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Kraniofaziale Fehlbildungen in der Virchow-Sammlung der Charité

Date post: 22-Aug-2016
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S8 Kein Tag ohne Präparat Rudolf Virchow (1821–1902), von 1856–1902 Direktor des Instituts für Pathologie der Charité, trachtete vom Beginn seines Dienstantritts danach, das vorgefundene „Pathologisch-ana- tomische Cabinet der Charité“, das rund 1500 brauchbare Objekte umfaß- te, zu einem pathologisch-anatomi- schen Museum zu erweitern. Zielge- richtet betrieb er den Aufbau des Mu- seums, das er später als sein „liebstes Kind“ bezeichnete. Problematisch wurde im Lauf der Jahre die Unterbringung der unüber- schaubar vielen Präparate, da sich die Magazine zunehmend gefüllt hatten. Für Sammlungszwecke wurden selbst die Wohnungen der Institutsdiener her- beigezogen und Kellerräume des Hau- ses genutzt. Neben der pathologisch- anatomischen entstanden zeitgleich auch eine anthropologische und eine prähistorische Sammlung. Virchows damaliger Assistent, Jo- hannes Orth, schrieb später: „Jedes Etikett schrieb er selbst, aber der 2. (später der 3.) Assistent mußte bei der Zubereitung und Aufstellung der Präparate helfen, und es geschah nicht zu dessen größter Freude, wenn einmal wieder der Grundsatz verkün- det wurde: Nulla dies sine praepara- tu!) = kein Tag ohne Präparat)“ [7]. 1886 umfaßte allein die patholo- gisch-anatomische Virchow-Samm- lung etwa 17000 Ausstellungstücke ohne die anthropologische und prähi- storische Sammlung. Der sich einzig abzeichnende Ausweg aus der bevor- stehenden Katastrophe war der Bau ei- nes Sammlungsgebäudes in Instituts- nähe. In seinem Antrag vom 24. No- vember 1890 wünschte Virchow, daß „... in den Etat des Jahres 1891/92, bzw. in einem Nachtragsetat eine Sum- me eingestellt werde, mit welcher für das Pathologische Institut hiesiger Friedrich-Wilhelms-Universität ein neues Sammlungsgebäude nebst Audi- torium und einige Arbeitsräume in nächster Nähe des bisherigen Dienst- gebäudes erbaut und eingerichtet wer- den könnte...“ [1–3]. Das Pathologische Museum Am 27. Juni 1899 konnte Virchow nach einer Bauzeit von 3 Jahren das neue Pathologische Museum der Cha- rité eröffnen. Mit 23500 Präparaten war es die umfangreichste und wert- vollste pathologisch-anatomische Sammlung überhaupt. In seiner Festre- de zur Eröffnung dieses einmaligen Museums hob der Rektor der Fried- rich-Wilhelms-Universität, der Ana- tom Wilhelm von Waldeyer-Hartz, her- vor: „...Was ihnen (den Präparaten) aber ihre grosse Bedeutung verleiht, das ist der einzig und allein in der Welt ste- hende Umstand, dass das Wichtigste Mund Kiefer GesichtsChir (1998) 2 [Suppl 2] : S8–S12 © Springer-Verlag 1998 Kraniofaziale Fehlbildungen in der Virchow-Sammlung der Charité H.-J. Neumann 1 , F. Soost 1 , P. Krietsch 2 1 Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie/ Plastische Operationen (Prof. Dr. Dr. H.-J. Neumann), 3 Humboldt-Universität Berlin 2 Institut für Pathologie „Virchow-Haus“ (Prof. Dr. M. Dietel), Universitätsklinikum Charité, Humboldt-Universität Berlin Prof. Dr. Dr. H.-J. Neumann. Klinik und Poli- klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie, Universitätsklinikum Charité, Schumannstraße 20/21, D-10117 Berlin Zusammenfassung Am 27. Juni 1899 eröffnete Rudolf Virchow (1821–1902) das Patho- logische Museum der Charité. Die Sammlung umfaßte 23500 patho- logisch-anatomische Präparate. Im Zweiten Weltkrieg wurde der größte Teil der Sammlung zerstört. 2000 Präparate konnten gerettet werden. Inzwischen ist der Restbe- stand wieder auf 9000 Objekte angewachsen. In der vorliegenden Arbeit werden die Entwicklung, der Inhalt und der Aufbau der berühmten Virchow-Sammlung unter besonderer Beachtung kra- niofazialer Fehlbildungen und an- derer „Monstrositäten“ beschrie- ben. Schlüsselwörter Charité · Virchow · Museum · Monstrositäten ORIGINALIEN
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Kein Tag ohne Präparat

Rudolf Virchow (1821–1902), von1856–1902 Direktor des Instituts fürPathologie der Charité, trachtete vomBeginn seines Dienstantritts danach,das vorgefundene „Pathologisch-ana-tomische Cabinet der Charité“, dasrund 1500 brauchbare Objekte umfaß-te, zu einem pathologisch-anatomi-schen Museum zu erweitern. Zielge-richtet betrieb er den Aufbau des Mu-seums, das er später als sein „liebstesKind“ bezeichnete.

Problematisch wurde im Lauf derJahre die Unterbringung der unüber-schaubar vielen Präparate, da sich dieMagazine zunehmend gefüllt hatten.Für Sammlungszwecke wurden selbstdie Wohnungen der Institutsdiener her-beigezogen und Kellerräume des Hau-ses genutzt. Neben der pathologisch-anatomischen entstanden zeitgleichauch eine anthropologische und eineprähistorische Sammlung.

Virchows damaliger Assistent, Jo-hannes Orth, schrieb später:

„Jedes Etikett schrieb er selbst, aberder 2. (später der 3.) Assistent mußtebei der Zubereitung und Aufstellungder Präparate helfen, und es geschahnicht zu dessen größter Freude, wenneinmal wieder der Grundsatz verkün-det wurde: Nulla dies sine praepara-tu!) = kein Tag ohne Präparat)“ [7].

1886 umfaßte allein die patholo-gisch-anatomische Virchow-Samm-lung etwa 17000 Ausstellungstückeohne die anthropologische und prähi-storische Sammlung. Der sich einzigabzeichnende Ausweg aus der bevor-stehenden Katastrophe war der Bau ei-nes Sammlungsgebäudes in Instituts-nähe. In seinem Antrag vom 24. No-vember 1890 wünschte Virchow, daß„... in den Etat des Jahres 1891/92,bzw. in einem Nachtragsetat eine Sum-me eingestellt werde, mit welcher fürdas Pathologische Institut hiesigerFriedrich-Wilhelms-Universität einneues Sammlungsgebäude nebst Audi-torium und einige Arbeitsräume innächster Nähe des bisherigen Dienst-gebäudes erbaut und eingerichtet wer-den könnte...“ [1–3].

Das Pathologische Museum

Am 27. Juni 1899 konnte Virchownach einer Bauzeit von 3 Jahren dasneue Pathologische Museum der Cha-rité eröffnen. Mit 23500 Präparatenwar es die umfangreichste und wert-vollste pathologisch-anatomischeSammlung überhaupt. In seiner Festre-de zur Eröffnung dieses einmaligenMuseums hob der Rektor der Fried-rich-Wilhelms-Universität, der Ana-tom Wilhelm von Waldeyer-Hartz, her-vor:

„...Was ihnen (den Präparaten) aberihre grosse Bedeutung verleiht, das istder einzig und allein in der Welt ste-hende Umstand, dass das Wichtigste

Mund Kiefer GesichtsChir (1998) 2 [Suppl 2] :S8–S12 © Springer-Verlag 1998

Kraniofaziale Fehlbildungen in der Virchow-Sammlung der Charité

H.-J. Neumann1, F. Soost1, P. Krietsch2

1 Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie/Plastische Operationen (Prof. Dr. Dr. H.-J. Neumann), 3 Humboldt-Universität Berlin2 Institut für Pathologie „Virchow-Haus“ (Prof. Dr. M. Dietel), Universitätsklinikum Charité, Humboldt-Universität Berlin

Prof. Dr. Dr. H.-J. Neumann. Klinik und Poli-klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie,Universitätsklinikum Charité, Schumannstraße20/21, D-10117 Berlin

Zusammenfassung

Am 27. Juni 1899 eröffnete RudolfVirchow (1821–1902) das Patho-logische Museum der Charité. DieSammlung umfaßte 23500 patho-logisch-anatomische Präparate.Im Zweiten Weltkrieg wurde dergrößte Teil der Sammlung zerstört.2000 Präparate konnten gerettetwerden. Inzwischen ist der Restbe-stand wieder auf 9000 Objekte angewachsen. In der vorliegendenArbeit werden die Entwicklung,der Inhalt und der Aufbau derberühmten Virchow-Sammlungunter besonderer Beachtung kra-niofazialer Fehlbildungen und an-derer „Monstrositäten“ beschrie-ben.

Schlüsselwörter

Charité · Virchow · Museum ·Monstrositäten

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und Wesentlichste von ihnen zusam-mengebracht ist durch die Arbeit desMannes, der heute die Freude und dasGlück hat, dieses Haus zu überneh-men.“

Virchow selbst machte in seiner Eröff-nungsrede sein Vorhaben deutlich, die-se Sammlung nicht nur für Lehr- undForschungszwecke zu nutzen, sondernauch

„... die Zugänglichkeit der Anstalt...für das grosse Publicum (zu ermögli-chen).“

Das Angebot war grundsätzlich neuund wurde von den Berlinern und denBesuchern der Stadt dankbar ange-nommen.

Kurz nach der Einweihung diesesHauses öffnete Virchow 3 der 5 Aus-stellungsetagen dem breiten Publikum

als „Schausammlung“. Die Öffnungseines Museums hatte auch pädagogi-sche und gesundheitspolitische Bedeu-tung, denn seine kühne Maßnahmediente hauptsächlich der Informationund Aufklärung über die Krankheitendes Menschen.

Nach dem Jahr 1906 brechen die In-formationen über den Zustand derSammlung, ihre wissenschaftliche undöffentliche Nutzung merkwürdiger-weise ab, denn bis in die Zeit des Zwei-ten Weltkriegs hinein werden Auf-zeichnungen über die Weiterführungdes Museums vermißt. Welche Bezie-hung Virchows Nachfolger zu demMuseum hatten, ist nirgends nachzule-sen. Im Nachruf auf Virchows direktenAmtsnachfolger, Johannes Orth, vondessen Nachfolger, Otto Lubarsch,verfaßt, fehlt ebenso jeglicher Hinweiswie auch im Nekrolog von RobertRössle auf Otto Lubarsch. Auch nachLiteraturzitaten sucht man vergebens.

Das unmittelbar vor dem ZweitenWeltkrieg hergestellte und für das Mu-seum bestimmte Präparat trägt die Sek-tionsnummer 1765/1940 und ist einemenschliche Totgeburt mit Lymphan-giom. Der Museumsvermerk dazu lau-tet: „Provisorisch fertig am 29. April1941. Steht im Schrank I.A.1.c.“

Die letzten in dieser Zeit bearbeite-ten Präparate stammen aus dem Januar1941 und sind so festgehalten worden:

„(Sektions-Nummer) 18/41. Zum Ma-cerieren!!! Schädeldach, alte Trepana-tion. 5. Januar 1941; sec. Dr. Haus-knecht“ und „(Sektions-Nummer)28/41. 2 Scheiben Leber mit Gallen-gangstuberculose; sec. Prof. Rössle“.

Dann kam das Ende der von RudolfVirchow begründeten weltberühmtenSammlung des Pathologischen Insti-tuts der Berliner Charité, als der größ-te Teil des Museums Opfer der Flam-men wurde. Der damalige Institutsdi-rektor Robert Rössle schrieb dazu spä-ter:

„... durch den wahnsinnigen Wider-stand, den die SS auf dem Gebiet derCharité noch nach Einstellung derübrigen Kämpfe leistete, ist das Institutin den letzten Tagen der EroberungBerlins noch endgültig zu 9/10 zerstörtworden. Wie Sie wissen, war ja dasMuseum schon durch Luftangriffe

weitgehend beschädigt und auch seinInhalt verringert worden. Jetzt ist die-ses Gebäude, samt dem noch kürzlichin einem Sturm eingestürzten großenHörsaal, eine traurige Ruine und voll-kommen unbrauchbar.“

Im Zweiten Weltkrieg wurde VirchowsMuseum in weiten Teilen zerstört. Vonder in der Vorkriegszeit auf nahezu25000 Ausstellungsstücke angewach-senen Sammlung konnte lediglich einRestbestand von 2000 geborgen wer-den.

Auf dieser Grundlage begannenVirchows Nachfolger, seiner Intentionfolgend, eine neue Kollektion aufzu-bauen, die inzwischen auf etwa 9000Ausstellungsstücke angewachsen ist.Das eigentliche Museumsgebäude aberist bis zum heutigen Tage noch nichtwieder für museale Zwecke nutzbar.

1980 konnten 60 verglaste Ausstel-lungsvitrinen auf eher unkonventionel-len Ausstellungsflächen im Institut fürPathologie der Charité aufgestellt wer-den, die den 10. Teil des Bestands auf-nahmen. Damit sind heute 900 Aus-stellungsstücke in Institutskorridorenund selbst im Virchow-Gedenkzimmerwieder zugänglich.

Die Kombination eines voll arbei-tenden Instituts mit öffentlichem Mu-seum, anders also als zu Virchows Zei-ten, ist vermutlich ein Unikat. Von ih-rer Anziehungskraft hat die berühmteSammlung bis heute nichts eingebüßt.Das zeigen die vielen Tausend Besu-cher aus aller Welt, die jährlich dasweit über die Grenzen des Landes hin-aus bekannte „Virchow-Museum“ ken-nenlernen [1, 7, 9].

Abteilung „Monstrositäten“

Am Beginn der Sammlung werden diewenigen erhaltenen Präparate gezeigt,die von Virchow noch eigenhändig eti-kettiert wurden.

Im Zusammenhang mit dem Themades Jahreskongresses der DeutschenGesellschaft für Mund,- Kiefer- undGesichtschirurgie 1997 in Hamburgsoll ein wenig näher auf die Spezial-kollektion menschlicher Fehlbildun-gen („Mißgeburten“, „Monstrositä-ten“) eingegangen werden, über dieVirchow anläßlich der Eröffnungsfeiergesagt hatte:

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Mund Kiefer GesichtsChir (1998) 2 [Suppl 2] : S8–S12© Springer-Verlag 1998

Craniofacial deformities in the Virchow Collection at the Charité Hosptial

H.-J. Neumann, F. Soost, P. Krietsch

Summary

On 27 June 1899 Rudolf Virchow(1821–1902) inaugurated the Mu-seum of Pathology at the CharitéHospital. The collection com-prised 23500 pathologic-anatomi-cal specimens. Most of the collec-tion was destroyed in World WarII. About 2000 samples weresaved. Meanwhile the stock has in-creased to about 9000 objects. Thedevelopment, contents and struc-ture of the famous Virchow Col-lection are described with specialreference to craniofacial deformi-ties.

Key words

Charité · Virchow · Museum ·Monstrosity

„... ein Theil der Sammlung ist nichtaufgestellt, auf den ich einen gewissenWerth lege. Das ist nämlich das, wasman im wissenschaftlichen Sinn die Te-ratologie nennt, d.h. die Lehre von den‘Wundern’. Terata sind im alten Sinnedas, was die Lateiner Monstra nann-ten: jene ganz unerhörten und unbe-greiflichen Sachen, welche gelegent-lich am Menschen entstehen...“

Virchow ging auf das „Gesetz derWunder“ näher ein, beschrieb mensch-liche und tierische Fehlbildungen, hobdas Verdienst Goethes bei der Ent-deckung des Zwischenkiefers hervorund sagte über die Lippen-Kiefer-Gau-men-Spalten:

„Hier ist ein Object (Virchow zeigt es),welches Goethe lange beschäftigt hat.Sie werden sehen: diesem Kinde fehltam Munde ein grosses Stück. Es ist ei-ne Gaumen- und Lippenspalte (Wolfs-rachen und Hasenscharte) da. Das istdie berühmte Spalte, von der Goetheausging, als er darnach suchte, wie daszu Stande komme. Bei der Gelegenheitentdeckte er, dass die Menschen an die-ser Stelle einen besonderen Knochenhaben, den man bis dahin nicht beach-tet hatte, den Zwischenkiefer, das Osintermaxillare. Dieser Knochen be-zeichnet die äussere Grenze für dieKiefer- und Lippenspalte...“ (Abb.1).

Über die „Doppel-Missbildung, dieaus der Verschmelzung zweier fötalerIndividuen hervorgegangen ist“, führ-te Virchow in derselben Rede aus:

„... Durch die Verkümmerung des ei-nen entstehen die wunderbarsten Va-riationen. So zeigt ein Janus unsererSammlung auf der einen Seite ein sehrvollständiges Gesicht, während auf derandern Seite eine Art von Mondkalb

sitzt, das zu einer unförmigen Massezusammengegangen ist“ (Abb.2).

Diese Spezialsammlung menschlicherFehlbildungen, auf die Virchow „einengewissen Werth“ legte, fand von jehergrößte Aufmerksamkeit bei den Besu-chern.

In der Antike wurden angeboreneFehlbildungen nicht selten als göttli-che Wunderschöpfungen verehrt, vomChristentum dagegen als Teufelswerkdämonisiert. Besonders faszinierendeund seltene Fehlbildungen fanden so-gar Eingang in die Mythologie derVölker. Man kann sicher sein, daß diegriechischen Sagengestalten der Zy-klopen ihr reales biologisches Vorbildin derart mißgestalteten Kindern hatten(Abb.3).

In der römischen Antike nannteman schwer mißgestaltete menschlicheWesen „Monstra“ (heute „Monster“).Die Bezeichnung „Monstra“, von demVerb „monere“ hergeleitet, war viel-deutig und beinhaltete verklagen, be-drohen, prophezeien, aber auch be-wundern. Die Priester holten sichaußergewöhnliche tote „Monstra“ inihre Tempel, konservierten und „de-monstrierten“ sie dem ehrfürchtigenVolk zu ganz besonderen Anlässen alsZeichen ihrer ihnen von einem Gott ge-gebenen Macht. Sicher hat auch dasWort „Demonstration“ hier seine Wur-zeln.

Aus derselben Richtung scheintauch der religiöse Begriff „Monstranz“erklärt zu sein. Das griechische Syno-nym „Teras“, das Wunder, dagegenwar eindeutig positiven Inhalts. Vonihm wurde die Bezeichnung für dieLehre von den Mißbildungen hergelei-tet, die „Teratologie“ [4, 8].

Ebenfalls in der pathologisch-ana-tomischen Sammlung gut dokumen-tiert sind die anenzephalen und mikro-zephalen Schädel. Virchow sagte vonihnen:

„... Um aber die Genesis zu ermitteln,dazu gehört viel Material, es sind vie-le Vergleichungen erforderlich; dannerst kann man jeden überzeugen, wiedie Missbildung eigentlich entstandenist, und da kann man lernen, dass ein

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Abb.1. Schwerste Mißbildungim Kopfbereich: multiple Mißbil-dungen wie Anenzephalie,Meningozele, zyklopenähnlichengstehende Augenhöhlen, links-seitige Lippenspalte

Abb. 2. Skelett einer seltenen Doppelmißbil-dung

Abb. 3. Zyklop mit Ohrmißbildung

Teras, ein Wunder, auf natürliche Wei-se entstehen kann, und man kann ver-stehen, wie unser grösster Teratologein Deutschland, Johann FriedrichMeckel, der Enkel, der in Halle Pro-fessor und ein grosser Kenner der Em-bryonen war, dahintergekommen ist,dass auch Wunder gesetzmässig sind.Er hat das Gesetz der Wunder nichtbloss entdeckt (erneut Heiterkeit imAuditorium), sondern er hat es auchfestgestellt, er hat es im Einzelnen

nachgewiesen. Dahin gehört noch eineweitere Reihe, wie ich sie hier danebenstelle. Eines dieser Monstra sieht auchbeinahe so aus, wie eine Mole. Das istein Kind, welches sich dadurch aus-zeichnet, dass es keinen Kopf und kei-ne oberen Gliedmassen hat. Aber Siewerden sehen, dass unten einzelne Ex-tremitäten hervortreten. So kann dasmit dem Fehlen einzelner Theile immerweiter gehen, und so entstehen dieAcephalen (Kopflosen), die Acormi(Rumpflosen) u.s.w.“ (Abb.4–8).

„Mißgeburten“ und Mythologie

Auffällige Fehlbildungen haben dieMitmenschen seit Urzeiten interessiertund fasziniert und ihre Phantasie ange-regt. Eine „Mißgeburt“ mit je einemnach vorn und hinten gerichteten Ge-sicht war den Römern Vorbild für ihrenzweigesichtigen Gott Janus, den Gottdes Friedens und des Kriegs. Von Kro-nos, dem Vater des Zeus, heißt es, erhabe seine Kinder zuerst verschlungen

und sie danach wieder erbrochen. Diereale Vorlage war mutmaßlich ein Epi-gnathus, der ebenfalls zu besichtigenist.

Viele der in dieser Abteilung ge-zeigten menschlichen „Mißgeburten“bildeten mit höchster Wahrscheinlich-keit die natürlichen Vorbilder für my-thologisch überhöhte Wesen. Die Zy-klopen (Riesen mit 1 Auge in der Stirn)wurden dabei von Homer ebenso be-schrieben wie die Sirenen (Meerjung-frauen mit einem Fischschwanz). Alssog. Flußnixen spielten diese Wesenauch in anderen europäischen Kultur-kreisen eine Rolle [4, 8].

Lebende mißgestaltete Menschenhaben sich in der Vergangenheit gegenEntgelt oft auf Jahrmärkten zur Schaugestellt. Sie wurden nicht selten zu ei-nem beliebten „Sammelobjekt“ für eu-ropäische Fürsten. Man denke nur andie verkrüppelten Hofnarren von einst.Namentlich bekannt wurde Sebastiande Morra, Hofnarr des spanischen Kö-nigs Philipps IV., der von dem spani-schen Maler Velasquez porträtiert wur-de. Aber nicht nur für Maler waren sieein Gegenstand der Darstellung, son-dern auch für Schriftsteller und Kom-ponisten. Selbst in der belletristischenLiteratur werden sie angetroffen. AlsBeispiel soll hier Knut Hamsuns Ro-manfigur Inger in „Segen der Erde“ ge-nannt werden, Trägerin einer Lippen-spalte.

Wenn das Zeitalter der öffentlichenZurschaustellung von Zwergen undRiesen auch der Vergangenheit an-

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Abb. 4. Krötenkopf (Gehirn undSchädeldach nicht angelegt, dop-pelte Mundanlage, Größe 43 cm,Gewicht 1840 g). Anenzepalus,mediane Gesichtsspalte, 2 seitli-che Mundöffnungen; Plazenta450 g, weißer Infarkt

Abb. 5. Mißbildung weitgehend ohne Men-schenähnlichkeit; Akardius, Azephalus (Zwil-ling)

Abb. 6. Zwillingsgeburt, sog. Katzenkopf beinormaler Schwangerschaft

Abb. 7. Exenzephalie (Gehirn vollständigaußerhalb des Schädels angelegt); SS-Abbruch,27. SSW/weiblich; Gewicht 720 g, Länge 33 cm

Abb. 8. Männliches Frühgeborenes, multiplefrontale Enzephalozelen, ventrale und dorsaleSpaltbildungen, Spitzklumpfuß (Pes aquino-varus)

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gehört, so darf dennoch nicht überse-hen werden, daß in den Massenmedienvon heute „Monster“ nach wie vor an-zutreffen sind.

Ausblick

Der Hörsaal des ehemals weltberühm-ten Pathologischen Museums der Cha-rité existiert nur noch als Fragment.Die offene Ruine erhielt in den 60erJahren zur Sicherung der Bausubstanzeine Betondecke, das ganze Haus einneues Dach.

1990 wurde die Idee geboren, dashistorische Gebäude zu rekonstruieren,um es nach Fertigstellung seiner ur-sprünglichen Bestimmung zu überge-ben. Mit Hilfe von Sponsoren konntenunterdessen erste Ausstellungsräumehergestellt und in Betrieb genommenwerden. Sie bilden zugleich einen at-traktiven Vorgriff auf das spätere Ge-samtmuseum.

Die Hörsaalruine aber wurde nachihrer Enttrümmerung und Entrümpe-lung zu einem in Berlin einmaligen,vielseitig genutzten Veranstaltungsortfür wissenschaftliche und populärwis-senschaftliche Zwecke, für Konzerteund Bankette. Die Atmosphäre in derRuine entspricht dabei durchaus demParty-Trend, bei dem sich nicht vor-dergründig die Frage stellt, was, son-dern wo gespeist wird [5].

Literatur

1. Krietsch P (1987) Zur Geschichte des Patho-logischen Museums der Charité Berlin. Zen-tralbl Pathol 133 : 569–576

2. Krietsch P, Dietel M (1996) Virchows großerTag. In: Krietsch P, Dietel M (Hrsg) Patholo-gisch-Anatomisches Cabinet. Blackwell Wis-senschafts-Verlag, Berlin Wien, S 1–15

3. Krietsch P, Dietel M (1996) Kein Tag ohnePräparat. In: Krietsch P, Dietel M (Hrsg)Pathologisch-Anatomisches Cabinet. Black-well Wissenschafts-Verlag, Berlin Wien, S 71–83

4. Krietsch P, Dietel M (1996) Monstra undMißgeburten. In: Krietsch P, Dietel M (Hrsg)Pathologisch-Anatomisches Cabinet. Black-well Wissenschafts-Verlag, Berlin Wien, S 103–111

5. Krietsch P, Dietel M (1996) Schicksal derSammlung nach 1945. In: Krietsch P, DietelM (Hrsg) Pathologisch-Anatomisches Cabi-net. Blackwell Wissenschafts-Verlag, BerlinWien, S 145–164

6. Neumann H-J (1996) Geschichte der Lippen-,Kiefer-, Gaumenspalten. In: Andrä A, Neu-mann H-J (Hrsg) Lippen-, Kiefer-, Gau-menspalten, Einhorn, Reinbek, S 14–20

7. Orth J (1906) Das Pathologische Institut inBerlin. In: Orth J (Hrsg) Arbeiten aus demPathologischen Institut zu Berlin. Zur Feierder Vollendung der Instituts-Neubauten.Hirschwald, Berlin, S 1–76

8. Schumacher G-H (1993) Monster und Dämo-nen, Unfälle der Natur. Eine Kulturge-schichte. edition q, Berlin

9. Stürzbecher M (1966) Die Prosektur derBerliner Charité im Briefwechsel zwischenRobert Froriep und Rudolf Virchow. In:Stürzbecher M (Hrsg) Beiträge zur BerlinerMedizingeschichte, Bd 18. de Gruyter, BerlinNew York, S 136–225


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