ALLGEMEINMEDIZIN
Traumatologie: Einführung und Grundbegriffe
Generell kommt es bei einer Fraktur zur Durchtren-nung mikroskopischer und makroskopischer Struktu-ren eines Knochens, seiner Blutgefäße und ggf. umlie-gender Weichteilstrukturen8,16,20,21. Frakturen können durch unterschiedliche Mechanismen entstehen5,8:
spontane starke äußere Krafteinwirkung (z. B. bei Stürzen oder Unfällen),Ermüdungserscheinung des Knochengefüges durch chronisch wirkende Krafteinflüsse (Stressfraktur) oderBagatelltraumata infolge pathologischer Prozesse des Knochens (pathologische Fraktur, z. B. bei Osteo-porose, Metastasen oder Zysten).
Matthias Tröltzsch, Stefanie Kriegelstein, Florian Andreas Probst, Markus Tröltzsch, Sven Otto, Michael Ehrenfeld
Matthias Tröltzsch Dr. med. Dr. med. dent.Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und GesichtschirurgieLudwig-Maximilians-Universität MünchenLindwurmstraße 2a, 80337 Münchenund Praxis Dr. Dr. V. Tröltzsch, AnsbachE-Mail: [email protected]
Stefanie Kriegelstein Dr. med.Zentrum für Fuß- und SprunggelenkschirurgieSchön Klinik München-Harlaching
Florian Andreas Probst Dr. med. dent.Facharzt für Mund-, Kiefer- und GesichtschirurgieKlinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und GesichtschirurgieLudwig-Maximilians-Universität München
Markus Tröltzsch Dr. med. Dr. med. dent.Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und GesichtschirurgieUniversitätsmedizin Göttingenund Praxis Dr. Dr. V. Tröltzsch, Ansbach
Sven Otto Priv.-Doz. Dr. med. Dr. med. dent.Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und GesichtschirurgieLudwig-Maximilians-Universität München
Michael Ehrenfeld Prof. Dr. med. Dr. med. dent.Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und GesichtschirurgieLudwig-Maximilians-Universität München
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Knochen und Skelettsystem – von der Embryologie bis zur OsteoporoseTeil 2: Grundlagen der Traumatologie, Frakturheilung und Prinzipien der Osteosynthese
IndizesFraktur, Traumatologie, primäre Knochenheilung, sekundäre Knochenheilung, Osteosynthesematerial, Gesichtsschädelfraktur
ZusammenfassungZu knöchernen Verletzungen kommt es meist im Rahmen von Unfällen. Durch unter-schiedliche Unfallmechanismen, Krafteinwirkungen und biomechanische Eigenschaften der Knochen können dabei verschiedenste Frakturmuster auftreten. Für die Behandlung von Frakturen stehen konservative und operative Verfahren zur Verfügung, deren Ziel eine Wiederherstellung sowohl der Form als auch der Funktion ist. Entscheidende Schritte der Therapie sind nach korrekter klinischer und apparativer Diagnostik die anatomische Reposition der Knochenfragmente mit anschließender Ruhigstellung, um die Knochenheilung zu ermöglichen. Die Ruhigstellung kann durch „äußere“ Maßnahmen (Schienung, Gipse, Fixateure) oder Osteosynthese erreicht werden. In Abhängigkeit von den Verhältnissen im Frakturspalt treten unterschiedliche Knochenheilungsmuster auf. Obwohl der Knochen im Frakturspalt während des Heilungsprozesses neu aufgebaut werden muss, führt die Knochenheilung meist komplikationslos zur Restitutio ad integrum. Die geeignete Therapiemodalität ist grundsätzlich individuell auszuwählen und anzupassen. Korrekte Nachbehandlungs- und ggf. Rehabilitationsstrategien sind in der Traumatologie von zentraler Bedeutung.
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Als unmittelbare Folgen von Frakturen können Defor-mationen, Stabilitäts- und Funktionsverluste sowie Schmerzen auftreten21. Je nach Einwirkung des Trau-mas ergeben sich unterschiedlichste Frakturformen8, deren Morphologie durch ansetzende Muskelzüge be-einflusst werden kann (Abb. 1). So ist es beispielswei-se möglich, dass die Dislokation der Fragmente bei Frakturen des Unterkiefers im Bereich des Ramus ascendens, der Gelenkfortsatzbasis und des Gelenk-fortsatzes durch Muskelzug induziert oder verstärkt wird (Abb. 2a und b).
Das Frakturrisiko bei Männern ist in der 2. und 3. Lebensdekade (Sportunfälle, äußere Gewalteinwir-kung) und bei Frauen in der 6. und 7. Lebensdekade (Stürze, Osteoporose) am höchsten15. Frakturen der Extremitäten treten sehr oft als Frakturen der Schädel-knochen auf26. Die meisten dieser Frakturen betreffen den distalen Radius (Handgelenksfraktur), den proxima-len Femur (Schenkelhalsfraktur, besonders bei Osteo-porosepatienten) und das Sprunggelenk3,15. Im Gesichts-schädel kommt es in der Mittelgesichtsregion etwas häufiger zu knöchernen Verletzungen als im Bereich des Unterkiefers6,7,10. Das Risiko eines Knochenbruchs im Rahmen eines Unfalls wird mit etwa 20 % angegeben18.
Obwohl die Zahl von Unfällen grundsätzlich rückläu-fig ist, lässt sich in letzter Zeit aufgrund des demogra-phischen Wandels eine starke Zunahme von Frakturen bei älteren Patienten verzeichnen11,18,24. Verletzungen des Bewegungsapparates stellen bereits heutzutage mit allein durch Behandlungskosten (ohne Berücksichtigung von Rehabilitationskosten und Produktivitätsausfällen) entstehende Aufwendungen von über 10 Mrd. Euro jährlich einen enormen Kostenfaktor im Gesundheits-wesen dar2. Aufgrund der steigenden Anzahl betagter Frakturpatienten mit komplexer Begleitmorbidität ist in Zukunft eine weitere Steigerung der durch Trauma-versorgung bedingten Kosten zu erwarten11.
Die modernen Osteosyntheseverfahren und Rehabi-litationskonzepte wurden erst in jüngerer Zeit entwickelt. Zur Qualitätssteigerung und zur Vereinheitlichung von Konzepten für die Behandlung des muskuloskelettalen Systems wurde 1958 die Arbeitsgemeinschaft für Osteo-synthesefragen (AO) gegründet4,14,21. Die AO stellte
Abb. 1 1: Dislocatio ad longitudinem cum contractione
(Knochenfragmente disloziert, Dislokation durch Kontraktion
entlang der Knochenachse). 2: Dislocatio ad longitudinem
cum distractione (Knochenfragmente disloziert, Dislokation
durch Auseinanderweichen entlang der Knochenachse – hier
am Beispiel der Kniescheibe: Zug des Oberschenkelmuskels
zieht die Fragmente auseinander). 3: Dislocatio ad axim
(Knochenfragmente disloziert, Dislokation mit Achs-
abweichung). 4: Dislocatio ad latus (Knochenfragmente
gegeneinander verschoben). 5: Dislocatio ad peripheriam
(z. B. Spiralbruch). Modifiziert nach Horch und Herzog8
1
2
3
4
5
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den Unfallhergang kommen der klinischen Untersuchung (Tab. 1) und der apparativen Diagnostik (konventionelle und tomographische Röntgentechnik) wesentliche Be-deutung zu4,8,14,17,21,27. Zum genauen Verständnis des Verletzungsmusters sind Kenntnisse über die Kraft-einwirkung auf das betroffene Körperteil und die bio-mechanischen Eigenschaften der Knochen nötig4.
Erste Schritte der Traumatherapie bestehen neben allgemeinen kreislaufstabilisierenden und schmerz-reduzierenden Maßnahmen in der möglichst anato-misch korrekten Reposition dislozierter Knochenfrag-mente und der primären Ruhigstellung. Bereits diese Maßnahmen führen zu einer Verminderung der Schmerz-symptomatik und reduzieren den Blutverlust27. Im weiteren Verlauf werden grundsätzlich die nicht opera-tive (konservative) und die operative Frakturbehandlung unterschieden21. Ziel beider Verfahren ist die sichere Frakturheilung mit Wiederherstellung der Funktion.
damals vier Forderungen auf, welche die weitere Ent-wicklung der Frakturversorgung revolutionieren sollten und bis heute Gültigkeit haben4,21:1. Wiederherstellung anatomischer Verhältnisse und
physiologischer Achsen bei der Frakturreposition und Osteosynthese,
2. Erlangung relativer oder absoluter Stabilität bei der Frakturversorgung,
3. Berücksichtigung der Weichteile und Durchblutung in der Umgebung der Fraktur sowie
4. frühe und schonende Mobilisierung.
Behandlungskonzepte und Fraktur-heilung
Vor jeder Behandlungsplanung bei Frakturpatienten steht eine korrekte Diagnostik. Neben der Anamnese im Hinblick auf die Vorgeschichte des Traumas und ggf.
Sichere Frakturzeichen Unsichere FrakturzeichenDeformierung des frakturierten Knochens Hämatome und Schwellung
Abnorme Beweglichkeit im Bereich des Knochens
Druckschmerz
Krepitation (Reibegeräusch von Knochen-fragmenten gegeneinander)
Stauchungsschmerz
Offene Fraktur mit sichtbaren, freien Knochen-enden
Funktionelle Störung (z. B. Bewegungs-einschränkung)
Abb. 2a und b Fraktur im
Bereich des Unterkieferkorpus.
a: Frakturmorphologie und
Muskelzug stabilisieren die
Fraktur. b: Fraktur-
morphologie und Muskelzug
dislozieren die Fraktur.
Modifiziert nach Ochs und
Tucker17
Tab. 1 Sichere und unsichere
Frakturzeichen bei der
klinischen Untersuchung
traumatisierter Patienten4,17,27
a b
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erreicht (Abb. 3). Dabei geht die Heilung vom Periost, vom Endost und vom inter- bzw. perifragmentären Hämatom aus, die durch Einwanderung immunologisch kompetenter Zellen und Fibroblasten sowie Blutge-fäßneubildung zu Granulationsgewebe restrukturiert werden4,9,12. Dies führt zur Bildung des sogenannten weichen Kallus (stabilisiertes Bindegewebe)4,21. Wäh-rend die Fragmentränder vom Periost ausgehend durch desmale Ossifikation unter Bildung von Geflechtknochen verbunden werden, erfolgt die Verknöcherung im In-neren des Frakturspalts durch enchondrale Ossifikation
Nicht operative (konservative) Frakturbehandlung
Bei der konservativen Frakturbehandlung erfolgt die Reposition der Knochenfragmente geschlossen (ohne operative Zugänge von außen) mit nachfolgender Ru-higstellung8,21. Letztere kann an Extremitätenknochen durch Gipse und Schienen sowie in der Mundhöhle durch mandibulomaxilläre Fixation (z. B. über konfektionierte bzw. individualisierte Kieferbruchschienen oder Schrau-ben) erfolgen1,4,21. Mit Hilfe von konservativen Behand-lungsverfahren wird eine sekundäre Frakturheilung
Abb. 3 Einzelschritte der sekundären Knochenheilung. Modifiziert nach Unger et al.23
Frakturspalt
Ausbildung von Granulations-gewebe und weichem Kallus
Ausbildung des harten Kallus über desmale Ossifikation im Randbereich
Ausbildung von Knorpel im Zentrum des Frakturspalts und Beginn der enchondralen Ossifikation
Voranschreitende Ossifikation und beginnendes „bone remodelling“
Im günstigsten Fall kommt es zu einer Restitutio ad integrum
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Je nach Auswahl des Osteosyntheseverfahrens ist durch eine operative Frakturversorgung eine relative oder aber eine absolute Stabilisierung des Fraktur-spalts möglich4,21. Während es bei der relativen Stabi-lisierung (z. B. über externe Fixateure) zur sekundären Knochenheilung kommt, stellt sich bei der absoluten Stabilisierung eine primäre Knochenheilung ein4,12,21. Die absolute Stabilisierung (weitestgehende Vermei-dung von Mikrobewegungen im Frakturspalt) wird mit Hilfe einer Kompression der Knochenfragmente er-reicht4,21 (Abb. 4). Diese Kompression kann durch un-terschiedliche Techniken sowohl mit Platten als auch mit Schrauben erzielt werden4,21.
Bei der primären Knochenheilung wird kein Kallus gebildet12. Je nach Breite des Frakturspalts und Kon-taktfläche der Fragmente nach der Osteosynthese ver-binden sich die „zerrissenen“ Osteone entweder direkt (Kontaktheilung: guter Kontakt zwischen den Fragmen-ten, keine Mikrobewegungen) oder finden über eine kurze Zwischenphase der Granulationsgewebsbildung und des ungeordneten Lamellenknochens wieder zu-einander (Spaltheilung: minimaler Spalt zwischen den Fragmenten, sehr geringe Mikrobewegungen)4,9,12,21.
über die Vorstufe des Knorpels4,9,21,22. Die sekundäre Frakturheilung wird durch Umbauvorgänge („bone remodelling“) im Lamellenknochen sowie Mineralisa-tion beendet und dauert mehrere Wochen4,8,22. Dabei sollte die Ruhigstellung für den Zeitraum der Heilung erhalten bleiben4,8. Naturgemäß ist dies mit starken Einschränkungen der Funktion und des Patientenkom-forts verbunden.
Zur Kallusbildung muss eine gewisse mechanische Stimulation durch Mikrobewegungen erfolgen21. Über-schreiten diese Mikrobewegungen einen kritischen Grenzwert, so droht eine verzögerte Frakturheilung oder eine Pseudarthrosenbildung4,21.
Operative Frakturbehandlung
In vielen Fällen kann die Entscheidung zur operativen Frakturversorgung sinnvoll sein. Hiermit sollen fol-gende Ziele erreicht werden21:
langfristige Sicherung des Repositionsergebnisses,Erhöhung der Stabilität im Frakturspalt und dabeiweitere Schmerzreduktion durch Minimierung der Beweglichkeit im Frakturspalt.
Abb. 4 Annäherung der Knochenfragmente bei der Fraktur-
versorgung durch sogenannte Kompressionsplatten. Das
Plattendesign ermöglicht eine Annäherung der Fragmente
beim Eindrehen der Schrauben. Modifiziert nach Rüedi et al.21
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läre Schienung kommt bei der Frakturstabilisierung mit einem Marknagel, der mit Schrauben in korrekter Position im Knochenmark fi xiert wird, zum Einsatz21,27. In der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie überwiegt die Nutzung extramedullärer Verfahren (Schrauben, Platten, Fixateure)4,17, während in der Unfall- und Wie-derherstellungschirurgie alle Techniken durchgeführt werden21.
Osteosynthesematerialien gibt es je nach Einsatz-gebiet in unterschiedlichsten Stärken und Designs4,21 (Abb. 7). Bezüglich der Kraftverteilung im Frakturspalt nach Osteosynthese existieren zwei verschiedene Konzepte: die lasttragende („load-bearing“) und die lastverteilende („load-sharing“) Osteosynthese4,25. Bei Ersterer wird die gesamte Kraft vom Osteosynthese-material aufgenommen, wohingegen es bei Letzterer zur Kraftverteilung zwischen Osteosynthesematerial und Knochen kommt4,25. Lasttragende Osteosynthese-materialien weisen größere Dimensionen auf (Abb. 8) und werden angewendet, wenn keine Kraft auf den
Kontakt- und Spaltheilung können nebeneinander in einem absolut stabil osteosynthetisch versorgten Frak-turspalt ablaufen4,9 (Abb. 5).
Osteosynthesematerialien und operative Verfahren
Zur Durchführung von Osteosynthesen (operative Fixie rung von reponierten Frakturen) sind spezielle Materi alien und Techniken nötig. Grundsätzlich unter-scheidet man zwischen extramedullären (außen am Knochen angebracht) und intramedullären (im Innern des Knochens liegend) Stabilisierungen4,21. Bei der extramedullären Technik wird z. B. eine Platte dem Knochen nach Reposition der Fraktur angelagert und mit Schrauben befestigt. Ein weiteres Hilfsmittel zur extramedullären Stabilisierung ist der sogenannte Fixa-teur externe („äußerer Festhalter“), der insbesondere bei offenen Frakturen und ausgeprägten Trümmer-zonen Anwendung fi ndet4,19 (Abb. 6). Die intramedul-
Abb. 5 Direkte Verbindung
der Osteone im absolut stabil
fi xierten Frakturspalt.
Modifi ziert nach Ehrenfeld et al.4
Frakturspalt Spongiosa
Osteone
Osteosynthese-platte
Osteone vereinigen sich über den Frakturspalt hinweg
Frakturspalt Periost
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Abb. 6 Beispiel eines am Unterkiefer
angebrachten „Fixateur externe“.
Modifiziert nach Ehrenfeld et al.4 und
Probst et al.19
Abb. 8 Beispiel einer Osteosyntheseplatte für eine
lasttragende Osteosynthese. Abdruck mit freundlicher
Genehmigung der Firma KLS Martin, Tuttlingen
Abb. 7 Beispiel für Osteosyntheseplatten, die bei
Frakturen im Bereich des Mittelgesichts Anwendung finden.
Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Firma KLS
Martin, Tuttlingen
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Krankheitsbilder in der Mund-, Kiefer- und Gesichts-chirurgie soll hier exemplarisch nur auf die Versorgung von Frakturen des Unterkieferkorpus eingegangen werden. Kommt es bei einer Kraftwirkung auf den Un-terkiefer zum Knochenbruch, so sind unterschiedliche Szenarien denkbar4,8,17:
Einfachfrakturen mit und ohne Dislokation der Fragmente (Abb. 9a und b),Mehrfachfrakturen undTrümmerfrakturen.
Die Diagnosesicherung erfolgt immer mittels Anam ne -se, klinischer Untersuchungstechniken sowie Rönt gen-dia gnostik in zwei Ebenen (z. B. Panoramaschicht- und Clementschitsch-Aufnahme) und/oder mit tomogra-phischen Röntgenverfahren (CT, DVT)4. Durch die Kon-tinui tätsdurchtrennung der Unterkieferspange kann es zum Funktionsverlust mit Okklusionsstörungen und Kieferöffnungseinschränkungen kommen. Ziel jedweder Frak tur versorgung muss also die Wiederherstellung von Okklusion, Artikulation und ausreichender Kiefer-öffnung sein1,4,17. Wie oben beschrieben erfolgt als Primärtherapie die Ruhigstellung. Für Unterkieferfrak-turen steht hier die mandibulomaxilläre Fixation durch Drähte oder Gummis mit Hilfe von Schrauben oder Kieferbruchschienen zur Verfügung1,4,13,14 (Abb. 10). Dadurch werden zum einen korrekte okklusale Ver-hältnisse wiederhergestellt, und zum anderen wird eine erste Reposition der Fragmente bewirkt. Im Rahmen einer konservativen Frakturversorgung wäre nun das Ziel bereits erreicht, wobei die Ruhigstellung über mandibulomaxilläre Fixation allerdings mehrere Wo-chen bestehen bleiben muss4,8. Als Alter native kann die operative Versorgung durchgeführt werden. Wird ein operatives Vorgehen mit offener Reposition und Osteosynthese der Fraktur gewählt, so ergeben sich folgende Vorteile4,17:
Eine rigide mandibulomaxilläre Fixation muss nur während der Operation erfolgen.Post operationem sind eine Bewegung und eine begrenzte Belastung des Unterkiefers möglich.Das Risiko einer sekundären Dislokation der Frag-mente wird minimiert.
Frakturspalt wirken darf (Defekt-, Trümmerfrakturen, Frakturen bei schlechter Knochenqualität oder im atro-phen Kiefer)4,25.
Obwohl die Ruhigstellung nach der operativen Frak-turversorgung nicht im gleichen Ausmaß und Zeitraum wie bei der konservativen Versorgung durchgeführt wer-den muss, ist auch hier eine sorgfältige Nachbehand-lung notwendig. Bei der postoperativen Nachbehand-lung besteht ein Unterschied zwischen belastungs- und übungsstabilen Verfahren4,21. Je stabiler die Versorgung ist, desto früher kann eine Belastung (z. B. bei der intra-medullären Nagelosteosynthese einer Unterschenkel-fraktur) erfolgen. Gerade bei gelenk nahen Frakturen soll eine postoperative Arthrofibrose (Einsteifung) durch Frühmobilisation verhindert werden. Die Gelenkbeweg-lichkeit lässt sich mit Hilfe der operativen Stabilisierung (z. B. Plattenosteosynthese) auch bei voller Entlastung aufrechterhalten27. Eine gelenkübergreifende Ruhigstel-lung ist damit nicht zwingend erforderlich, kann jedoch vorübergehend etwa bei Trümmerfrakturen geboten sein (Tab. 2). In der Traumatologie der Extremitäten ist post operationem oft auch nur eine Bandage oder Schiene für kurze Zeit notwendig, so dass frühzeitig mit der krankengymnastischen Mobilisation begonnen werden kann. Hiermit soll die postoperative Komplika-tionsrate gesenkt und die Muskelatrophie durch lange Ruhigstellung reduziert werden4.
Spezielle Traumatologie des Gesichtsschädels
Ziel bei Frakturen der Kiefer- und Schädelknochen ist die Wiederherstellung von Funktion und Ästhetik. Auf-grund der zahlreichen, komplexen traumatologischen
Lokalisation/Fraktur OsteosyntheseDistale Radiusfraktur Platte mit Schrauben
Innenknöchelfraktur Schrauben
Oberschenkelschaftfraktur Marknagel
Tab. 2 Ausgewählte Osteosyntheseverfahren bei Frakturen
der Extremitäten
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Abb. 9a und b Fraktur im Bereich des Unterkieferkorpus. a: Dislocatio ad latus. b: Dislocatio ad longitudinem cum contractione.
Modifi ziert nach Horch und Herzog8
a b
Abb. 10 Mandibulomaxilläre Fixation
durch konfektionierte Kieferbruchschienen,
stabile Fixierung über Drahtligaturen.
Modifi ziert nach Ehrenfeld et al.4
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wendige Stabilität der Versorgung über die Kompres-sion der basal liegenden Platten erreicht4. Um ein Auseinanderweichen der Fragmente bei Kompression im basalen Bereich zu verhindern, war die weiter krestal liegende Platte nötig4 (Abb. 11b). Bei einer der-artigen Versorgung ist die Stabilität durch Osteosyn-thesen ausreichend und eine postoperative Ruhigstel-lung über mandibulomaxilläre Fixation nicht indiziert, wodurch der Patientenkomfort erhöht wird.
Resümee
Bei der Behandlungsplanung traumatologischer Fälle müssen individuell unterschiedliche biomechanische und pathophysiologische Zusammenhänge berück-sichtigt werden. So können sich Therapieprinzipien und Nachbehandlungsstrategien je nach Körperregion und Art des betroffenen Knochens unterscheiden. Eine wesentliche Rolle bei der Wahl der geeigneten Thera-pieform spielen neben der Frakturmorphologie und -lokalisation auch die Knochenqualität, die Komorbidi-tät, die kognitiven Fähigkeiten, das Alter und natürlich die Wünsche des Patienten.
Diesen Vorteilen stehen natürlich mögliche Komplika-tionen von Operationen gegenüber, welche an dieser Stelle nicht detailliert diskutiert werden sollen. Somit ist für jeden Patienten ein individuelles Behandlungs-konzept zu erarbeiten4. Viele operative Versorgungen von Unterkieferkorpusfrakturen können über intraorale Zugänge operativ behandelt werden, so dass es nicht zu ästhetisch störenden Narben oder Schädigungen der peripheren Äste des Nervus facialis kommt4,8,17.
Als Beispiel für ein operatives Vorgehen soll ab-schließend die Versorgung einer zweifachen Unterkie-ferfraktur (Kieferwinkel links und Symphysenbereich) erläutert werden. Bei dem in Abbildung 11a gezeigten Patienten wurde aufgrund starker Instabilität sowie ausgeprägter Dislokation und Diastase der Fragmente ein operatives Vorgehen mit offener Reposition und Osteosynthese der Frakturen gewählt. Während des Eingriffs erfolgte die Okklusionssicherung durch man-dibulomaxilläre Fixation über konfektionierte Kiefer-bruchschienen. Als Technik kam eine lastverteilende Osteosynthese mit je zwei Miniplatten pro Frakturlinie zum Einsatz4,25 (Abb. 11b). Aufgrund der biomechani-schen Eigenschaften des Unterkiefers wurde die not-
Abb. 11a 3-D-Rekonstruktion einer Computertomographie
von einer zweifachen Unterkieferfraktur im Bereich des
linksseitigen Unterkieferkorpus
Abb. 11b 3-D-Rekonstruktion einer Computertomographie
zur Kontrolle des Repositionsergebnisses nach lastverteilen-
der Osteosynthese mit Miniplatten. Intraoperative Einstellung
der Okklusion über konfektionierte Kieferbruchschienen
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Mögliche Frakturfolgen Stabilitätsverlust, Deformation, Schmerzen
Diagnostik sichere/unsichere Frakturzeichen, Röntgen (vor allem konventionelle Techniken, Computertomo-graphie, ggf. digitale Volumentomographie)
Therapie konservative oder operative Frakturversorgung
primäre Knochenheilung tritt im günstigsten Fall bei der operativen Frakturversorgung auf, absolute Stabilität im Frakturspalt nötig, direkte „Überbrückung“ des Frakturspalts
sekundäre Frakturheilung bei konservativer Frakturversorgung, Knochenheilung über Kallusbildung
Osteosyntheseprinzipien intramedulläre und extramedulläre Verfahren
Osteosynthesematerialien Platten, Schrauben, Nägel, Drähte, Fixateure
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Frakturheilung und Osteosyntheseprinzipien
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