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Kinder und Jugendliche erkranken zunehmend häufiger

Date post: 07-Feb-2017
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journal club 41 In|Fo|Neurologie & Psychiatrie 2014; 16 (5) Juvenile Multiple Sklerose in Deutschland Kinder und Jugendliche erkranken zunehmend häufiger Fragestellung: Wie hoch sind Prävalenz und Inzidenz der juve- nilen Multiplen Sklerose (MS) in Deutschland und wie sieht das klinische Bild aus? Hintergrund: In den letzten Jahren mehrten sich übereinstim- mend die Hinweise, dass sowohl Prävalenz als auch Inzidenz der MS in allen Ländern, in denen epidemiologische Daten erhoben wurden, zunahmen, so in Finnland, Spanien, Italien, Australien und anderen Ländern. Leider fehlt ausgerechnet für Deutschland neueres und insbesondere va- lides Zahlenmaterial. Ein kleiner Teil dieser epidemio- logischen Datenmangels wird jetzt durch eine kürzlich ver- öffentlichte Studie aus Göt- tingen zur Epidemiologie der MS bei Kindern und Jugend- lichen gedeckt. Patienten und Methodik: Zwischen 2009 und 2011 wurden ak- tiv und prospektiv bundesweit an allen pädiatrischen Kliniken Deutschlands sowie in MS-Zentren und einem Großteil der auf MS spezialisierten Praxen, alle Fälle von MS bei Kindern und Jugendlichen unter 15 Jahren erfasst. Ergebnisse: Die geschätzte Inzidenz der pädiatrischen MS war 0,64 pro 100.000 Personenjahren mit einem deutlichen Anstieg der Prävalenz von der Altersgruppe < 10 Jahre (0,09/100.000) auf 2,64 pro 100.000 in der Altersgruppe von 14 bis 15 Jahren. Alle Patienten hatten einen schubförmigen Verlauf mit einem breiten Symptommuster, das im Wesentlichen aber dem klini- schen Bild von Erwachsenen entsprach. Schlussfolgerungen: Insgesamt waren Prävalenz und Inzidenz deutlich häufiger als initial vermutet. Fälle vor dem zehnten Le- bensjahr sind erwartungsgemäß selten. Rund 2–5% aller MS- Fälle beginnen danach bereits im Kindes- oder Jugendalter. Kommentar von Volker Limmroth, Köln-Merheim Schwer zu glauben, dass es keine validen Daten für Erwachsene gibt Mehrere Studien aus verschiedenen Teilen der Welt haben in den letzten Jahren nicht nur valide Daten zu Prävalenz und In- zidenz der MS geliefert, sondern auch Verlaufsdaten aus den gleichen Regionen. Es darf daher als gesichert gelten, dass Prä- valenz wie Inzidenz der MS zunehmen. Die Daten aus Göttingen zeigten nun eine Prävalenz der MS bei Kindern und Jugendlichen unter 15 Jahren von 2,64/100.000 oder 0,02/1.000. Das sind immerhin die ersten aktuellen deut- schen Daten. Bei einer derzeit geschätzten Prävalenz der MS in Mittel- und Nordeuropa von zirka 100/100.000 beziehungs- weise 1/1.000 erscheint die Prävalenz nicht sonderlich hoch, aber immerhin heißt das auch, dass etwa 3 – 5 % unserer MS- Patienten bereits im Kindesalter erkranken. Über den vermeintlichen Anstieg der MS-Prävalenz kann viel spekuliert werden, sicherlich spielen die verbesserten McDonald-Kriterien eine Rolle, die eine frühere Diagnose er- lauben sowie die verbesserten MRT-Techniken. Aber diese Fak- toren allein sind sicher nicht ausschlaggebend. Wichtiger sind wahrscheinlich eher die langfristigen Änderungen im Immun- system der westlichen Bevölkerungen durch Impfungen im frühen Kindesalter, deutlicher Reduktion von Infektionserkran- kungen und umfangreichem Einsatz von Antibiotika. Diese Entwicklung gilt es zu beobachten, insbesondere wäre es wichtig zu erfahren, ob diese Entwicklung zunehmender Prä- valenz und Inzidenz ihren Höhepunkt erreicht hat oder ob wir uns in der Phase eines weiterhin ungebremsten Anstiegs be- finden. Es ist daher nur schwer zu glauben, dass es für die erwach- sene deutsche Bevölkerung keine validen epidemiologischen Daten gibt. Reinhardt K, Weiss S, Rosen- bauer J et al. Multiple sclerosis in children and adolescents: in- cidence and clinical picture – new insights fro m the nationwi- de Ger m an surveillance (200 9 - 2011). Eur J Neurol 2014 ;21:654-9 dersetzung mit der Symptomatik beim Patienten zu ermögli- chen. Durch die Fokussierung der kognitiven Mechanismen und nicht der Wahninhalte könnte ein besseres Verständnis für die Erkrankung sowie geringer Widerstand von Seiten der Patienten ermöglicht werden. Zusammenfassend stützt die Studie den Trend hin zur ergänzenden psychotherapeutischen Behandlung psychoti- scher Patienten und gibt Impulse für die Umsetzung dieser im ambulanten und stationären Behandlungs-Setting. M. Sc. Psych. Anita Kusay, Mainz Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz E-Mail: [email protected]
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Page 1: Kinder und Jugendliche erkranken zunehmend häufiger

journal club

41In|Fo|Neurologie & Psychiatrie 2014; 16 (5)

Juvenile Multiple Sklerose in Deutschland

Kinder und Jugendliche erkranken zunehmend häufi gerFragestellung: Wie hoch sind Prävalenz und Inzidenz der juve-nilen Multiplen Sklerose (MS) in Deutschland und wie sieht das klinische Bild aus?

Hintergrund: In den letzten Jahren mehrten sich übereinstim-mend die Hinweise, dass sowohl Prävalenz als auch Inzidenz der MS in allen Ländern, in denen epidemiologische Daten erhoben wurden, zunahmen, so in Finnland, Spanien, Italien, Australien und anderen Ländern. Leider fehlt ausgerechnet für Deutschland

neueres und insbesondere va-lides Zahlenmaterial. Ein kleiner Teil dieser epidemio-logischen Datenmangels wird jetzt durch eine kürzlich ver-ö� entlichte Studie aus Göt-tingen zur Epidemiologie der MS bei Kindern und Jugend-lichen gedeckt.

Patienten und Methodik: Zwischen 2009 und 2011 wurden ak-tiv und prospektiv bundesweit an allen pädiatrischen Kliniken Deutschlands sowie in MS-Zentren und einem Großteil der auf MS spezialisierten Praxen, alle Fälle von MS bei Kindern und Jugendlichen unter 15 Jahren erfasst.

Ergebnisse: Die geschätzte Inzidenz der pädiatrischen MS war 0,64 pro 100.000 Personenjahren mit einem deutlichen Anstieg der Prävalenz von der Altersgruppe < 10 Jahre (0,09/100.000) auf 2,64 pro 100.000 in der Altersgruppe von 14 bis 15 Jahren. Alle Patienten hatten einen schubförmigen Verlauf mit einem breiten Symptommuster, das im Wesentlichen aber dem klini-schen Bild von Erwachsenen entsprach.

Schlussfolgerungen: Insgesamt waren Prävalenz und Inzidenz deutlich häu� ger als initial vermutet. Fälle vor dem zehnten Le-bensjahr sind erwartungsgemäß selten. Rund 2–5% aller MS-Fälle beginnen danach bereits im Kindes- oder Jugendalter.

– Kommentar von Volker Limmroth, Köln-Merheim

Schwer zu glauben, dass es keine validen Daten für Erwachsene gibtMehrere Studien aus verschiedenen Teilen der Welt haben in den letzten Jahren nicht nur valide Daten zu Prävalenz und In-zidenz der MS geliefert, sondern auch Verlaufsdaten aus den gleichen Regionen. Es darf daher als gesichert gelten, dass Prä-valenz wie Inzidenz der MS zunehmen.

Die Daten aus Göttingen zeigten nun eine Prävalenz der MS bei Kindern und Jugendlichen unter 15 Jahren von 2,64/100.000 oder 0,02/1.000. Das sind immerhin die ersten aktuellen deut-schen Daten. Bei einer derzeit geschätzten Prävalenz der MS in Mittel- und Nordeuropa von zirka 100/100.000 beziehungs-weise 1/1.000 erscheint die Prävalenz nicht sonderlich hoch, aber immerhin heißt das auch, dass etwa 3–5% unserer MS-Patienten bereits im Kindesalter erkranken.

Über den vermeintlichen Anstieg der MS-Prävalenz kann viel spekuliert werden, sicherlich spielen die verbesserten

McDonald-Kriterien eine Rolle, die eine frühere Diagnose er-lauben sowie die verbesserten MRT-Techniken. Aber diese Fak-toren allein sind sicher nicht ausschlaggebend. Wichtiger sind wahrscheinlich eher die langfristigen Änderungen im Immun-system der westlichen Bevölkerungen durch Impfungen im frühen Kindesalter, deutlicher Reduktion von Infektionserkran-kungen und umfangreichem Einsatz von Antibiotika. Diese Entwicklung gilt es zu beobachten, insbesondere wäre es wichtig zu erfahren, ob diese Entwicklung zunehmender Prä-valenz und Inzidenz ihren Höhepunkt erreicht hat oder ob wir uns in der Phase eines weiterhin ungebremsten Anstiegs be-� nden.

Es ist daher nur schwer zu glauben, dass es für die erwach-sene deutsche Bevölkerung keine validen epidemiologischen Daten gibt.

Reinhardt K, Weiss S, Rosen-bauer J et al. Multiple sclerosis in children and adolescents: in-cidence and clinical picture – new insights from the nationwi-de German surveillance (2009-2011). Eur J Neurol 2014;21:654-9

dersetzung mit der Symptomatik beim Patienten zu ermögli-chen. Durch die Fokussierung der kognitiven Mechanismen und nicht der Wahninhalte könnte ein besseres Verständnis für die Erkrankung sowie geringer Widerstand von Seiten der Patienten ermöglicht werden.

Zusammenfassend stützt die Studie den Trend hin zur ergänzenden psychotherapeutischen Behandlung psychoti-scher Patienten und gibt Impulse für die Umsetzung dieser im ambulanten und stationären Behandlungs-Setting.

M. Sc. Psych. Anita Kusay, Mainz

Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität MainzE-Mail: [email protected]

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