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Kunstkammer Rau LEIBHAFTIG - regionalgeschichte.net · 2013. 9. 30. · Leibhaftig Wann ist der...

Date post: 05-Feb-2021
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Kunstkammer Rau LEIBHAFTIG ab 25. Mai 2014 bis März 2015 Flandern, Martyrium des hl. Bartholomäus, Mitte 17. Jh., Elfenbein
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  • Kunstkammer Rau

    LEIBHAFTIG

    ab 25. Mai 2014 bis März 2015

    Flandern, Martyrium des hl. Bartholomäus, Mitte 17. Jh., Elfenbein

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    Blicke in Dein Nichts Das ist Pein, das ist Leid die soll dem Menschen willkommen sein damit er Christus nachfolge

    Johannes Tauler, 14. Jahrhundert

    Jacob Strüb (aktiv zu Beginn des 16. Jhs.), Hl. Achatius und das Martyrium der Zehntausend, Öl auf Holz

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    2014 jährt sich der Ausbruch des ersten Weltkriegs, jener ersten globalen Katastrophe, zum 100. Mal. Das Arp Museum Bahnhof Rolandseck möchte diesen

    Schrecken nicht im großen Kriegs-Panorama, sondern mit Blick auf den Menschen

    selbst erfahrbar machen. Rund 50 Skulpturen und Gemälde der »Sammlung Rau für UNICEF« aus über fünf Jahrhunderten vergegenwärtigen Täter und Opfer, Leid

    und Qual im wiederkehrenden Kreislauf der Gewalt. Im gemarterten Leib, im körperlichen Schmerz Christi und der Heiligen bekommt das Leiden Gestalt, wird

    »leibhaftig« und erhält dadurch berührend menschliche Dimensionen.

    Dominicus Stainhart (Umkreis), Christus an der Geißelsäule, um 1700, Elfenbein

    Vittore Crivelli, Beweinung, 1460, Tempera auf Holz

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    Heilige MordeHeilige MordeHeilige MordeHeilige Morde

    David und Judith verkörpern in der Kunst des Mittelalters und der Renaissance den gerechten Krieg, den gerechten Mord. Sie sind Beispiel für taktische

    Raffinesse und Klugheit im Angesicht einer todbringenden Übermacht. Schlachten wie diese wurden mit Klugheit, Schönheit und jugendlichem

    Wagemut gewonnen. Die Helden des Alten Testamens sind die verführerischen Idole der frühen Neuzeit, die mit ihren Reizen nicht geizen, sondern sich

    agressiv-erotisch mit dem Schwert in der Hand ihrem Schicksal in den Weg

    stellen.

    Guido Reni David enthauptet Goliath, 1606 / 1607 Öl auf frühes 15. Jahrhundert, Öl auf Holz

    Lucas Cranach d. Ä., Judith mit dem Haupt des Holofernes, 1525, Öl auf Holz

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    Heilige Qualen …Heilige Qualen …Heilige Qualen …Heilige Qualen …

    Seit dem späten Mittelalter ist die drastische Schilderung des schmerzvollen, von inneren wie äußeren Verletzungen gezeichneten Körpers ein zentrales Thema in

    der Kunst: Kleine Andachtsbildchen präsentieren den leidenden Christus in Nahsicht, konzentrieren sich auf seinen letzten Abdruck im Schweißtuch, auf

    seinen letzten Blick im Angesicht des Schmerzes und der Folter. Große Kirchenaltäre rücken das Leid seiner engsten Angehörigen in den Mittelpunkt. Von

    Dornen, Nägeln oder Pfeilen durchbohrt, aufgespießt, gehäutet, geköpft –

    ertragen auch die frühchristlichen Heiligen in der Nachfolge Christi ihr Martyrium. Bilder wie diese sprechen eine sehr direkte, eine emotionale Sprache, die im

    Verlauf des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts immer körperlichere, greifbarere Dimensionen in der Skulptur gewinnt. Leid und Qual stehen in

    frappierendem Gegensatz zur Schönheit der Oberfläche: zum matten Glanz des

    Elfenbeins, zum hochglänzenden Bronzerelief.

    Angelo de Rossi (zugeschr.), Beweinung Christi durch Engel, Ende 17. / Anfang 18. Jahrhundert, Bronze, vergoldet

    Colyn de Coter, Hl. Veronika mit dem Schweißtuch um 1510, Öl auf Holz

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    Nordfrankreich, Hl. Quentin mit Stifterfigur, um 1520 Öl auf Holz

    …heilende Körper …heilende Körper …heilende Körper …heilende Körper Doch sind diese drastischen Schilderungen mehr als die Kopie eines

    Augenzeugenberichts, mehr als die Vergegenwärtigung von Rechtsprechung, Strafen, Foltern und Leid. Vielfach hingen sie in Hospitalskirchen und wurden

    konkret zu Heilzwecken eingesetzt. Denn sie beinhalteten ein Versprechen für jene, deren eigenes Leid, deren Krankheit, in dem geschundenen Leib Christi, im

    Heiligenleib übermenschliche Gestalt erhielt. Der Heilige war Vorbild christlicher Demut, die über die schwersten Leiden hinweghalf. Er half, er heilte, in dem er den

    Betrachter seines Bildes zum Mitleid, zum geduldigen Mit-Leiden aufforderte.

    Nicht selten wurden seine Wunden, seine Verletzungen mit den großen Seuchen und Plagen des Spätmittelalters gleichgesetzt. So verwiesen die feurigen Pfeile,

    die den heiligen Sebastian durchbohrten, auf die Pest, zeigten Rochus und Hiob an ihrem Körper Anzeichen der Lepra oder vergegenwärtigte ein Krankheitsdämon zu

    Füßen des Heiligen Antonius im berühmten Isenheimer Altar die gefürchtete durch einen Brot-Pilz ausgelöste Mutterkornvergiftung. Seit dem Mittelalter verstand

    man den gequälten Leib des Heiligen auch als geistige Medizin, konnte er in

    seinem Schmerz andere heilen.

    Flandern, Madonna mit Kind, Hl. Albanus?, Johannes der Täufer und Stifterfigur frühes 15. Jahrhundert, Öl auf Holz

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    Zwischen Himmel und ErdeZwischen Himmel und ErdeZwischen Himmel und ErdeZwischen Himmel und Erde Das 18. Jahrhundert und die Aufklärung verdrängen die drastische Schilderung

    von Leid und Folter aus der religiösen Malerei und Skulptur. Die Heilserfahrung spielt sich ganz im duftigen Rokoko-Himmel ab. Die Himmelfahrt Christi wird

    zentrales Motiv, aber auch Könige und Heilige ziehen gen Himmel, umgeben von einer Schar von Engeln, die sie über die Wolken heben.

    Neben diesen entkörperlichten Höhenflügen gewinnt der säkularisierte Körper immer mehr Raum in der Malerei. Die Kunst des späten 18. und 19. Jahrhunderts

    feiert das Fleisch und das Fleischliche - ob nun in Gestalt einer trunkenen Mänade

    oder im flötenspielenden Hirtenpaar. Doch auch sie bewegen sich nicht im Hier und Jetzt, sondern flirten, trinken, lieben sich fern von Leid und Qual in irdischen

    Paradiesen.

    François Boucher, Die Flötenlektion, 1751 Öl auf Leinwand

    Gustave Courbet, Schlafende Bacchantin, 1850, Öl auf Leinwand

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    LeibhaftigLeibhaftigLeibhaftigLeibhaftig

    Wann ist der Körper gegenwärtiger, wann ist er leibhaftiger in der Kunst, wenn nicht in der kunstvollen Anordnung der Knochen vieler Reliquienaltäre, wie sie

    seit dem Spätmittelalter, aber insbesondere seit dem Barock und Rokoko immer populärer wurden. Im glitzernden Durch- und Miteinander von Gold und

    Edelsteinen, eingewoben in Samt und Seiden wurde der vergängliche Leib des Heiligen gefeiert, wurde er plötzlich greifbar, wirkte seine Berührung sogar

    Wunder. Was viele von uns heute als makaber empfinden, weil wir mit dem toten Leib kaum mehr in Berührung kommen, war dem Menschen des 17. und 18.

    Jahrhunderts allgegenwärtig – in den städtischen Beinhäusern oder in der leibhaftigen Gestalt der heiligen Ahnen, die ihre Kirchen bevölkerten. Und nicht

    zuletzt sollte man sich im Angesicht der Knochen seiner eigenen Leibhaftigkeit

    – und Vergänglichkeit bewusst werden: leibhaftig sein.

    Anonym, Das schlafende Jesuskind mit Schädel, Kreuz und Schlange / Memento mori, 2. Hälfte 16. Jahrhundert, Holz, farbig gefasst

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