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KUNST KUNST - bravermangallery.combravermangallery.com/ratman-biennale/wp-content/... ·...

Date post: 16-Sep-2018
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90 SPEX N°346 SPEX N°346 KUNST KUNST GILAD RATMAN GILAD RATMAN 91 The Workshop (2013) - die Dokumentation einer fiktiven Reise nach Israel in einer nicht-linearen, fragmentarischen Erzählweise. GILAD RATMAN Eingeschränkt handlungsfähig »Ist der Kampf Mensch gegen Mensch auch ein Kampf gegen die Natur?«
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Page 1: KUNST KUNST - bravermangallery.combravermangallery.com/ratman-biennale/wp-content/... · Multipillory (2010). Hier nutzt Ratman die Konstruktion eines ehemaligen Folterinstrumentes,

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Eingeschränkt handlungsfähig

»Ist der Kampf Mensch gegen Mensch auch ein Kampf gegen die Natur?«

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Momente und Zustände von Verlust und Überlebenskampf darstel lt und analysiert.

O!ensichtlich ist in seiner Arbeit die wiederholte Referenz an den Kampf von Mensch und Natur in der Romantik, gleich-zeitig setzt sich der Künstler aber auch mit sozialdarwinisti-schen Konfliktmu stern auseinander. Wenn Menschen scheinbar mitleidsl os übereinander steigen wie in seiner Videoarbeit The Multipillory (2010). Hier nutzt Ratman die Konstruktion eines ehemaligen Folterinstrumentes, in das er seine Akteure, fast nackt, einspannt. Den Kopf durch eine Wand gereckt, sticht auf der Rückseite das blanke Hinterteil heraus. Um durch die Öff-nun g blicken zu können, stehen und lehnen die Körper aufein-ander, verrenken und verbiegen sich. Während auf der Rück seite der Wand die nackten Gesäße und Beine dicht an dicht gedrängt erscheinen, wird auf der Vorder-seite um die Köpfe herum ein Bild aus der Natur projiziert – ähnlich einer Wand auf der Kirmes, wenn der Kopf durch ein Loch gesteckt wird und den Leib eines Fremden bekommt – Cowboy, Actionheld, Witzfigur. Bei Gilad Ratman aber sehen wir Wald und Sumpf und zwölf körperlose Köpfe.

Was zunächst als rücksichts-loses Übereinandersteigen der Menschen erscheint, wirft bei längerem Betrachten Fragen auf: Treten die Menschen aufeinan-der oder stützen sie sich gegen-seitig ? Der Künstler löst diese Frage bewusst nicht auf: »Die Grenzen zwischen Unterstützung und Gewalt können sehr fein sein. Man weiß in dieser Arbeit nicht, ob die Darsteller einander wehtu n oder sich helfen. Unterstützung kann auch eine Form der Gewalt sein. Und wo ziehen wir die Grenze, wenn es dar-um geht, zu entscheiden, ob der Mensch Teil der Natur ist, ob der Mensch gegen seine eigene Natur, sein Naturell, kämpft? Ist der Kampf Mensch gegen Mensch damit auch ein Kampf gegen die Natur?«

Ratmans fortdauerndes Interesse gilt einer utopischen Welt, in der prä-linguistische und prä-soziale Strukturen dominieren. Diesen Ur-Zustand oder frühen Zustand untersucht der Künst-ler in seinen Arbeiten. Streng realistisch geht er dabei nicht vor. »Ich habe als Künstler die Freiheit, nicht strikt bei der Wahrheit und Realität bleiben zu müssen. In meinen Arbeiten gibt es immer reale Elemente – Zeit, der real existierende Raum, in dem ich filme, und Dinge, die haptisch greifbar sind. Aber ich erlaube mir in der Nachbearbeitung, sehr manipulativ zu werden. Sound hinzuzufügen oder das Material so zu schneiden, dass sein Sinn verändert wird. Weil ich mich nicht der Handlung verpflichtet fühle, sondern dem, was sein könnte. Ich kreiere Videosequen-zen, die ich dazu nutzen kann, neue Bedeutungen und neue Logik zu schaffen.«

Über die Logik der Schwerkraft und der Bewegung des menschlichen Körpers setzte sich Ratman in seiner Arbeit The Days Of The Family Of The Bell (2012) hinweg. Nach und nach erscheinen die Akteure vor einer großen, dunklen Wand,

bewegen tänzerisch ihre Gliedmaßen, schweben kurz durch die Luft, bevor ihre Füße den Boden wieder berühren. Erst ist es eine Gestalt, dann sind es Gruppen von zwei bis zehn Personen, die, vermeintlich wider die Gesetze der Schwerkraft, ihre Körper und Gliedmaßen gegen den schwarzen Grund heben und senken, sich krümmen und doch leichtfüßig auf die Schultern der anderen klimmen, um sich in fließenden Bewegungen zu einer mensch-lichen Skulptur aufzubauen. Es dauert einen Moment, bis man begreift, dass die Szene nicht horizontal wie eine Bühne betrach-tet wird, sondern von oben herab gefilmt ist. Eine Idee, für die sich der israelische Künstler von einem japanischen Tanzstück aus dem Jahr 1907 inspirieren ließ. The Days Of The Family Of The Bell (2012) ist in seiner Langsamkeit sehr poetisch, in der

Unmöglichkeit der Bewegungen in der Realität zugleich aber auch befremdlich.

U n g e w ö h n l i c h e r s c h e i n t in dieser Arbeit auch die Stille. Denn nicht selten sind es gerade Klang und Geräusche, die Rat-mans Videos eine besondere Stimmung verleihen. Klang ist für den Künstler kein Instrument, um wie im Film das atmosphärische Bild zu stärken, sondern resultiert vielmehr aus der Arbeit selbst. »Manchmal diktiert der Klang die Bilder«, beschreibt Ratman das Verhältnis von Geräusch kulisse und visuellem Bild.

Grundsätzlich ist das beweg-te Bild das primäre Medium des Künstlers. Zugleich zeigen seine bisherigen Werke auch sein Inte-resse am Umgang mit Klang, Ton und Performance. 2009 führte Ratman anlässlich der Biennale

von Herzlia das Stück Lo Benahash (Not By Snake) auf. Dabei handelt e es sich um ein selbstkomponiertes Lied, das eigens für den Aufführungsort erarbeitet worden war. Insgesamt dauer-te das Lied mit seinen 30 Strophen fast 20 Minuten und wurd e durch performative Elemente befreundeter Künstler unter-brochen. Lo Benahash ist ein religiöses Lied, das von Ängsten handelt und sich im Verlauf der Strophen ins Ironische wen-de t – zu vieles wird aufgelistet, vor dem man Angst haben kann oder haben soll. Als Performance ist Ratmans Auftritt in Herzlia singul är in seinem bisherigen Scha!en.

Doch auch eine jüngere Arbeit belegt den Umgang mit Klang und Musik. Im vergangen Jahr filmte er in Rumänien fünf Heav y-Metal-Bands, die vor leeren Rängen auftraten und ihre Verstärker im Boden vergraben hatten. Da kaum ein Musikstil so sehr von Lautstärke lebt, erscheint Ratmans Herangehens-weise besonders ironisch. Bei allem Humor wird aber auch ein ernsthaftes Interesse des Künstlers offenbart: »How does sound sound?«, fragte er sich und dokumentierte die surrealen Auftritte. Die Arbeit harrt allerdings noch der Fertigstellung. Sie wurde unterbrochen von einer Reise durch dunkle Tunnel und tiefen Morast – direkt nach Venedig.

Im Dunkeln der Tunnel und unterirdischen Gänge sucht sich eine Gruppe ihren Weg. Wie Höhlenforscher auf Exkursion tasten sie das Gestein ab. Nach und nach erschließen sich dem Betrachter Gesichter und Charaktere. Gerade hat man die Situati on als Realität angenommen, da wird aus den zielstre-bigen Menschen eine Gruppe von Irrenden und Suchenden. Unklar ist, wo sich die Gestalten bewegen und was sie antreibt. Für die 55. Kunst-Biennale in Venedig hat der israelische Künst-ler Gilad Ratman etwa 30 Schauspieler auf eine fiktive Reise von Israel nach Venedig geschickt – unter Tage, in einer Welt, die keine nationalen Grenzen kennt. Ihren Weg beschreibt er als fragmentarische Erzählung in Episoden von sich windenden Geschöpfen, die aufbrechen, um unter der Erde eine Reise an zutreten, sich ihren Weg zu bahnen, um schließlich im Bien-nale-Pavillon anzukommen. Diese Unternehmung präsentiert Ratma n in der Installation The Workshop (2013) auf fünf Video- Bildschirmen. Als Zeugnisse der Reise dienen neben den Videos auch skulpturale Installationen mit Überbleibseln der Reise und des Gepäcks der Darsteller.

So realistisch die Videosequenzen auch anmuten mögen und so sehr die Überreste der Reise auch von realen Gestalten zeugen könnten – rasch wird deutlich, dass Ratman eine eigene Realität und eine fiktive Narration entwickelt hat. In Zeiten, in denen Grenzen immer stärker gezogen, bewacht und definiert werden, überwindet und unterwandert Ratman sie geradezu buchstäblich mit filmischen Mitteln.

Anders als bei bisherigen Arbeiten steht die Darstellung des »Gefangenseins« nicht im Mittelpunkt: »Körperliche Einengung und der Versuch, sich daraus zu befreien, sind Motive, die ich sehr oft in meinen Arbeiten nutze«, so der Künstler. »Aber dieses Mal geht es mehr darum, eine Art von Bewegung, ein Vorankom-men darzustellen. Die Reise zum Pavillon ist ein erfolgreiches Unterfangen, ein Siegeszug.«

Bei der Darstellung eines solch grenzfreien Vorankommens stellt sich bald die Frage nach dem politischen Impetus der Arbeit. »Die Arbeit bezieht sich natürlich auf das, was ich als eines unserer Hauptprobleme ansehe: den Konflikt zwischen dem Konzept eines Nationalstaats und der Unterteilung in Staa-ten; einerseits durch Grenzen und auf der anderen Seite durch selbstverantwortliche, grenzüberschreitende Systeme wie das Internet. Alles, was unser Ich durch die Medien beeinflusst. Unsere Zeit ist stark durch die Auseinandersetzung mit diesen beiden Konzepten geprägt«, reflektiert Ratman. Die Darstellung einer Bewegung, eines Sich-Fortbewegens unter der Erde, under-ground, symbolisiert daher für den Künstler auch eine Art des Widerstands. »Sich im Untergrund zu bewegen, bedeutet heutzu-tage auch die einzige Möglichkeit, sich zu bewegen, ohne von Google-Satelliten verfolgt zu werden«, erklärt er.

Die Möglichkeit eines Auswegs, wie sie den Protagonisten in The Workshop gegeben ist, stellt einen eher ungewöhnlichen Ausgang in Ratmans bisherigem Schaffen dar. Eine aussichts-losere Situation beschrieb er beispielsweise 2009 in einer seiner bekanntesten Arbeiten: The 588 Project. In dieser Videoinstal-lation drohen die Menschen im tiefen Morast zu versinken, ringen nach Luft und Freiraum. Durch Schläuche atmen die gefangenen Körper. Die Luft entweicht als grauer Farbstrom durch Flöten, die senkrecht von Bäumen am Ufer herabhängen – befremdliche Laute inmitten der unbezwingbaren Natur. In diesem surrealen Gesamtbild wird Atem zu Farbe, werden Kläng e hinzugefügt, um Stimmungen und Bilder zu erzeugen. Den Titel der Arbeit hat Ratman bewusst in Anlehnung an den Drehort gewählt: The 588 Project wurde im 588 Studio im ameri-kanischen Arkansas gedreht, das einem Mann namens »Fred 588« gehört. Der ominöse »Fred 588« ist im Alltag Professor an einer nahe gelegenen Universität und nutzt das Studio lediglich im Somm er, um dort unerkannt Schlamm-Fetisch-Filme zu drehen. Ganz offensichtlich ist Ratmans Arbeit kein Fetisch-Film, doch der Künstler begibt sich mit Vorliebe in Zwischenwelten und nutzt diese als Schauplätze seiner fiktiven Handlungen.

Ratmans Szenerien erscheinen oft befremdlich. Obwohl aus bekanntem Material – Schlamm, Wasser, Bäumen – erstellt, zwingt der Künstler seine Protagonisten in scheinbar sinnlose, groteske, unausweichliche Situationen. Erst im Verwischen von realer Kulisse und fiktiver Handlung wird der tiefe Symbolgehalt der Arbeit ersichtlich: die menschliche Existenz gegen die Natur und das Groteske als Zustand des menschlichen Daseins. »Das Gefühl der Befremdlichkeit ist sehr wichtig für mich«, erklärt der Künstler. »Ich glaube, dass Kunst sich mit Sprache – nicht der gesprochenen, sondern dem Ausdruck von manifestierter Logik – auseinandersetzen sollte. Kunst sollte diese Logik, diese Mechanismen, die Bedeutung und Deutung generieren, in Frage stellen. Dass man sich im ersten Augenblick fragt ›What the fuck is this?‹, und es dann als Betrachter hinterfragt.«

Dem Grotesken widmete er im Sommer 2009 eine ganze Ausstellu ng. Im Haifa Museum of Art ging er auf unterschied-lichen Ebenen dem Begriff nach – Ursprung, Definition, Wider-sprüchlichkeiten, aber auch Aneignungsmöglichkeiten für sein eigenes künstlerisches Schaffen. Als man im 15. Jahrhundert bei Grabungen in der ehemaligen Residenz des römischen Diktators Nero Fresken freilegte, die aus fantastischen Gestalten bestan-den, wurde für den Fund der Begriff grotto als Bezeichnung für eine unterirdisch gelegene Höhle verwendet. Dem entlehnte sich der Ausdruck des »Grotesken«. In diesem Kontext erscheint der Terminus folglich als etwas Unterschwelliges und Verborge-nes. Mit eben solchen grotesken Situationen und Lebenslagen setzen sich Ratmans Arbeiten intensiv auseinander, wenn er

Gilad Ratman ist der jüngste Künstler, der jemals mit der Repräsentation des Landes Israel auf der Kunst-Biennale in Venedig beauftragt wurde. The Workshop (2013) dokumentiert eine fiktive Reise. Zentrale Motive Ratmans bisherigen Schaffens werden fortgesetzt: das Agieren der Protagonisten in nicht-sprachbasierten Strukturen und das Ausloten menschlicher Interaktion.

T E X T : D o r o t h e a S c h ö n e

Die menschliche Existenz gegen die Natur und das Groteske als Zustand des menschlichen Daseins.

GILAD RATMAN

THE WORKSHOPLA BIENNALE DI VENEZIA , ISRAELI PAVILION BIS ZUM 24. NOVEMBER 2013


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