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KKV · Schule in Rostock, Anna Keussen von der Maria‐Montessori‐Gesamt‐ ... schauen, so ist...

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KKV Fördererkreis für Bildungsarbeit des KKV e.V. (Hrsg.) „Darf der Mensch alles, was er kann?“ - Bioethische Grenzen der Forschung - Dokumentation zum Aufsatzwettbewerb 2014 KKV Verband der Katholiken in Wirtschaſt und Verwaltung
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KKV

Fördererkreis für Bildungsarbeit des KKV e.V. (Hrsg.)

„Darf der Mensch alles,was er kann?“

- Bioethische Grenzen der Forschung -

Dokumentation zumAufsatzwettbewerb 2014

KKV Verband der Katholiken in Wirtschaft und Verwaltung

Fördererkreis für Bildungsarbeit des KKV e.V. (Hrsg.)

Aufsatzwettbewerb 2014

„Darf der Mensch alles, was er kann?“

- Bioethische Grenzen der Forschung -

© Fördererkreis für Bildungsarbeit des KKV e.V. (Hrsg.) Bismarckstraße 61, 45128 Essen

Essen 2015

Printed in Germany. Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Norbert Gebker, Münster Satz, Layout und Redaktion: Norbert Gebker, Münster Gesamtherstellung: WWF Druck + Medien GmbH, Greven Bildrechte Titelseite: ktdesign / 123RF Stockfoto; S. 64: „Spahnteam“

Für die Drucklegung wurden die Aufsätze redaktionell bearbeitet und aktualisiert.

Sehr geehrte Damen und Herren, 

 

„Darf der Mensch alles was er kann? ‐ 

Bioethische Grenzen der Forschung“ 

war  das  Thema  eines  Aufsatzwettbewerbs,  den  der  Fördererkreis  für 

Bildungsarbeit im KKV e.V. im Verband der Katholiken in Wirtschaft und 

Verwaltung in 2014 für Schülerinnen und Schüler der Oberstufe an ka‐

tholischen Gymnasien, Gesamtschulen und Berufskollegs  in Deutsch‐

land ausgeschrieben hatte. 

Der KKV verfolgt mit großer Aufmerksamkeit die Geschehnisse  in 

unserer Gesellschaft und  setzt  sich neben  sozial‐ und wirtschaftsethi‐

schen Themen auch mit der Frage nach den ethischen Grenzen für Wis‐

senschaft  und  Forschung  auseinander.  Hier  sieht  sich  der  Verband 

entsprechend seinem Selbstverständnis in einer besonderen Verantwor‐

tung,  wonach  das  christlich  geprägte  Bild  vom Menschen  zentraler 

Mittelpunkt unseres Wirkens ist. 

In seiner Wettbewerbsausschreibung macht der Fördererkreis für Bil‐

dungsarbeit  des  KKV  deutlich,  dass  mit  der  Weiterentwicklung  der 

Technik die Menschen  ihre Handlungsmöglichkeiten  vervielfacht  ha‐

ben und in vielen Dingen nicht mehr auf das angewiesen sind, was die 

Natur bietet. Der Mensch kann aktiv Einfluss auf  seine Umwelt neh‐

men und diese somit auch verändern. Durch den technologischen Fort‐

schritt stellen sich völlig neue ethische Fragen und Probleme, für die es 

keine überlieferten Entscheidungsmuster gibt. 

Folgende Fragen  sollten von den Teilnehmern des Aufsatzwettbe‐

werbs anspruchsvoll und ergebnisoffen behandelt werden: „Was sollen 

oder dürfen wir tun ‐ und was nicht? Was ist gut, was ist schlecht? Was 

ist richtig, was ist falsch? Gibt es Gesetze für richtiges und gutes Han‐

deln? Sind solche Gesetze von der Natur oder von Gott gegeben, oder 

müssen wir sie selber aufstellen?“ 

Mit dem Präsidenten des Zentralkomitees der deutschen Katholiken 

(ZdK), Alois Glück, konnte  ein prominenter und aufgrund  seiner ge‐

nannten  Funktion  mit  dem  Thema  Bioethik  durchaus  vertrauter 

Schirmherr für den Aufsatzwettbewerb gefunden werden. 

Eine Jury mit Sachverständigen aus den Bereichen Wissenschaft, Po‐

litik und Bildung, bestehend aus Jens Spahn (ehem. gesundheitspoliti‐

scher  Sprecher  der  CDU/CSU‐Bundesfraktion),  Prof.  Dr.  Dr.  Sigrid 

3

 

Graumann (Ev. Fachhochschule Rheinland‐Westfalen‐Lippe), Prof. Dr. 

Andreas Frewer  (Institut  für Geschichte und Ethik der Medizin, Uni‐

versität Erlangen), Prof. em. Dr. Dietmar Mieth (Universität Tübingen), 

Prof.  Dr.  Peter  Schallenberg  (Geistlicher  Beirat  des  KKV‐Bundes‐

verbandes) sowie Prof. Dr. Franz Bölsker (Leiter der Abteilung Schule 

und Erziehung  im Bischöflich Münsterschen Offizialat, Vechta), beur‐

teilte die zahlreich eingegangenen Aufsätze, von denen schließlich drei 

dem Fördererkreis für Bildungsarbeit des KKV als Erstplatzierte präsentiert 

wurden.  Für  dieses  herausragende  Engagement  danken  wir  dem 

Schirmherrn und den Mitgliedern der Jury ganz besonders herzlich. 

Im Rahmen einer  festlichen Stunde am 17. April 2015  in der Saar‐

ländischen Landesvertretung in Berlin nahmen die VerfasserInnen der 

drei preisgekrönten Aufsätze, Richard Neumeyer von der Don‐Bosco‐

Schule  in Rostock, Anna Keussen von der Maria‐Montessori‐Gesamt‐

schule  in Krefeld und Regina Kirschner vom St. Mariengymnasium  in 

Regensburg, aus der Hand des stellvertretenden Vorsitzenden des För‐

dererkreises, Staatssekretär a.D. Dr. Joachim Gottschalk, die Urkunden 

und  Preisgelder  entgegen.  Einen  Sonderpreis  erhielt  die  Rostocker 

Don‐Bosco‐Schule. Diese hatte sich besonders engagiert und den Wett‐

bewerb in die Klausurarbeiten von Oberstufenklassen integriert. 

Ermutigt durch die Resonanz und das Ergebnis des Aufsatzwettbe‐

werbs  ist die Veröffentlichung der preisgekrönten Aufsätze von dem 

Wunsch getragen, dass der öffentliche Diskurs um bioethische Fragen 

im  Sinne  der  Bewahrung  der  Schöpfung  und  der Würde  und  dem 

Schutz menschlichen Lebens weitergeführt und intensiviert wird. 

Bei der Lektüre der Aufsätze wird deutlich werden, dass die Verfas‐

serInnen verschiedene Zugänge zur Thematik gewählt haben, aber alle 

drei gleichermaßen mit einem erstaunlich hohen Grad an intellektueller 

Durchdringung und inhaltlicher Differenzierung. 

Von Seiten des Fördererkreises und der  Jury gilt es den drei Preis‐

trägerInnen wie  auch  den  Verfasserinnen  und  Verfassern  der  vielen 

anderen  guten  und  bemerkenswerten Aufsätze,  die  im  Rahmen  des 

Wettbewerbs  eingereicht wurden,  für  ihre Mühe  und  Kreativität  zu 

danken. 

 

Georg Konen Vorsitzender des Förderkreises für Bildungsarbeit des KKV e.V.   

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Alois Glück 

Grußwort Aufsatzwettbewerb 2014 

„Darf der Mensch alles, was er kann? – 

Bioethische Grenzen der Forschung“ 

Mit den Entwicklungen  in den Wissenschaften der Biologie,  insbeson‐

dere der Gentechnik,  bekommt dieser Leitsatz mit der Aufforderung 

zur Selbstbegrenzung aber eine ganz neue Dimension und Dringlich‐

keit. Die Erfassung des Genpotentials des Menschen mit  einem Voll‐

screening der Erbanlagen  ist bereits möglich und wird demnächst auf 

dem Markt  allgemein  angeboten. Was  bedeutet  eine  solche Entwick‐

lung an Möglichkeiten, an Versuchungen zur „Selbstoptimierung“ und 

an Gefahren? 

Es gibt eine große Übereinstimmung, dass ein Eingriff in die Keim‐

bahnen und damit  eine  irreversible Weitergabe von Eingriffen  in die 

folgenden Generationen verboten bleiben muss. Das ist eine allgemein 

akzeptierte Grenze. Aber  es  gibt  immer mehr Möglichkeiten  auf  der 

Basis der Erkenntnisse der Gendiagnostik den Menschen zu manipulie‐

ren.  Diese  Entwicklungen  sind  in  einer  Meldung  der  Katholischen 

Nachrichtenagentur  vom  18.  November  2014  unter  der  Überschrift 

„Genetische Optimierung“ eindringlich beschrieben. 

Zitat:  „Hinter dem Wunsch nach genetischen Verbesserungen  ste‐

hen laut Welling (Anm.: Juristin Dr. Lioba Welling, Forschungsverbund 

Religion und Politik der Uni Münster) ähnliche Motive wie bei Schön‐

heitsoperationen,  Doping  oder  hohen  Bildungsinvestitionen.  „Die 

Hoffnung auf Schönheit, Gesundheit, Leistung und Erfolg.“ Die Wis‐

senschaftlerin weist dann darauf hin, dass das Einfügen der erwünsch‐

ten Gensequenzen  ins Genom rechtlich nicht mehr verhindert werden 

könnte, wenn die Wissenschaft garantieren kann, dass dieser Eingriff 

nicht zu Behinderungen oder Krankheiten  führen oder ein Eingriff  in 

die  Keimbahnzellen  sind.  Der  weltanschaulich  neutrale  Staat  dürfe 

auch aus religiösen Argumenten solche Entwicklungen nicht verbieten. 

Deshalb  ist  es  so wichtig,  dass wir  uns, wie mit  diesem Aufsatz‐

wettbewerb, mit  den  Auswirkungen  auf  das Menschenbild,  auf  die 

Leitbilder in der Gesellschaft und alle damit verbundenen Konsequen‐

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zen auseinandersetzen. An welchen Leitbildern wollen wir unser Zu‐

sammenleben  künftig  orientieren?  Welche  Rolle  kommt  dabei  dem 

Staat  zu?  Zeigt  sich  unsere  Stärke  weiterhin  im  Umgang  mit  den 

Schwächsten oder wird unser Verhalten künftig nach den Möglichkei‐

ten des technischen Fortschritts bestimmt? 

Die wissenschaftlichen Erkenntnisse  haben undenkbare Hilfen  für 

kranke Menschen gebracht, sie  führen aber auch zu einer  früher nicht 

denkbaren Herausforderung, zu notwendigen Grenzziehungen und zu 

Entscheidungen.  Dafür  ist  genau  die  Auseinandersetzung  und Mei‐

nungsbildung  notwendig,  die  dieser Aufsatzwettbewerb  zum Thema 

hatte. 

Dieser Impuls des Wettbewerbs muss weiterwirken in eine öffentli‐

che Debatte über Werte und Leitbilder. 

Für  uns  ist  das  christliche Menschenbild  dabei Orientierung  und 

Maßstab. Danach hat  jeder Mensch dieselbe Würde, unabhängig von 

Alt oder  Jung, ob  leistungsfähig oder hilfsbedürftig, unabhängig von 

Rasse und Religion. 

Das ist der unverzichtbare Maßstab für eine humane Zukunft. 

 

 

Alois Glück 

Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken 

März 2015 

   

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Prof. Dr. Franz Bölsker ‐ Leiter der Abteilung „Schule und Erziehung“, 

Bischöflich Münstersches Offizialat Oldenburg 

Vorwort 

In wohl keiner Phase der Menschheitsgeschichte hat das Gesamtvolu‐

men  des  zur  Verfügung  stehenden  naturwissenschaftlichen Wissens 

einen so enormen Zuwachs erfahren wie in den vergangenen Jahrzehn‐

ten  und  insbesondere  in den  zurückliegenden  Jahren  seit der  letzten 

Jahrtausendwende, und schon für die nähere Zukunft wird mit einem 

immensen  und  sich  sogar  noch weiter  beschleunigenden Wissenszu‐

wachs  zu  rechnen  sein. Mit  dem  historisch  beispiellosen Anwachsen 

wissenschaftlicher Kenntnisse nahm und nimmt freilich auch die fach‐

liche Differenzierung wissenschaftlicher Forschung weiter zu,  so dass 

es selbst führenden Wissenschaftlern zunehmend schwer fällt, schon in 

ihrem eigenen Fachgebiet einen Überblick über die vielfältigen Ergeb‐

nisse der  sich  immer weiter  verzweigenden  Forschungslandschaft  zu 

behalten. Je mehr die Menschheit insgesamt an Wissen gewinnt, desto 

mehr  scheint  sich der einzelne Mensch – und auch der einzelne Wis‐

senschaftler  –  in der Masse  segmentierter Wissensbestände  zu verlie‐

ren. Und wenn  sich  schon die  „scientific  communitiy“  als  solche  zu‐

nehmend außerstande sieht, den Wissenszuwachs  insgesamt zu über‐

schauen,  so  ist  eine  solche Reflexion und Würdigung  in Hinblick auf 

Nutzen,  Folgen  oder  gar  Risiken  durch  die  Gesellschaft  insgesamt 

kaum noch zu leisten, weder durch ihre Organe politischer Willensbil‐

dung und politische Parteien noch durch die Medien und zivilgesell‐

schaftliche  Instanzen,  von  denen  eine  kritische  Sichtung  und Würdi‐

gung des wissenschaftlichen Fortschritts auch und gerade  in ethischer 

Hinsicht noch am ehesten zu erwarten wäre. 

Droht dem  (einzelnen) Menschen aufgrund der Dynamik des wis‐

senschaftlichen Fortschritts am Ende ein Rollenwechsel vom kreativen 

Akteur  zum  hilflosen  Gegenstand  der  Entwicklung?  So  könnte  eine 

erste bange Frage angesichts der Wissensexplosion in unserer Zeit lau‐

ten. 

Eine solche Frage stellt sich umso dringlicher, als naturwissenschaft‐

lich‐technische Forschung heute im Wesentlichen anwendungsbezogen 

erfolgt. Wenn wirtschaftliche  Interessen  nicht  ohnehin  schon den Er‐

kenntniszielen  einzelner Forschungsprojekte  zu Grunde  liegen,  so  er‐

zwingt die auf Wettbewerb und Angebotsoptimierung  fixierte ökono‐

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mische  Struktur  unserer modernen Welt,  verbunden mit  staatlichen 

Interessen  im  militärisch‐industriellen  Bereich,  eine  weitestgehende, 

ökonomische Inwertsetzung „vermarktungsfähiger“ wissenschaftlicher 

Fortschritte. 

Wir stehen also vor einer paradoxen Situation: Die Menschheit weiß 

immer  mehr  und  ökonomische  Zwänge  bewirken  tendenziell  eine 

schnellstmögliche Anwendung des neugewonnenen Wissens, aber die 

Möglichkeiten der Menschen  –  als  Individuen wie  als Gesellschaft  –, 

einen Überblick über Wissenszuwächse und Anwendungsoptionen zu 

behalten, sie allein oder im gesellschaftlich‐politischen Diskurs kritisch 

zu  reflektieren,  dabei mögliche Risiken  bzw.  nicht  intendierte  Folge‐

wirkungen zu antizipieren, ggf. auch ethische Positionierungen vorzu‐

nehmen und  schließlich  auch  rechtliche  Schranken  zu  errichten, neh‐

men – in Relation zu den immer schneller wachsenden Wissensbestän‐

den und Anwendungsmöglichkeiten – tendenziell eher ab. 

Diese  Erkenntnis  gibt  im  höchsten Maße Anlass  zur  Sorge  ange‐

sichts des eigentlich selbst erklärenden und ja auch heute noch gültigen 

ethischen Postulats, dass dem Menschen als solchem, also der Mensch‐

heit  insgesamt, mit  jedem Mehr an Wissen und damit  jedem Mehr an 

Fähigkeiten, die natürlichen Grundlagen der eigenen Existenz zu ver‐

ändern, ein entsprechendes Mehr an Verantwortung  für diese natürli‐

chen Grundlagen, also die Schöpfung einschließlich der unmittelbaren 

Voraussetzungen menschlichen Lebens zuwächst. 

Dieses  größer werdende Gefälle  zwischen der dem Menschen  zu‐

gewachsenen und  ihm weiterzuwachsenden Verantwortung einerseits 

und  andererseits  seinen Möglichkeiten, dieser Verantwortung  ethisch 

wie auch politisch‐rechtlich gerecht zu werden, ist bei einem Blick auf 

die Gegenwart und die  jüngere Vergangenheit  in vielen Bereichen zu 

erkennen,  etwa  im  Bereich  Nukleartechnologie,  Atomrüstung  und 

Atomkraft,  im  Bereich  der  technologischen  Möglichkeiten  und  der 

realen Praxis der Energiegewinnung,  im gesamten Bereich der Erfor‐

schung  und  Nutzung  unserer  natürlichen  Ressourcen  einschließlich 

aller  ökologischer  Folgewirkungen  und  ebenso  auch  im  Bereich  der 

Gen‐Technologie,  bei der  zu  erwartende Nutzungspotenziale mit Be‐

fürchtungen  in Hinblick  auf  kaum  abschätzbare Risiken  für die Um‐

welt und damit auch das menschliche Leben selbst kontrastieren. 

Theologisch  könnte man  formulieren,  dass  der Mensch  als Krone 

der Schöpfung, der von Gott mit dem Recht auf deren Nutzung auch 

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ein Auftrag zu deren Pflege und Bewahrung erhalten hat, derzeit  im‐

mer  weniger  in  der  Lage  ist,  der  ihm  übertragenen  Verantwortung 

gerecht zu werden. Zwar nicht in „böser Absicht“, aber durchaus auf‐

grund  einer  strukturellen  Zwangsläufigkeit  ist  der  Mensch,  die 

Menschheit als ganze, derzeit offenbar angetreten, aus der ihr von Gott 

zugewiesenen Rolle einer bewahrenden Nutzerin der Schöpfung aus‐

zubrechen  und diese  aufgrund der  erfolgten  und weiter  erfolgenden 

wissenschaftlichen Durchdringung und des damit gegebenen Mehr an 

Verfügbarkeit  der  natürlichen  Lebensgrundlagen  durch massive  Ein‐

griffe dauerhaft zu verändern. 

Dabei reicht das Spektrum der „Veränderungen“ von Störungen na‐

türlicher  und  klimatischer  Kreisläufe,  die  in  Hinblick  etwa  auf  das 

durch den Menschen verursachte Artensterben und die Irreversibilität 

des  ebenfalls  durch  den Menschen  bewirkten Klimawandel  und  den 

nicht mehr zu ersetzenden Verlust an natürlichen Ressourcen zum Teil 

durchaus  als Zerstörungsvorgänge  zu  betrachten  sind,  bis  zu Versu‐

chen von „Um‐“ und „Neuschöpfung“, die sich offenbar nicht auf ge‐

netische „Optimierungen“ von Pflanzen und Tieren beschränken, son‐

dern sich anschicken, auch den Menschen selbst zum Gegenstand ent‐

sprechender „Verbesserungen“ zu machen. 

Die ethischen, gesellschaftlich‐politischen und rechtlichen Debatten 

um die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens, bislang im Wesentli‐

chen bezogen  auf dessen Anfang und dessen Ende, haben durch die 

sich  abzeichnenden,  aber  letztlich  nicht  vollständig  antizipierbaren 

Möglichkeiten, menschliches  Erbgut  zu  entschlüsseln  und  zu  verän‐

dern,  zusätzliche  Brisanz  erhalten. Die  – wie  schon  ausgeführt  –  für 

viele Bereiche unserer heutigen Lebenswelt erkennbare Spannung zwi‐

schen dem enorm angewachsenen wissenschaftlichen Kenntnissen und 

daraus  erwachsenen Anwendungspotenzialen  einerseits und anderer‐

seits den  enormen Schwierigkeiten, dem der Menschheit damit zuge‐

wachsenen höheren Maß an Verantwortung gerecht zu werden, zeigt 

sich derzeit in diesem Bereich in besonderem Maße. 

Insbesondere die darin zu erblickende Ambivalenz dieser Thematik, 

dass  wissenschaftlich‐medizinische  Fortschritte  im  Bereich  der  Hu‐

mangenetik die Menschen  in Zukunft eventuell endgültig von schwe‐

ren Krankheiten, vielleicht auch von der Menschheitsgeißel Krebs, be‐

freien könnten, sich aber andererseits künftig Möglichkeiten biologisch‐

genetischer  „Optimierung“  des Menschen  (oder  einzelner Menschen 

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bzw.  Menschengruppen)  auftun  werden  mit  unabsehbaren  gesell‐

schaftlich‐politischen,  sozialen  und  rechtlichen  Konsequenzen,  stellt 

eine gewaltige Herausforderung in Hinblick auf eine ethische Reflexion 

und ethische Positionierungen dar und  in der Folge auch  in Hinblick 

auf entsprechend politisch‐rechtliche Entscheidungen. 

 

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KKV

Programm

Musik Luigi Boccherini: Sonata in C-Dur (Allegro moderato)

Begrüßung Georg Konen, Oldenburg Vorsitzender des Fördererkreises für Bildungsarbeit des KKV

Grußworte Schirmherr Alois Glück, Präsident des ZdK (vorgetr. durch Staatssekretär a.D. Dr. Hans-Joachim Gottschalk)

Prof. Dr. Patrick Sensburg, MdB Stellv. Bundesverbandsvorsitzender des KKV

Musik Jean-Baptiste Barrière: Sonata No. 10 in G-Dur (Andante)

Festvortrag Prof. Dr. Andreas Frewer, M.A. Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

„Darf die Medizin alles, was sie kann? Entwicklung und Ethik der Forschung am Menschen“

Preisverleihung Dr. Hans-Joachim Gottschalk Staatssekretär a.D.

Musik Nicholas Roubanis: Misirlou - arranged by 2Cellos

Schlusswort Bernd-M. Wehner Bundesverbandsvorsitzender des KKV - Verband der Katholiken in Wirtschaft und Verwaltung -

Musikalische Gestaltung:„Cello Duo“

Esther Thoben und Tadashi Forck, Berlin

Das Programm der Preisverleihung

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Preisträgerinnen und Preisträger

Bild: Konen

v.l.: Georg Konen, Helga Dannbeck, Richard Neumeyer, Anna Keussen, Regina Kirschner, Dr. Hans-Joachim Gottschalk

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Prof. Dr. med. Andreas Frewer, M.A.

Institut für Geschichte und Ethik der Medizin Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Festvortrag anlässlich der Preisverleihung zum Aufsatzwettbewerb des Fördererkreises für Bildungsarbeit des KKV e.V. am 17. April 2015 in Berlin

Darf die Medizin alles, was sie kann? Ethik und Menschenrechte in der Geschichte der Forschung

Inhaltsverzeichnis

1. Auftakt: Forschung an Kindern im frühen 20. Jahrhundert ........... 14

2. Zur Geschichte des Menschenversuchs ............................................. 15

2.1 Entwicklungen vom Altertum bis in die Frühe Neuzeit ................. 15

2.2 Neue Errungenschaften und Forschungsprobleme im 19. Jahrhundert ...................................................................................... 18

2.3 Missbrauchsfälle bewirken Konsequenzen für die Wissenschaft .......................................................................................... 19

3. Forschungsethik im 20. Jahrhundert: Von Nürnberg nach Helsinki .............................................................. 21

3.1 Humanexperimente im „Dritten Reich“ ............................................ 22

3.2 Die Deklaration von Helsinki (1964) als heutiger Standard ........... 23

3.3 Zentrale Richtlinien der Deklaration von Helsinki in der Übersicht ................................................................................................ 24

3.4 Ausgewählte Forschungsskandale in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts .................................................................................... 25

3.5 Versuche in den USA und der DDR ................................................... 25

4. Ethische Qualitätssicherung internationaler Forschung –Schlussüberlegungen............................................................................ 26

5. Literatur ................................................................................................. 28

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Die Frage des Aufsatzwettbewerbs „Darf der Mensch alles, was er kann? Bioethische Grenzen der Forschung“ berührt grundlegende mo-ralische und menschenrechtliche Dimensionen von Wissenschaft und Gesellschaft. Im vorliegenden Beitrag soll der Schwerpunkt sowohl in Bezug auf den Obertitel – Konzentration auf die Humanmedizin – als auch auf die Fragen der Bioethik deutlich eingegrenzt werden, um den zeitlichen wie auch quantitativen Rahmen nicht zu überschreiten. Dabei werden die historische Entwicklung und ausgewählte Probleme bioethischer Forschung exemplarisch beleuchtet, um einige Grundkon-stellationen zu illustrieren.1 1. Auftakt: Forschung an Kindern im frühen 20. Jahrhundert

Als Eingangsbeispiel soll eine wichtige Forschungsfrage aus dem ersten Viertel des 20. Jahrhunderts genommen werden: „Wie können Kinder feste Knochen bekommen?“ In Berlin wurden Experimente mit „Vigan-tol“ (Vitamin D) zur Vermeidung von „Rachitis“, der verbreiteten und gefährlichen Mangelerkrankung durchgeführt. In der Weimarer Repu-blik gerieten Berliner Kinderärzte in ethische Debatten: Bei Studien zur Prophylaxe der Knochenerweichung aufgrund fehlender Calcium-Ab-sorption bei Vitamin D-Mangel hatten Pädiater Experimente betrieben, in denen (Waisen-)Kinder im Keller der Klinik leben mussten, um die Wirkung einer künstlichen Vitaminsubstitution zu untersuchen.2 Nicht nur die sprachliche Ausdrucksweise der beteiligten Kinderärzte mit Passagen wie „wir taten dies an einem Material von 100 Ratten und 20 Kindern“ zeigte die problematische Perspektive, sondern dass Kinder aus den ärmsten Teilen der Bevölkerung für Studien herangezogen wurden, stieß zurecht auf Kritik. Einwilligungserklärungen gab es nicht, einige Kinder wurden bewusst rein-wissenschaftlichen und „nicht-therapeutischen“ Versuchen unterzogen. In der Zeitschrift „Bio-logische Heilkunst“ wurde dies mit dem biblischen Zitat „Lasset die Kinder zu mir kommen“ karikiert und kritisiert; die Titelabbildung zeigt Kinderärzte und Schutzbefohlene im Keller der Krankenanstalt.

1 Frewer/Lehner (2015) 2 Vollmer (1927), Frewer (2000), S. 144

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2. Zur Geschichte des Menschenversuchs

Menschen waren immer wieder fasziniert von unbekannten wie auch verborgenen Abläufen im Körper; insbesondere Ärzte und Forscher versuchten, die Vorgänge zu erklären. In der Geschichte der Heilkunde war dies ein außerordentlich langsamer Prozess, der erst genaue Beob-achtung, viele wissenschaftliche Entdeckungen und grundlegende Ver-suche brauchte.3 Im Kern interessierten die Gelehrten und Ärzte seit Entstehung der Zivilisation drei Grundfragen bei Experimenten: Wie funktioniert der Körper? Auf welche Weise funktioniert ein Gift? Wie verläuft ein Krankheitsprozess?4 „Forschung“ war in der langen Ent-wicklung der Medizin seit der Antike jedoch lange Zeit unsystematisch und auf Einzelfallbeobachtungen beschränkt. Der Wissensdrang und die Neugierde der Mediziner waren aber nicht selten größer als ihr Respekt vor dem Schutz der Patienten. Da es bis Ende des 19. Jahrhun-derts keine ethischen Standards, verbindliche Richtlinien oder gar Ge-setze für Versuche der medizinischen Forschung gab oder diese miss-achtet wurden, sind immer wieder Skandale bekannt geworden, bei denen klar wurde, dass nicht wenige Ärzte und Forschende bei ihren Studien elementare Menschenrechte missachteten und erfolgreiche Karrieren oder wissenschaftlicher Ruhm für sie wichtiger waren, als ihre Probanden. Anhand ausgewählter Beispiele von Verstößen gegen Menschenrechte und Ethik durch forschende Wissenschaftler soll der vorliegende Beitrag einen kurzen Überblick zur Entwicklung morali-scher Werte in der Forschungsethik wie auch zu den Hintergründen entstandener Richtlinien geben.

2.1 Entwicklungen vom Altertum bis in die Frühe Neuzeit

Seit der Antike sind einzelne medizinische und naturkundliche Versu-che an Menschen bekannt und dokumentiert, auch wenn es noch keine strukturierte Methodik gab.5 Mediziner waren auf der Suche nach neu-em Wissen über den menschlichen Körper, dessen innere Vorgänge für sie oft unerklärlich waren. Eine Eröffnung des Leibes war nicht nur wegen der bestehenden Infektionsgefahr ohne Gegenmittel zu gefähr-

3 Roelcke/Maio (2004), Eckart (2006), Schmidt/Frewer (2007) 4 Helmchen/Winau (1986), Ruisinger (2007) 5 Ruisinger (2007), Eckart (2009)

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lich, sondern auch der Leichnam durfte – meist aus religiösen Gründen – lange Zeit nicht zum Studium herangezogen werden. Besondere Be-kanntheit im Zusammenhang mit der ärztlichen Ethik erlangte Hippo-krates von Kos (ca. 460-379 v. Chr.), obwohl manche Aspekte seines Wirkens bis heute im Dunkeln liegen.6 Er avancierte zum „Pater medi-cinae“, bereits Platon erwähnt ihn als wichtigsten Arzt der Antike. Sein Name wird in der Gegenwart sofort mit der Medizinethik und dem nach ihm benannten Eid verbunden. Dieser Schwur, den junge Ärzte der Antike wohl im Sinne eines Zunfteides und Lehrvertrags zu Beginn ihrer Ausbildung ablegen mussten, wird häufig Hippokrates zuge-schrieben – er gilt daher landläufig als „Begründer der Medizinethik“. Auch wenn im „hippokratischen Eid“ historisch sehr früh Verhaltens-richtlinien formuliert sind und ein hohes ärztliches Ethos in Bezug auf die „Techne“ (Kunstfertigkeit) der Mediziner vorausgesetzt wurde, ist die Autorschaft des Textes bis heute umstritten. Aus diesem Eid stammt nichtdestotrotz eine Reihe moralisch relevanter Passagen: „Meine Verordnungen werde ich treffen zu Nutz und Frommen der Kranken, nach bestem Vermögen und Urteil. Ich werde sie bewahren vor Schaden und willkürlichem Unrecht“.7 Eine Selbstbestimmung von Patienten, wie es mit dem philosophischen Prinzip der Autonomie von Kranken begründet wird, kommt aber in diesem Dokument nicht vor. Der Eidestext repräsentiert eher den Priesterarzt – möglicherweise ei-ner pythagoräischen Ärztegruppe – und die paternalistische Berufsauf-fassung des „Halbgottes in Weiß“. Genaue Vorgaben für Versuche am Menschen oder den notwendigen Schutz von Patienten bei Forschung sind aber in diesem Dokument aus dem vierten vorchristlichen Jahr-hundert noch nicht vorhanden, auch wenn die geforderte Berufsauffas-sung von dem wichtigen Nichtschadensprinzip (lat. „primum nil noce-re“) geprägt ist. Für die Geschichte der Medizin lassen sich Varianten von Experimenten unterscheiden: Häufig wurden Untersuchungen an Gefangenen, zum Tode Verurteilten oder anderen Abhängigen durch-geführt; auch Tiere wurden oft benutzt, und manchmal waren es Selbstversuche, in denen die Ärzte ihren Wissensdurst stillen und gleichzeitig am eigenen Leib experimentieren wollten. Die historische Entwicklung ist zu vielfältig, sodass an dieser Stelle nur exemplarische

6 Diller (1994), Eckart (2009) 7 Deichgräber (1983), Schubert (2005)

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Beschreibungen möglich sind.8 Bisweilen wurden die Varianten von Humanexperiment und Studi-

en mit Tieren auch kombiniert, etwa im Fall von Transfusionsversu-chen mit jungen Lämmern oder Hunden. Die Idee hinter diesen Expe-rimenten war die Übertragung von gesundem und „frischem“ Blut eines tierischen Lebewesens auf den kranken Menschen. Darstellungen aus dem 17. Jahrhundert zeigen uns, wie fixierte Tiere Blut durch Röh-ren weitergeben mussten auf Menschen, die gleichzeitig zur Ader ge-lassen wurden, um krankmachende Substanzen vermeintlich zu ent-fernen. Die immunologische Unverträglichkeit hat zu dramatischen Komplikationen und Todesfällen geführt, denn weder die Vorrichtun-gen zur sterilen Übertragung von Flüssigkeiten noch die Grundkennt-nisse von Blutgruppen oder Gewebeeigenschaften lagen seinerzeit vor. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts lernte man Anti- und Asepsis wie auch Anästhesie kennen; Anfang des 20. Jahrhunderts konnte Karl Landsteiner (1868-1943) die unterschiedlichen menschlichen Blutgrup-pen entdecken.9

Eine erste systematische Studie mit Kontrollgruppen führte der Engländer James Lind (1716-1794) durch: Der Chirurg war als Schiffs-arzt der britischen Marine oft mit der verheerenden Krankheit Skorbut konfrontiert, die aufgrund von Vitamin C-Mangel nach ersten Sympto-men wie Haar- und Zahnausfall zu einem qualvollen Tod führen konn-te. Er entwarf eine beobachtende Studie, um Präventions- und Behand-lungsmöglichkeiten zu finden. Seine Skorbut-Versuche, ein geplantes Experiment auf dem Schiff „Salisbury“, gingen in die Forschungsge-schichte ein.10 Bei einer Schiffsreise im Jahr 1747 betreute er zwölf See-leute mit den typischen Symptomen der Skorbut-Erkrankung. Diese teilte er in sechs Gruppen zu je zwei Personen ein, wobei jeweils mit unterschiedlichen Mitteln behandelt wurde. So erhielten die sechs Paa-re verschiedene Gewürze oder Zitrusfrüchte, aber auch Meerwasser. Die Matrosen mit Zitrusfrüchten als Behandlungsoption konnten gene-sen; Früchte und Sauerkraut wurden in der Folge als Skorbut-Präven-tion identifiziert und bald auf jedem Schiff verwendet. Die Verteilung auf verschiedene Therapiearme durch den Arzt Lind war ein außeror-

8 Rothman (1995), Frewer/Schmidt (2007) 9 Eckart (2009) 10 Lind (1753), McBride (1991)

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dentlich scharfsinniges Vorgehen und damit auch Vorläufer der not-wendigen „Randomisierung“ (zufällige Zuordnung auf unterschiedli-che Therapien), die eine wichtige Voraussetzung für die Methodik sys-tematischer Forschung bildet. Zwar war die Anzahl der Beteiligten bei diesem Experiment auf hoher See noch sehr gering, aber die genaue Beobachtung brachte die richtigen Schlussfolgerungen. Aus ethischer Perspektive muss jedoch hinzugefügt werden, dass Lind die beteiligten Matrosen keineswegs um ihre Zustimmung fragte. Diese exemplari-schen Beispiele zeigen den langen und außerordentlich mühsamen Weg der Erkenntnisgewinnung in der Geschichte der medizinischen Forschung. Viele Entdeckungen der Medizin mussten hart errungen werden, in der Frühzeit der Wissenschaft waren es oft gefährliche und unsystematische Versuche am Menschen. Erst mit der Verbreitung von Kliniken war die Voraussetzung gegeben, dass mehrere Patienten mit der gleichen Krankheit stationär und für unterschiedliche therapeuti-sche Vorgehensweisen zur Verfügung standen.11

2.2 Neue Errungenschaften und Forschungsprobleme im 19. Jahrhundert

Die eigentliche Entwicklung der modernen naturwissenschaftlichen Medizin fand erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts statt. Ein Meilenstein medizinischer Forschung und wissenschaftlicher Methodik waren die Experimente des Franzosen Claude Bernard (1813-1878). Er studierte gemeinsam mit seinen Pariser Kollegen die Grundlagen der Physiolo-gie und arbeitete mit zahlreichen Tierversuchen an verschiedensten Problemen der Medizin. Dabei hatte der immense Forscherdrang sogar Konsequenzen für das Privatleben: Seine Gattin war so entsetzt über seine Versuche an lebenden Tieren, dass es nach jahrelangen Streitig-keiten zwischen den Eheleuten wegen unterschiedlicher Einstellungen zum Tierschutz zur Trennung kam. Seine Frau hatte sich der erstarken-den Bewegung der organisierten Tierversuchsgegner („Antivivisektio-nisten“) angeschlossen. Einen Eindruck zum Forschungsverständnis von Claude Bernard und seinen Zeitgenossen bietet auch der folgende Ausspruch: „Ich betrachte das Krankenhaus nur als die Vorhalle der wissenschaftlichen Medizin […], aber das Laboratorium ist das wahre

11 Helmchen/Winau (1986), Rothman (1995), Eckart (2009)

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Heiligtum der medizinischen Wissenschaft“.12 Dies zeigt eine befremd-liche Prioritätensetzung zwischen aktuellen und zukünftigen Patienten, Theorie und Praxis. In den sich immer stärker entwickelnden Kliniken waren die – meist sozial schwächeren Schichten entstammenden – Pati-enten nicht selten Willkür und Forscherdrang der wissenschafts- und fortschrittsorientierten Mediziner ausgesetzt.

Neben neuen Entdeckungen in der Physiologie ist das Verdienst von Bernard aber auch die Einführung systematischer und verblindeter Forschung. Der Franzose formulierte zudem erstmals systematische Abläufe für Studien und entwickelte in seinem Werk „Introduction à l'étude de la médicine expérimentale“13 erste Grundlagen einer Ethik der Forschung. Dies ist beachtlich für eine Zeit, die in der Medizinge-schichte auch als Epoche der „Mikrobenjäger“ bekannt wurde: Entde-ckung, Sichtbarmachung (durch Färbetechniken und Mikroskope) wie auch Bekämpfung von Krankheitserregern nahm breiten Raum in der zeitgenössischen Heilkunde ein. Nicht selten gab es sogar bei den Grö-ßen der sich sprunghaft entwickelnden Bakteriologie und Infektiologie ethisch bedenkliche Vorgehensweisen. Die Tuberkulin-Versuche von Robert Koch (1843-1910)14 oder auch die koloniale Forschung15 führten zu öffentlicher Kritik und ersten allgemeinen Vorgaben in Bezug auf den Einsatz neuer Maßnahmen und Methoden der Impfung.

2.3 Missbrauchsfälle bewirken Konsequenzen für die Wissenschaft

Ein größerer Skandal zur Forschung, der gleichzeitig zu einem wichti-gen Schritt in der Entwicklung von Richtlinien für Forscher führte, waren die Studien von Albert Neisser (1848-1912), Geheimrat und Pro-fessor für Dermatologie (Hautkrankheiten) an der Universitätsklinik Breslau. Nach der Entdeckung einer ersten Vakzinierung (Schutzimp-fung) gegen Pocken forschte Neisser in den 1890er Jahren an Mitteln zur Verhinderung der weit verbreiteten Syphilis. Hierzu impfte er 1892 acht, zum Teil noch minderjährigen Mädchen, ein Serum Syphiliskran-ker, um zu testen, ob auf diese Weise eine schützende Immunantwort ausgelöst würde. Dabei wussten die jungen Mädchen und Frauen gar

12 Bernard (1961) 13 Bernard (1865) 14 Gradmann (2005) 15 Eckart (2002)

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nicht, was sie injiziert bekamen bzw. dass sie Teilnehmer einer For-schungsstudie waren; keine der Patientinnen wurde nach ihrer Einwil-ligung gefragt. Die von Neisser durchgeführte Vakzinierung war nicht erfolgreich, eine Immunisierung der Probanden, die wegen ganz ande-rer Probleme in seiner Klinik waren, wurde nicht erreicht. Neisser schrieb später in einer Publikation: „[…] in allen diesen Fällen ist später Syphilis eingetreten“.16 Der Fall rief in der Folge erhebliche Kritik her-vor. In einer Artikelserie „Arme Leute in Krankenhäusern“ wurden die Versuche aufgegriffen sowie in Bezug auf die mangelhafte Aufklärung und die vorhandenen Risiken kritisiert. Es entbrannte eine vielschichti-ge politische wie auch moralische Diskussion.17 Gegen Neisser wurde ein Disziplinarverfahren eingeleitet und eine Strafe von 300 Gold-Mark verhängt. Dies war für die Zeitgenossen ein ungeheuerlicher Präze-denzfall, denn die Verurteilung eines angesehenen Arztes und erfolg-reichen Wissenschaftlers war bis dato kaum für möglich gehalten wor-den. Die vielschichtigen Hintergründe der Debatten können an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden, wichtig war ein Ergebnis des „Falls Neisser“: Im Dezember 1900 wurden die so genannten „Preußi-schen Anweisungen“ verabschiedet. Diese Richtlinien für Forschung forderten u.a. eine klare Unterscheidung zwischen medizinischer Grundlagenwissenschaft und einem ärztlichen Heilversuch. Die An-weisungen beschränkten zudem Forschung an Minderjährigen: dia-gnostische Versuche sowie Heil- und Immunisierungsstudien waren nur begrenzt erlaubt. Als zentraler Punkt wurde weltweit sehr früh und explizit eines für alle Teilnehmer an Forschungsstudien gefordert: nach einer Belehrung muss ein Proband sein Einverständnis zu einem vorge-sehenen Versuch geben – dies war eine wesentliche ethische Errungen-schaft. Albert Neisser zeigte trotz seiner Verurteilung allerdings kaum Einsicht in seine Verfehlung bei der nicht durchgeführten Aufklärung. So schrieb er nach seiner Verurteilung: „Wäre es mir um eine formale Deckung zu tun gewesen, so hätte ich mir die Einwilligung gewiss be-schafft, denn es ist nichts leichter, als sachunverständige Personen durch freundliche Überredung zu jeder gewünschten Einwilligung zu bringen, wenn es sich um so harmlose Dinge handelt, wie eine Einspritzung“.18

16 Neisser (1898) 17 Tashiro (1991), Sabisch (2007) 18 Elkeles (1996), Frewer/Schmidt (2007)

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3. Forschungsethik im 20. Jahrhundert: Von Nürnberg nach Helsinki

Ein weiterer großer Schritt in der Entwicklung der Forschungsethik stellt die Veröffentlichung von Albert Moll (1862-1939) dar. Der Ner-venarzt und Sexuologe schrieb mit seinem Hauptwerk „Ärztliche Ethik“ (1902) ein Schlüsselwerk zur Medizinethik. In dem Buch übte er Kritik an Versuchen in Kliniken und bezog sich auf etwa 600 Fälle.19 In der Weimarer Republik gerieten deutsche Forscher durch die ein-gangs geschilderten Berliner Vigantol-Experimente in die Diskussion. Nach den geforderten Einwilligungserklärungen oder einem medizini-schen Nutzen für die Kinder sucht man bei diesen Vitamin-Versuchen vergeblich – die Preußischen Anweisungen waren für den klinischen Alltag ohne Konsequenzen geblieben. 20 Einen Tiefpunkt erlebte die experimentelle Medizin mit dem „Lübecker Totentanz“ (1930/31): Nach der Entdeckung eines Impfserums gegen Tuberkulose durch die Fran-zosen Albert Calmette (1863-1933) und Camille Guérin (1872-1961) sollte diese Präventionsmaßnahme auch sehr früh in Lübeck eingeführt werden. Aufgrund fehlerhafter Verarbeitung wurde der Impfstoff je-doch offenbar mit pathogenen Tuberkulose-Bakterien verunreinigt. Von 256 geimpften Neugeborenen starben 77. Julius Moses (1868-1942), Arzt und Gesundheitspolitiker der Weimarer Republik, machte auf den Fall aufmerksam und kritisierte die „Experimentierwut der Ärzte“. Als Konsequenz dieser Tragödie wurden vom Innenministerium 1931 – bereits vorbereitete – Reichsrichtlinien für die Forschung am Menschen veröffentlicht.21

3.1 Humanexperimente im „Dritten Reich“

Traurige Berühmtheit in der Reihe der Forschungsskandale erlangten die NS-Verbrechen, die trotz der beginnenden Aufmerksamkeit für Patientenrechte in grenzenlosem Ausmaß begangen wurden. Ein gro-ßer Anteil der Verbrechen geht zulasten deutscher Ärzte, die vor allem in den Konzentrationslagern, aber auch in Pflegeeinrichtungen und Ge-fängnissen grausame Versuche durchgeführt haben. In den KZs wurde systematisch und bewusst mit tödlichen Risiken für die Versuchsperso-

19 Moll (1902) 20 Frewer (2000) 21 Hahn (1995), Nadav (2004)

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nen geforscht.22 Dabei zeugen zahlreiche Experimente von einem men-schenverachtenden Umgang mit Probanden. Für die Luftwaffe etwa wurden Höhenversuche unternommen, bei denen man Gefangene in Druckkammern den Bedingungen großer Höhen aussetzte; es wurde getestet und genauestens dokumentiert, wie lange Menschen unter besonderen Bedingungen überlebensfähig sind. Diese Versuche ende-ten meist mit dem Tod der Gefangenen. Auch Experimente zur Tole-ranzgrenze bei Unterkühlung oder zu neuen Kampfstoffen wurden durchgeführt sowie der Verlauf zum Teil tödlicher Infektion ohne The-rapie beobachtet. Dabei wurden künstlich gesetzte Wunden infiziert oder Fremdmaterialien eingebracht, um die Heilung bei verschiedenen Behandlungen zu vergleichen.23

Nach Ende des Zweiten Weltkriegs versuchte man, die Verantwort-lichen vor dem Nürnberger Gerichtshof zur Rechenschaft zu ziehen. Hierfür gab es einen eigenen Prozess für 23 Ärzte und Funktionäre im Gesundheitswesen; diese hatten ihre Positionen für Verbrechen ausge-nutzt und waren an menschenverachtenden Versuchen beteiligt. Mit dem Urteil wurde eine Richtlinie für medizinisches Forschen formu-liert, der „Nuremberg Code of Medical Ethics“. Inhaltlich und formal steht an erster Stelle dieses zehn Punkte umfassenden Dokuments über „zulässige Versuche“ die freiwillige Einwilligung des Studienteilneh-mers nach einer vollständigen Aufklärung (später „informed consent“). Dabei müssen die erwarteten Ergebnisse der Studie nutzbringend sein und dem Patienten wie auch dem Wohl der Gesellschaft dienen. Menschenversuchen sollten immer Tierexperimente vorangehen sowie körperliche und seelische Leiden vermieden werden. Studien gemäß dem Nürnberger Kodex muss eine Nutzen-Risiken-Abwägung voran-gegangen sein, da Gefahren die erwartete Bedeutung nicht übersteigen dürfen. Zusätzlich wurden grundlegende Forschungsbedingungen formuliert und Gruppen genannt, an denen nicht geforscht werden darf (z.B. Sterbende). Den Teilnehmenden an Versuchen wird das Recht eines Abbruchs der Experimente zu jeder Zeit ohne Nachteile zu-gesprochen, worauf Wissenschaftler auch vorbereitet sein müssen.24

22 Frewer et al. (1999), Roelcke (2006) 23 Ley/Ruisinger (2001), Roelcke (2006) 24 Roelcke (2006), Schmidt/Frewer (2007)

22

3.2 Die Deklaration von Helsinki (1964) als heutiger Standard

Dem „Nürnberger Kodex“ folgte mit der „Deklaration von Helsinki“ noch eine Richtlinie aus den Reihen der Ärzteschaft, veröffentlicht von der World Medical Association (WMA). Sie gilt heute als der wichtigste internationale Maßstab der Forschungsethik. Seit ihrer Verabschiedung 1964 wuchs ihre Bedeutung stetig, vor allem da sie regelmäßig überar-beitet und damit den neuesten wissenschaftlichen Standards angepasst wird. Die Helsinki-Deklaration richtet sich als Dokument des Weltärz-tebundes vor allem an Ärzte, die forschen, aber auch an weitere, an Studien beteiligte Personen. In der Deklaration wird Medizin definiert als Wissenschaft, die dem Wohl des Patienten dienen soll, was auch für die medizinische Forschung gelten soll. Ziel ärztlicher Versuche ist das Erlangen neuen Wissens, darüber aber stehen immer die Rechte und Interessen des Patienten. Dem Arzt oder anderem medizinischen Per-sonal obliegt laut der Deklaration die Verantwortung für den Schutz des Lebens, Gesundheit und Privatsphäre des Teilnehmers; diese Ver-antwortung kann nicht abgegeben werden. Besondere Aufmerksamkeit muss laut den Forderungen der Deklaration auf den Schutz unterre-präsentierter und vulnerabler Gruppen gelegt werden; ihnen soll man den Zugang zu den Erkenntnissen von Forschung ermöglichen. Wenn der behandelnde Arzt gleichzeitig Forscher ist, muss besonders darauf geachtet werden, dass nur im Sinne des Patienten über eine Entschei-dung zur Teilnahme an der Studie geurteilt wird. Eine Ablehnung durch den Kranken darf das Verhältnis zwischen ihm und dem Arzt nicht beeinflussen. Darüber hinaus fordert die Deklaration, dass eine Entschädigung eventuell forschungsbedingter Folgen sichergestellt ist. Bei allen Forschungsvorhaben muss eine sorgfältige Abwägung der Risiken in Hinblick auf den erwarteten Nutzen, erfolgen. Es soll immer versucht werden, die Gefahren zu minimieren und eine ständige Über-wachung aller potenziellen Nebenwirkungen zu gewährleisten.

Die Deklaration spricht auch das Problem vulnerabler Gruppen an: Forschung darf an diesen Personen nur durchgeführt werden, wenn die Studie nicht an anderen Teilnehmern möglich ist und sie den Pro-banden einen Vorteil bringen kann.

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3.3 Zentrale Richtlinien der Deklaration von Helsinki in der Übersicht

• Wie bereits im Nürnberger Kodex gefordert, sollen Experimen-te gemäß der Deklaration von Helsinki auf Grundlage von Tierversuchen stattfinden und den neuesten wissenschaftlichen Standards entsprechen.

• Die Deklaration verlangt Forschungsprotokolle, in denen An-gaben zur Förderung (Sponsoring), Nachsorge und Entschädi-gungszahlungen gemacht werden.

• Die Einwilligung des Teilnehmers wird vorausgesetzt, nach-dem er über die Studie vollständig aufgeklärt wurde.

• Die Anwendung von Placebos (Scheinmedikamenten) ist nur erlaubt, wenn keine andere Alternative zu der zu erforschen-den Therapie besteht oder wenn durch die Anwendung von Placebos keine weiteren Risiken entstehen, aber wissenschaftli-che Gründe gegen die Anwendung der Standardtherapie spre-chen.

• Im Vergleich mit dem Nürnberger Kodex gibt es noch einen weiteren neuen Punkt: Als erfolgreich erkannte Therapien müssen den Teilnehmern auch nach den Studien zur Verfü-gung gestellt werden.

• Außerdem gibt es eine Pflicht zur Veröffentlichung der Ergeb-nisse.25

3.4 Ausgewählte Forschungsskandale in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Doch auch nach der Veröffentlichung des Nürnberger Kodex und der Deklaration von Helsinki war die Zeit der Forschungsmissbräuche lei-der nicht beendet. Davon waren auch demokratische Länder betroffen, die in Nürnberg als Ankläger aufgetreten waren. Aufsehen erregten etwa die Giftgas-Experimente an britischen Soldaten.26 Für eine geringe Aufwandsentschädigung und mit dem Hinweis, es würden Studien zu einfachen Erkältungserkrankungen („Common cold“) durchgeführt, wurden in einer britischen Studie im Militärstützpunkt Porton Down Probanden dem Kampfgas Sarin ausgesetzt. Seit 1951 wurde die Ver-

25 Rothman (1995), Schmidt/Frewer (2007), Frewer/Schmidt (2014) 26 Schmidt/Frewer (2007)

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träglichkeit getestet und versucht, eine Toleranzdosis zu ermitteln. 1953 kam dabei der 20jährige Ronald Maddison ums Leben, nachdem ihm eine offensichtlich weitaus zu hohe Konzentration auf die Haut gege-ben worden war. Die tatsächlichen Hintergründe für seinen Tod wur-den erst Jahre später öffentlich.27

3.5 Versuche in den USA und der DDR

Ebenfalls erst mit großer zeitlicher Verzögerung wurden Versuche der USA zur Syphilis bekannt. Von 1932 bis 1972 führte man eine staatlich organisierte Studie (PHS) an schwarzen Landarbeitern in Tuskegee (Alabama) durch. Die Betroffenen waren an Syphilis erkrankt, ihre Dia-gnose wurden ihnen allerdings verschwiegen; stattdessen sagte man, sie litten unter schlechtem Blut („bad blood“) und würden eine Be-handlung bekommen. Gegen die tatsächliche Erkrankung Syphilis gab es zu Beginn der Studie noch keine Therapie. Als diese allerdings später in Form des Penicillins entdeckt wurde und damit ein heilendes Medi-kament zur Verfügung stand, wurde das Studiendesign dennoch nicht verändert. Man beobachtete weiterhin den unbehandelten Verlauf der Erkrankung ohne Antibiotika einzusetzen.28 Erst Jahrzehnte später, nach journalistischen Recherchen und öffentlichem Druck, kam es zur Auf-klärung und erst 1997 unter Präsident Clinton zu einer offiziellen Ent-schuldigung der US-Regierung. Einige weitere Versuchsreihen der Nachkriegszeit wären hier noch zu nennen, etwa die Strahlen- und Plu-toniumexperimente mit Soldaten oder Infektions- und Hautversuche in Waisenhäusern und Gefängnissen (USA).29 Doch auch in geographi-scher Nähe zum Entstehungsort des Nürnberger Kodex respektierte man diesen nicht ausreichend. In der Deutschen Demokratischen Re-publik wurden zahlreiche Patienten ohne ihr Wissen Teilnehmer großer Medikamentenstudien. Die wirtschaftlich marode DDR stellte dabei für über 200 Studien westlicher Firmen mehr als 14.000 Patienten gegen lukrative Deviseneinnahmen für die Forschung zur Verfügung. Eine völlige Aufklärung ist hier immer noch nicht erfolgt, man kann die Di-mensionen des Missbrauchs bisher nur erahnen.30

27 Schmidt/Frewer (2007), siehe neuerdings auch Schmidt (2015) 28 Reverby (2000) 29 Frewer/Neumann (2001), Pethes et al. (2008), Griesecke et al. (2009), Lehner/Frewer (2014) 30 Erices et al. (2014)

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4. Ethische Qualitätssicherung internationaler Forschung – Schlussüberlegungen

Es ist offensichtlich: Auch nach der Verabschiedung mehrerer detail-lierter Richtlinien und Deklarationen zur Forschungsethik müssen auch weiterhin die neuesten medizinischen Entwicklungen in diesem Gebiet kritisch und aufmerksam beobachtet werden. Zahlreiche ethische Fra-gen sind kontinuierlich Gegenstand intensiver Diskussionen, sodass die Richtlinien in Bearbeitung bleiben – es handelt sich um „lebendige Dokumente“.

Manche Punkte der Deklaration von Helsinki sind in Bezug auf die ausreichende Umsetzung weiter umstritten: Sind die seit der Fassung der Revision von 1975 (Tokyo) geforderten und in Deutschland flä-chendeckend eingerichteten Ethikkommissionen31 wirklich neutral und unabhängig sowie ausreichend interdisziplinär besetzt? Wie gut funk-tioniert die Überwachung der Studiendurchführung? Auch der „infor-med consent“ steht immer wieder im Mittelpunkt der Debatte: Wurden den Teilnehmenden alle Hintergründe und Risiken des Versuchs aus-reichend erklärt? Es bleibt das Problem der nicht einwilligungsfähigen Patienten und ob eine Zustimmung für Studien mit Fremdnutzen legi-tim ist. Dieser Punkt wird weiter diskutiert werden müssen, da es mit den neuesten medizinischen Möglichkeiten immer öfter solche Situati-onen geben kann. Ungeklärt sind auch die Debatten zu Studien mit Individual- oder Kollektivwohl und das Problem, wie groß jeweils das Risiko für Teilnehmer sein darf. Dabei geht es vor allem um die Frage, wie viel einem Einzelnen zugemutet werden darf, wenn er selbst kei-nen Nutzen aus der Forschung haben wird, sondern diese nur nachfol-genden Patienten zugutekommt. Gleichzeitig wird bis heute darüber diskutiert, ob eine Nutzen-Risiko-Abschätzung objektiv möglich ist. Ethische Abwägungen sind allerdings in vielen Fällen notwendig, wenn es um die Abschätzung zum Schutz von Patienten geht. Und auch in der Forschungsethik schlägt sich die Globalisierung nieder und führt zu der Frage, ob Gerechtigkeit bei der Verteilung von Risiken und dem erwarteten Nutzen gewährleistet ist. Viele Versuche werden heute in Entwicklungsländern durchgeführt, die gewonnenen Erkenntnisse nutzen allerdings oft primär oder sogar ausschließlich westlichen Län-

31 Wiesing (2003)

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dern, die eine Anwendung der Forschungsergebnisse bezahlen und neueste Therapieverfahren umsetzen können.32 Zahlreiche Studien wer-den heute an mehreren Standorten oft über Ländergrenzen hinweg durchgeführt. Hierbei stellt sich jedoch die Frage, welche moralischen Grundsätze dann Grundlage der Bewertung der Studien sein dürfen: Wer soll in solchen Studien die ethische Bewertung anhand welcher Standards vornehmen? Ist die Pflicht zur Publikation auch der negati-ven Forschungsergebnisse immer gewährleistet? Zudem bleiben der Schutz vulnerabler Gruppen, Placebo-Versuche und „post-trial benefit“ Probleme. Insgesamt stellen sich also auch in Zukunft allen Beteiligten zahlreiche Herausforderungen für eine ethische Kultur der Forschungs-praxis. Gerade Kindern – um auf das Eingangsbeispiel zurückzukom-men – als besonders verletzlichen Patienten und Probanden sowie den zukünftigen Generationen sollte dies zugutekommen.

32 Angell (1997), Rothman (2003)

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5. Literatur

Angell, Marcia (1997): The Ethics of Clinical Research in the Third World. New England Journal of Medicine 337, S. 847-849 Bernard, Claude (1865): Introduction à l'étude de la médicine expérimentale. Paris Bernard, Claude (1961): Einführung in das Studium der experimentellen Medizin. Leipzig Deichgräber, Karl (1983): Der hippokratische Eid. 4. Auflage. Stuttgart Diller, Hans (1994): Hippokrates. Ausgewählte Schriften. Stuttgart Eckart, Wolfgang U. (2002): The Colony as Laboratory: German Sleeping Sickness Campaigns in German East Africa and in Togo, 1900-1914. History and Philosophy of the Life Sciences 24, S. 69-89 Eckart, Wolfgang U. (Hrsg.) (2006): Man, Medicine, and the State. The Human Body as an Object of Government Sponsored Medical Research in the 20th Century. Stuttgart Eckart, Wolfgang U. (2009): Geschichte der Medizin. Fakten, Konzepte, Haltungen. 6. Auflage. Berlin, Heidelberg Elkeles, Barbara (1996): Der moralische Diskurs über das medizinische Menschenexperiment im 19. Jahrhundert. Stuttgart Erices, Rainer/Gumz, Antje/Frewer, Andreas (2014): Westliche Human-experimente in der DDR und die Deklaration von Helsinki. Neue Forschungs-ergebnisse zur Ethik. In: Frewer/Schmidt (2014), S. 87-98 Frewer, Andreas (2000): Medizin und Moral in Weimarer Republik und Nationalsozialismus. Die Zeitschrift „Ethik“ unter Emil Abderhalden. Frank-furt/M., New York Frewer, Andreas/Lehner, Anna Maria (2015): Moralische Probleme von Humanexperimenten in der Medizin. Ethik und Menschenrechte bei der Ent-wicklung von Forschung. In: Fiedler, Christine/Raddatz, Bettina (Hrsg.) (2015): Study Nurse/Studienassistenz. Heidelberg, S. 44-51 Frewer, Andreas/Neumann, Josef N. (Hrsg.) (2001): Medizingeschichte und Medizinethik. Kontroversen und Begründungsansätze 1900-1950. Frankfurt/M., New York Frewer, A./Schmidt, Ulf (Hrsg.) (2007): Standards der Forschung. Histori-sche und ethische Probleme klinischer Studien. Frankfurt/M.

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Richard Neumeyer

Erster Preisträger

Don-Bosco-Schule Rostock, Katholische Kooperative Gesamtschule

Gentechnik – Die größte Herausforderung des 21. Jahr-hunderts an die Ethik?

Gentechnik – Biologische Grundlagen

Die Geschichte der Menschheit hat eine beeindruckende Länge. Seit etwa 200.000 Jahren als homo sapiens existierend, hat der Mensch bis heute unzählige Erkenntnisse gewonnen und sich ständig weiterentwi-ckelt. Dabei ging es zunächst um die grundlegendsten Bereiche der Lebensführung, die lediglich dem Überleben dienten, bald darauf be-gann die Gesellschaft der Menschen sich zu bilden, dadurch entstanden auch Kultur und Wissenschaft. Nur die erfüllte Voraussetzung, dass der Mensch sich seines Überlebens sicher war, hatte es dem Menschen ermöglicht, zahlreiche Wissenschaften zu begründen. Mit der Zeit ent-standen immer mehr dieser Wissenschaften, bestehende entwickelten sich weiter, Relevanzen verschoben sich mit der Zeit. So gibt es heutzu-tage unüberblickbar viele Wissenschaftszweige, einige davon bereits umfassend erforscht (z.B. die Mathematik), andere noch relativ neu und deshalb noch mit sehr viel Raum für Fortschritte.

In den letzten Jahren kam es zu gewaltigen Entwicklungen in vielen alltagsrelevanten Wissenschaftsbereichen. Am offensichtlichsten sind diese Fortschritte für viele Menschen wahrscheinlich auf dem Sektor der Kommunikationstechnik, der sich seit der Einführung des Internets sehr schnell entwickelt hat, seit wenigen Jahren aber wiederholt extre-me Veränderungen erfährt. Ein anderer Sektor, der bei weitem nicht so öffentlichkeitswirksam, aber von mindestens gleichwertiger Relevanz für die Menschheit ist, auf dem sich in den letzten Jahren eine Revolu-tion vollzogen hat, ist die Gentechnik. Der Begriff „Gentechnik“, der bei vielen Menschen oft ausschließlich mit genetisch veränderten Le-

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bensmitteln assoziiert wird, umfasst dabei jedoch weitaus mehr als den viel diskutierten Genmais.

Die Brockhaus Enzyklopädie definiert Gentechnologie wie folgt: „Gentechnologie bezeichnet ein Teilgebiet der Molekularbiologie und Molekulartechnik, das sowohl die theoretischen Aspekte als auch die praktischen Methoden umfasst, durch die Gene und deren Regulatoren isoliert, analysiert, verändert und wieder in Organismen eingebaut werden.“1 Das heißt zusammengefasst, dass der Begriff „Gentechnik“ allgemein die nicht natürliche Veränderung und Rekombination von Genen von Organismen sowohl auf theoretischer als auch auf prakti-scher Ebene beschreibt.

Um zu verstehen, wie Gentechnik funktioniert, ist es hilfreich, sich einige biologische Grundlagen zu verschaffen. Zunächst also die Klä-rung der Frage: Was sind eigentlich Gene?

Als Gen bezeichnet man eine bestimmte, codiert auf der DNA einer Zelle vorliegende Information über den Bau von Proteinen, die zur Ausprägung eines Merkmals führt. Die DNA (= desoxyribonucleic acid) hat die Struktur einer Doppelhelix, besteht aus 2 zusammenge-fügten komplementären Strängen. Diese sind zusammengesetzt aus Untereinheiten, den Nukleotiden, die jeweils drei Hauptbestandteile haben: einen Phosphatrest, einen Zucker und eine von vier Basen. Da-bei wird die genetische Information durch die Abfolge dieser Basen (Adenin, Thymin, Guanin, Cytosin) an einer bestimmten Stelle codiert.

Die DNA enthält Millionen von Genen. Mit lediglich vier vorkom-menden Basen handelt es sich bei der DNA um einen theoretisch leicht zu lösenden Code. Wie schwer die Entschlüsselung praktisch jedoch ist, zeigt das Human Genome Project, im Zuge dessen erst 2003 die menschliche DNA komplett entziffert wurde, da die Basen der DNA aufgrund ihrer sehr geringen Größe und ihrer gigantischen Anzahl sehr aufwändig zu bestimmen sind. Außerdem wurde das heute gülti-ge Doppelhelix-Modell, das den Aufbau der DNA beschreibt und da-mit notwendige Grundlage aller weiteren Forschungen ist, erst im Jah-re 1953 durch die Forscher James Watson und Francis Crick aufgestellt, die für diese Entdeckung 1962 mit dem Nobelpreis der Medizin ausge-zeichnet wurden.

Gene sind also Informationen, die durch Basensequenzen der DNA

1 Brockhaus (1989)

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codiert sind. Genau dort setzt Gentechnik an. Das Ziel der Gentechnik sind diese Basen. Versucht wird, die Basensequenz so zu verändern, dass sich dadurch für den betreffenden Organismus veränderte Eigen-schaften ergeben.

Bis vor einiger Zeit bestand Gentechnik oft darin, fremdes Erbmate-rial in jenes der behandelten Zelle zu integrieren und zu hoffen, dass sich dadurch ein positiver Effekt einstellt. Inzwischen haben sich die verwendeten Methoden jedoch drastisch verändert, sodass der Mensch mittlerweile in der Lage ist, die DNA hochpräzise und nach Wunsch zu verändern. Seit langer Zeit wird die Gentechnik bereits auf Pflanzen angewendet, man spricht in diesem Zusammenhang von „grüner Gen-technik“2. Bei dieser ist in der Regel das Ziel der Forschung, die Eigen-schaften der betreffenden Pflanzen für die geplante Anwendung zu optimieren. So können zum Beispiel Pflanzenarten gegen Schädlinge oder andere widrige Umwelteinflüsse resistent gemacht werden oder Wuchseigenschaften verbessert werden, des Weiteren ist eine Verbes-serung des Gehalts an Nährstoffen und Vitaminen bei Nahrungspflan-zen möglich.

Die sogenannte „rote Gentechnik“, auch medizinische Biotechnolo-gie genannt, beschäftigt sich dagegen mit der genetischen Veränderung von Wirbeltieren, daher auch des Menschen.3 Dabei geht es primär darum, Krankheiten zu heilen. Die Gentechnik am Menschen war bis-her wenig erfolgreich, ein sicheres Verfahren zur Veränderung der DNA fehlte. Korrekturen konnten nur durch die Einbringung fremden Erbgutes mithilfe von adaptierten Viren durchgeführt werden. Die Erfolgsquote tendierte bei diesem Verfahren stets gegen null, weil die Rekombination der DNA mit der fremden DNA bei diesem Verfahren zufällig abläuft, sodass das therapeutische Gen an einem zufälligen Ort in die DNA integriert wird. An einigen Stellen hat aber selbst ein ei-gentlich „gutes“ Gen fatale Folgen: Durch die Behandlung einiger Krankheiten kann es zum Ausbruch neuer Krankheiten kommen. So erkrankten nach einem Modellversuch zur Heilung des Wiskott-Aldrich-Syndroms der Münchner Uniklinik sieben von zehn behandel-ten Kindern in der Folge an Leukämie (Typus C91 + C92), zwei starben daran bis heute. Umfassende Untersuchungen bestätigten, dass durch

2 Wikipedia. (2014a) 3 Wikipedia. (2014b)

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die Therapie Gene aktiviert worden waren, die den Ausbruch der Er-krankung begünstigt hatten.4

Seit wenigen Jahren verbreitet sich jedoch ein neues Verfahren zur Bekämpfung von Krankheiten. Mithilfe dieser neuen Methode ist theo-retisch eine zu hundert Prozent exakte Bearbeitung der DNA jedes Lebewesens möglich. Auch die ersten praktischen Tests zeigen generell positive Ergebnisse, so wurde dieses neue Verfahren bereits einige Mal erfolgreich angewendet. Diese CRISPR (Clustered Regularly Inter-spaced Short Palindromic Repeats) genannte Technik nutzt dabei zwei Grundelemente, einen RNA-Abschnitt, der künstlich erzeugt wird und dafür sorgt, dass das zweite Element, ein Enzym, an der richtigen Stelle arbeitet. Experten versprechen sich von dieser neuen Methode in naher Zukunft die sichere Heilung aller genetisch bedingten Krankheiten.5

Gentechnik – Pro und Contra

Seit dem Aufkommen der Gentechnik existiert auch eine große Debatte über dieses Thema. Immerhin geht es dabei direkt um die Gesundheit der Menschen und weltbewegende Veränderungen.

Auf der einen Seite der Auseinandersetzung lehnen die erklärten Gegner der Gentechnik diese aufgrund von gesundheitlichen Gefahren für den Menschen ab, die möglicherweise entstehen oder verursacht werden. Häufig vorgebrachte Argumente, die von Gegnern der Gen-technik vorgebracht werden, thematisieren die möglichen Gefahren durch die unzureichenden wissenschaftlichen Erkenntnisse in diesem Zusammenhang, besonders in Bezug auf die Langzeitwirkung von Eingriffen in den genetischen Code. Denkbare negative Auswirkungen sind zum Beispiel Anpassungsreaktionen, sowohl von Schädlingen als auch des Organismus selbst, sodass die veränderten Organismen ande-ren schaden könnten. Dieses sind jedoch ausschließlich Vermutungen. Starke Kritik erheben Gegner außerdem gegen Versuche, die durchge-führt werden, um wissenschaftlich aussagekräftige und unbestreitbare Beweise der Funktionsfähigkeit bestimmter Verfahren zu erhalten. Außerdem werden die verwendeten Methoden, bei denen die behan-delten Organismen nahezu immer zum Weiterleben unfähig zugerich-

4 Hamberger (2014) 5 Zu Potenzialen und Risiken dieser Methode vgl. Ledford (2015)

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tet werden, angezweifelt. Andere Gegner stützen ihre Kritik auf ethische Bedenken, argumen-

tieren also auf philosophischer Grundlage. Ein sehr wichtiges Argument ist religiös motiviert: laut der Schöp-

fungsgeschichte schuf Gott den Menschen nach seinem Bilde, der Text in Gen 1,27 lautet: „So schuf Gott die Menschen nach seinem Bilde, als Gottes Ebenbild schuf er sie.“6 Aufgrund dieser Aussage lehnen viele gläubige Menschen Gentechnik grundsätzlich ab. Denn für sie steht fest: Was Gott geschaffen hat, darf der Mensch nicht verändern und die Aussage, dass der Mensch so geschaffen ist wie Gott, macht Gentech-nik nicht ausschließlich für orthodoxe Christen zu einer Perversion, bedeutete diese doch ein Hinwegsetzen der Menschen über Gott, die Annahme, dass der Mensch mächtiger sei als Gott. Für viele Menschen eine furchtbare Anmaßung, die bereits seit dem Mittelalter unter den Gelehrten diskutiert wurde. Die Alchemie hatte große Anziehungs-kraft, der Versuch, durch Verwandlung real existierender Stoffe den Menschen selbst zu verwandeln, war lange Zeit sehr verlockend. So beschreibt Goethe im Faust II die Erschaffung eines künstlichen Men-schen durch den Gelehrten Wagner, der sich in seiner Hybris mächtiger fühlt als Gott. Bezeichnenderweise kommt im selben Moment Mephisto in das Labor, wird vom künstlichen Homunculus, der nur im Reagenz-glas existieren kann, herzlich begrüßt: „Du aber, Schalk, Herr Vetter, bist du hier? Im rechten Augenblick, ich danke dir.“7 Der Bund mit dem Teufel wird mit der Metapher der Verwandtschaft deutlich ge-macht. In Goethes Dichtung hat Homunculus keine wirkliche Überle-benschance, er kann nur im Reagenzglas existieren. Dies zeigt deutlich die Position des Verfassers zu dem Thema.

Viele Kritiker befürchten zudem, dass durch den gesellschaftlich anerkannten, erfolgreichen Einsatz der Gentechnik in der Krankheits-bekämpfung die zunehmend kommerzielle Nutzung gentechnischer Verfahren auf anderen Gebieten mit dem Ziel entsprechender Gewinn-abschöpfung sich mehr und mehr der politischen Kontrolle entzieht. Hierbei wird besonders auf die potentiellen Missbrauchsmöglichkeiten hingewiesen. Der Mensch wäre bei entsprechender Ausreifung der Gentechnik mit Sicherheit in der Lage, Superorganismen zu erschaffen,

6 Gute Nachricht Bibel (1997) 7 Goethe (1986)

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die für falsche Zwecke genutzt Furchtbares ausrichten könnten. Sogar die kriegstechnische Nutzung der Gentechnik ist kaum abwegig, könn-te bei entsprechend hoher Kompetenz ebenfalls dramatische Auswir-kungen haben.

Zahlreiche Kritiker führen als Argument oft das empfindliche Gleichgewicht der Natur an, das durch den Eingriff des Menschen in Form von Gentechnik heikel gestört werden könnte. Das Worst-Case-Szenario beschreibt dabei Auswirkungen, die bis zur vollständigen Vernichtung der Menschheit führen.8 Erscheinen diese Befürchtungen stark übertrieben, ist die Abwegigkeit dieser jedoch keinesfalls zu be-weisen. Kritiker der Gentechnik geben zu bedenken, dass der Mensch nicht im Geringsten über allumfassendes Wissen der Natur verfüge, scheint es auch so, als nähme er das manchmal an. Je mehr der Mensch verändert, desto größer wird seine Verantwortung für alles Leben. Wenn der Mensch nicht in der Lage ist diese Verantwortung zu tragen, sollte er sich bemühen nichts so Grundlegendes zu verändern.

Eine weitere negative Folge der Gentechnik könnte sich ergeben, wenn diese zur gängigen Behandlungspraxis wird. Im Moment sieht es so aus, als wenn eine solche Art der Behandlung zwar bald relativ si-cher möglich sein wird, jedoch zeichnet sich auch ab, dass damit enor-me Kosten verbunden sein werden. Es ergäbe sich vermutlich ein Di-lemma: Es wäre zwar möglich alle genetisch bedingten Krankheiten zu heilen, jedoch nur für die Menschen, die in der Lage wären, die gewal-tigen finanziellen Aufwendungen zu tragen. Krankenkassen würden solche Summen wohl kaum aufbringen. Das Prinzip Gesundheit gegen Geld hat, speziell bei der Gentechnik, erhebliches Konfliktpotenzial und ist in dieser Ausprägung eigentlich kaum noch moralisch zu ver-treten. Eine mögliche Rechtfertigung gäbe der Utilitarismus mit seinem Grundsatz, nach möglichst viel Wohlergehen für möglichst viele zu streben.

Wenn man eine neue Art der Krankheitsbehandlung entwickelt, ergibt sich daraus die moralische Verpflichtung sich nicht nur zu fra-gen, welche Probleme bei der unmittelbar geplanten Anwendung auf-treten können, sondern auch: Kann diese Methode oder zumindest das Wissen, das durch diese Methode erlangt wurde, für andere Zwecke missbraucht werden? Wenn ja, welche Auswirkungen sind im

8 So z.B. Rees (2005)

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schlimmsten Fall denkbar? Die Antwort auf die erste Frage fällt leicht. Natürlich kann diese Technik missbraucht werden, sie ist schlicht nicht kontrollierbar, wie bereits erwähnt. Zur zweiten Frage: Im Moment scheint es durchaus denkbar, dass man mithilfe von Gentechnik Men-schen über das normale Maß „verbessern“ könnte. Nicht Wiederher-stellung von Normalzuständen, sondern gezieltes Gestalten des Patien-ten über das Natürliche hinaus. Ein solches Streben nach einem „per-fekten“ Menschen erinnert stark an die Zielsetzung der Euthanasie, die im nationalsozialistischen Deutschland unter der Führung Adolf Hit-lers praktiziert wurde. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse des Biolo-gen Charles Darwin waren soweit missbraucht worden, dass die Theo-rie vom Kampf ums Dasein in der Natur zur „Rassenhygiene“ benutzt wurde. Menschen wollten mit denkbar unmenschlichen Methoden die Schöpfung korrigieren. Die Erinnerung an solche Verbrechen wird im Gedächtnis der Menschheit unauslöschlich bleiben, und die Anwen-dung von Gentechnik immer mit starken moralischen Bedenken verse-hen.

Trotz bemerkenswert vieler Positionen gegen die Anwendung von Gentechnik, von denen ein kleiner Teil aufgezeigt wurde, gibt es auch zahlreiche Gründe, die dafür sprechen, die Gentechnik zu nutzen.

Angefangen bei den Pflanzen ergeben sich bemerkenswerte Mög-lichkeiten. Denkbar und sehr wahrscheinlich sind Hochleistungspflan-zen, die vielschichtig optimiert sind. Gezielte Manipulation macht Pflanzen resistent gegen Schädlinge, lässt Pflanzen unter widrigeren Bedingungen wachsen, erhöht den Ertrag der Ernte, verändert Inhalts-stoffe für mehr Nährstoffe und Vitamine sowie Mineralstoffe. Bei kon-sequenter Nutzung aller dieser Möglichkeiten könnte der Traum der erfolgreichen Bekämpfung des Welthungers Wirklichkeit werden.

Der Vorteil, der wahrscheinlich alle anderen überwiegt, ist jedoch die Heilung von Krankheiten. Und es geht dabei keineswegs nur um einzelne, seltene Krankheiten. Nein, tatsächlich ist die Heilung aller Krankheiten denkbar, abgesehen von psychischen Krankheiten selbst-verständlich. Das würde einen Paradigmenwechsel von nie dagewese-ner Relevanz für die gesamte Menschheit bedeuten. Solange es Men-schen gibt, gab es immer auch Krankheiten. Die Vorstellung einer Welt ohne jegliche Krankheit ist von der Abwegigkeit für den Menschen vergleichbar mit jener, ohne Hilfsmittel fliegen zu können.

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Relativ einfach vorstellbar ist für die meisten Menschen noch die Behandlung von Erbkrankheiten, da die DNA, in die bekanntlich bei der Gentechnik eingegriffen wird, im Volksmund ja das „Erbgut“ ist. Das Erschließen dieses Zusammenhangs fällt deshalb leicht. Von der Behandelbarkeit aller anderen Krankheiten wissen die meisten Men-schen jedoch nicht. Viruserkrankungen zum Beispiel werden in Zu-kunft behandelt, indem die Immunabwehr genetisch verbessert wird oder Zellen in der Weise verändert werden, dass sie resistent gegen alle Art Viren sind. Ähnlich die Möglichkeiten bei bakteriellen Erkrankun-gen. Neben diesen primären Krankheiten ergeben sich sogar gewaltige Aussichten für die Behandlung von Verletzungen. Neben Beschleuni-gung der Wundheilung scheint es sogar möglich, bleibende Schäden zu bekämpfen, zerstörtes Gewebe zu regenerieren. Die Behandlung einer Narbe gehört dabei ebenso dazu, wie das Regenerieren verlorener Kör-perteile, was der Körper in vielen Fällen nicht alleine schafft. Die gene-tisch initiierte Regeneration bestimmten Gewebes würde darüber hin-aus sogar viele Operationen ersetzen. Solche umfassenden Möglichkei-ten lassen bereits Überlegungen zu, ob der Tod irgendwann vermeid-bar sein wird.

Weitere Vorteile kann die Gentechnik bei der Entwicklung von Me-dikamenten bringen. So können beispielsweise bakterielle „Gentech-nisch veränderte Organismen“ (GVO), wenn sie menschliche Gene für Insulin versetzt bekommen, nahezu identisches Insulin herstellen, dass viele Vorteile gegenüber Insulin bietet, das durch andere Methoden gewonnen wird. Außerdem kann, wenn die DNA eines Bakteriums oder Virus´ entschlüsselt wurde, aus den Daten ein Impfstoff entwi-ckelt werden, der das Potential hat, alle Menschen gegen die von die-sen Erregern verursachten Krankheiten immun zu machen.9 Durch Gentechnik wäre es letztendlich auch möglich, bedrohte Lebewesen zu schützen oder sogar ausgestorbene wieder zu erschaffen.10

9 Kritisch hierzu: Klimpel (2012) 10 Kupferschmidt (2014)

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Fazit

Zusammenfassend bleibt festzustellen, dass die Entscheidung für oder gegen Gentechnik nicht absolut und allgemeingültig gefällt werden kann. Rein rational ist die Entscheidung über Gentechnik nämlich nicht möglich. Dass trotzdem fast jeder Mensch, den man darauf anspricht, eine Meinung zu diesem Thema hat, liegt folglich daran, dass es dem Mensch schwerfällt rein rational zu entscheiden. So spricht jeden Men-schen mindestens ein Argument aufgrund von persönlichen Erfahrun-gen oder individueller Prioritätensetzung mehr an als die anderen, sodass es ihn von der Position, für die es spricht, überzeugt. Dem einen gehen Moralvorstellungen oder christlicher Glaube über alles, dem anderen sind mögliche Positiva wichtiger, sodass er die Pro-Gentechnik Position vertritt. Ich finde bei beiden Positionen schlagkräftige Argu-mente, sodass meine ausschließliche Entscheidung für eine Position die Leugnung von unwiderlegbaren Thesen der Gegenposition bedingen würde. Die beste Lösung wäre meiner Meinung nach nicht der Grund-satzstreit der konträren Ansichten, sondern ein Versuch der Kompro-missfindung.

Da die Entwicklung der Gentechnik nicht aufzuhalten ist, sollte sich die Gesellschaft mit der Einschränkung und Optimierung befassen und sich für deren Anwendung ethische Normen setzen.

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Literatur- und Quellenverzeichnis

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Anna Keussen

Zweite Preisträgerin

Bischöfliche Maria-Montessori-Gesamtschule Krefeld

Die Präimplantationsdiagnostik als ein großes ethisches Diskussionsthema der Gegenwart

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung .......................................................................................... 42

2. Das Verfahren der Präimplantationsdiagnostik ........................... 42

2.1 Extrakorporale Befruchtung............................................................ 43

2.2 Überprüfung der künstlich befruchteten Eizelle ......................... 43

2.2.1 Embryobiopsie .................................................................................. 43

2.2.1.1 Blastomerbiopsie............................................................................... 43

2.2.1.2 Blastozystenbiopsie .......................................................................... 43

2.2.2 Polkörperbiopsie der Eizelle ........................................................... 44

3. Aktuelle Gesetzessituation in Deutschland .................................. 44

4. Die Debatte um die Präimplantationsdiagnostik ......................... 45

4.1 Ausschluss von Erbkrankheiten und Heilung kranker Familienangehöriger als Chance ..................................................... 45

4.2 Eingriff in das menschliche Erbgut ............................................... 47

4.2.1 Die Würde des Menschen ............................................................... 47

4.2.2 Auf dem Weg zur Selektion ............................................................ 48

5. Schlussbewertung ............................................................................ 49

6. Literatur- und Quellenverzeichnisverzeichnis ............................. 51

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1. Einleitung

Die moderne Welt ist von der Technik gezeichnet und bestimmt. Aber nicht nur moderne Technologien und die Medizin entwickeln sich mit jedem Tag weiter, auch in der Genforschung werden enorme Fortschritte gemacht.

Im Rahmen des Aufsatzwettbewerbs „Darf der Mensch alles, was er kann? - Bioethische Grenzen in der Forschung“ des Förderkreises für Bildungsarbeit im KKV e.V. setzt sich diese Arbeit mit der Präimplantationsdiagnostik (PID) und den durch diese aufgeworfenen Fragen auseinander. Die Thematik der Präimplantationsdiagnostik ist auch noch nach der Diskussion im Bundestag ein hochaktuelles Thema und wird sowohl in Presse, als auch den modernen Medien in unzähligen Beiträgen diskutiert, da sie den Eingriff in die Men-schwerdung und die biologischen Prozesse der Fortpflanzung dar-stellt.

Im ersten Teil wird das Verfahren der Präimplantationsdiagnostik kurz vorgestellt und darauffolgend mit Hilfe von ausgewählten P ro- und Contra-Argumenten bewertet. Dabei sollen neben Fragen nach richtigem oder falschem Handeln auch religiöse Aspekte zu den heuti-gen Möglichkeiten in der Reproduktionsmedizin und die aktuelle Gesetzeslage in Deutschland in Betracht gezogen werden. 2. Das Verfahren der Präimplantationsdiagnostik 2.1 Extrakorporale Befruchtung

Zur Präimplantationsdiagnostik muss eine extrakorporale, befruchtete Eizelle vorliegen. Durch eine vorangegangene Hormontherapie wird es der Frau ermöglicht, mehr als nur eine Eizelle pro Zyklus zu pro-duzieren, um eine spätere Untersuchung und Selektion überhaupt einzuleiten. Die Eizellen werden dem Uterus operativ entnommen und in flüssigem Stickstoff bei einer Temperatur von minus 196° Celsius1 eingefroren und gelagert. Befruchtet wird die Eizelle an-schließend entweder durch die In-Vitro-Fertilisation, kurz IVF, oder mit Hilfe der intrazytoplasmatischen Spermieninjektion (ICSI).

Bei der In-Vitro-Fertilisation (lateinisch „im Glas“), wird die Be-

1 Kinderwunschzentrum Mittelhessen (2014)

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fruchtung im Reagenzglas durchgeführt. Die Eizelle wird in ein Spermien und Nährboden enthaltendes Reagenzglas gegeben. Wie bei einer Befruchtung in vivo verschmilzt das Spermium, das als erstes die Eizelle erreicht, mit eben dieser. Das Sperma wird folglich nicht nach bestimmten Kriterien ausgewählt. Nach zwanzig Stunden kann eine Befruchtung bestätigt oder negiert werden.2

Bei einer intrazytoplasmatischen Spermieninjektion wird ein ein-zelnes Spermium unter dem Mikroskop in die Eizelle injiziert. Diese Methode wird vornehmlich angewandt, wenn beispielsweise die An-zahl der Spermien im Ejakulat zu gering für eine IVF ist. 2.2 Überprüfung der künstlich befruchteten Eizelle 2.2.1 Embryobiopsie 2.2.1.1 Blastomerbiopsie

Die Blastomerbiopsie wird im sogenannten 8-Zell-Stadium des Embryos, also circa „drei Tage nach der Befruchtung“3 durchgeführt. Dabei werden dem Embryo ein bis zwei Zellen durch Ansaugung und Perforation der Eihaut entnommen und ihre DNA auf „krankheits-relevante[r] Mutationen“4 untersucht. Es handelt sich bei diesen Zel-len um totipotente Zellen, das heißt, sie sind unter gewissen Umstän-den in der Lage, sich zu einem vollständigen Organismus zu entwi-ckeln. 2.2.1.2 Blastozystenbiopsie

Die Blastozystenbiopsie wird fünf bis sechs Tage nach der Befruchtung in einem Stadium von 32-58 Zellen angewandt.5 Hierbei werden bis zu zehn Zellen extrahiert, wobei das Verfahren aufgrund der engeren Zellverbindung wesentlich komplizierter und risikoreicher für den Embryo ist, als es bei der Blastomerbiopsie der Fall ist. Auch hier wird im folgenden Schritt die DNA auf mögliche negative Mutationen untersucht. Die Zellen sind nun pluripotent, weshalb sie sich faktisch nicht mehr zu einem eigenständigen Organismus entwickeln können.

2 Diethard (2004), S. 161 3 Deutsches Referenzzentrum (2014b) 4 Ebd. 5 Ebd.

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2.2.2 Polkörperbiopsie der Eizelle

Eine Polkörperbiopsie der Eizelle zählt streng genommen nicht zur PID, sondern gehört der Präkonzeptionsdiagnostik an und bildet damit ein Gegenstück der extrakorporalen Untersuchung zur PID. Hierbei werden die Polkörper der Eizelle, die das Genmaterial tra-gen, vor einer künstlichen Befruchtung untersucht. Die Zerstörung eines Embryos ist ausgeschlossen. Die Analyse liefert jedoch nur Auf-schluss über das mütterliche Erbgut. Sie kann „durch die präkon-zeptielle Untersuchung männlicher Samenzellen ergänzt werden“6, welche bei der Prozedur allerdings vorwiegend zerstört und damit unbrauchbar gemacht werden. 3. Aktuelle Gesetzessituation in Deutschland

Das 1991 in Kraft getretene Embryonenschutzgesetz (ESchG), gilt bis heute mit nachträglich verfassten Additionen als Gesetzesgrundlage der Präimplantationsdiagnostik. Das Gesetz definiert in dreizehn Para-graphen den richtigen Umgang mit Embryonen und die strafrechtliche Verfolgung bei der Missachtung des Gesetzes. Besonders interessant für die Thematik der Präimplantationsdiagnostik sind § 3a „Präim-plantationsdiagnostik; Verordnungsermächtigung“7 und § 8 Abs. 1 und 2 „Begriffsbestimmung“8. Der § 8 Abs. 1 definiert ein Embryo „vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung an“9, demnach eine be-fruchtete und entwicklungsfähige Eizelle und darüber hinaus jegliche dem Embryo entnommene totipotente Zelle, die sich unter gegebe-nen Umständen zu einem Embryo entwickeln könnte. § 3a wurde nach einer Debatte im Bundestag am 7. Juli 2011 dem ESchG hinzuge-fügt. Vorausgegangen war dieser Ergänzung der Freispruch des Berli-ner Gynäkologen Dr. Bloechle durch den 5. („Leipziger“) Strafsenat des Bundesgerichtshofs im Juli 2010 vom Verdacht, gegen § 1 Abs. 1 Nr.2 und § 2 Abs. 1 ESchG verstoßen zu haben.10 Die Abstimmung über die Erweiterung des ESchG erfolgte ohne Fraktionsdisziplin.

6 Ebd. 7 ESchG, § 3a 8 ESchG, § 8, Abs. 1 und 2 9 ESchG, § 8, Abs. 1 10 Deutsches Referenzzentrum (2014c)

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Die PID ist seitdem in einzelnen Fällen rechtlich erlaubt. Die Paare müssen sogenannte „Risikopaare“11 sein, deren leiblichen Kindern eine schwerwiegende Erbkrankheit droht. In dem jeweiligen Fall entscheiden interdisziplinäre Ethikkommissionen über eine Genehmi-gung der PID. Alle Fälle werden anonym dokumentiert und werden vierjährlich von der Bundesregierung in einem Bericht herausgege-ben. 4. Die Debatte um die Präimplantationsdiagnostik 4.1 Ausschluss von Erbkrankheiten und Heilung kranker Familien-

angehöriger als Chance

Die Entscheidung, auf die PID als Reproduktionsverfahren zurück-zugreifen, geschieht nicht nach Belieben, sondern aus „Notsituatio-nen“12 heraus, in denen sich Eltern befinden, „die um eine verhäng-nisvolle erbliche Belastung wissen oder die das Drama einer Tot- oder Fehlgeburt erlebt haben.“13 Die PID stellt folglich eine Alternative zu einer späteren Abtreibung dar.

Im Falle von in der Familie vorkommenden Erbkrankheiten kann die PID hilfreich sein, um ein weiteres Ausbrechen der Krankheit zu unterbinden. Das modifizierte ESchG ermöglicht diese vorgeburtliche Selektion von Embryonen in Einzelfällen, jedoch existiert ein festgeleg-ter Krankheitskatalog für die Zulassung einer PID nicht und es soll auch keiner aufgestellt werden. Die PID soll in Fällen angewandt wer-den, in denen sie „wirklich Leid verhindern kann“14. Sie soll nicht ein „kategorisches Urteil über bestimmte Krankheitsbilder und über le-bensunwertes und lebenswertes Leben fällen“15. Insgesamt wurden bisher etwa 170 Krankheiten16 mit Anwendung der PID festgestellt. Trotz des Listenverbotes werden vereinzelte Krankheiten häufiger auf-geführt als andere, dazu zählen unter anderem Chorea Huntington, Spinale Muskelatrophie, Cystische Fibrose oder die Muskeldystro-

11 Wallner (2009) 12 stern.de (2011) 13 Ebd. 14 Reutlinger General-Anzeiger (2003) 15 Frank (2011) 16 Henn (2014)

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phie Typ Duchenne.17 Allgemein wird nach X-chromosomal beding-ten, beziehungsweise einzelne Chromosomen betreffenden Krank-heiten gesucht.18

Die Methode zur Überprüfung der Human- Leukocyte-Antigen-Kompatibilität, kurz HLA-Kompatibilität, ermöglicht es Eltern eines von einer Erbkrankheit betroffenen, Kindes ein „saviour sibling“, zu Deutsch ein „ Rettergeschwisterchen“, zu identifizieren. Stimmt die HLA-Kompatibilität von Embryo und erkranktem Kind überein, wird dieser Embryo in den Uterus transferiert. Nach der Geburt dient ein „saviour sibling“ seinem erkrankten Geschwister-kind durch Spenden von Gewebe und Stammzellen zur Heilung. Berühmt geworden ist diese Art von Entscheidung zur PID beson-ders durch den Roman „My Sisters Keeper“ von Jodi Picoult, der von der dreizehnjährigen Anna erzählt, die als Knochenmarkspende-rin für ihre ältere, an Leukämie erkrankte Schwester in vitro ausge-wählt wurde.19 Der erste reale Fall ereignete sich 2000 in den USA, als Adam Nash als gesunder und kompatibler Spender für seine an Fanconi-Anämie erkrankte Schwester geboren wurde. 20 Das Verfahren ist in Deutschland, sowie in Österreich und der Schweiz verboten, um eine Verselbstständigung zu verhindern.

Mit der PID sinken gleichzeitig die Risiken für eine spätere Ab-treibung gegen Null, da in den Uterus nur gesunde Embryonen eingepflanzt werden. Eine Pränataldiagnostik, kurz PND, die die Erkenntnis mit sich bringen kann, dass eine Abtreibung für die Mutter sinnvoller ist, ist nahezu ausgeschlossen. Vor der Debatte im Bundestag äußerte sich CDU-Politiker Peter Hintze folgendermaßen zu dem The-ma:

„Ein totales PID-Verbot würde zu schweren Wertungswidersprü-chen in unserer Rechtsordnung führen. Diese erlaubt den Gebrauch nidationshemmender Mittel, (...) schon jetzt rechtlich eine Untersu-chung des Embryos im Mutterleib und nach Beratung eine Abtrei-bung (...). Auch eine Spätabtreibung ist sogar bis zur Geburt möglich (...).“21

17 Deutsches Referenzzentrum (2014a) 18 European Journal (2009) 19 Picoult (2005) 20 The Status of the Human Embryo (2014) 21 stern.de (2011)

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Hintze zeigt hier den Widerspruch auf, dass der Embryo auf der ei-nen Seite vom Gesetz her geschützt werden soll und auf der anderen Seite aber auch bis kurz vor der endgültigen Menschwerdung, der Geburt, abgetrieben werden darf. Frauen „bei Vorliegen einer schwe-ren genetischen Belastung gewissermaßen in diese Konfliktsituation zu treiben“22, sei ethisch und rechtlich unvertretbar, weswegen die PID eine alternative Form der erfolgreichen Krankheitsprävention anbietet. 4.2. Eingriff in das menschliche Erbgut 4.2.1 Die Würde des Menschen

„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“23

Dieser Satz ist in der deutschen Verfassung der erste Abschnitt und spielt in der Argumentation um die PID in direkter, beziehungsweise veränderter Form eine enorme Rolle. Der Begriff der Würde des Menschen existiert jedoch nicht erst seit Inkrafttreten des deutschen Grundgesetztes am 23. Mai 1949, sondern blickt auf eine lange Ge-schichte zurück.

Zwei Wurzeln für die moderne Definition der Menschenwürde fin-den sich in der Antike wieder: zum einen in der griechischen „Selbst-achtung des Individuums“24 und zum anderen in der jüdisch-christlichen Ergänzung der „Achtung vor dem Anderen“25. Der Mensch wurde als Ebenbild Gottes geschaffen (Gen 1,26) und stellt dessen Vertreter auf Erden dar. Er wacht über Gottes Schöpfung und das Leben. Damit ist der Mensch zugleich ebenso unverfügbar wie Gott, dessen Unverfügbarkeit sich im biblischen Bilderverbot (Ex 20,4) äußert. Ein rigoroses Bilderverbot soll die Verdinglichung verhindern und zwar nicht nur die Gottes, sondern auch die des Menschen.26

Genau an diesem Punkt muss man ansetzen und fragen, ob eine extrakorporale Befruchtung, die eine PID mit sich führt, die Got-tesebenbildlichkeit und letztendlich die Menschenwürde nicht ver-letzt, da sie das Bild des Menschen neu zu formen vermag. Um dies zu

22 Ebd. 23 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art. 1, Abs. 1 24 Gebhard et al. (2005), S. 175 25 Ebd. 26 Ebd., S. 35

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beantworten, ist eine Definition vonnöten, wann der Mensch, bezie-hungsweise der Embryo als Mensch mit Anrecht auf Würde und Leben wahrzunehmen ist. Das deutsche ESchG sieht einen Embryo als das sofortige Ergebnis der Befruchtung an (siehe Kapitel 3 ), aber dadurch ebenfalls auch automatisch als Menschen? Die katholische Kirche spricht mit der Befruchtung vom „embryonalen Menschen“27 und statuiert damit sofort, dass sich selbst die gerade befruchtete Eizelle schon auf dem Weg der „Menschwerdung“28 befindet. Der Embryo ist bereits eine Person und hat daher Anrecht auf Würde und Leben, was durch eine Selektion während der PID missachtet würde. Definiert man den Embryo zu Beginn hingegen als „menschlichen Embryo“29, ist er noch keine Person mit Anspruch auf Leben und Schutz, sondern befindet sich noch auf dem Weg dorthin. Aus dieser Perspektive kann man den Prozess der Entwicklung genau festlegen und einen Zeitpunkt bestimmen, wann der Mensch Mensch wird. Diese eher biologische Annäherung ermöglicht die PID und das Selek-tieren von Embryonen ohne einen direkten moralischen Konflikt, der Tötung einer Person.

Für diejenigen, die sich in der Debatte um die ethische Richtigkeit der PID gegen diese aussprechen, ist die Unantastbarkeit der Würde des Menschen ein häufig angeführtes Argument. Denn, wie oben bereits angeführt, ist der Embryo mit der Kernverschmelzung ein menschliches Wesen und nicht erst nach der beispielsweise dritten Zellteilung. Folglich steht ihm das Recht auf Leben zu, denn die Men-schenwürde gilt nicht nur für die auserwählten gesunden Embryonen, sondern ebenso für die „schadhaften“30. 4.2.2 Auf dem Weg zur Selektion

Das Wort „Designerbaby“ ist seit 1985 ein feststehender Begriff, der Babys beschreibt, die durch In-Vitro-Fertilisation entstanden sind und deren Gene auf Grund gewisser Präferenzen untersucht und modifiziert wurden. Die Gegner der PID sehen genau diesen Vorgang als Gefahr an. Denn am Anfang, also heutzutage, steht die Selektion

27 Huber (2013), S. 42 28 Ebd. 29 Ebd. 30 Willam (2011)

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eines gesunden Embryos, aber was ist beispielweise in fünfzig oder hundert Jahren wichtig und möglich, fragen sich die Gegner. Es ist durchaus möglich, dass die Bestimmung von Augen und Haarfarbe des Embryos auf Grund seiner DNA festgestellt werden kann, wenn auch dieser Prozess heute noch nicht möglich ist, da viele DNA- und Proteinstrukturen noch nicht vollends aufgeklärt sind. Es ist das sogenannte „Dammbruchargument“31, welches angeführt wird. Vor der neuen Gesetzesregelung in Deutschland (siehe Kapitel 3) lautete die Befürchtung ihrer Gegner, dass, werde die PDI in Einzel-fällen erlaubt, sie sich bald verselbstständige und unerwartete Ausma-ße an annähme.

Der achte Bundespräsident Deutschlands, Johannes Rau, hielt 2001 eine Rede über die Fortschritte in der Biotechnologie und die dadurch aufkommenden ethischen Probleme. Im Zusammenhang mit dem Thema Sterbehilfe brachte er die Eugenik zur Sprache, eine Passage, die sich auch auf die PID anwenden lässt. Johannes Rau verweist darauf, dass „die Geschichte uns hilft - nicht nur uns Deutschen - zu begreifen, was geschieht, wenn Maßstäbe verrückt werden, wenn Menschen vom Subjekt zum Objekt gemacht werden.“32

Dabei gilt dieser mögliche, negative Prozess nicht nur für die Deutschen, sondern genauso für andere Länder, deren technischer Fortschritt den Weg zum Designerbaby praktikabel machen kann. Auch wenn zur Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutsch-land die PID technisch noch nicht umsetzbar war, sollten ihre Eutha-nasiebestrebungen als Warnung für die heutige Gesellschaft gelten, um eine zukünftige Gesellschaft ohne Krankheiten und Behinderun-gen nicht zum Ziel werden zu lassen. 5. Schlussbewertung

Die eingeschränkte Erlaubnis zu einer PID ist für deren Fürsprecher ein erster Schritt zu einem krankheitsfreieren Leben, weil Erbkrankheiten erkannt und unterbunden werden können. Darüber hinaus können ausgewählte Embryonen bei der Heilung von erkrankten Geschwis-tern helfen, selbst wenn dies in Deutschland bisher nicht erlaubt ist.

31 Ebd. 32 Zitiert nach Graumann (2001), S. 26

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Für ihre Gegner ist die PID hingegen der erste Schritt zu einem un-kontrollierbaren Prozess, der nicht nur die Menschenwürde und das von Gott geschenkte Leben in Frage stellt, sondern auch das mensch-liche Bestreben nach mehr und größerer Perfektion ins Rollen bringt, was letztendlich zu sogenannten Designerbabys führen könnte.

Die PID greift vehement in die Schöpfung Gottes ein, aber nicht nur das, sie unterbricht auch den natürlichen Lebensablauf des Men-schen. Es wird über Merkmale geurteilt, die jeden Menschen einzig-artig machen und ihm eine Identität geben. Auch wenn die PID in einem Stadium der menschlichen Entwicklung angewandt wird, in der es schwer zu differenzieren ist, ob der Embryo bereits unter Schutz steht oder nicht, wird ein zukünftiges Leben vorab beeinflusst. Ethisch handelt der Mensch in dieser Situation nach Albert Schweizer nicht, da dies nur geschieht, „wenn ihm das Leben als solches, das der Pflanze und des Tieres wie das des Menschen, heilig ist und er sich dem Leben, das in Not ist, helfend hingibt“33, eine Gegebenheit, die bei der Präimplantationsdiagnostik durch das Vorschieben guter Absichten umgangen wird. Stattdessen befindet sich die Menschheit mit der Benutzung der PID auf einem Weg zu einer homogenen Gesellschaft, die keinerlei Fehler aufweist. Die Menschen, die noch durch herkömmliche Reproduktion entstanden sind und eine Krank-heit oder Behinderung aufweisen, werden im Extremfall an den Rand der Bevölkerung gedrückt und geraten in eine Außenseiterposition.

33 AISL (2014)

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6. Literatur- und Quellenverzeichnisverzeichnis

AISL - Internationale Albert Schweitzer Vereinigung (2014): Ehrfurcht vor dem Leben. URL: http://www.schweitzer.org/2012/de/leben-und-werk/ ehrfurcht-vor-dem-leben (Stand: 04.11.2014) Baron, Diethard. u.a. (Hrsg.) (2004): Grüne Reihe. Materialien S II. Genetik. Braunschweig Deutsches Referenzzentrum für Ethik in Biowissenschaften (2014a): PID-Anwendung bei genetisch bedingten Krankheiten. URL: http://www.drze.de/ im-blickpunkt/pid/module/pid-anwendung-bei-genetisch-bedingten- krankheiten-1 (Stand: 02.11.2014) Deutsches Referenzzentrum für Ethik in Biowissenschaften (2014b): Präimplantationsdiagnostik. URL: http://www.drze.de/im-blickpunkt/pid (Stand: 08.11.2014) Deutsches Referenzzentrum für Ethik in Biowissenschaften (2014c): Ur-teil des Bundesgerichtshofs zur PID an Blastozysten. URL: http://www.drze. de/im-blickpunkt/pid/module/urteil-des-bundesgerichtshofs-zur-pid (Stand: 26.10.2014) Embryonenschutzgesetz (ESchG) vom 13. Dezember 1990 (BGBl. I S. 2746), das zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 21. November 2011 (BGBl. I S. 2228) geändert worden ist. URL: http://www.gesetze-im-internet.de/eschg/BJNR027460990.html European Journal of Obstetrics & Gynecology and Reproductive Biolo-gy (2009) (online): Preimplantation genetic diagnosis: State of the art. (22.4.2009). DOI: http://dx.doi.org/10.1016/j.ejogrb.2009.04.004 Frank, Charlotte: Welche Paare auf PID hoffen dürfen. (7.7.2011). URL: http://www.sueddeutsche.de/gesundheit/praeimplantationsdiagnostik- welche-paare-auf-pid-hoffen-duerfen-1.1117474 (Stand: 02.11.2014) Gebhard, Ulrich/Hößle, Corinna/Johannsen, Friedrich (2005): Eingriff in das vorgeburtliche Leben. Naturwissenschaftliche und ethische Grundlegun-gen. Neukirchen-Vluyn Graumann, Sigrid (Hrsg.) (2001): Die Genkontroverse. Grundpositionen. Mit der Rede von Johannes Rau. Freiburg im Breisgau Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in der im Bundesgesetz-blatt Teil III, Gliederungsnummer 100-1, veröffentlichten bereinigten Fassung, das zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 23. Dezember

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2014 (BGBl.I S. 2438) geändert worden ist. URL: http://www.gesetze-im-internet.de/gg/BJNR000010949.html Henn, Volker (2014): Präimplantationsdiagnostik: Gentest für Embryonen. URL: www.wissensschau.de/stammzellen/praeimplantationsdiagnostik_ pid.php (Stand: 02.11.2014) Huber, Wolfgang (2013): Ethik. Die Grundfragen unseres Lebens. Von der Geburt bis zum Tod. München Kinderwunschzentrum Mittelhessen (2014): Kryonkonservierung. URL: http:// www. ivf-giessen.de/de/leistungen/zusatzleistungen/kryokonservierung. html (Stand: 08.11.2014) Picoult, Jodi (2005): My Sister’s Keeper. Washington Square Press Reutlinger General-Anzeiger (2003) (online): „Abtreibung ist schlimmer als PID”. (22.1.2003). URL: http://www.gea.de/nachrichten/politik/+abtreibung+ ist+schlimmer+als+pid.389993.htm (Stand: 08.11.2014) stern.de (2011): Pro und Contra zur PID-Abstimmung im Bundestag: Em-bryonentests: Fortschritt oder Sünde? (7.7.2011). URL: http://www.stern. de/gesundheit/pro-und-contra-zur-pid-abstimmung-im-bundestag-embryonentests-fortschritt-oder-suende-1703041.html (Stand: 14.10.2014) The Status of the Human Embryo. A Learning Aid for UK Medical Students (2014) (online): Embryo and the law. Saviour Siblings. URL: http://embryo-ethics.smd.qmul.ac.uk/tutorials/embryo-and-the-law/ saviour-siblings/ (Stand: 08.11.2014) Wallner, Sybille (2009): Moralischer Dissens bei Präimplantationsdiagnostik und Stammzellenforschung. Eine ethische Lösungsmöglichkeit. Ingelheim am Rhein Willam, Michael (2011): Pro und contra PID - Eine Stellungnahme. (10.2. 2011). URL: http://www.kath-kirche-vorarlberg.at/organisation/ ethikcenter/artikel/pro-und-contra-pid-eine-stellungnahme (Stand: 14. 10.2014)

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Regina Kirschner

Dritte Preisträgerin

St. Marien-Gymnasium der Schulstiftung der Diözese Regensburg

Kinderwunsch auf Eis? – Zur ethischen Problematik des Social Freezing

Inhaltsverzeichnis

1. Problemerörterung ............................................................................... 54

2. Ein abzulehnendes Angebot? .............................................................. 54

3. Gegner und Befürworter des Verfahrens .......................................... 56

4. Ethische Herausforderungen .............................................................. 58

5. Utilitaristisches Angebot ...................................................................... 60

6. Zusammenfassung................................................................................ 62

7. Literatur- und Quellenverzeichnis ..................................................... 62

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1. Problemerörterung

„Dynamisch, innovativ und wegweisend“, so in etwa könnte die Cha-rakterisierung der beiden Wirtschaftsgiganten Apple und Facebook lauten. Diese beiden Firmen eint nun die Idee zu einem Konzept, dass jungen Mitarbeiterinnen mehr Freiheit und Flexibilität bezüglich der Vereinbarung von Karriere und Familie bieten soll. Social Freezing soll die langersehnte Lösung eines durch die Emanzipation bedingten Ge-wissenskonflikts sein. Im Klartext, auf die beiden oben genannten Un-ternehmen bezogen, bedeutet das folgendes: Junge, US-amerikanische Arbeitnehmerinnen sollen die Möglichkeit nutzen, ihre Eizellen einfrie-ren zu lassen. Dies soll den zum persönlichen Glück beitragenden Kin-derwunsch, auch jenseits des 40. Geburtstages, sichern. Das Verfahren der Entnahme, Konservierung und Lagerung der unbefruchteten Zel-len ist jedoch kostspielig.1 In Deutschland beispielsweise kann man derzeit mit ca. 1.200 Euro für den Eingriff und je durchschnittlich 300 Euro für ein Jahr zur Aufbewahrung der Eizellen rechnen.2 Hinzu kommen noch je nach Anbieter 3.000 bis 3.500 Euro für die präoperati-ve Medikation. Bei dieser Summe wäre die Eizellenlagerung bereits mit inbegriffen.3 Hier kommen Apple und Facebook ins Spiel. Sie über-nehmen den finanziellen Part des Social Freezing. So erhält die Mitar-beiterin die Möglichkeit, sich voll und ganz auf ihren Beruf zu konzent-rieren.4 2. Ein abzulehnendes Angebot?

Auf den ersten Blick wirkt das Angebot sehr verlockend. Wer viel Zeit, Aufwand und, besonders in den USA, jede Menge Geld in seine (Aus-) Bildung investiert hat, möchte als junge Frau selbstverständlich in einer Position arbeiten, die nicht nur den erreichten Qualifikationen ent-spricht, sondern auch aus monetärer Sicht nichts zu wünschen übrig lässt. Mit anderen Worten: Es wird suggeriert, dass sich dank dieser Technik Erfolg im Job und Familiengründung nicht ausschließen. Doch wie gehen die Unternehmen mit den Mitarbeiterinnen um, die dieses

1 Weber (2015) 2 Grüneberg (2015) 3 ZEIT ONLINE (2014) 4 Weber (2015)

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Angebot aus ethischen Beweggründen ablehnen? Spiegel TV befragte junge Frauen zu diesem Thema.5 Ob diese Um-

frage in einer Fußgängerzone nun repräsentativ ist, sei dahin gestellt, jedoch werden klar und deutlich Bedenken geäußert. Dadurch würden die Frauen eher unter Druck gesetzt, so eine Passantin. Denn die ver-steckte Aussage der Konzerne sei, dass sie von ihren Mitarbeiterinnen erwarteten, die Arbeit als erste Priorität zu betrachten. Wie stünden die Unternehmen dann zu jungen Müttern? „Ich frage mich gerade, was es meinen Arbeitgeber angeht, was mit meinen Eizellen passiert?“ Das Misstrauen dieser jungen Frau ist ebenso verständlich, wie die Aussage einer weiteren Passantin, die der Meinung ist, dass die Beweggründe von Apple und Facebook lediglich eine Steigerung der Qualität, der Dauer und der Produktivität der Leistung der Arbeitnehmerin seien. Eine andere Frau spricht sogar von Diskriminierung derer, die sich nicht die Eizellen einfrieren lassen wollen würden. Würden jene dann bei diesen Konzernen noch einen Arbeitsplatz bekommen?

Auch losgelöst von diesem von Apple und Facebook subventionier-ten Eingriff, sind die Meinungen zum Social Freezing in Deutschland kontrovers. Eine Umfrage der „ZEIT“ ergab, dass 37 Prozent der Be-fragten nichts gegen eine nach hinten verschobene Familienplanung mithilfe der Eizelleneinfrierung hätten, die Mehrheit sieht dies jedoch anders. Doch es wird prognostiziert, dass sich in Zukunft mehr Frauen für dieses Verfahren entscheiden werden. Grund zu dieser Annahme liefern 53 Prozent der 14- bis 18-Jährigen, welche das Social Freezing aus Karrieregründen befürworten.6 Bedeutet dies, dass in Zukunft wirtschaftliche Aspekte unser Handeln mehr als zuvor bestimmen werden? Oder sieht sich der Mensch einer neuen Stufe der Freiheit gegenüber, die sein Leben verändern wird? Gelten jene, die sich gegen diese Praxis aussprechen, als zurückgeblieben?

Der Sozialethiker Dr. Arne Manzeschke weist auf den Faktor der Kontrolle hin.7 Dank des Social Freezing könnten Frauen selbstbe-stimmter schwanger werden und mehr Rücksicht auf die jeweils aktu-elle Lebenssituation nehmen. Es gebe also die Möglichkeit, freier zu agieren als bisher. Auf diese Weise werde das menschliche Handlungs-

5 Spiegel TV (2014) 6 Sharp (2014) 7 Bayerischer Rundfunk (2014)

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spektrum erweitert. Freier zu sein, bedeutet auch, sich in einem größe-ren Umfang als bisher entscheiden zu müssen und damit wächst die Verantwortung. Jedoch entstehe, laut Dr. Manzeschke, der Zwang, die neugewonnene Freiheit auszuschöpfen. Auch kann es zu einer Über-forderung kommen, wann der geeignete Zeitpunkt sei. Wann sprechen rationale Gründe für das Auftauen der Zellen? Wenn ich einen Partner gefunden habe? Wenn ich glaube, dass mein Arbeitsplatz sicher ist oder gerade wenn ich im Beruf gescheitert bin? Zudem würden beim Social Freezing Zufall, Liebe, Natur und Schicksal durch Kalkulation ersetzt werden. Somit steht der Wert Kontrolle bei diesem Eingriff weit über dem Wert Liebe, zumindest was die Schwangerschaft betrifft, denn spontan würde wohl eine große Mehrheit der Frauen Liebe als weitaus essentieller als Kontrolle betrachten. Das heißt, dass eine scheinbar allgemeingültige Hierarchie von Werten die Wirklichkeit nicht adäquat abzubilden vermag. Dringlichkeit und Höhe eines Wer-tes bleiben also völlig offen. Lediglich die betroffene Person, die junge Frau, die sich nun wohl bald immer öfter dieser Entscheidung stellen muss, bestimmt welchen Rang ein Wert in einer individuellen, momen-tanen Situation für sie einnimmt. Hier wird der Wertewandel unserer Gesellschaft besonders deutlich. Es gibt keine vorgeformte Wertepalet-te mehr; unsere Wertvorstellungen sind ebenso individualistisch wie auch subjektivistisch.

3. Gegner und Befürworter des Verfahrens

Arline Schuller, 25 Jahre alt, hat ihre persönlichen Beweggründe für das Social Freezing: „Ich will jetzt mein Leben leben […] und im Beruf wei-terkommen".8 Sie plant deshalb erst ab Mitte 30 eine Schwangerschaft. Sie hat die Erfahrung gemacht, dass sich insbesondere die ältere Gene-ration gegen das Social Freezing ausspricht. Dies mag in erster Linie von ihrem ethischen Naturverständnis herrühren. Hier wird davon ausgegangen, dass alles innerhalb unserer empirischen Welt zweckge-bunden zur Erfüllung einer Aufgabe existiert. Dieser Zweck wiederum hat die Bestimmung, die natürliche Ordnung im Gleichgewicht zu hal-ten. Das Tier hat einen Instinkt, welcher es bei seiner Zweckerfüllung

8 Guyton (2014)

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leitet. Der Mensch ist jedoch frei. Dies macht ihn schuldfähig, was dazu führen kann, dass seine Handlungsweisen die natürliche Ordnung negativ beeinflussen. Somit sollte eine junge Frau, nach traditionellem Verständnis, den Weg zur Schwangerschaft im Einklang mit der Natur gehen, indem sie mit ihrem Partner schläft. Wenn es auf diese Weise nicht zur Schwangerschaft kommen sollte, so hat auch dies seinen Zweck. Social Freezing ist, aus diesem Blickwinkel heraus betrachtet, unnatürlich. Eizellen zu entnehmen und einzufrieren war in dieser immanenten Ordnung nicht vorgesehen. Daraus folgt, dass diese Art des Kinderkriegens sich negativ auswirken wird.9 Jedoch ist diese Ein-stellung altersunabhängig. Junge Menschen schließen sich dieser Mei-nung ebenso an.

Die Befürworter des Social Freezing halten diese Argumentation für antiquiert. „[Die Ethik] hängt [vom] Menschenbild ab“10, in diesem Fall in Abhängigkeit vom jeweiligen Frauenbild. Innerhalb der letzten 70 Jahre hat sich, die technische Entwicklung ausgenommen, nichts so grundlegend gewandelt wie das Leben der Frauen in den Industrielän-dern. Heute sind Frauen zum Teil Single, weil sie sich so entschieden haben. Dank der Antibabypille und anderen Verhütungsmethoden führen sie ein flexibleres Sexualleben als je zuvor. Mütter wurden im-mer selbstbewusster und damit auch ihre Töchter. Dass Frauen nun nicht aufgrund von Faktoren wie Beruf, dem fehlenden Partner oder das Alter auf einen ganz wesentlichen Teil ihres Glückes verzichten wollen, ist verständlich. Der Wunsch, einem Kind das Leben zu schen-ken, ist hier wesentlich entscheidender als zum Teil anerzogene Moral-bedenken. Im Bayerischen Rundfunk äußert sich in einem Beitrag eine Frau, die sich für die Möglichkeit des Social Freezing entschieden hat. Sie ist noch auf der Suche nach einem Partner. Jedoch ist die 41-jährige optimistisch, dass sie den Richtigen finden wird. Auch wünscht sie sich, eine Familie gründen zu können, ein Kind zu bekommen. Dank Social Freezing besteht für sie immer noch die Möglichkeit, ihren Traum zu verwirklichen. Doch sie betrachtet die neue Methode auch von einem realistischen Standpunkt aus. Die Wahrscheinlichkeit mit 41 oder älter ein Kind zu bekommen, ist gering und das Risiko für Kom-plikationen steigt mit jedem zusätzlichen Lebensjahr. „Ich sehe es so

9 Galindo/Zagal (2000), S. 41-46 10 Ebd., S. 46

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ein bisschen wie einen Lottoschein, den ich mir jetzt gekauft habe. Die Wahrscheinlichkeit, dass man gewinnt, die ist wahnsinnig gering, aber wenn man nicht mitspielt, kann man auch nicht gewinnen, oder?“11

4. Ethische Herausforderungen

Die Technik des Social Freezing ist keine Neuheit. Früher war der Vor-gang jedoch sehr aufwändig, weshalb lediglich Frauen mit einer fruchtbarkeitsmindernden Erkrankung bzw. Patientinnen, die mit Me-dikamenten therapiert wurden, die sich negativ auf die Eierstöcke auswirken, die Möglichkeit hatten, ihre Eizellen einfrieren zu lassen. Der Eingriff wurde vor einer Chemo- oder Strahlentherapie vorge-nommen, ebenso bei Frauen mit eingeschränkter Eierstockfunktion („Premature Ovarian Failure“), Endometriose oder immunologischen Krankheiten, wie der Hashimoto-Thyreoiditis.12 Mittlerweile ist es we-sentlich einfacher Eizellen einzufrieren. Man verwendet dazu derzeit 200 Grad Celsius kalten Stickstoff. Dieser Fortschritt macht das Social Freezing für jede Frau erst möglich.

Da jeder Mensch gleichberechtigt ist und somit die gleichen Rechte besitzt, wie das Wort schon beinhaltet, ob nun krank oder nicht, wäre es aus diesem Verständnis heraus falsch, gesunden Frauen die Mög-lichkeit, ihre Eizellen einfrieren zu lassen, zu verbieten. Allerdings ist zu beachten, dass der Handlungsspielraum, den der technische Fort-schritt ermöglicht, nicht blindlings ausgeschöpft werden darf. Unter dem Gesichtspunkt ethischer Bewertung muss miteinbezogen werden, dass sowohl die Weiterentwicklung der Technik, als auch diese selbst aus dem Tun des Menschen resultieren. Es stellt sich also die Frage, ob die Natur und ihre Ordnung beim Social Freezing missachtet wird oder nicht.13 Denn auch hier gilt der Grundsatz: „Der Mensch ist nicht das Maß der Natur.“14 Problematisch ist die Eizellenentnahme an sich nicht. Es gibt jedoch noch keine Langzeitstudien, die nachweisen, ob es even-tuell gesundheitliche Risiken für ein Kind gibt, das aus einer wieder

11 Bayerischer Rundfunk (2014) 12 Winsauer (2013) 13 Galindo/Zagal(2000), S. 212. 14 Ebd.

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aufgetauten Eizelle entstanden ist.15 Ist ein derart blindes Vertrauen in die Technik, wenn es um Menschenleben geht, zulässig?

Aus gesetzlicher Sicht steht dem Social Freezing nichts im Wege. Da die Eizellen unbefruchtet sind, stellt sich die Frage „Ab wann ist der Mensch ein Mensch?“ nicht, da es sich nicht um einen Embryo handelt. Sowohl die Entfernung der Eizellen als auch deren Aufbewahrung in gefrorenem Zustand verstößt gegen kein gültiges Gesetz.16 Zwar wird der Eingriff von Reproduktionsmedizinern durchgeführt, doch im Ge-gensatz zur künstlichen Befruchtung handelt es sich um keine assistier-te Reproduktion, zumindest nicht zum Zeitpunkt der Eizellenentnah-me. Laut Bundesärztekammer „[wird] als assistierte Reproduktion […] die ärztliche Hilfe zur Erfüllung des Kinderwunsches eines Paares durch medizinische Hilfen und Techniken bezeichnet.“17

Da die Frau, die diese Technik anwendet, zumeist in keiner Partner-schaft ist, sind diese Kriterien, unzutreffend. Die ausführenden Ärzte, wie Dr. Jörg Puchta, haben keine Bedenken. Dieser verweist auf die künstliche Befruchtung, die gesetzlich zulässig ist und von vielen Paa-ren mit Kinderwunsch in Anspruch genommen wird. Ohne die Hilfe des Medizinnobelpreisträgers Robert Edwards, der sich nicht von mo-ralisch und ethisch begründeten Vorwürfen von seiner Forschung ab-halten ließ, wären zahlreiche Kinder nicht geboren worden, so Puchta. Das Social Freezing stellt, von diesem Standpunkt aus, nach der IVF nur einen weiteren Schritt dar.18

Jedem Menschen sollte meines Erachtens selbst überlassen werden, ob er sich für oder gegen das Social Freezing entscheidet. Ein einheitli-cher, von allen befürworteter Konsens wird in Situationen wie dieser nicht mehr gefunden werden.19 Die Institutionalisierung der Ethik so-wie gemeinsame ethische Grundprinzipen würden in der Streitfrage des Social Freezing wenig nützen. Wenn wir es als oberste Priorität ansehen, das Leben des Menschen zu schützen, so sind darauf abzie-lende Bedenken bei jenem Verfahren irrelevant. Weder von einem ge-setzlichen noch von einem religiösen Standpunkt aus wird gegen einen gemeinsamen Ethikkodex verstoßen, da das Leben noch gar nicht vor-

15 ZEIT ONLINE (2014) 16 Winsauer (2013) 17 Bundesärztekammer (2006), A 1393 18 Bayerischer Rundfunk (2014) 19 Wiesing (2012), S.29

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handen ist. Social Freezing an sich dürfte also trotz einiger moralischer Bedenken auf wenig gesellschaftlichen Widerstand stoßen, da die Ach-tung vor dem Menschen jederzeit gewahrt wird. Das neue Verfahren als ruchlos zu bezeichnen, käme einer starken Vereinfachung des Sach-verhaltes gleich.

Allerdings ist nachvollziehbar, weshalb das Angebot von Apple und Facebook von vielen Frauen so betitelt wird. Es geht darum, dass sich der Mensch dem Gesellschaftssystem anpassen soll. Dies ist aus ethischer Sicht keinesfalls gutzuheißen und reflektiert wiederum den zunehmenden Eudämonismus-Trend, mit dem Arbeitgeber ihre Ar-beitnehmer zu etwas verpflichten wollen, das dem Mitarbeiter als eine Life-Work-Balance verkauft wird, ungeachtet dessen, dass Life dabei auf der Strecke bleibt. Anhand einer relativistischen Methode wird versucht, eine Arbeitnehmerin zu diesem Schritt zu bringen. Finanziel-le Mittel sollen den Frauen hierbei ihre Gewissensentscheidung erleich-tern. Doch selbst wenn die Konzerne karrieristisch Großes mit jungen Arbeitnehmerinnen vorhaben sollten, wer garantiert ihnen, dass ihr Arbeitsplatz sicher ist, während ihrer nach hinten verlegten Schwan-gerschaft? Die Frage „Kind und parallel Erfolg im Beruf?“ und damit die damit einhergehende Problematik wird lediglich temporär ver-schoben, doch für alle ambitionierten jungen Frauen nicht gelöst, da die Wirtschaft nicht ihren Bedürfnissen angepasst wird. Lediglich ökono-mische Aspekte sind hier für Apple und Facebook ausschlaggebend.

5. Utilitaristisches Angebot

Andererseits kann das Angebot dieser beiden Unternehmen für das Social Freezing im Sinne des ethischen Utilitarismus auch positiv be-wertet werden. Laut Jeremy Bentham (1748 – 1832), einem der Begrün-der des klassischen Utilitarismus, ist „Nutzen“ nur ein Synonym für Wohlergehen und Glück: „Mit dem Prinzip des Nutzens ist jenes Prin-zip gemeint, das jede beliebige Handlung gutheißt oder missbilligt entsprechend ihrer Tendenz, das Glück derjenigen Gruppe zu vermeh-ren oder zu vermindern, um deren Interessen es geht […] Mit ‚Nutzen‘ ist diejenige Eigenschaft an einem Objekt gemeint, wodurch es dazu

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neigt, Wohlergehen, Vorteil, Freude, Gutes oder Glück zu schaffen.“20 Es geht in erster Linie darum, für eine größtmögliche Anzahl an Per-

sonen den maximalen Nutzen über einen möglichst lang andauernden Zeitraum zu erzielen. Nicht nur der Arbeitgeber, sondern auch Frauen, denen die nötigen finanziellen Ressourcen für das Social Freezing feh-len, deren Partner und damit selbstverständlich Kinder, die geboren werden, profitieren davon. Für eine junge Frau, die sich wünscht im Job aufzusteigen und gleichzeitig versucht, ein Kleinkind zu betreuen, ist dieses Glück gemindert. Der Nutzen für die Mitarbeiterin besteht also darin, dass sie sich nicht zwischen Erfolg am Arbeitsplatz und Muttersein entscheiden muss. Dank der neuen Idee könnten sich Frau-en vollständig in jungen Jahren ihrem Beruf widmen. Der Vorteil für die Betriebe besteht darin, dass die Mitarbeiterinnen in diesem Zeit-raum erfolgsorientierter und effizienter arbeiten, da sie nicht durch familiäre Verpflichtungen und Erziehungsaufgaben in Anspruch ge-nommen werden. Die Zeitspanne, in denen die Arbeitnehmerinnen ihrem Job den Vorrang geben, würde vermutlich im Schnitt zehn Jahre betragen. Denn sind erst einmal Kinder da, wird der Einsatz der Frauen im Beruf deutlich geringer. Dies bedeutet, dass Apple und Facebook zehn Jahre an leistungsorientierter Arbeit gewinnen und die Mitarbei-terin mehr Zeit bekommt für einen beruflichen Aufstieg, für berufliche und persönliche Entfaltung und Selbstverwirklichung und den Zuge-winn von finanziellen Mitteln. Der Utilitarismus argumentiert, im Ge-gensatz zu anderen philosophischen Strömungen, rein ergebnisorien-tiert. Wenn das Ergebnis also darin besteht, dass sich die junge Arbeit-nehmerin nicht zwischen Kind und Arbeit entscheiden muss und der Arbeitgeber dadurch wirtschaftliche Erfolge aufweisen kann, wird aus utilitaristischer Sicht ein Optimum erreicht.

Kritisch bleibt anzumerken, dass sich die Wirklichkeit meist anders dar, da Nutzen, Glück, Freude und Wohlergehen nicht zwangsläufig identisch sind. Apple und Facebook setzen voraus, dass alle weiblichen Mitarbeiterinnen, die eine Familie gründen wollen, kein Problem damit haben, in den nächsten zehn Jahren noch kinderlos zu bleiben. Des Weiteren werden die Ansichten des Partners, sofern dieser vorhanden ist, völlig vernachlässigt.

20 Wikipedia. Die freie Enzyklopädie (2015)

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6. Zusammenfassung

Es ist davon auszugehen, dass die Zahl der Frauen, die das Social Free-zing als eine mögliche Option der Familienplanung in Betracht ziehen, steigen wird. Wenn nicht Wege gefunden werden, die dazu beitragen, dass junge Mütter ihre berufliche Tätigkeit besser mit ihrem Familien-leben verbinden können, wird dieses Verfahren wohl an Popularität gewinnen. Inwieweit sich auch andere Firmen für das Modell von App-le und Facebook mit der gesponserten Eizelleneinfrierung entscheiden werden, hängt wohl zum einen von den moralischen und ethischen Bedenken der Vorstandschaft, aber vor allem von einer neuen Genera-tion von Arbeitnehmerinnen ab und wie diese ihre Prioritäten im Le-ben setzen wird.

7. Literatur- und Quellenverzeichnis

Bayerischer Rundfunk (2014): „Social Freezing“. Kind oder Karriere (16.10.2014), URL: Das Video kann aufgrund gesetzlicher Bestimmun-gen nicht mehr abgerufen werden. Bundesärztekammer (Hrsg.) (2006): (Muster-)Richtlinie zur Durchfüh-rung der assistierten Reproduktion. Novelle 2006. In: Deutsches Ärzteblatt, 103. Jg. 2006, Heft 20 Galindo, José/Zagal, Héctor (2000): Ethik für junge Menschen, Stuttgart. Grüneberg, Sabine (2015): Social Freezing. Den Kinderwunsch einfach ver-schieben. URL: http://www.eltern.de/kinderwunsch/kinderwunsch-medizin/ kann-ich-mir-meinen-kinderwunsch-später-noch-erfüllen (Stand: 13.07. 2015) Guyton, Patrick (2014): Besuch bei einem Pionier der Eizellenentnahme in Deutschland (07.11.2014). URL: http://www.swp.de/ulm/nachrichten/ politik/Besuch-bei-einem-Pionier-der-Eizellenentnahme-in-Deutschland; art4306,2885740 (Stand: 14.07.2015) Sharp, Ruth (2014): Familienplanung auf Eis. Social Freezing. Wie Frauen durch das Einfrieren von Eizellen altersbedingte Fruchtbarkeitsgrenzen aus-tricksen (30.10.2014). URL: http://www.lifeline.de/leben-und-familie/ kinderwunsch/social-freezing-id141128.html (Stand: 13.07.2015) Spiegel TV (2014): Meinungen zum Social Freezing: „Was gehen meinen Ar-beitgeber meine Eizellen an?“ (16.10.2014). URL: https://www.youtube.com/

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watch?v=g4dbrheZ89c (Stand: 13.07.2015) Weber, Nina (2014): Social Freezing zur Familienplanung: So funktioniert das Einfrieren von Eizellen. (15.10.2014). URL: http://www.spiegel.de/gesundheit/ schwangerschaft/einfrieren-der-eizellen-so-funktioniert-social-freezing-a-997312.html (Stand: 13.07.2015) Wiesing, Urban (2012): Allgemeine Einführung in die medizinische Ethik. Aufgabe und Gegenstand der medizinischen Ethik. In: Wiesing, Urban (Hrsg.): Ethik in der Medizin: Ein Studienbuch, Stuttgart

Wikipedia. Die freie Enzyklopädie (2015): „Utilitarismus“. URL (Perma-nentlink): https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Utilitarismus& oldid=143930494 Winsauer, Rene (2013): “Social Freezing”. Emanzipierte Familienplanung oder Lifestyle-Trend? (20.12.2013). URL: http://www.kinderwunsch-blog. com/social-freezingemanzipierte-familienplanung-oder-lifestyle-trend/ (Stand: 13.07.2015) ZEIT ONLINE (2014): Kinderwunsch. Was ist Social Freezing? (15.10.2014). URL: http://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2014-10/social-freezing-eizelle-faq (Stand:13.07.2015)

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Ein herzlicher Dank gilt der Jurorin und den Juroren

Prof. Dr. Dr. Sigrid GraumannProfessorin für Ethik im Fachbereich Heilpädagogik und PflegeEv. Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe

Prof. Dr. med. Andreas Frewer. M.A.Institut für Geschichte und Ethik in der Medizin Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Jens Spahn, MdBParlamentarischer Staatssekretär beim Bundes- minister der FinanzenFrüherer gesundheitspolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion

Prof. em. Dr. Dietmar MiethProfessor für Theologische Ethik/SozialethikEberhard Karls Universität Tübingen

Prof. Dr. Peter SchallenbergLehrstuhl für Moraltheologie und Ethik an der Theologischen Fakultät PaderbornGeistlicher Beirat des KKV-Bundesverbandes

Prof. Dr. Franz BölskerLeiter der Abteilung Schule und Erziehung imBischöflich Münsterschen Offizialat Vechta

Am Eggenkamp 37 – 3948268 GrevenTelefon 0 25 71/93 76 0Telefax 0 25 71/93 76 50 E-Mail: [email protected]

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Bettenhaus Stiegeler GmbH, Freiburg

Evonik Industries AG, Essen

Hedwig Mann, Oldenburg

Heinrich gr. Beilage GmbH & Co.KG, Vechta

Höffmann Reisen GmbH, Vechta

KKV-Bundesverband, Essen

KKV-Diözesanverband Essen

KKV-Diözesanverband Münster

KKV-Stiftung für Fort- und Weiterbildung

Krapp Eisen GmbH & Co.KG, Vechta

Pax Bank, Essen

Reisebüro Aloys Schomaker GmbH & Co.KG, Lohne

Schaffrick Ingenieure GmbH, Herten

Wilhelm Böllhoff GmbH & Co.KG, Bielefeld

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»Ethisch ist der Mensch nur, wenn ihm das Leben als solches, das der Pflanze und des Tieres wie das des Men-schen, heilig ist und er sich dem Leben, das in Not ist, helfend hingibt.«Albert Schweitzer


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