dem ebenfalls der Zorn zu Kopf gestiegen war, hatte dem Hilfssheriff den Zellenschlüssel aus der Hand

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gerissen. Damit rannte er nun zu Sheriff Maiswell. »Hier, wir machen ihn fertig!« schrie er.

Maiswell nahm den Schlüssel an sich. Er steckte ihn ins Schloß, drehte ihn und wollte die Zelle aufreißen.

Der verdattert dastehende Hilfssheriff von Salina wollte dazwischengehen. Er wollte die beiden Männer davon abhalten, daß sie über den Gefangenen herfielen.

Richter Keyl aber entwickelte in seiner Wut unglaubliche Kräfte. Er drehte sich auf dem Absatz herum, wuchtete dem Hilfssheriff seinen Ellbogen in den Leib und stieß ihn damit zurück. »Der Kerl gehört uns!« schrie er. »Und wir werden ihn dazu bringen, daß er auspackt und uns verrät, wo wir unsere Frauen finden.«

Maiswell hatte bereits die Zelle betreten. Tim Link war zurückgewichen. Er preßte sich angstvoll

zitternd an die Wand. »Nein! Nicht! Laßt mich! Laßt mich! Tut mir nichts!« In der Mitte der Zelle blieb der Sheriff von Gregortown

stehen. Er verschränkte beide Arme über der Brust. Mit einem hochmütigen Grinsen blickte er den Gefangenen an. »Wir tun dir nichts, wenn du den Mund aufmachst. Aber wehe, wir merken, daß du uns belügen willst! Dann hat dein letztes Stündlein geschlagen, Amigo!«

»Ich lüge nicht! Nein, ich lüge nicht! Ich sage euch die Wahrheit! Ihr könnt mir glauben, Mann! Ich sage wirklich die Wahrheit!«

»Dann sag sie endlich! Wo finden wir deine Kumpane? Raus mit der Sprache!«

Tim Link schüttelte den Kopf. »Du kannst mich umbringen«, sagte er heiser, »aber ich kann’s dir nicht genau sagen. Sie suchen den ganzen Sumpf nach Colorado ab, der mit den Frauen geflohen ist.«

Der Richter und der Sheriff sahen sich an. Keiner wußte, ob er nun lachen oder weinen sollte. Die Worte des jungen

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Verbrechers bestätigten das, was die beiden Männer schon seit geraumer Zeit hofften. Colorados Mission schien also schon Früchte getragen zu haben.

Link merkte, daß er sich mit diesem Geständnis keinen Gefallen getan hatte, und nun versuchte er zu retten, was noch zu retten war.

»Worauf warten wir denn noch?« knurrte der Richter. »Los, reiten wir, Sheriff! Wir müssen sie finden, denn jetzt können wir diese Hundesöhne schnappen. Sie haben kein Druckmittel mehr in der Hand.«

»Nein, wartet! Wartet noch!« Die beiden Männer, die sich schon zum Gehen gewandt

hatten, blieben stehen. Sie blickten Link an. »Was willst du?« knurrte Sheriff Maiswell. »Noch was. Ich an eurer Stelle würde nicht in den Sumpf

reiten, denn meine Freunde haben die beiden Frauen und Colorado sehr bald wieder. Sie kennen sich dort aus.«

»Du willst uns wohl auf den Arm nehmen, wie?« brüllte Maiswell außer sich. Er wollte sich auf Tim Link stürzen.

Der junge Bandit, noch nicht voll bei Kräften, sah den Sheriff von Gregortown auf sich zukommen. Blitzschnell rollte er sich zusammen, streckte die Beine aus und ließ Maiswell voll auflaufen.

Mit einem Schmerzensschrei ging Maiswell zu Boden. Er hatte sich die Nase blutig geschlagen an den Stiefelsohlen von Tim Link.

Mit einem wütenden Fluch kam der Sheriff wieder auf die Beine. Er sah den Banditen auf der Pritsche liegen.

»Ich werde dir beibringen…! Ich werde dich erledigen, du verdammtes Stinktier!« fauchte Maiswell.

Der Richter sah, daß der Sheriff zur Waffe greifen wollte. Mit zwei großen Sprüngen befand sich Keyl ebenfalls in der

Zelle. Er hieb dem Sheriff die Waffe aus der Hand. »Sind Sie verrückt, Mann? Sie können nicht einen wehrlosen Mann

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niederschießen!« Maiswell schien erst jetzt wieder zu sich zu kommen. Er starrte Keyl an, dann blickte er auf den Sechsschüsser, der auf der Erde lag.

»Zum Teufel«, knurrte er und wandte sich um. Richter Keyl hob die Waffe des Sheriffs auf und steckte sie

in den Hosenbund. »Es wäre besser, wenn du den Mund aufmachst und nicht

mehr versuchst, uns ein Märchen zu erzählen!« sagte er. »Du würdest dir damit selbst einen Gefallen tun. Wenn du vor Gericht stehst, dann zählt es zu deinen Gunsten, wenn du jetzt redest. Vielleicht würde ich mich sogar für dich einsetzen.«

Tim Link lachte auf. »Ich bin doch nicht verrückt!« rief er. »Denkst du denn, ich lasse mich von euch aufs Kreuz legen? Nein, Richter, meine Freunde verrate ich nicht!«

»Aber sie werden dich verraten!« erwiderte Keyl. »Das ist eine Finte!« gab Tim zurück. Er bemühte sich,

seiner Stimme Sicherheit zu verleihen. In Wirklichkeit war diese Sicherheit längst dahin. Er hatte Angst. Erbärmliche Angst. Er kannte Cole Grant. Der Bandit würde sich den Teufel um ihn scheren.

Keyl, der sich wieder völlig in der Gewalt hatte, hob die Schultern und ließ sie wieder sinken.

»Nun, dann kann ich dir nicht helfen, Junge. Aber sage später nicht, ich hätte dir nicht ein faires Angebot gemacht!«

Tim kratzte sich am Kopf. Er überlegte. Er runzelte die Stirn.

Sekundenlang sah es aus, als hätte sich der Bandit zu einer anderen Einstellung durchgerungen. Keyl schöpfte bereits Hoffnung, doch dann schüttelte Tim Link noch einmal den Kopf.

»Ich werd’ nichts sagen, Richter!« erklärte er kurz angebunden. »Und das ist mein letztes Wort. Geh zum Teufel!«

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Der Richter beschloß, dennoch einen letzten Versuch zu unternehmen.

»Dann sag uns wenigstens, ob unsere Frauen noch leben!« »Sie leben«, sagte Tim knapp, »aber der verdammte Bulle

wird sie ganz sicher noch in die Hölle bringen, denn er ist dann schuld, wenn sie draufgehen!«

Keyl wandte sich zu Maiswell um. Er war kalkweiß im Gesicht. Sogar seine Lippen waren blutleer.

»Colorado!« keuchte er. Maiswell, der den letzten Teil der Unterhaltung mitgehört

hatte, warf den Kopf zurück. »Colorado«, krächzte er verächtlich. »Wir werden uns selbst

um die Befreiung der Geiseln kümmern und wenn mich dabei der Teufel holen sollte!«

Richter Keyl drückte dem Hilfssheriff von Salina den Schlüssel für die Zelle in die Hand. Er ging auf Maiswell zu und reichte diesem seine Waffe.

»Ich komm’ mit, und wenn es sein muß, auch in die Hölle!« Maiswell verließ das Office. Er ging, gefolgt von Keyl, zu

seinem Pferd, das draußen vor dem Hitchrack stand. Während des Rittes, der sie den Sümpfen näherbrachte,

dachte der Richter über seine Lage nach. Die Aussichten, die Geiseln lebend zurückzubekommen, waren winzig. Wäre der Gouverneur am Anfang auf die Forderung der Banditen eingegangen, würden sich die Geiseln in Sicherheit befinden.

Wieder überkam Keyl Bitternis, als er daran dachte, daß von den Behörden ihre Forderung einfach abgelehnt worden war. Anscheinend war dem Gouverneur das Leben eines Menschen sehr wenig wert.

Wenn er versuchte, die Situation objektiv zu sehen, war Richter Keyl wiederum viel zu intelligent, um nicht die Folgen zu erkennen, die eine Freilassung von Joe Fraigh nach sich gezogen hätte. Das Beispiel hätte Schule gemacht. Und so wäre künftig immer damit zu rechnen gewesen, daß irgendwelche

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Banditen sich Geiseln verschafften, um jemand aus dem Gefängnis zu holen.

Schon nach kurzer Zeit hatten die beiden Männer die Sümpfe erreicht. Maiswell ritt voraus.

»Halten Sie sich genau in meiner Spur, Richter!« forderte er Keyl auf.

Besorgt blickte Keyl sich um. Der Pfad, den Maiswell ritt, stand teilweise unter Wasser. Noch leichter als sonst konnten die Reiter vom richtigen Pfad abkommen und versinken.

Nur eins war es, das den Richter und den Sheriff weitertrieb – die Sorge um ihre Frauen.

Und dabei wußten beide nicht, ob Claire Keyl oder Anne Maiswell überhaupt noch am Leben waren.

* * *

Die Gewitterfront, deren dunkle Wolken am Horizont drohend über dem verbrannten Land gestanden hatten, zog an den Sümpfen vorbei. Einige Meilen entfernt ging Regen nieder, doch dies wirkte sich auf das Sumpfgebiet aus.

Der Sheriff von Salina und seine Männer standen nach einigen Stunden bis zu den Knöcheln im Schlamm. Immer mehr weichte der feste Boden unter ihren Füßen auf.

Nach und nach gerieten die Männer der Posse in einen Panikzustand, der ein neues Risiko für ihre Sicherheit darstellte. Einige Männer murrten bereits.

Der Gesetzeshüter hatte sich vergeblich den Kopf nach einem Ausweg zerbrochen, aber seine Gedanken bewegten sich im Kreis, so, als wäre er eingesperrt und sähe keine Möglichkeit, aus dem Gefängnis zu entkommen.

»He, Sheriff!« rief ein schmächtiger Rothaariger. Der Angerufene wandte sich dem Sprecher zu.

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»Sollen wir vielleicht schon mit Beten beginnen? Mann, was wird denn jetzt geschehen? Ich will hier nicht warten, bis mir das Wasser bis zum Hals steht, Mann!«

»Beruhige dich«, erwiderte der Sheriff, »ich habe auch nicht diese Absicht.«

»Klingt zwar gut, aber du hast uns noch nicht erzählt, wie wir wieder aus diesem verdammten Sumpf herauskommen.«

Der Gesetzeshüter war wütend. Seine Nerven vibrierten. Es bedurfte nicht der herausfordernden Bemerkung eines Rothaarigen, um ihn zum Explodieren zu bringen.

»Halt die Klappe, Mensch!« brüllte er den Mann an. »Ich kann dir nichts erzählen, wenn ich es selbst nicht weiß. Oder denkst du vielleicht, ich hätte mir noch keine Gedanken darüber gemacht?«

Ein Ausdruck von Verzweiflung stand in den Augen des Gesetzeshüters, als er sich umblickte. Er sah einige Baumstämme, nicht besonders dick, aber sie würden ausreichen, wenn sie die Stämme umlegten und daraus ein Behelfsfloß anfertigten. Zumindest war damit erreicht, daß sie nicht im zähen Brei des Sumpfes versinken würden.

Erneut begann der Rothaarige zu meutern. Er regte sich auf, schimpfte und fluchte.

»He, warte mal!« rief der Sheriff. Er kratzte sich am Schädel. »Wir fällen die Baumstämme dort. Jeder hat ein Lasso und ich denke doch, daß wir ein gutes Floß zusammenbauen können. Dann haben wir wenigstens einen sicheren Platz, auf dem wir uns einige Stunden aufhalten können.«

Dieser Gedanke, der klang, als wäre die Rettung gefunden, ließ die Männer aufhorchen. Sie hatten wieder ein Ziel, das sie verfolgen konnten, und sie hatten Arbeit, die sie davon ablenkte, sich weiter trübsinnige Gedanken zu machen. Die Untätigkeit war vorüber.

Mit Genugtuung bemerkte der Sheriff, daß sich augenblicklich die Laune seiner Leute wieder besserte.

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»Also, Männer, fangen wir an! Immer zwei Mann nehmen sich einen Baum vor. Versucht, sie so zu fällen, daß sie parallel zueinander liegen! Wenn wir sie anschließend aufeinander zurollen, haben wir es leichter, sie zusammenzubinden. Zwei Mann gehen und holen Schilf. Schneidet es gut, dann können wir die Lücken ausfüllen und eine haltbare Unterlage für die Pferde schaffen! Worauf wartet ihr noch? Macht schon, los!«

Die Männer wurden plötzlich quicklebendig. Sie holten Äxte und Seile aus dem Gepäck und machten sich daran, den Auftrag des Sheriffs auszuführen.

Der Gesetzeshüter von Salina schloß sich nicht aus von der Arbeit. Er half mit, so gut es ging. Schweiß rann ihm in Strömen von der Stirn. Er arbeitete wie besessen und jeder seiner Männer tat es ihm gleich. Alle bemühten sich, nicht daran zu denken, was geschehen wurde, wenn die Idee des Sheriffs sich als großer Irrtum erweisen sollte.

* * *

Colorado hegte die berechtigte Hoffnung, daß die Frauen den größten Teil ihres Leidensweges hinter sich hatten. Er wähnte die Verfolger weit hinter sich. Als plötzlich Schüsse aufpeitschten und einige Kugeln in den Bootskörper einschlugen, zuckte er zusammen.

Die Frauen hatten sich vorher noch sehr ausgiebig miteinander unterhalten. Jetzt schon schwärmten sie davon, daß sie sich endlich wieder richtig pflegen konnten, daß sie baden und sich umziehen konnten. Sie taten, als hätten sie die Sümpfe schon verlassen.

Der Marshal hatte die Freude der beiden Frauen nicht zerstören wollen. Es war gut, wenn sie wieder zuversichtlicher wurden. Andererseits jedoch entpuppte es sich als Fehler, daß Colorado den Redefluß der beiden Damen nicht unterbrochen

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hatte, denn sonst hätte er die Geräusche des sich nähernden Floßes vernommen.

Colorado stieß hart die Stake in den schlammigen Grund. Mit einem jähen Ruck wurde die Fahrt des Bootes gestoppt

»Hinwerfen!« schrie der Marshal. »Los, werft euch hin!« Die beiden Frauen reagierten ungemein schnell. Sie warfen

sich ins Boot, kauerten sich zusammen und machten sich ganz klein.

Colorado hatte den Peacemaker herausgerissen. Er spähte, ebenfalls gebückt, in die Richtung, aus der er die Schüsse vernommen hatte.

Auf ihrem Floß stehend, erblickte der US-Marshal die beiden Verbrecher, die ihre Winchester im Anschlag hatten.

Rasch gab Colorado einige Schüsse ab. Er zielte dabei nicht auf die Banditen, denn ihm kam es nicht darauf an, daß er die Männer verletzte. Das Wichtigste war es, daß er die Banditen in Deckung zwang.

Colorados Rechnung ging auf. Grant und Frimmley warfen sich auf das Floß, und diesen Moment nützte der Marshal, das Boot schleunigst zurückzuschieben.

»Schnell, schöpfen Sie! Wir müssen verschwinden, bevor sie uns durchlöchern!« rief er den Frauen zu.

Claire Keyl und Anne Maiswell nahmen mit zerschundenen Händen wieder ihre bisherige Tätigkeit auf. Sie schöpften Wasser aus dem Boot und sie schwiegen dabei. Nur ab und zu warfen sie einen Blick zurück.

Als das Floß der Banditen endlich dort auftauchte, wo die schmale Durchfahrt in den breiteren Wasserarm mündete, waren die drei bereits außer Schußweite.

Nach gut zehn Minuten hastigen, kräftezehrenden Arbeitens erreichte das Boot einen weiteren abzweigenden Wasserweg. Dieser führte nach Norden. Colorado lenkte das Boot dort hinein. Er arbeitete verbissen weiter und hatte abermals eine Viertelstunde später Gelegenheit aufzuatmen.

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Auch auf dem Boot war das Ansteigen des Wasserspiegels nicht unbemerkt geblieben. Colorado hatte die dunklen Wolken am Horizont schon am Morgen ausgemacht, und damit gerechnet, daß irgendwo im Sumpfgebiet Regen niedergehen würde.

Solange ihr Boot noch dicht war, ließ ihn der ansteigende Wasserspiegel kalt, aber nun, da die morsche Nußschale erneut einige Löcher bekommen hatte, wurde die Lage allmählich brenzlig. Denn nicht nur durch die Einschüsse drang jetzt schon das brackige Sumpfwasser, sondern das ganze Boot leckte.

»Wir schaffen es nicht! Wir schaffen es nicht schnell genug!« rief Anne Maiswell keuchend. »Wir müssen unbedingt trockenen Boden unter die Füße bekommen, Colorado!«

»Ja, machen Sie! Machen Sie schnell, Colorado!« bat nun auch Claire Keyl, die Todesängste ausstand, wenn sie an die Alligatoren dachte.

»Ich würde das ja ganz gern tun«, gab Colorado zurück, »aber ich fürchte, daß wir nicht so schnell Land finden werden, auf dem man stehen und gehen kann!«

»Dann bringen Sie uns wieder auf eine dieser Inseln! Lieber sitze ich einige Tage auf einem Baum; dort bin ich wenigstens sicher!« rief Anne Maiswell. »Bitte, Colorado, Sie müssen uns ans Ufer bringen! Wenn wir hier untergehen oder kentern, dann fressen uns diese verdammten, gräßlichen Viecher!«

»Warten Sie ab. Ich will sehen, daß wir irgendwo Land finden, auf dem man nicht versinkt!« Colorados Stimme klang ärgerlich. Er konnte Hysterie nicht ausstehen.

Lange würden die beiden Frauen nicht mehr durchhalten, das war jetzt schon abzusehen. Nicht nur die kräftezehrende Arbeit war es, die sie unerhört mitnahm, sondern vor allen Dingen auch der Nervenverschleiß.

Der US-Marshal sah ein, daß er wohl ein wenig zu hart urteilte. Schließlich waren die beiden Frauen den Strapazen

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und Gefahren der Wildnis nicht jeden Tag ausgesetzt wie er, und so nahm es nicht wunder, daß sie kaum einen Bruchteil der Widerstandskraft besaßen, durch die er sich auszeichnete.

Die Sorgen der beiden Frauen waren nicht unbegründet, denn im Boot hatte sich schon knöcheltief Wasser angesammelt.

»Warten Sie, ich helfe!« Colorado zog den Ast ins Boot und half den zweien, mit

hohlen Händen das eindringende Wasser wieder aus dem Boot zu schöpfen.

Das Eingreifen des Marshals hatte Erfolg. Als das Wasser weniger geworden war, verstopfte der Marshal die Löcher mit Schlingpflanzen.

Anne Maiswell und Claire Keyl atmeten auf. »So können wir uns vielleicht noch eine Weile über Wasser

halten«, bemerkte Colorado. »Nein, bringen Sie uns ans Ufer, Marshal!« forderte Anne

Maiswell. Colorado knurrte erbost. »Hören Sie, Lady! Ich habe Ihnen

gesagt, daß ich mein möglichstes tun werde. Und hexen kann ich leider nicht. Es hat keinen Sinn, wenn ich Sie auf eine Insel bringe, auf der wir in wenigen Stunden versinken! Ich habe keine Lust, dieses lausige Spiel noch einmal von vorne zu beginnen!«

So sehr sich US-Marshal Colorado auch bemühte, die beiden Frauen zu beruhigen und zur Vernunft zu bringen, so erfolglos blieben diese Mühen. Ja, es schien sogar, als würde er mit jeder Bemerkung noch mehr Aufregung verursachen. Dazu kamen dann noch Müdigkeit, Erschöpfung und Resignation.

Anne Maiswell und Claire Keyl hatten es bereits für sicher gehalten, daß sie gerettet und frei waren. Nun mußten sie einsehen, daß sie noch einen weiten Weg vor sich hatten. Einen weiten Weg voller Gefahren und Hindernissen. Und es war noch längst nicht sicher, ob sie das Ziel auch erreichen würden.

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Diese Feststellung war derart niederschmetternd, daß jeglicherMut und jeder Wille zum Überleben, zum Kämpfen verrauchte.

Colorado mußte angesichts der Resignation seiner Begleiterinnen seine Absichten ändern. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis den beiden Frauen einfiel, daß es völlig überflüssig war, weiter Wasser zu schöpfen, wenn sie ihr Ziel ohnehin nicht erreichen würden. Manchmal verglich der Marshal eine störrische Frau gerne mit einem bockigen Maultier.

Rasch hatte Colorado einen Entschluß gefaßt. Er steuerte eine vorspringende, kahle Stelle an, und dort ließ er das Boot auf Grund laufen.

Die Frauen, zunächst voller Entsetzen, weil sie dachten, das Boot würde untergehen, starrten den Marshal fragend an.

Mit der Stake sondierte Colorado den ziemlich fest aussehenden Untergrund. Und er war mit dem, was er vorfand, zufrieden. Der Boden würde sie tragen.

Mit einem beherzten Sprung erreichte der US-Marshal festen Boden. Er sank ein kleines Stück ein, fürchtete schon, sich geirrt zu haben, quittierte dann aber mit einem Seufzer der Erleichterung, daß der Boden ihn doch trug.

»Halten Sie sich an der Stange fest! Ich ziehe Sie herüber!« Der Marshal schob die Stake hinüber ins Boot. Anne

Maiswell umklammerte sie, dann sprang sie ab, und zum Schluß kam Claire Keyl.

Da sie davon ausgehen mußten, daß sie für das Boot noch Verwendung finden würden, rammte Colorado die Stange in den Boden und band das Seil am Bug des Bootes daran fest.

»Well! Schätze, wir haben es geschafft, Ladies!« »Dem Himmel sei Dank!« seufzte Anne Maiswell. Claire

Keyl nickte nur. Colorado wollte etwas darauf erwidern. In diesem Moment

hörte er ein Knacken unmittelbar hinter sich. Blitzschnell wirbelte der Marshal auf dem Absatz herum. Er hatte die

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Rechte schon an der Waffe. Er ging leicht in die Hocke, wollte eben den Peacemaker herausreißen, da blickte er in die Mündungen einer Schrotflinte.

Der Marshal erstarrte. Sein Blick glitt an beiden Läufen entlang bis zum Kolben, dann höher, und dort sah er ein bärtiges, über und über von Falten zerfurchtes Gesicht. Verschmitzte Schlitzaugen waren auf ihn gerichtet.

Irgendwo in diesem Bartgestrüpp war so etwas wie eine Nase zu erkennen. Und nun öffnete der plötzlich aufgetauchte Unbekannte auch den Mund.

»Ich würd’ nicht ziehen, Amigo«, sagte er leise, »es sei denn, du willst aussehen wie ein Kaffeesieb.«

Colorado richtete sich wieder auf. Er nahm seine Hand von den Griffschalen des Peacemakers. »He, Hombre«, preßte er heraus, »was willst du?« »Hohoho«, lachte der Alte belustigt auf. »Die Fragen stelle

ich hier, mein Freund. Ich habe nämlich die Waffe in der Hand und nicht du!«

Anne und Claire hatten sich hinter Colorados Rücken verborgen. Sie kauerten sich zitternd aneinander.

Colorado fixierte sein Gegenüber. Der alte Mann sah nicht aus, als gehörte er zu den Desperados, die sich in den Sümpfen verborgen hielten, um nicht vom Arm des Gesetzes erreicht zu werden. Eher noch konnte sich Colorado vorstellen, daß sein Gegenüber ein Fallensteller oder Jäger war.

»Was willst du mit den Frauen?« fragte der Bärtige nun. Er ging einige kleine Schritte zurück, ließ aber nach wie vor seine Waffe auf die breite Brust des US-Marshals gerichtet.

»Ich will sie aus den Sümpfen bringen«, erwiderte Colorado wahrheitsgemäß. »Denke, du hast doch nichts dagegen, Alter?«

Aus den Augenwinkeln heraus gewahrte Colorado, daß sein Adler, der seit geraumer Zeit hoch oben über dem Sumpf kreiste, bereits bemerkt hatte, wie der Bärtige seinen zweibeinigen Freund bedrohte. Und Sky reagierte prompt. Er

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ging in den Sturzflug über, raste mit unglaublicher Geschwindigkeit auf den Bärtigen zu, der ihn noch nicht gesehen hatte und nichts von der sich ihm nähernden Gefahr ahnte.

Den scharfkantigen Schnabel nach vorn gestreckt, die Fänge zum Zugreifen bereit, schoß der Adler auf den Bärtigen zu.

»Du solltest deine Waffe wegnehmen!« rief Colorado. Er mußte den Mann ablenken, damit dieser den Adler nicht noch in letzter Sekunde erblickte und auf ihn schoß.

Der Bärtige lachte auf. »He, aufs Maul bist du ja nicht gefallen, aber scheinbar auf den Kopf, was? Ich denke nicht daran, die Waffe wegzunehmen, aber du wirst deinen Gurt abschnallen!«

Da war Sky heran. Ein heftiger Flügelschlag, als der Adler seine mächtigen Schwingen ausbreitete. Der Bärtige fuhr herum, stieß einen Schrei aus und im gleichen Moment spürte er schon einen kurzen, heftigen Schlag, den der Adler ihm mit seinem Schnabel verpaßte. Die Fänge von Sky schlossen sich um die Läufe der Schrotflinte. Der unerhörte Schwung, mit dem der Adler herangeflogen war, reichte aus, dem Alten die Waffe sofort zu entreißen.

Das Eingreifen des Adlers kam so überraschend, so unerwartet, daß der Bärtige glauben mußte, der Satan persönlich wäre über ihn hergefallen. Und bevor er noch richtig kapierte, was geschehen war, hatte Sky die Schrotflinte bereits aus den Fängen gelassen und sich in den blauen Himmel emporgeschraubt.

Verdattert stand der alte Mann da. Er war nicht fähig, auch nur ein einziges Wort zu sprechen. Seine Knie zitterten.

Colorado hatte die Verblüffung des Alten benutzt, um rasch seinen Peacemaker aus dem Holster zu reißen. Jetzt richtete er die Waffe auf den Bärtigen.

»Pech für dich, Amigo«, sagte er. »Du hättest besser auf mich hören sollen!«

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Der Bärtige runzelte die Stirn. »Verdammt noch mal, Mann, du bist wohl mit dem Teufel im Bund, wie?«

Colorado lachte auf. »Nicht nötig, mein Freund, auf den kann ich verzichten, wenn ich meinen Adler habe. Und jetzt, mein Freund, drehen wir den Spieß um. Sag mir, was du von uns wolltest!«

»Nichts«, erwiderte der Bärtige, »nur wissen, warum du dich mit zwei Frauen hier herumtreibst? Hab’ da irgendwas läuten hören, daß Banditen zwei Frauen verschleppt haben. Bist du einer von ihnen?«

Colorado schüttelte den Kopf. »Nein, bin ich nicht. Ich habe versucht, die Frauen zu befreien. Die Banditen sind uns auf den Fersen!«

Zweifelnd blickte der alte Mann die beiden Ladies an, von denen die Rede war.

Anne Maiswell und Claire Keyl nickten zustimmend. »Ja, das stimmt!« rief Anne Maiswell. »Er ist US-Marshal, und wenn er nicht gewesen wäre, dann würden wir wahrscheinlich nach wie vor in den Händen der Banditen sein.«

Der Alte wühlte in seinem struppigen Haar. »Wenn das so ist«, brummte er verlegen, »well, wenn das so ist, dann nimm mir die Sache nicht krumm, Marshal. Wollte dich nicht überfallen, hab’ gedacht, ich tu was Gutes.«

Colorado kniff die Augen etwas zu. »Du kannst was Gutes tun, Alter!« sagte er. »Wenn du dich

hier herumtreibst, nehme ich an, daß du die Sümpfe kennst. Du könntest uns einen Weg zeigen, wie wir hinauskommen.«

Der Bärtige nickte nachdenklich. »Darüber läßt sich reden«, sagte er, »weißt du, das mit der Waffe war so… na ja, du weißt ja selbst, daß es gut ist, wenn man zuerst die Waffe in der Hand hat und dann fragt. Du kannst vom Glück reden, daß ich nicht gleich geschossen habe.«

»Hast du einen Grund, auf Fremde zu schießen, die sich hierher verirrt haben?«

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»Verirrt? Hierher verirrt sich keiner. Wer sich wirklich verirrt, der kommt nicht weit, aber diejenigen, die so weit in den Sumpf vordringen, die haben eine Menge Dreck am Stecken. Und solche Lumpenhunde nehmen keine Rücksicht auf dich. Sie legen dich eiskalt um, wenn sie sich etwas von dir versprechen oder wenn sie Angst vor dir haben.«

»Bist du einer von denen?« Die Frage Colorados war hart, aber auch sehr deutlich. Ein

anderer als der alte Mann wäre womöglich sehr wütend geworden. Aber der Bärtige grinste nur.

»Ich muß dich enttäuschen, Marshal«, meinte er, »aber ich kann dir eine ganze Menge Typen aufzählen, die hier in den letzten Jahren ihre Zuflucht gefunden haben. Ich kann dir auch sagen, was aus ihnen geworden ist. Wer zum Beispiel untergegangen ist, wer abgesoffen ist und wer sich noch hier herumtreibt.«

»Dann kennst du dich also besser aus, als ich vermutet habe?«

»Kann man wohl sagen«, stimmte der Alte zu. »Ich bin hier zu Hause. Seit mehr als zwanzig Jahren. Und es ist ein schönes Land, ein verdammt schönes Land sogar. Es ist besser als sein Ruf. Es ist auch hart. Man muß jeden Tag aufs neue kämpfen. Der Sumpf ist eine eigene Welt, aber wer ihn kennt, der liebt ihn und der wird hier glücklich.«

Die Schwärmerei des alten Mannes hörte sich merkwürdig an, aber Colorado besaß genug Menschenkenntnis, um zu wissen, daß der Alte nicht verrückt war; im Gegenteil, er war sehr schlau.

»Man nennt mich Biber-Joe«, fuhr der Alte fort. »Ich bin der einzige Mann hier, der dir jedes Sumpfloch verraten kann. Ich tage und lebe hier.«

»Gut, dann führe uns!« »Mach’ ich, Marshal! Nicht, weil du mir gefällst, sondern

weil du zwei Frauen bei dir hast. Dir würde ich was pfeifen.«

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»Schön, dann führ die beiden Frauen auf das sichere Land. Ich bleibe zurück.«

»Allein?« Colorado nickte. »Sie sind verrückt, Marshal!« fuhr Anne auf. »Sie sind

wirklich verrückt. Was soll das denn? Wieso wollen Sie hier zurückbleiben?«

»Ich habe noch eine Kleinigkeit zu erledigen!« erwiderte der Marshal. »Bei Biber-Joe sind Sie sicher, aber die Banditen laufen noch frei herum. Ich muß mich um sie kümmern!«

»Aber Sie riskieren dabei Ihr Leben, Colorado«, wandte Claire ein.

Colorado lächelte. Er wollte sich umwenden, als Biber-Joe ihn noch einmal anrief.

»Du solltest es dem Sumpf überlassen, Marshal! Der weiß, was er mit den Banditen tut! Er ist gerecht.«

»Nein, das werde ich nicht tun, Joe. Ich werde die Banditen fangen und sie ins Jail bringen. Du hast zwar eine sehr hohe Meinung von diesem Sumpf. Und diese Meinung mag auch berechtigt sein, aber mir ist es dennoch lieber, wenn ich die Schurken hinter Gittern weiß.«

»Du begehst einen Fehler, Colorado! Du begehst einen verdammten Fehler! Dieser Sumpf ist nicht einfach ein Schlammloch. Er lebt. Er hat sein eigenes Leben seit Jahrhunderten oder seit Jahrtausenden. Und er wird noch hundert oder tausend Jahre länger leben als du. Er ist stärker und mächtiger als wir alle.«

Colorado räusperte sich. »Biber-Joe, du bist in Ordnung, das sieht man dir an. Aber

die Einsamkeit hat dich zum Spinner gemacht. Du glaubst an Dinge, die kein anderer ernsthaft glauben würde. Man würde über dich lächeln. Vielleicht glaubst du, daß der Sumpf dein Freund ist, aber er würde auch dich verschlingen, wenn du einen Fehltritt tust.«

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»Klar würde er das tun. Und das ist sein gutes Recht. Ich weiß alles über ihn und er weiß alles über mich. Und ich liebe diesen Sumpf. Ist das Spinnerei?«

Colorado fiel keine vernünftige Antwort auf diese Frage ein und er war auch nicht daran interessiert, sich mit Biber-Joe darüber zu streiten, wer von ihnen recht hatte.

»Nach Salina soll ich die Frauen bringen, nicht wahr? Wie ist das mit euren Verfolgern?«

Colorado erklärte Biber-Joe den ganzen Fluchtverlauf und gab ihm in groben Umrissen einen Einblick, was sich bisher ereignet hatte.

Biber-Joe hörte aufmerksam zu. Er lachte auf, dann schmunzelte er, und dann wiederum fluchte er.

Als Colorado endete, steckte sich der alte Mann eine Zigarette an. Er sog den Rauch tief in die Lungen und stieß die kleinen blauen Wolken durch die Nase aus.

Als er die Zigarette zu Ende geraucht hatte, schnippte er die Kippe über Colorados Kopf hinweg ins Wasser. Dann wandte er sich um und wartete, bis die Frauen sich ihm zögernd anschlossen. Er bückte sich, hob seine Schrotflinte auf und stapfte davon, ohne sich noch einmal umzusehen.

Der US-Marshal atmete auf, als die drei Menschen im hohen Schilfgras verschwanden. Jetzt wußte er die Frauen in Sicherheit. Und nun hatte er freie Bahn. Jetzt konnte er das Spiel gegen die Banditen so spielen, wie seine Regeln es ihm erlaubten. Und er würde ihnen die Hölle heiß machen.

* * *

Grant und Frimmley rappelten sich auf. Sie warteten einen Augenblick unschlüssig, dann wollte Frimmley das Floß weiterstaken. Doch Grant hielt den Kumpan zurück.

»Warte!« knurrte er. »Erst will ich wissen, was dieser Hundesohn vorhat.«

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»Er wird umkehren und einen anderen Weg suchen«, mutmaßte Frimmley.

»Bist ‘n ganz Schlauer«, gab Grant zurück, »aber was für einen Weg?«

Frimmley zuckte die Schultern. »Eben. Und deshalb müssen wir nachdenken.« Frimmley ließ sich nicht gern von Grant zum Idioten

stempeln, denn Grant hatte nicht wesentlich mehr Gehirn in seinem Kopf als Frimmley. Daß der Schwarzhaarige seinen Verstand allerdings besser anzuwenden und einzusetzen wußte, das stritt Frimmley nicht ab.

»Raus wollen sie, raus aus dem Sumpf«, fauchte er, »und zwar so schnell wie möglich!«

»Nach Westen?« »Nein, ich würde sagen, nach Norden. Dort treffen sie zuerst

auf festes Land.« »Das könnte sein«, überlegte Grant. »Dann verfolgen wir sie

nicht erst, sondern wir staken mit unserem Floß in dieser Rinne weiter. Und wenn wir ein bißchen Glück haben, dann, kommen wir sogar noch vor ihnen an dem Ziel an, das sie erreichen wollen. Verdammt noch mal, die werden Augen machen!«

Frimmley verkniff sich ein verächtliches Schnauben. Er war überzeugt, daß auch Colorado soweit denken konnte. Und er würde sich beeilen, mit den Frauen weiter voranzukommen. Mit einer gewissen Hochachtung dachte der Bandit an den Marshal. Obwohl Colorado sein Gegner war, mußte Frimmley ihm Respekt zollen.

»Los, an die Arbeit!« Grant fluchte und begann, das Floß abzustoßen.

Die beiden Männer arbeiteten rasch und mit gleichmäßigen Bewegungen. Die Rinne, in der sie das Floß vorantrieben, behielt ihre Breite bei. Ihre Fahrt ging daher relativ rasch vonstatten.

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Minute um Minute verrann. Schweiß stand den Männern auf der Stirn, aber sie ließen nicht locker.

»Was wird mit Tim, wenn er zurückkommt?« wollte Frimmley wissen.

»Frag nicht so dämlich«, raunzte Grant ihn an, »das ist mir jetzt auch völlig egal!«

»Soll der Kleine im Lager auf uns warten?« »Was sonst? Er muß warten. Er weiß ja nicht, wo wir uns

befinden.« »Und wenn sie ihn schnappen?« »Quatsch doch keinen Blödsinn! Sie schnappen ihn nicht.

Woher sollen sie wissen, wo er sich aufhält?« Jetzt wurde Frimmley wütend. »Himmel noch mal, Grant!«

fauchte er, »du bist ein gottverdammter Narr! Was du nicht sehen willst, das siehst du auch nicht, da schließt du einfach die Augen! Denk doch mal nach! Ich schwör’ dir, daß Fraigh noch hinter Gittern ist und die Frauen sind weg, der Bulle ist uns entwischt und vielleicht haben sie inzwischen auch den Kleinen geschnappt! Was wollen wir denn überhaupt noch?«

»Das weißt du ganz genau!«»Nichts weiß ich! Überhaupt nichts mehr weiß ich! Du hast

es durch deine verdammten und verrückten Kommandos geschafft, daß wir uns lächerlich machen! Fehlt nur noch, daß wir den Kerlen, die es auf uns abgesehen haben, geradewegs in die Hände laufen, dann lachen sie erst recht!«

»Blödmann! Niemand wird über uns lachen und keiner wird uns fangen, hast du gehört?«

Grant hatte vor Zorn eine heisere Stimme. Und in solchen Situationen war der Verbrecher unberechenbar. Frimmley hatte ihn mehrfach so erlebt.

»Schon gut, Grant«, lenkte er deshalb wieder ein. Er stemmte seine klobigen Fäuste in die Hüften und verschnaufte.

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Grant starrte seinen Begleiter mißtrauisch an. Er fragte sich, was im Kopf dieses Mannes vor sich gehen würde. Er fragte sich, wieso Frimmley so wenig für ihren Boß tun wollte.

Doch in dieser Hinsicht waren die beiden Männer völlig voneinander verschieden. Frimmley war kein Fanatiker. Er, ein nüchterner Rechner, der sehr genau zu unterscheiden verstand zwischen dem, was er tun mußte und was er dafür bekam. Und sie hatten weiß Gott schon eine Menge für Joe Fraigh getan, während er für sie kaum einen Finger krumm gemacht hatte.

Das war eine Rechnung, die sehr nüchtern aufgebaut war. Alle ihre Verpflichtungen gegenüber Fraigh waren längst erfüllt. Die Banditen waren ihrem früheren Boß nichts schuldig geblieben. Und Frimmley war überzeugt, daß dieser sie sogar aufhängen hätte lassen, wenn er seinen Kopf hätte retten können. Er hätte sie verraten und verkauft.

Noch hielt Ben Frimmley den Mund. Er kannte Grant gut genug, um zu wissen, daß der Schwarzhaarige erst einmal kräftig auf die Schnauze fallen mußte, bevor er seine bedingungslose, hündische Treue und Ergebenheit endlich aufgab. Die Chance, daß Grant zur Vernunft kam, sah Frimmley darin, daß der Gefährte merkte, wie sinnlos ihr Unternehmen war.

Die Verschnaufpause war zu Ende. Grant spuckte in die Hände und nahm wieder die Stange. Wütend bohrte er sie in den Schlamm. Er keuchte und starrte unentwegt nach vorne.

Abermals verrannen zäh die Minuten. Mit einem Mal jedoch waren die Banditen hellwach. Sie

wurden mucksmäuschenstill. »Halt, sei still!« Grant reckte den Kopf. Um besser zu hören, legte er die

Hand an die Ohren. Dann grinste er. Frimmley hatte ebenfalls die Schritte vernommen. Schritte

eines Menschen, der sich ganz in der Nähe aufhielt.�

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»Colorado?« zischte Frimmley und blickte seinen Begleiter fragend an. Grant zuckte die Schultern. Er nahm die Winchester hoch.

Bewegungslos verharrten die beiden Männer auf ihrem Floß. Sie machten rund zwanzig Schritte voraus, entlang der Wasserrinne, einen Pfad aus, der nicht vom Schilf verborgen war. Auf einer Strecke von zweihundert Yards führte dieser Pfad an der Rinne entlang.

Plötzlich war das Geräusch der Schritte nicht mehr zu hören. Frimmley zuckte zusammen. »Wir müssen noch ein Stück weiter vor«, raunte Grant und

gab Frimmley einen Wink. Die beiden Männer nahmen wieder die Stangen zur Hand.

Mit äußerster Vorsicht und Behutsamkeit schoben sie das Floß weiter durch die Rinne, und dann langten sie dort an, wo der Pfad aus dem dichten Schilf herausführte und von da ab an der Wasserrinne entlang verlief.

Die Banditen befestigten das Floß und sprangen auf den morastigen Boden.

Grant hetzte voran. Er winkte Frimmley zu, sich zu beeilen. Ein Stück voraus, wo der Pfad in einem stumpfen Winkel

wieder in nordöstliche Richtung abbog, befanden sich links und rechts hohe Schilfwände.

Das Gelände war bedeutend weniger tückisch als weiter südlich. Sogar einige Felsbrocken, die aus dem Schlamm ragten, waren zu erkennen. Und nur noch selten befanden sich die schlammigen Löcher unmittelbar am Pfad.

»Hier warten wir«, bestimmte Grant, dessen Laune wieder um einige Grade gestiegen war. »Und wenn sie kommen, dann soll der verdammte Bulle in seinem ganzen Leben zum letzten Mal gelacht haben. Wir werden ihm einen Feuerzauber bereiten, daß ihm Hören und Sehen vergeht!«

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Frimmley, der inzwischen ebenfalls wieder etwas mehr an den Erfolg glaubte, ließ sich immer mehr von Grant anstecken und sein Haß gegen Colorado wuchs weiter.

Hinter einem Felsbrocken verschanzten sich die beiden Banditen. Durch Büsche und das Schilf wurden sie gut gedeckt, so daß sie vom Pfad aus auf keinen Fall gesehen werden konnten.

Grants Backenzähne mahlten aufeinander. Die Lippen hatte der Bandit zusammengepreßt. Sein Atem ging rasch und keuchend.

Frimmley umklammerte mit der Rechten den Schaft der Winchester. Seine Knöchel traten weiß hervor. Unverwandt starrte er auf den Pfad und wartete auf das Erscheinen des Marshals und seiner beiden Begleiterinnen.

Wieder klangen Schritte auf. Schmatzende Schritte im Schlamm des Pfades.

Frauenstimmen waren zu hören. Anne Maiswell und Claire Keyl unterhielten sich halblaut. Die beiden versteckten Banditen reagierten auf den Anblick

der Frauen mit Wut und Genugtuung. Gleichzeitig irritierte sie aber die Tatsache, daß nicht Colorado die beiden Frauen begleitete, sondern ein alter, bärtiger Mann, den sie noch nie gesehen hatten.

Offenbar ahnte der alte Mann nichts. Er schien sich seiner Sache völlig sicher zu sein. Und er ahnte nicht, daß das Verderben für ihn und die Frauen dort hinter jenen Felsen auf sie lauerte.

* * *

Die Posse aus Salina befand sich nach wie vor auf der gleichen Stelle. Inzwischen hatten die Männer aus den Baumstämmen mit Schilf und den Lassos ein solides Floß angefertigt. Es glitt zwar unbeladen ins Wasser, aber als es beladen war, ging es

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auf Grund. Das seichte Wasser reichte nicht aus, das Gefährt schwimmen zu lassen.

Doch darüber ärgerten sich die Männer gar nicht. Auch der Sheriff, der auf dem Floß Schutz gefunden hatte, regte sich nicht weiter auf.

Der Gesetzeshüter Salinas setzte seine Hoffnung auf den steigenden Wasserspiegel. Wenn das Wasser noch eine Weile stieg, würde das Floß von allein absetzen und zu schwimmen beginnen.

Die Verfolgung der Banditen hatte für den Sheriff von Salina und die ihn begleitenden Männer schon keine Bedeutung mehr. Sie hatten diese Aufgabe aus dem Blickwinkel verloren. Die Männer dachten nur noch an das Naheliegende. Und da war ihnen das Hemd näher als der Rock. Zuerst mußten sie sich selbst befreien aus diesem Schlamassel, bevor sie daran denken konnten, die Frauen und Colorado herauszuholen.

Colorados Plan war gut gewesen und der Marshal hatte auch den Eindruck bei dem Sheriff von Salina hinterlassen, als würde er seinen Kampf allein ausfechten können und durchstehen.

Aber Menschen waren nun einmal so, daß niemand in sie hineinblicken konnte. Vielleicht war Colorado gar nicht der, für den der Sheriff ihn hielt. Vielleicht aber hatte der untersetzte Mann mit dem schönen Pferd schlicht Pech gehabt.

Der Sheriff verscheuchte diese Gedanken. Er rollte sich eine Zigarette und steckte sie an. Dann lehnte er sich zurück und wartete geduldig, was sich weiter ereignen würde.

Die übrigen Männer der Posse unterhielten sich halblaut miteinander. Sie redeten über die Chancen, die sie noch hatten, das Floß freizukriegen. Sie schlossen sogar Wetten ab. Aber Anzeichen von Hysterie, die noch Stunden vorher so deutlich zu merken gewesen waren, traten nicht mehr auf.

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Die Regenfälle, die in dem entfernten Gebiet niedergegangen sein mußten, wirkten so nachhaltig auf den Grundwasserspiegel und die Bachläufe, daß sich binnen zwei Stunden durch einen Ruck im Floß eine Änderung ihrer Situation ankündigte.

Nicht mehr lange konnte es nun dauern, bis die Männer aus Salina das Floß flottbekamen.

Eine halbe Stunde verging, und dann war es soweit. Der Sheriff richtete sich auf. Er war aufgeregt. Nun stand wieder eine Entscheidung an, die er zu treffen hatte. Er mußte die Richtung bestimmen, die sie nehmen sollten.

Wenn sich der Sheriff von Salina an den Vortag erinnerte, wenn er an seinen Mißerfolg dachte, dann scheute er sich unwillkürlich, diese Entscheidung zu treffen. Wie leicht konnte es geschehen, daß er die Männer wieder in eine ausweglose Lage brachte. Wie schnell konnte einer im Sumpf versinken.

Die Ausmaße des Floßes nahmen dem Sheriff schon einen Teil der Verantwortung ab.

»Wir müssen uns in die Richtung bewegen, die wir mit dem Floß auch erreichen können!« erklärte der Sheriff. »Es hat keinen Sinn, wenn wir in eine schmale Rinne einfahren, die wir einfach nicht durchfahren können.«

Die Männer sahen die Notwendigkeit dieser Entscheidung sehr wohl ein. Sie begannen, mit langen Stangen das Floß in Fahrt zu bringen.

In den ersten Minuten geschah es häufig, daß dieses klobige Gefährt auflief, irgendwo schrammte, den Schlamm aufwühlte. Immer wieder ruckte und stockte es. Schließlich aber erreichte das Floß eine tiefere Rinne. Von da ab ging die Fahrt wesentlich rascher und vor allem reibungslos vonstatten.

Der Sheriff stand wie ein Kapitän vorne auf dem Floß. Er gab Anweisungen, winkte, zeigte die Richtung an, die zu nehmen war, und seine Männer gehorchten aufs Wort.

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Endlich war die lange Zeit des Nichtstuns vorüber. Wenn die Männer auch eine Fahrt ins Ungewisse angetreten hatten, so war dieser Gedanke leichter zu ertragen, als hätten sie allmählich im Sumpf versinken müssen. Irgendwo würde sich ein Ort finden, von dem aus sie mit den Pferden weiterreiten konnten.

Die Laune der Männer besserte sich. Ein unbefangener Beobachter hätte den Eindruck gewinnen können, ein Verein lustiger Junggesellen würde sich auf einem Ausflug befinden.

Die Sumpfvegetation links und rechts des Wasserlaufs war beeindruckend. Kräftige Bäume, zahlreiche Hecken mit dichtem Laub wuchsen zwischen fingerähnlichen Wasserläufen, die sich zwischen langgestreckten Landzungen auffächerten.

»Langsam!« kommandierte der Sheriff. »Wir müssen hier irgendwo das Floß verlassen, Männer! Die Wasserläufe sind so eng, daß wir niemals durchkommen.«

Die Männer hantierten geschickt mit den Stangen. Sie verminderten die Geschwindigkeit des Gefährts, das nun ganz sachte auf die größte dieser Landzungen zutrieb. Einige Alligatoren beäugten mißtrauisch das sich nähernde Ungetüm. Sie warteten nicht erst, bis es festen Boden berührte, sondern sie ergriffen die Flucht und verschwanden aufgeregt, wobei sie mit ihren mächtigen Schwänzen das Wasser peitschten.

Mit einem sanften Ruck wurde die Fahrt des Floßes gebremst. Der Sheriff war sehr vorsichtig. Er ließ sich von den Männern eine der Stangen geben und prüfte erst, ob der Boden wirklich fest genug war, daß ein Mann oder ein Tier darauf stehen konnte, ohne daß es versank.

Das Ergebnis seiner Prüfung war zufriedenstellend. Er wandte sich um und hob die Hand.

»Los! An Land, Männer!« rief er und schon sprang er als erster vom Floß.�

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Der Sheriff bewegte sich ein Stück weiter zwischen die Bäume. Der Boden war tatsächlich fest und unnachgiebig. Hier hatten weder Mensch noch Tier etwas zu fürchten.

Nach und nach kamen auch die anderen vom Floß auf die Landzunge. Ein Stück weiter fand sich sogar Gras für die Pferde.

Der Sheriff war erleichtert. Er ging noch weiter auf einem schmalen Pfad, der halb zugewachsen war.

Plötzlich erstarrte der Gesetzeshüter. Zwei Männer näherten sich zu Pferde. Der Sheriff kannte sie nicht. Er konnte nur ihre Gesichter sehen.

Der erste Gedanke des Sheriffs war natürlich, daß die Verbrecher, die sie verfolgten, sich ihnen näherten, doch noch war er sich nicht hundertprozentig sicher.

Hastig schlich der Sheriff zu seinen Männern zurück. Er forderte einige auf, ihm zu folgen. Unterwegs klärte er sie auf, was er gesehen hatte.

Er gab den Männern klar zu verstehen, daß die Fremden nicht erschossen werden dürften. Sie sollten lediglich eingekreist werden. Wenn sie ein halbes Dutzend Gewehre auf sich gerichtet sahen, mußten sie wohl oder übel aufgeben. Denn dann mußte selbst ein Dummkopf einsehen, daß jeder Widerstand zwecklos war.

Der Gesetzeshüter grinste übers ganze Gesicht, als er seine Männer verteilte. Das dichte Laubwerk der Büsche versteckte ihn und die Leute und schützte sie vor den Blicken der Näherkommenden. Der Sheriff hätte am liebsten einen Luftsprung vollführt, als er erkannte, daß die Fremden genau in die aufgestellte Falle ritten. Er biß die Zähne zusammen.

Diese verdammten Banditen! Kommt, dann werdet ihr euer blaues Wunder erleben, dachte der Sternträger und er grinste dabei grimmig.

All die Mißerfolge, die sie hatten hinnehmen müssen, waren mit ein Grund dafür, daß der Sheriff sich für eine sehr rauhe

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Behandlung der Banditen entschieden hatte. Sie waren Verbrecher und er hatte gegen sie zu kämpfen, nicht nur, weil er Sheriff war, sondern weil seine Überzeugung mit dem Recht, dem sich jeder unterzuordnen hatte, gleichzusetzen war.

Er hätte auch so gehandelt, wäre er ein ganz gewöhnlicher Bürger von Salina gewesen. Er konnte nicht anders.

Zwanzig Schritte noch, dann befanden sich die Reiter in der Falle. Der Gesetzeshüter blieb hinter dem Busch stehen. Er war bereit, nach vorn zu springen, einen Warnschuß abzugeben und die Fremden aufzufordern, die Waffen abzugeben.

In diesem Moment klangen entfernt die Detonationen von Schüssen auf. Sie hallten über den Sumpf.

Sofort rissen die beiden Reiter ihre Pferde zurück und erstarrten.

* * *

Colorado hatte sich wieder ins Boot zurückbegeben. Er nahm einige Bündel Gras mit und verstopfte erneut die Löcher im Boot. Jetzt, da er allein war, würden die Banditen ihn sehr rasch einholen, falls das Boot in dem gleichen Maße leckte wie bisher.

Für eine gründliche Reparatur fehlten Zeit und Material. Colorado begnügte sich daher mit dem Nötigsten und stakte mit dem Boot in die Richtung, die er vorher schon eingeschlagen hatte. Sein Plan war es, dem Floß der Banditen zu folgen. Zu diesem Zweck wollte er noch einmal zurück zu der Insel, auf der sich die Alligatoren tummelten. Von dort aus konnte er dann dem großen Wasserlauf folgen und sich dem Floß der beiden Verbrecher von hinten nähern.

Der US-Marshal hatte nicht viel zu befürchten. Wenn er ein bißchen Glück hatte bei seinem Unternehmen, konnte er die Verbrecher überwältigen, ohne einen einzigen Schuß

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abzufeuern. Diese Lösung wäre ihm am sympathischsten gewesen.

Aber Colorado verschloß nicht die Augen davor, daß dies kaum möglich sein würde, denn die Banditen würden sich niemals kampflos ergeben. Sie hatten nichts mehr zu verlieren außer ihrem Leben. Und das würden sie mit allen Mitteln verteidigen. Lieber landeten sie in der Hölle als im Jail. Das war sicher wie das Amen in der Kirche.

In Gedanken versunken stakte der Marshal weiter. Er hatte mittlerweile die große Rinne erreicht. Vorsichtig setzte er den Weg fort. Er hatte keine Ahnung, wie die breite Rinne weiter vorne verlief. Zahlreiche Kurven, Biegungen, Winkel und Ecken hatte er schon hinter sich.

Zwei Stunden waren wohl vergangen, seit der Marshal Biber-Joe und die beiden Frauen hatte gehen lassen.

Irgendwo im Sumpf befanden sich diese drei Menschen. Waren sie in Sicherheit?

Colorado zweifelte nicht daran, denn Biber-Joe kannte die Sümpfe. Er würde die Frauen hinausführen aus diesem unwirtlichen Land. Er würde sie wieder nach Hause bringen und damit Angst und Schrecken für die Geiseln und deren Männer beenden.

Colorado umfuhr eben einen vorspringenden Binsengürtel, da krachten in der Ferne auf einmal Schüsse.

Sofort stellte der Marshal alle Bewegungen ein. Er hielt den Atem an und lauschte. Das Knallen war aus nördlicher Richtung gekommen, also aus der Richtung, in die Biber-Joe und die Frauen gegangen waren.

»Verdammt!« preßte der Marshal heraus, dann begann er, rascher zu staken.

* * *

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Biber-Joe führte die Frauen sicher. Er kannte jeden Ort, wußte, wohin er seinen Fuß setzen konnte, und so kamen sie rasch voran. Die Frauen folgten ihm fröhlich plaudernd. Sie hatten schon wieder Lust auf Späße und Pläne, harmlose Scherze. Der alte Mann kannte die Geschwätzigkeit von Frauen, aber er konnte sie nicht ausstehen. Dennoch schwieg er. Lange würde er sie ohnehin nicht um sich haben. Bis Salina konnte er es aushalten

Nur weil er sich seiner Sache absolut sicher war, ließ Biber-Joe die Frauen so laut reden. Die Gegend, in der sie sich befanden, war so entlegen, daß sie kaum fürchten mußten, auf jemanden zu treffen.

Die Menschengruppe war an der Wasserrinne entlanggegangen. Vor ihnen befand sich ein mächtiger Schilfgürtel.

Plötzlich bemerkte Biber-Joe eine Gestalt, die sich blitzschnell hinter einem Felsblock aufrichtete. Gleich daneben eine zweite Gestalt. Wie Schatten waren sie nur auszumachen.

Der alte Mann warf sich, so schnell er konnte, nach rechts. Er wollte die Schrotflinte herausreißen und auf die überraschend aufgetauchten Männer feuern.

Doch dazu war es zu spät, denn schon bellten die Gewehre der Männer auf. Die Kugeln schlugen in den Körper des alten Mannes. Sie schrammten an der Schrotflinte entlang und entrissen die Waffe seinen Händen. Als die doppelläufige Flinte zur Erde fiel, entlud sie sich. Die Schrotkörner hagelten in die Büsche und mähten einen Teil des Schilfgrases ab.

Aber Biber-Joe sah nichts mehr davon. Er war schon tot, als sein Körper auf der Erde aufschlug.

Frimmley schoß noch zweimal, aber er hätte sich die Munition sparen können.

Anne Maiswell und Claire Keyl hatten sich auf die Erde geworfen. Sie wagten nicht, aufzublicken.�

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Als nach dem dumpfen Aufschlag von Joes Körper eine Feuerpause eintrat, hob Anne langsam den Kopf. »Grant!« zischte sie ihrer Leidensgefährtin zu.

Claire wurde kalkweiß. Entsetzt starrte sie auf die zwei Männer, die sich hinter dem Felsen aufgerichtet hatten und nun herüberblickten.

»Na, steht schon auf!« forderte Grant die Frauen auf. Er kam aus der Deckung heraus und hatte die Winchester im Anschlag.

Anne rappelte sich hoch. Ihre Knie zitterten. Sie konnte kaum richtig stehen. Sie hatte Angst. Höllische Angst. Und gleichzeitig empfand sie fürchterliche Wut und schrecklichen Zorn, daß auch dieser Versuch, freizukommen, gescheitert war. Tränen standen in ihren Augen. Sie hatte entsetzliches Mitleid und fühlte sich am Tod von Biber-Joe schuldig.

Ebenso erging es Claire Keyl. Die Frau des Richters bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. Leise schluchzte sie vor sich hin. Ihr Körper wurde von einem heftigen Beben erschüttert.

»Da haben wir ja die Vögelchen wieder«, spottete Grant und grinste dreckig. »Ich hoffe, ihr seid sehr froh, daß wir euch wieder beschützen können. Stellt euch vor, was euch alles passieren hätte können! Das ist kein Land für Frauen.«

»Lump!« stieß Anne hervor. »Sie dreckiger Lump!« Grant hatte nur ein Lachen übrig. Er machte sich nichts

daraus, wie sie ihn bezeichneten, denn ob sie ihn mit Kosenamen bedachten oder mit Schimpfworten, sein seelischer Zustand änderte sich nicht die Spur. Die Frau des Richters beherrschte sich zwar mühsam, aber dennoch gelang es ihr besser als ihrer Leidensgefährtin. Sie biß die Zähne zusammen und preßte die Lippen aufeinander. Sie atmete durch die Nase. Und dabei überlegte sie krampfhaft, ob sie riskieren sollte, auf dem Weg zurückzulaufen, den sie gekommen waren.

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Doch unbehelligt zu entkommen, war unmöglich. Die Banditen hatten sie in der Hand. Sie waren den Verbrechern ausgeliefert. Also blieb ihnen nichts anderes, als sich mit den Tatsachen abzufinden, so schrecklich sie auch sein mochten.

»Ja, sie haben uns wieder«, sagte Anne tonlos. Sie wünschte sich sehnlichst, Colorado würde sich in der Nähe befinden. Sie hoffte, der Marshal hätte die Schüsse vernommen und würde nun schleunigst zusehen, daß er sie aus ihrer scheußlichen Lage befreite.

Die Hoffnung der Frau wurde jedoch jäh begraben. »Wißt ihr was, Ladies, ihr macht uns das Leben verdammt

schwer«, stellte Grant fest. »Aber jetzt ziehen wir andere Saiten auf! Ihr habt euch nicht wie Damen benommen, also werden wir euch auch nicht wie Damen behandeln. Ihr könnt keine Schonung mehr von uns erwarten.«

Als die beiden Frauen nichts darauf erwiderten, räusperte sich Grant. Dann fuhr er fort: »Ihr dachtet wohl, ihr könnt uns entwischen? Dieser verdammte Bulle hat euch einen Floh ins Ohr gesetzt, aber er sitzt jetzt selbst in der Klemme. Sein Boot ist bestimmt schon irgendwo untergegangen. Habt ihr denn nicht bemerkt, daß er euch nur loswerden wollte, um sich selbst zu retten?«

»Sie lügen!« fuhr Anne auf. »Ich lüge?« fragte Grant ironisch. »Sie sind ein ganz gemeiner Schuft!« bestätigte Claire. »Maul halten!« brüllte Frimmley. »Ihr zwei Weibsbilder

habt nicht darüber zu entscheiden, was wir sind. Haltet den Mund! Vergeßt ja nicht, daß wir euch in der Hand haben und daß wir euch jederzeit auslöschen können, wenn wir wollen!«

Der Zorn, den Anne Maiswell empfand, ließ sie plötzlich ganz kühl werden. Sie konnte nüchtern überlegen.

»Wollt ihr das denn?« fragte sie. »Das wirst du schon merken, Täubchen«, gab Frimmley

wütend zurück, »aber zuerst bringen wir euch auf die Insel, auf

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der ihr schon gewesen seid. Kann sein, daß sich ein schöner, kräftiger Alligator findet, der euch zum Frühstück vertilgen will.«

Der Gedanke trieb den Frauen eine Gänsehaut auf den Rücken.

Anne Maiswell schüttelte sich. Sie wurde kalkweiß. Claire Keyl zitterten die Knie. Die Frau wollte etwas sagen,

doch ihre Stimme erstickte in Tränen. Das Weinen brachte die Erlösung von dem Schock, den die hübsche Frau durch das plötzliche Auftauchen der Banditen erlitten hatte.

Anne Maiswell hatte nur Verachtung für die Banditen übrig, und als ihre Freundin nun herzzerbrechend zu schluchzen begann, verlor sie die kühle Überlegenheit, die sie erst vor einigen Sekunden überkommen hatte. Sie ließ sich mitreißen, sie schluchzte und weinte vor Zorn.

Grant und Frimmley banden den Frauen die Hände zusammen.

»Und jetzt zurück zum Floß!« bestimmte Grant. Frimmley nahm Anne am Arm. Er schob die Frau vor sich

auf den Pfad zu, der hinüberführte zu jener Stelle, wo sie ihr Floß versteckt hatten.

Die Frauen stolperten auf dem Pfad dahin. Sie hatten alle Mühe, weiterzukommen. Doch die Banditen dachten nicht daran, den beiden das Schicksal in irgendeiner Weise zu erleichtern.

Plötzlich entfuhr Grant ein halblauter Schrei. Er riß die Winchester hoch und er feuerte.

Drüben in der Nähe ihres Floßes war sekundenlang eine Hutkrone zu sehen gewesen. Darauf hatte Grant geschossen.

»He, bist du denn verrückt geworden? Worauf schießt du denn?«

»Da hinten, ein Hut! Das ist Colorado!« »Blödmann, dann hätte ich ja auch was sehen müssen. Du

siehst wohl schon Gespenster, wie?«

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Grant fluchte: »Ich habe einen Hut gesehen.« »Du spinnst doch!« stellte Frimmley nachdrücklich fest.

»Wenn es dieser lausige Marshal wäre, dann hätte er uns längst wegputzen können.«

Diesem Argument konnte sich auch Grant nicht verschließen. Ein wenig beschämt senkte er den Kopf.

Unschlüssig waren die beiden gefangenen Frauen stehengeblieben. Und nun bekamen sie den Zorn von Grant zu spüren.

»Los, geht schon! Macht, daß ihr vorankommt!« Anne Maiswell hatte nach oben geblickt. Da hatte sie den

Adler des Marshals entdeckt. Das gab ihr Hoffnung. Sie stieß ihre Leidensgefährtin mit dem Ellbogen in die Flanke. »Da oben«, flüsterte sie ihr zu, »da ist der Adler. Dann ist Colorado auch nicht mehr weit.«

Claire Keyl nickte. Sie faßte wieder etwas Mut. Frimmley ging es zu langsam. Er gab Anne Maiswell einen

Stoß. Die Frau glitt aus, stolperte und schlug zu Boden. Dabei kam sie etwas vom Pfad ab. Schlamm spritzte auf.

Einige Sekunden blieb die Frau liegen, dann richtete sie sichwieder auf. Über und über war sie von Schlamm bedeckt.

»Zur Höhe mit euch! Geht jetzt endlich! Meine Geduld ist gleich zu Ende. Und macht mir ja keine Faxen, verstanden?«

Sie mußten an dem toten Biber-Joe vorbei. Mit einem Ausdruck von Ekel wandten sich die Frauen ab. Sie empfanden eine seltsame Scheu vor dem Toten.

Frimmley hingegen musterte die Leiche kühl. Er machte sich nicht viel daraus, wenn er Tote zu Gesicht bekam. Er hatte schon zu viele gesehen.

»Was ist das für einer?« fragte Frimmley und deutete auf Biber-Joe.

»Das ist eine von diesen Sumpfratten«, erwiderte Grant. »Solche laufen hier haufenweise herum. Er wollte euch wohl helfen, wie?«

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Die Frauen gaben dem Banditen keine Antwort. Frimmley war ein Gedanke gekommen. »He, Grant«, sagte

er, »wenn diese Sumpfratte die Frauen hierhergeführt hat, dann muß der Pfad hinüberführen zu unserem Lager.«

Grant massierte sein Kinn. »Kann sein«, sagte er, »wir können es ja versuchen. So kommen wir schneller voran als mit dem verdammten Floß. Ich habe schon Blasen an den Händen.«

Schweigend setzten die Verbrecher mit den Gefangenen ihren Weg fort. Sie trieben die beiden Frauen zu immer größerer Eile an.

Anne Maiswell und Claire Keyl gaben ihr Letztes. Sie setzten alle verbliebenen Kraftreserven ein, aber sie waren schließlich nicht mehr in der Lage, sich weiterzuschleppen. Die Beine versagten ihren Dienst.

Die Umgebung des Pfades, auf dem sie sich befanden, wies kein einziges der gefährlichen Schlammlöcher auf, und so schien es Grant naheliegend, daß die beiden Gefangenen daran dachten zu fliehen.

»Keine Dummheiten jetzt! Steht auf und geht weiter, wir können nicht mehr warten!«

Die zwei Gefangenen reagierten nicht. Sie blieben auf der Erde liegen, so wie sie zu Boden gefallen waren.

»Sie können nicht mehr weiter«, wandte Frimmley ein. In seiner Stimme schwang etwas Mitleid. »Du siehst doch, daß die zwei nicht mehr weiterkönnen! Sie müssen rasten. Laß ihnen zehn Minuten!«

»Und was ist mit diesem verdammten Marshal?« »Er wird uns kaum einholen. Außerdem werden wir eben

aufpassen, daß er uns nicht zu nahe kommt.« »Gut, dann rasten wir. Aber nur zehn Minuten, nicht

länger.« Anne Maiswell blickte hinauf in den blauen Himmel. Sie

sah den Adler. Ab und zu gab er einen Signallaut von sich.

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Irgendwann würde der Marshal erscheinen. Er würde ihnen folgen und sie abermals befreien.

Diese Hoffnung war es, die Anne Maiswell vor der tiefsten Verzweiflung bewahrte.

* * *

Die Reiter waren nahe genug. Der Sheriff von Salina erhob sich. Er stieß einen schrillen Pfiff aus, und schon tauchten seine Männer aus ihren Verstecken auf. Sie richteten die Waffen auf die beiden Reiter. Ihre Gesichter drückten die Entschlossenheit aus, sofort zu schießen, wenn sie das geringste Zeichen von Widerstand bei den Reitern bemerken würden.

»Hände hoch und runter von den Pferden!« rief der Sheriff von Salina.

Die beiden Männer hatten die Pferde zurückgerissen, doch ihr Schreck währte nur kurz, denn der drahtige Mann mit dem hageren Gesicht sah den Stern auf der Weste des Gesetzeshüters.

»He, Sheriff! Schätze, Sie haben die Falschen erwischt«, brummte er und glitt aus dem Sattel.

»Das werden wir ja sehen«, gab der Gesetzeshüter mißgelaunt zurück.

»Hier, Sheriff!« Pete Maiswell hatte vorsichtig seinen Sheriffstern aus der Tasche genestelt. Er zeigte ihn seinem Amtskollegen von Salina. »Ich bin Sheriff Pete Maiswell aus Gregortown«, stellte er sich vor, »und dieser Herr ist Richter Keyl. Wir suchen die Banditen, die unsere Frauen als Geiseln genommen haben.«

Der Gesetzeshüter von Salina ließ seine Waffe sinken. Er wartete, bis auch seine Männer dem Wink gefolgt waren, den er ihnen gab, dann räusperte er sich.

»Das ist natürlich etwas anderes, Sheriff«, sagte er. »Ich dachte, Sie gehören zu diesem verdammten Pack. Eigentlich

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hätte ich erkennen sollen, daß sie und der Richter keine Strauchdiebe sind.«

»Haben Sie schon eine Spur?« fragte Maiswell. Der Angesprochene schüttelte den Kopf. »Wie sollen wir

eine Spur finden, wenn wir im Sumpf festhängen, Mann? Ich hatte mit meinen Männern zu kämpfen, daß sie wieder aus diesem tückischen Zeug herauskamen.«

»Sie haben also keinen Anhaltspunkt?« fragte Maiswell und glaubte, seinen Ohren nicht trauen zu können.

Der Sheriff von Salina schüttelte in aller Gemütsruhe den Kopf. »Tut mir leid, Maiswell. Besseres kann ich Ihnen nicht sagen.«

»Und Colorado?« »Was aus dem geworden ist, weiß ich nicht. Ich habe ihn

nicht mehr zu Gesicht bekommen.« Der Sheriff und der Richter wechselten einen Blick. In den

Augen eines jeden zeigten sich Verständnislosigkeit und Verzweiflung.

»Kennt sich denn von euch niemand hier aus?« fragte Maiswell.

Der Sheriff von Salina zuckte die Schultern. »Mann, bin ich denn unter lauter Idioten?« begann Maiswell

zu toben. »Vor einigen Stunden war ich in Salina und hab’ den

Jüngsten der Bande unschädlich gemacht. Er wollte ein Telegramm aufgeben. Jetzt ist er in Ihrem Jail, Sheriff. Hätte wenigstens erwartet, daß auch Sie inzwischen einiges getan haben.«

Der Angesprochene knurrte ärgerlich. »Hören Sie mal, Maiswell«, sagte er böse, »ich bin weder Ihr Untergebener noch bin ich Ihr Prügelknabe. Und ich hab’ es nicht nötig, daß ich mir von Ihnen was anhören muß! Ist das klar? Ich werde auch jetzt tun, was ich für richtig halte. Ich hoffe, Sie wissen, daß Sie durch die Gefangennahme des Bandenmitglieds Ihre

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Frau und die Frau des Richters in höchste Gefahr gebracht haben.«

»Das habe ich vielleicht«, knurrte Maiswell, »aber nur vielleicht. Aber wenn wir uns darauf verlassen hätten, daß ihr etwas für sie tut, dann würden wir in zehn Jahren noch nicht wissen, was daraus geworden ist.«

Richter Keyl beugte sich im Sattel vor. »Hören Sie«, sagte er ruhig, »es muß doch irgendwo einen Mann geben, der sich in diesem verdammten Sumpf auskennt. Und man muß doch auch irgendwie herausbekommen können, wo die Banditen ihr Lager aufgeschlagen haben.«

Der Sheriff nickte. »Die gibt’s, Richter, aber Sie finden keinen.«

Maiswell schüttelte den Kopf. »Nicht ein einziger Anhaltspunkt«, stöhnte er, »Himmel noch mal, keine Spur, keine Schreie, nichts.«

»He, Augenblick mal, wir haben Schüsse gehört!« Maiswell zuckte zusammen. »Schüsse?« fragte er. »Wo?

Wann?« »Kann ich nicht genau sagen, aber es ist noch nicht sehr

lange her.« »Und wir stehen hier herum«, brüllte Maiswell.

»Menschenskind, los! Jetzt kommen wir ihnen näher.« »Wohin denn?« fragte der Sheriff von Salina mit

spöttischem Unterton. »Kennen Sie sich im Sumpf aus?« »Ob ich mich auskenne oder nicht, das ist mir völlig egal«,

fauchte Maiswell böse. »Auf jeden Fall müssen wir eingreifen, bevor überhaupt nichts mehr zu retten ist.«

»Ich will Sie nicht aufhalten, Maiswell, aber ich werde mit meinen Männern nicht mit Ihnen ins Verderben rennen. Wir haben mit dem Sumpf unsere Erfahrung gemacht und wir sind verdammt vorsichtig geworden.«

»Sie müssen uns aber begleiten!« »Das bestimmen Sie?«

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»Mensch, es geht um Leben oder Tod!« »So ist es, Maiswell, es geht um Leben oder Tod. Und ich

für mein Teil lebe lieber, bevor ich im Sumpf elend verrecke.« Das war dem erregten Maiswell doch zuviel. Er warf sein

Pferd herum und sprengte los und Richter Keyl folgte ihm. Die beiden Männer beugten sich weit über den Hals der Tiere und achteten darauf, daß ihre Pferde keinen Fehltritt taten. Beide waren von heftiger Unruhe ergriffen und fieberten förmlich, den Kampf mit den verhaßten Banditen aufzunehmen. In ihnen tobte höllischer Zorn gegen alles, was mit Verbrechern und Banditen zusammenhing.

Aber eine Spur von Besonnenheit blieb dennoch in Richter Keyl. Er sah ein, daß der Sheriff von Salina nicht unrecht hatte, wenn er sie warnte, denn der Sumpf verzieh keinen Leichtsinn.

Ungeachtet dieser Tatsache spornte Maiswell sein Pferd immer wieder aufs neue an. Das Tier, selbst verängstigt und unruhig, gab sein Bestes, aber das reichte Maiswell noch nicht.

»Verdammtes Luder! Willst du wohl schneller!« brüllte er und hieb dem Tier mit der flachen Hand auf die Kruppe.

Das Pferd, gepeinigt vom Reiter und andererseits wieder von der Angst, in den Sumpf zu geraten, versuchte, sich zwischen beiden Peinigern zu orientieren. Und dadurch wurde es unsicher.

* * *

Es war kein Trugbild gewesen, das Grant gesehen hatte, als er glaubte, Colorado würde sich bei ihrem Floß aufhalten. Er hatte tatsächlich den Hut des Marshals gesehen, denn Colorado hatte sich bereits an die Banditen herangepirscht. Er hatte den toten Biber-Joe gesehen und der Zorn, der ihn erfaßt hatte, war so heftig gewesen, daß er sich mühsam hatte beherrschen müssen, um die beiden Banditen nicht auf der Stelle zu erschießen.

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Nur der Gedanke daran, daß er dadurch die beiden Geiseln in Gefahr gebracht hätte, hielt ihn zurück.

Colorado wartete, bis die Banditen verschwunden waren. Dann setzte er mit einem kräftigen Sprung an Land und folgte dem Pfad, den die Banditen mit den beiden Frauen gegangen waren.

Der US-Marshal war sicher, daß die Banditen ihm irgendwo auflauern würden, wenn sie ihn gesehen hatten. Die Schüsse, die Grant auf ihn abfeuerte, waren ein deutlicher Beweis dafür gewesen, daß sie mit ihm rechneten. Dem widersprach allerdings die Tatsache, daß sie sich sehr langsam fortbewegten.

Darauf vorbereitet, daß jeden Moment auf ihn geschossen wurde, schlich Colorado weiter. Er wurde vorsichtiger, je weiter er vordrang. Und dann hatte er fast das Ende des Pfades erreicht.

Vor sich sah Colorado eine freie Fläche. Der Boden war von Büschen und kniehohem Gras bewachsen. Zahlreiche Felsblöcke boten reichlich Schutz.

Die Leiche von Biber-Joe hatte der Marshal liegengelassen. Er wollte sie später begraben.

Im Schilf versteckt wartete der Marshal einige Minuten, lauschte und spähte hinüber zu der bewachsenen Region, wo es auffallend ruhig war. Colorado ging ein enormes Risiko ein, wenn er diese freie Fläche überquerte. Überall, hinter jedem Busch, hinter jedem Felsen konnten die Verbrecher lauern. Sie würden sich nicht schwertun, ihn mit einigen gezielten Schüssen aus dem Verkehr zu ziehen.

Je mehr Zeit verstrich, um so sicherer wurde der Marshal, daß die Banditen mit ihren Geiseln schon ein gutes Stück weitergekommen waren. Er erhob sich und machte sich auf, die freie Fläche zu überqueren.

In diesem Augenblick sah er, wie sich ein Gewehrlauf über einen Felsblock schob.

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Sofort duckte sich der Marshal, warf sich zurück auf die Erde, wartete, spähte wieder hinüber.

Dieses Spiel war verwirrend. Wenn sie ihn gesehen hätten, dann hätten sie auch gefeuert.

Jetzt wurde ein zweiter Gewehrlauf über den Felsblock geschoben. Aber die Männer, die diese Waffen hielten, blieben noch unsichtbar.

Colorado überlegte eine Möglichkeit, wie er an das Versteck der Banditen herankommen konnte, ohne daß sie ihn ausmachten.

Der Schilfgürtel zog sich links von dem Pfad noch ein Stück in nördliche Richtung. Je weiter Colorado diesem Gürtel folgen würde, um so geringer wurde die Distanz zwischen Büschen, Hecken und dem Schilf.

Colorados Muskeln spannten sich. Und dann schnellte er aus der Deckung. Er flog über den Pfad und war einen Sekundenbruchteil später bereits auf der anderen Seite im Schilf verschwunden.

Wenn die Banditen die Geräusche nicht vernommen hatten, konnten sie auch nicht auf ihn aufmerksam geworden sein. Und damit stiegen Colorados Chancen, in die Flanke der Verbrecher zu gelangen und sie zu überwältigen.

Wie eine Schlange bewegte sich der US-Marshal in dem Schilf vorwärts. Immer wieder blickte er nach oben, wo sein Adler nach wie vor kreiste. Allerdings hatte Sky sich im spiralenförmigen Flug tiefer geschraubt und es sah aus, als würde er jederzeit einen Angriff erwarten.

Nach gut dreihundert Yards erreichte Colorado eine Bodenwelle. Er legte sich auf den Bauch und begann, die vielleicht noch fünfzehn Fuß breite ungedeckte Fläche zu überqueren.

Die Banditen konnten ihn von ihrem Versteck aus nicht sehen. Außerdem vermuteten sie ihn ja auch nicht hier, sondern in der Nähe des Pfades.

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Der Marshal erreichte eine Hecke. Er stand auf, klopfte flüchtig seine Kleidung ab, dann rückte er den Peacemaker gerade, lockerte die Waffe im Holster und machte sich unverzüglich daran, sich dem Versteck weiter zu nähern.

Colorado huschte gebückt von Hecke zu Hecke, von Stein zu Stein, und schon nach zehn Minuten hatte der Marshal das Versteck der Banditen vor sich.

Die beiden Frauen, die sich in der Hand der Verbrecher befanden, unterhielten sich leise miteinander. Sie flüsterten. Colorado, der so nahe heran war, daß er ihre Worte verstehen konnte, fragte sich, ob es besser war, sich den Frauen zu zeigen oder sich nicht bemerkbar zu machen.

Anne Maiswell war überzeugt, daß der Marshal sie retten würde. Colorado schmunzelte, als er das hörte.

Die Verbrecher kauerten hinter einem mächtigen Felsblock. Sie warteten darauf, daß Colorado auftauchte. Sie starrten auf den Pfad. Daß der Gesuchte sich längst in ihrem Rücken befand, konnten sie sich nicht vorstellen.

Da die Banditen sich um die Gefangenen nicht kümmerten, beschloß Colorado, die Fesseln der Frauen zu durchschneiden und Anne Maiswell und Claire Keyl zunächst aus dem unmittelbaren Gefahrenbereich zu bringen.

Der untersetzte Mann robbte, gedeckt vom Gras, auf die zwei zu. Er zog sein Messer aus dem Stiefelschaft.

Anne Maiswell zuckte nur zusammen, als sie urplötzlich die fremde, warme Hand auf ihrem Rücken spürte. Sie wandte sich ein wenig um und zeigte Colorado durch ein Schmunzeln an, daß sie begriffen hatte.

Claire Keyl hingegen, die versonnen vor sich hin blickte, stieß plötzlich einen schrillen Entsetzensschrei aus.

Dieser Schrei kam so unerwartet für Colorado, für Anne, auch für die Banditen, daß eine oder zwei Sekunden lang alles still blieb und gleichsam in lähmende Starre verfiel.

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Sofort aber sprangen die Banditen auf. Sie fuhren herum. Grant hastete herüber.

»Verdammt, was soll das?« Der Bandit packte Claire Keyl am Handgelenk und riß die

Frau hoch. Die Frau schüttelte entsetzt den Kopf. Sie konnte nicht

antworten. Ihre Stimme versagte. Colorado hatte sich sofort, als er den Banditen aufspringen

sah, hinter das dichte Gebüsch gedrängt. Er hoffte, Grant würde ihn nicht sehen, denn drüben hatte sich Frimmley umgedreht und er zielte mit seinem Gewehr auf die Frauen. Wäre dies nicht der Fall gewesen, Colorado hätte den Banditen bei den Frauen mit einem einzigen Schlag kampfunfähig gemacht und sich anschließend auf Frimmley konzentriert.

Anne Maiswell blieb bewundernswert kaltblütig. Sie blieb in der gleichen Stellung sitzen, in der sie sich befunden hatte, als sie noch gefesselt war. So bemerkte Grant nicht, daß ihre Fesseln durchschnitten waren.

»Mach den Mund auf, Herzchen! Was soll dieses Gebrüll? Willst du verraten, daß wir uns hier aufhalten? Du verdammtes Luder, jetzt hast du den Bullen gewarnt. Er war uns so gut wie sicher!«

Colorados Muskeln verkrampften sich, als er sah, wie der Bandit ausholte und die Frau mit der Hand ins Gesicht schlagen wollte.

»Nimm deine Hände weg, Schurke!« schrie Anne Maiswell. Und der schneidende Klang ihrer Stimme brachte Grant dazu, seine Absicht fallenzulassen.

Als der Bandit sie zurückstieß, fiel Claire Keyl schluchzend zu Boden. Dann begann sie haltlos zu weinen.

Der Bandit wandte sich ungerührt ab. Ihn interessierte nicht, was mit der Frau geschah. Er hatte seine Wut abreagiert, und das genügte vorläufig.

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Frimmley hatte die meiste Zeit über Ausschau nach dem Verfolger gehalten.

»Setz dich wieder zu mir«, forderte Anne Maiswell ihre Gefährtin auf. »Los, komm schon! Colorado ist bei uns.«

Jetzt erst wurde Claire Keyl klar, was sie durch ihren Schrei angerichtet hatte, und sie beruhigte sich. Die Gewißheit, Colorado bei sich zu haben, mit seiner Unterstützung rechnen zu können, überwand ihre Angst.

Colorado schob sich wieder aus dem Gebüsch. Und nun durchtrennte er auch die Fesseln von Claire Keyl.

»Was sollen wir tun, Colorado?« fragte Anne Maiswell leise.

»Nichts! Redet nur, redet, unterhaltet euch über irgend etwas. Die Banditen dürfen nichts hören. Sie dürfen nicht wissen, daß ich da bin. Ich werde sie ablenken. Und wenn ich schreie, dann springt ihr auf und lauft davon! Lauft ein Stück und versteckt euch dann!«

Die Frauen nickten. Nun ging es darum, daß Colorado die Banditen verwirrte. Er

nahm einige Patronen aus dem Gurt, löste mit dem Bowiemesser die Bleikugeln, und dann füllte er das gewonnene Pulver in eine Gewehrpatrone, aus der er ebenfalls die Bleispitze entfernt hatte.

Das ganze Röhrchen war vollgestopft mit Schießpulver. Colorado holte ein kleines Stück Lunte aus seinen Taschen. Er steckte sie in die Patrone, dann biß er den Rand mit den Zähnen so weit zusammen, daß die Öffnung verschlossen war. Um auch den gewünschten Effekt nicht in Frage zu stellen,schloß Colorado die noch verbliebene winzige Öffnung, indem er mit der Spitze des Bowiemessers dagegendrückte.

Auf diese einfache Weise hatte der Marshal eine zwar ungefährliche, aber sehr wirksame Sprengladung erhalten, die ihren Zweck erfüllen würde.

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Nur ganz kurz flammte das Streichholz auf, bevor Colorado es gegen die Lunte hielt.

Sofort fing die Zündschnur Feuer. Colorado schleuderte die Patrone über die Köpfe der Banditen hinweg.

Zwar hörten Grant und Frimmley das Surren, doch bevor sie ahnten, was das sein könnte, schlug die kleine Sprengladung auf und explodierte auch schon mit mächtigem Getöse.

Die Banditen fuhren zusammen wie vom Schlag gerührt. Und sofort begannen sie zu schießen.

»Lauft! Lauft, so schnell ihr könnt!« Anne Maiswell und Claire Keyl richteten sich auf und

rannten los. Unbemerkt von den Banditen hasteten sie auf dem Pfad dahin.

Colorado hoffte, daß die beiden schlau genug sein würden, die Richtung einzuschlagen, die sie vom Sumpf wegbrachte.

Sky, der Adler Colorados, stieß einige Schreie aus. Er war bereit zum Kampf. Das wollte er damit ausdrücken.

Colorado grinste. Und jetzt zog er den Peacemaker aus dem Holster.

* * *

Sheriff Maiswell und Richter Keyl hatten einen großen Teil des Sumpflandes hinter sich gebracht. Im höllischen Tempo, und dennoch ohne Zwischenfälle. Dieses gewagte Stück hätte den Männern nicht einmal einer nachgeahmt, der sich in den Sümpfen bestens auskannte.

Doch daran, daß sie im Sumpf umkommen könnten, dachten die beiden Reiter längst nicht mehr. Ihr einziger Gedanke, ihre einzige Sorge galt nur noch ihren Frauen.

Zufällig hatten die beiden Männer sich in einem Bogen dem Ort genähert, wo sich die Banditen mit den Geiseln aufhielten. Allerdings trennte sie von dem festen Untergrund noch eine Wasserrinne.

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Als die Detonation von Colorados Sprengladung die Luft zerriß und wenig später eine Serie von Schüssen abgegeben wurde, verhielten der Sheriff und der Richter ihre Tiere. Während Keyl im Sattel blieb, sprang der Sheriff ab. Er hatte die Winchester aus dem Scabbard gerissen und pirschte sich geduckt weiter nach vorne.

Erst dort bemerkte Maiswell die Wasserrinne. Sie war um die zehn Yards breit. Zu breit jedenfalls, um sie mit einem kräftigen Sprung zu überqueren.

Zähneknirschend stand der Sheriff am Ufer. Er sah den weichen Schlamm unter dem seichten Wasser und eine unermeßliche Wut drohte, seinen Brustkorb zu zersprengen.

Gehetzt blickte sich der Sheriff um. Alligatoren oder Schlangen waren nicht zu sehen.

Schüsse krachten. Kugeln prallten ab, jaulten davon, klatschten in den Sumpf. Der Kampflärm wurde unerträglich für den Sheriff, weil er nicht eingreifen konnte. Er sah nicht einmal, wer auf wen schoß.

Aber in der Fantasie malte Maiswell schrecklich, blutige Bilder von einem Kampf auf Leben und Tod. Er sah ein mörderisches Gemetzel zwischen Banditen und Geiseln. Er sah, wie sie seine Frau niederschossen…

Und dieser Gedanke war ausschlaggebend für Maiswell, daß er nicht mehr an sich halten konnte.

Ohne auf den unterdrückten Warnruf von Keyl zu achten, nahm Maiswell einen Anlauf und sprang tollkühn auf den Wassergraben zu.

Natürlich schaffte er diese riesige Distanz nicht einmal zur Hälfte. Mit einem schmatzenden Klatschen tauchte der Sheriff in das brackige Wasser, in den Sumpf. Seine Beine versanken sofort bis zu den Knien im Schlamm.

Durch den Schwung wurde Maiswell nach vorne geworfen. Er ließ seine Winchester fallen und versuchte, sich abzustützen. Dabei tauchte er auch mit dem Gesicht in den Dreck.

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Und sofort fühlte er, wie ihn der Schlamm umklammerte wie eine riesige, unnachgiebige Hand, die ihn nie mehr freigeben würde.

Nun gab es für den Richter kein Halten mehr im Sattel. Er sprang vom Pferd, riß sein Lasso herunter und eilte ans Ufer.

Maiswell war erst jetzt zur Vernunft gekommen. Er merkte, daß er in seiner Unüberlegtheit sein Leben in Gefahr gebracht hatte. Er warf dem Richter einen hilfesuchenden Blick zu.

Mit unerhörter Geschwindigkeit zog der Sumpf den Sheriff von Gregortown in die Tiefe. Schon stak der Mann bis zum Bauch im Wasser, im Schlamm.

»Schnell, das Lasso! Ich… Es zieht mich hinunter!« rief er dem Richter mit erstickter Stimme zu. Aus seinen Worten war die Todesangst herauszuhören.

Richter Keyl warf das Lasso. Die Schlinge klatschte unmittelbar vor Maiswell aufs Wasser. Sofort griff er danach.

»Ziehen Sie! Rasch, Mann! Ich versinke, worauf warten Sie?«

Keyl stemmte sich ein. Er zog mit aller Kraft am Lasso, aber verglichen mit der unbeschreiblichen Gewalt des Sumpfes waren seine Kräfte ein lächerliches Nichts. Immer weiter sank der Sheriff ein. Inzwischen reichte der Schlamm fast bis zur Brust.

Maiswell versuchte, sich so still wie möglich zu halten. Er streckte die Arme von sich und umklammerte die Lassoschlinge.

»Ich schaffe es nicht!« rief Keyl. »Sie müssen mich rausziehen!« bellte der Sheriff wütend

und voller Todesangst. »Sie müssen es schaffen! Unbedingt! Oder lassen Sie mich hier verrecken?«

»Ich kann nicht, ich habe nicht genügend Kraft!« »Aber ich… Ich saufe ab! Ich verrecke, wenn…« Ein erster Wasserschwall drang dem Sheriff in den Mund.

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Verzweifelt blickte sich Keyl um. Sekunden konnte es noch dauern. Nur noch einige Sekunden, dann war der Sheriff endgültig verloren.

»Retten Sie mich, Keyl! Retten Sie mich! Helfen Sie mir!« Dieser Ruf war mehr als nur eine Bitte. Es war der

verzweifelte Schrei eines Mannes, der schon die kalte Hand des Todes spürte.

Keyl ballte die Fäuste. Erneut versuchte er, den Sheriff am Lasso aus dem Schlamm zu zerren. Er strengte sich an, bis er glaubte, seine Muskeln würden zerrissen. Das Blut pochte in seinen Adern. Die Augen wollten ihm aus den Höhlen quellen.

Aber der Erfolg war dürftig. Nur ein ganz winziges Stück hatte der Schlamm sein Opfer freigegeben. Die ekelhafte, braunschwarze Soße überzog nun schon das Gesicht Maiswells.

Und immer wieder hallten Schüsse herüber. Die Schüsse, die vielleicht den Tod von Anne Maiswell und Claire Keyl bedeuten würden.

* * *

Der Sheriff von Salina war mit seinen Männern gut vorangekommen. Sie hatten sich nach Norden gehalten und waren fast auf dem gleichen Weg geritten, den auch Maiswell und Keyl genommen hatten.

Die Männer redeten nicht. Sie waren müde und abgekämpft. Plötzlich klang ein hysterischer Schrei auf. Der Schrei einer

Frau. Die Männer zuckten zusammen. Der Sheriff, der den ganzen Weg zu Fuß hatte zurücklegen

müssen, reagierte schneller als seine Gefährten. Er rannte los. In der Rechten schwang er die Winchester. Als er um eine Hecke bog, sah er eine Frau in zerschlissener Kleidung, über und über schmutzbedeckt. Und vor dieser Frau befand sich ein riesiger Alligator, der den Rachen öffnete und schloß und

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offensichtlich angreifen wollte. Das Tier hatte enorme Ausmaße. Heisere, kläffende Laute drangen aus seinem Rachen.

Die Frau stand wie erstarrt. Der Sheriff riß die Waffe an die Schulter. Jetzt bewegte sich

der Alligator. Und in diese Bewegung hinein krachte der Schuß.

Die erste Kugel drang in den Leib des Alligators, und dann zwei weitere. Sie reichten aus, die Echse niederzustrecken.

Der Alligator warf seinen wuchtigen Körper herum. Er schnappte noch mehrmals nach der Frau, die längst zurückgewichen war. Dann verendete das Tier blutüberströmt.

Mit einem Aufschrei sank Claire Keyl zusammen. Sie ließ sich auf die Erde fallen und weinte. Nicht vor Angst, sondern vor Erleichterung, daß endlich die Rettung gekommen war.

Der Sheriff eilte herbei. Er packte die Frau an der Schulter und rüttelte sie.

»Wo ist Mrs. Maiswell? Wo ist sie? Reden Sie schon!« Claire schüttelte nur den Kopf. Sie war nicht fähig, jetzt

einen klaren Gedanken zu fassen. »Wo ist sie?« wiederholte der Sheriff seine Frage

eindringlich. »Ich… weiß es nicht… Ich habe… Ich bin gerannt…« Die Stimme der Frau brach ab. Sie war erschöpft. Jetzt, wo

sie sich in Sicherheit wußte, brach der letzte Rest ihrer seelischen Abwehrkraft in sich zusammen wie ein Kartenhaus.

»Verdammt!« stieß der Sheriff hervor. Er beorderte drei Männer zu der weinenden Frau. Und gerade, als er losrennen wollte, um die anderen Geiseln zu suchen, da hörte er wieder Schüsse.

»Los, Männer! Kommt, folgt mir!«

* * *�

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Colorado wartete nur, bis die Frauen dem Blick der Banditen entschwunden waren. Dann legte er los wie ein Tornado.

Und Sky, der Adler, kam aus dem Blau des Himmels wie ein Racheengel. Im Tiefflug fegte er über die Banditen hinweg. Seine Fänge schlugen zu, rissen Frimmley ein Stück Stoff aus dem Hemd und ließen den Banditen schmerzerfüllt aufschreien.

Colorado hatte auf Grant gezielt. Er wollte den Banditen kampfunfähig schießen. Doch im gleichen Augenblick, als der Marshal abdrückte, warf sich der Bandit zur Seite.

Die Kugel verfehlte Grant um Haaresbreite. Sie klatschte gegen den Felsen und jaulte als Querschläger davon.

Jetzt kapierten die Banditen, daß der Marshal sich in ihrem Rücken befand. Sie wirbelten herum und sie schossen. Und da sahen sie auch, daß die Frauen nicht mehr hier waren.

Colorado mußte sich in Deckung begeben, um nicht von ihren Kugeln durchsiebt zu werden. Der Busch, hinter dem der Marshal untertauchte, bot ihm zwar keinen Schutz vor den Kugeln, aber zumindest entzog er ihn der Sicht der Banditen.

Frimmley hatte sich inzwischen auf der anderen Seite des Felsens Deckung gesucht. Und nun schossen die Banditen auf den Marshal, was das Zeug hielt.

Colorado kroch zwischen Gestrüpp und Steinen weiter. Er erreichte den seitlichen Teil des Felsens, hinter dem Frimmley Schutz gesucht hatte.

Sekundenlang verlor Colorado dabei Grant aus den Augen. Aber er wußte, daß sein Adler es nicht bei seinem ersten Angriff belassen würde, und das war ein beruhigendes Gefühl.

Schon hatte Colorado freie Sicht auf Frimmley. Vorsichtig und behutsam schob er seinen Peacemaker vor. Er zielte auf die Waffe des Mannes. Seine Kugel traf die Winchester, schmetterte sie Frimmley aus der Hand. Doch der Bandit, dem der Schreck einen Schrei entriß, warf sich zu Boden und riß den Colt heraus.

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Colorado wartete nicht, bis der andere wieder auf ihn schoß. Er hechtete aus dem Busch und warf sich auf Frimmley, der gerade noch den Colt hochbrachte.

Der Marshal begriff, daß der Bandit auf ihn schießen würde. Und da sah er auch schon die mächtige Mündungslanze aus der Waffe zucken. Er fühlte den Gluthauch des Geschosses an seiner Wange vorbeistreichen.

Zum zweiten Schuß jedoch kam Frimmley nicht mehr. Colorado schnellte hoch. Seine Faust traf die Waffenhand

des Schützen. Im gleichen Augenblick erscholl jenseits des Felsens ein

Aufschrei. Das Flattern von Skys Schwingen war zu hören, ein heiserer Schrei des Adlers, und dann das entsetzliche Heulen von Grant.

Für Frimmley stand alles auf dem Spiel und er wußte, daß es für ihn nur noch zwei Möglichkeiten gab. Entweder er unterlag und war damit dem Tod ganz sicher ausgeliefert. Oder aber er gewann und tötete seinen Gegner.

Der Bandit rollte sich herum. Er trat nach Colorado, verfehlte ihn jedoch.

Und nun gelang es dem Marshal, einen mächtigen Schwinger anzubringen. Er ließ noch zwei, drei trockene Haken folgen, die den Banditen wie Vorschlaghämmer trafen. Die Wucht hätte einen Ochsen auf der Stelle umgeworfen.

Aber Ben Frimmley hatte eine Natur, die der eines Ochsen weit überlegen schien. Zwar sah es sekundenlang aus, als würde er in Ohnmacht fallen, doch irgendwie war es ihm gelungen, das Bowiemesser aus dem Stiefelschaft zu reißen. Er hob die Faust, hieb nach dem Marshal, doch Colorado konnte mühelos ausweichen.

Der Marshal umging den Mann, entriß ihm das Messer, schleuderte es weit von sich. Dann hob er ihn empor, und dieses Mal zielte er ganz genau, bevor er eine Gerade abschoß,

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die wie ein Bündel Sprengstoff am Kinn des Mannes explodierte.

Mit einem seligen Seufzer kippte der Bandit um und blieb reglos liegen.

Colorado rannte um den Felsen herum. Das Schreien von Grant war bereits verstummt. Sky, der kampferfahrene Adler, hatte zuerst dafür gesorgt, daß er Grant die Waffe entreißen konnte. Und bevor der Bandit überhaupt begriff, was mit ihm geschah, war der Adler schon wieder über ihm. Er ließ sich auf den Schultern des Verbrechers nieder, klammerte sich mit den Fängen dort fest und hieb mit seinem wuchtigen Schnabel auf den Schädel des Mannes.

Grant mußte sich fühlen, als befände er sich in den Klauen des Satans. Er ging zu Boden, blieb benommen liegen, und da sah er den Adler, der sich jetzt auf seine Brust setzte, die Schwingen ausbreitete und den Hals vorstreckte, als wollte er den ihm unterlegenen Gegner mit weiteren Schnabelhieben traktieren.

Die Angst, die schreckliche Angst vor diesem ungewohnten und ungewöhnlichen Gegner ließ Grant erstarren. Er schrie nicht einmal mehr. Er wagte nicht, sich zu bewegen.

»Laß ihn, Sky!« Der Adler gehorchte sofort. Er schwang sich hoch und ließ

sich auf dem Felsen nieder. Dort oben blieb er und beäugte wachsam den überwältigten Gegner.

Colorado beugte sich hinunter. Er legte Grant Handschellen an.

»Das war’s wohl, Grant«, sagte er.

* * *

Das Gesicht von Sheriff Maiswell war von einer schmierigen Schlammschicht bedeckt. Der Gesetzeshüter von Gregortown bekam kaum noch Luft. Er spie gurgelnd Wasser aus, würgte,

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weil er Schlamm zwischen den Zähnen hatte und versuchte mühsam, noch zu atmen.

Draußen am Ufer hüpfte ein verzweifelter und ratloser Richter Keyl umher, der nicht wußte, was er noch anstellen sollte, um Maiswell vor dem sicheren Tod zu retten.

»Pferd! Das Pferd!« schrie der Sheriff. Der Richter begriff. Er packte das Lasso, rannte zum Pferd,

schlang das Ende des Lassos um den Sattelknauf und trieb das Tier an.

»Halt dich fest!« schrie er Maiswell zu. Der Sheriff gab dem Richter keine Antwort mehr. Er hörte

zwar den Zuruf und er klammerte sich eisern am Lasso fest. Aber sobald er den Mund aufmachte, hatte er wieder den ekelhaften, stinkenden Schlamm auf der Zunge.

Das Tier trabte los. Das Lasso spannte sich und allmählich zeigte sich, daß dies der richtige Weg war, der zum Erfolg führte.

Handbreit um Handbreit wurde der Körper des Sheriffs aus dem Sumpf gezogen und schließlich lag er auf festem Boden, über und über von Schlamm bedeckt. Sein Atem ging schwer.

Keyl nahm seinen Hut ab. Er schöpfte Wasser und goß es über dem Sheriff aus. Allmählich wurde das Gesicht des Gesetzeshüters wieder erkennbar und später zeigte sich auch die Kleidung wieder in der ursprünglichen Farbe.

Als der Sheriff sich aufrichtete, wurde plötzlich Hufschlaglaut und die Tritte eines Mannes waren zu hören. Überrascht drehten sich die beiden Männer um. Und da sahen sie den Sheriff von Salina und seine Männer herankommen.

Mit großen Augen starrte der Sheriff auf einen Reiter, den er kannte, und er konnte es nicht fassen: es war seine Frau. Es war Anne Maiswell.

Sie winkte ihm zu, sprang vom Pferd und fiel ihrem Mann um den Hals.

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Richter Keyl stand da wie vom Schlag gerührt. Er wollte etwas fragen, getraute sich aber nicht, die Frage auszusprechen, weil er fürchtete, daß die Antwort unerträglich sein würde. Er hatte Angst davor.

Anne Maiswell ließ von ihrem Mann ab. Sie wandte sich dem Richter zu.

»Claire geht’s gut, Richter! Sie ist weiter hinten. Drei Männer sind bei ihr und kümmern sich um sie. Keine Sorge, sie ist nicht verletzt. Laufen Sie, Richter, sie wartet schon auf Sie!«

Plötzlich deutete Sheriff Maiswell auf das gegenüberliegende Ufer jenes Wassergrabens, in dem er beinahe den Tod gefunden hätte. Drüben war Colorado aufgetaucht. Er winkte dem Sheriff zu.

»Was ist mit den Verbrechern? Colorado, he, was ist mit den Verbrechern? Hast du sie?«

Colorado nickte. Er schmunzelte. »Ich habe sie, Maiswell. Und ich bringe sie ins Jail. Genau so, wie ich es gesagt habe.«

Der Sheriff atmete auf. »He, Colorado, soll ich dir was sagen? Soll ich dir sagen,

was du bist?« Der Angesprochene grinste. »Kommt darauf an, ob es gut

oder böse ist.« Maiswell holte tief Luft. »Ein Teufelskerl, Colorado! Ein

echter Teufelskerl!« »Ein lieber Teufelskerl!« sagte Anne Maiswell leise und

errötete dabei. Dann winkte sie dem Marshal zu…

ENDE

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