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Karl Marx und die Ethik des Kapitalismus - gkpn.de · 142 Aufklärung und Kritik, Sonderheft...

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142 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 10/2005 Dr. Gerhard Engel (Hildesheim) Karl Marx und die Ethik des Kapitalismus Der »wissenschaftliche« Marxismus ist tot. Sein Ge- fühl für soziale Verantwortung und seine Liebe für die Freiheit müssen weiterleben. Karl R. Popper 1 Aus der Physik kennen wir die Heisen- bergsche Unschärferelation. Sie besagt: Es ist unmöglich, Ort und Impuls eines sub- atomaren Teilchens gleichzeitig beliebig ge- nau zu messen. Wenn wir innerhalb einer Versuchsanordnung den Ort eines Teil- chens genau bestimmen, dann erhalten wir keine genauen Informationen über seinen Impuls; und je genauer wir den Impuls bestimmen; desto stärker verschwimmt der Ort des Teilchens. 2 Wer es unternimmt, über die Ethik des Kapitalismus zu schreiben, fühlt sich nicht selten an die Unschärferelation erinnert. Eine wirtschaftsethische Unschärferelati- on könnte vielleicht wie folgt lauten: Es ist unmöglich, ein Wirtschaftssystem zu installieren, das gleichzeitig gerecht und effizient ist. Entweder maximieren wir seine Effizienz, dann leidet die Gerechtigkeit; oder wir sehen zu, dass es in ihm gerecht zugeht, doch dann leidet seine Leistungs- fähigkeit. Wer die Zuspitzung liebt, könn- te sagen: Entweder arm und tugendhaft oder reich und sündhaft. Die christliche Wirtschaftsethik des Mit- telalters und sogar noch der frühen Neu- zeit hätte diese Formulierung für eine tref- fende Beschreibung der Sachlage gehal- ten; und noch Joseph Proudhons bekannte Maxime „Eigentum ist Diebstahl“ scheint von ihr beeinflusst zu sein. 3 Auch Karl Marx hat unsere gesellschaftliche Situati- on so modelliert, dass sie der genannten wirtschaftsethischen Unschärferelation ge- nau zu entsprechen scheint. Der entwi- ckelte Kapitalismus habe zwar die Produk- tivkräfte entfesselt und auf ein in der Welt- geschichte bisher nicht gekanntes Niveau gehoben; aber der moralische Preis, den wir dafür entrichten müssten, sei zu hoch: Verelendung, Dehumanisierung und Ent- fremdung seien gesetzmäßig auftretende Begleiterscheinungen kapitalistischer Pro- duktionsbeziehungen und verschwänden erst, wenn über die Produktion und Ver- teilung des gesellschaftlichen Reichtums gemeinschaftlich entschieden werde. Natürlich könnten wir Marx, den Marxis- mus und den einmal real existent gewese- nen Sozialismus unter Hinweis auf die Geschichte ad acta legen. Ist Marx nicht längst ein „toter Hund“, 4 mit dem es sich nicht zu beschäftigen lohnt? Der System- wettbewerb zwischen Sozialismus und Kapitalismus sei schließlich entschieden – punktum! Oder wir könnten uns dazu entschließen, den Preis der kapitalistischen Moderne ohne weiteres humanistisches Lamento einfach in Kauf zu nehmen; schließlich müssten wir auch sterben, und keine noch so große Empörung könne daran etwas ändern. Oder wir könnten un- ter Verweis auf die Verbrechen, die unter dem Banner des Marxismus begangen wurden, eine nähere Beschäftigung mit dieser angeblich „wissenschaftlichen Welt- anschauung“ schon aus moralischen
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142 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 10/2005

Dr. Gerhard Engel (Hildesheim)

Karl Marx und die Ethik des Kapitalismus

Der »wissenschaftliche« Marxismus ist tot. Sein Ge-fühl für soziale Verantwortung und seine Liebe fürdie Freiheit müssen weiterleben.

Karl R. Popper1

Aus der Physik kennen wir die Heisen-bergsche Unschärferelation. Sie besagt: Esist unmöglich, Ort und Impuls eines sub-atomaren Teilchens gleichzeitig beliebig ge-nau zu messen. Wenn wir innerhalb einerVersuchsanordnung den Ort eines Teil-chens genau bestimmen, dann erhalten wirkeine genauen Informationen über seinenImpuls; und je genauer wir den Impulsbestimmen; desto stärker verschwimmtder Ort des Teilchens.2

Wer es unternimmt, über die Ethik desKapitalismus zu schreiben, fühlt sich nichtselten an die Unschärferelation erinnert.Eine wirtschaftsethische Unschärferelati-on könnte vielleicht wie folgt lauten: Esist unmöglich, ein Wirtschaftssystem zuinstallieren, das gleichzeitig gerecht undeffizient ist. Entweder maximieren wir seineEffizienz, dann leidet die Gerechtigkeit;oder wir sehen zu, dass es in ihm gerechtzugeht, doch dann leidet seine Leistungs-fähigkeit. Wer die Zuspitzung liebt, könn-te sagen: Entweder arm und tugendhaftoder reich und sündhaft.Die christliche Wirtschaftsethik des Mit-telalters und sogar noch der frühen Neu-zeit hätte diese Formulierung für eine tref-fende Beschreibung der Sachlage gehal-ten; und noch Joseph Proudhons bekannteMaxime „Eigentum ist Diebstahl“ scheintvon ihr beeinflusst zu sein.3 Auch KarlMarx hat unsere gesellschaftliche Situati-on so modelliert, dass sie der genannten

wirtschaftsethischen Unschärferelation ge-nau zu entsprechen scheint. Der entwi-ckelte Kapitalismus habe zwar die Produk-tivkräfte entfesselt und auf ein in der Welt-geschichte bisher nicht gekanntes Niveaugehoben; aber der moralische Preis, denwir dafür entrichten müssten, sei zu hoch:Verelendung, Dehumanisierung und Ent-fremdung seien gesetzmäßig auftretendeBegleiterscheinungen kapitalistischer Pro-duktionsbeziehungen und verschwändenerst, wenn über die Produktion und Ver-teilung des gesellschaftlichen Reichtumsgemeinschaftlich entschieden werde.Natürlich könnten wir Marx, den Marxis-mus und den einmal real existent gewese-nen Sozialismus unter Hinweis auf dieGeschichte ad acta legen. Ist Marx nichtlängst ein „toter Hund“,4 mit dem es sichnicht zu beschäftigen lohnt? Der System-wettbewerb zwischen Sozialismus undKapitalismus sei schließlich entschieden– punktum! Oder wir könnten uns dazuentschließen, den Preis der kapitalistischenModerne ohne weiteres humanistischesLamento einfach in Kauf zu nehmen;schließlich müssten wir auch sterben, undkeine noch so große Empörung könnedaran etwas ändern. Oder wir könnten un-ter Verweis auf die Verbrechen, die unterdem Banner des Marxismus begangenwurden, eine nähere Beschäftigung mitdieser angeblich „wissenschaftlichen Welt-anschauung“ schon aus moralischen

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Gründen ablehnen.5 Und schließlichkönnte man meinen, dass sich der Mar-xismus schon deshalb erledige, weil be-reits die menschlichen Unzulänglichkeitenseines Urhebers seine Ideologie genügenddiskreditierten.6

Doch gerade ein Humanist muss Marxernst nehmen. In ihm vereinigen sich Tra-ditionen, die jedem kritisch, rational undmaterialistisch Denkenden auch heutenoch am Herzen liegen müssen:

• eine Religionskritik, deren Schärfenichts zu wünschen übrig lässt;

• die Auffassung, dass es sich lohnt,über die Zukunft der Welt und überdie Stellung des Menschen in ihr un-ter deskriptiven (Was ist der Fall?) undnormativen (Was soll der Fall sein?)Gesichtspunkten nachzudenken;

• ein Determinismus, der unermüdlichnach Gesetzmäßigkeiten sucht, derenErkenntnis dem Menschen bei der Ein-richtung einer besseren Welt nützenkönnte;

• und der daraus resultierende Wunsch,die gesellschaftlichen Verhältnissemöchten es irgendwann einmal zulas-sen, dass der Mensch im Laufe deseinzigen Lebens, das er hat, nicht bloßals Rädchen in einer übermächtigenMaschinerie rotieren muss, sondernseine Fähigkeiten und Anlagen vollentfalten kann.

Mein Aufsatz enthält vier Teile, und zwarzwei deskriptive und zwei normative. Imersten deskriptiven Teil geht es um diewichtigsten analytischen Tatbestände, ausdenen Marx seine moralische Verurteilungdes Kapitalismus ableitet. Im zweiten (nor-mativen) Teil fasse ich die wichtigsten mo-ralischen Einwände Marxens gegen denKapitalismus7 zusammen. Nach meiner

Auffassung können sie unter dem alleini-gen Hinweis auf die (fast!) überall zu be-obachtende Wohlstandssteigerung nichtinsgesamt entkräftet werden. Im dritten(wiederum deskriptiven) Teil geht es umdie Frage, welche grundlegenden Erkennt-nisse der Sozialwissenschaften wir heut-zutage beim Nachdenken über eine bes-sere Welt berücksichtigen müssen – undzwar gerade dann, wenn wir die normati-ven Ziele Marxens teilen. Und im vierten(wiederum normativen) Teil wird es dar-um gehen, wie wir unter Berücksichtigungdieser empirischen Erkenntnisse die Mo-ral der Wirtschaftswelt denken und insti-tutionalisieren können.8

I. Marx über die Funktionsweise desKapitalismusBeginnen wir mit einigen Erläuterungen zurMarxschen Kritik der bürgerlichen Öko-nomie, wie sie vor ihm John Locke undAdam Smith formuliert hatten. Für Marxist das wichtigste und gleichzeitig proble-matischste Merkmal einer kapitalistischenGesellschaft, dass sie einen Arbeitsmarktaufweist, auf dem Anbieter von Arbeits-kraft auftreten. Diese Arbeitskräfte habenkeine Möglichkeit, eigenständig zu produ-zieren, sondern sie müssen mit den Besit-zern von Produktionsmitteln vertraglicheBeziehungen eingehen, wollen sie nichtverhungern. Doch das rettet sie nicht: ImZeitverlauf verschlechtert sich ihre gesell-schaftliche Position immer mehr – undzwar sowohl unter ökonomischen als auchunter moralischen Gesichtspunkten.Die besonderen Eigenschaften dieses ka-pitalistischen Wirtschaftssystems werdendeutlich, wenn wir es mit dem System dereinfachen Warenproduktion vergleichen,wie wir es, sagen wir, in einer größerenspätmittelalterlichen Siedlung vorfinden. In

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diesem System treten (zunehmend) selb-ständige Produzenten auf, die ihre sich all-mählich differenzierenden Bedürfnisse mitHilfe des einfachen Markttausches decken.Wer also einen Hasen gefangen hat, dener nicht selbst essen will, tauscht ihn viel-leicht gegen Getreide oder ein Paar Schu-he ein. Zwar kann auch in diesem Wirt-schaftssystem schon Geld als Tauschmit-tel zwischen den unmittelbaren Tauschvon Produkten9 treten, aber dies geschiehtwenigstens mittelbar in konsumtiver Ab-sicht.10

Bei einem solchen einfachen Bedarfs-tausch kann A den B nicht ohne weiteresübervorteilen: Wer das Gefühl hat, für sei-nen Hasen nicht genug oder zu schlech-tes Getreide zu bekommen, tauscht ebennicht, oder er geht heute zum Schusterund erst übermorgen zum Getreidebauern.Tauscht er aber, fällt ihm der gesamte Er-trag seiner eigenen Arbeitskraft, die erbeim Hasenfang investiert hatte, als Ge-brauchswert zu: Der Tauschwert des Ha-sen verwandelt sich beim Tausch in denGebrauchswert des Getreides. Marxschreibt: „Werden Äquivalente getauscht,so entsteht kein Mehrwert, und werdenNicht-Äquivalente getauscht, so entstehtauch kein Mehrwert. Die Zirkulation oderder Warentausch schafft keinen Wert.“11

Denn nur die Arbeit selbst kann Wert er-zeugen – so der eherne Grundsatz derMarxschen Arbeitswertlehre.Was unterscheidet nun diese Situationrund um die Dorflinde oder den Markt-platz von einer kapitalistisch organisier-ten Wirtschaft? Erstens gehen den Bau-ern durch Industrialisierung, Bevölke-rungswachstum und immer stärker mono-polisierten Grundbesitz die Möglichkeitenverloren, ihren Lebensunterhalt als eigen-ständige Produzenten zu verdienen.12 Sie

sind daher, zweitens, gezwungen – wol-len sie nicht verhungern –, ihre Arbeits-kraft auf dem Arbeitsmarkt anzubieten.Damit wird der Lohnabhängige selbst zueiner spezifischen Ware: Sein Preis, der„Lohn“, hängt von der Nachfrage nachArbeitskräften ab. Unter Konkurrenzbe-dingungen tendiert der Lohn jedoch dazu,sich immer mehr den bloßen Reproduk-tionskosten der Arbeitskraft anzunähern.Unterschreiten kann er diese Kosten (Er-nährung, Kinderaufzucht, usw.) nicht,denn dann würden die Arbeiter ausster-ben; aber wesentlich überschreiten kanner sie auch nicht, denn immer steht jemandaus der industriellen Reservearmee bereit,der die geforderte Arbeit gern noch billi-ger machen würde. Das bedeutet: Men-schen treten sich im Kapitalismus nichtmehr als eigenständige, autonome Produ-zenten gegenüber, sondern als zwei Grup-pen von Menschen (Marx nennt sie „Klas-sen“): Die eine Gruppe (die Lohnabhän-gigen) ist zum Verkauf ihrer Arbeitskraftgezwungen, die andere (die Kapitalbe-sitzer) ist es nicht – oder noch nicht.13

Mit diesem historischen Schritt zum Ka-pitalismus hat sich für den Lohnabhängi-gen Entscheidendes verändert. Früher warer „frei“, seinen Hasen gegen Getreide zutauschen; gefiel ihm das Getreide nicht,gab es eben abends Hasenbraten. DerTauschvertrag, der mit dem Tausch vonHasen und Getreide zustande kam, waralso durchaus ein freiwilliger Vertrag imSinne der von Marx kritisierten bürgerli-chen Ökonomik: Man konnte als selbstän-diger Produzent zur Not einmal mit einemetwas einseitigen Speisezettel zufriedensein. Wer aber unter kapitalistischen Be-dingungen seine Arbeitskraft auf demMarkt anbieten muss, hat keine Wahl: Ermuss bei einem Kapitalbesitzer anheuern,

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will er auch morgen noch etwas zu essenhaben. Die von der „bürgerlichen“ Öko-nomik (etwa von John Locke) so oft undgern betonte Freiwilligkeit der Tausch-beziehungen gelte eben nicht unter allenhistorischen Bedingungen, nicht für allegesellschaftlichen Gruppen und schon garnicht für alle Individuen.Drittens hat sich mit dem Eintritt in diekapitalistische Arbeitswelt auch der Cha-rakter der Arbeit verändert. Der Kapitalistheuert den Lohnabhängigen nämlich nichtals Hasenfänger an, der auf der Suchenach Beute wenigstens noch teilweiseselbstbestimmt durch Wald und Flur strei-fen kann, sondern als einen Arbeiter in ei-nem spezialisierten Produktionsbetrieb, indem es für ihn vielleicht nur darum geht,pro Tag zu festgesetzten Zeitpunkten 1.200Gegenstände von einem Ort A zu einemOrt B zu bewegen. Marx stimmt zwar mitder „bürgerlichen“ Ökonomik darin über-ein, dass Arbeitsteilung und Spezialisie-rung den volkswirtschaftlichen Gesamt-ausstoß maximiert haben und weiterhinmaximieren.14 Aber er geißelt den huma-nen Qualitätsverlust der Arbeit, der mitihrer Mechanisierung notwendig verbun-den ist.15 Vor allem aber: Die arbeitsteiligorganisierte Arbeit des Industriezeitaltersentfremde den Menschen von seinem Gat-tungswesen: Der arbeitsteilige Produk-tionsprozess sei nicht das Ergebnis einerKollektiventscheidung, in die sich die In-dividuen als autonome Wesen einbringenkönnen, sondern sie vollziehe sich gewis-sermaßen „blind“ hinter ihrem Rücken –als Folge des Privateigentums an Produk-tionsmitteln und der blind wirkendenMarktgesetze.Viertens schließlich fällt dem Lohnabhän-gigen nach Marx noch nicht einmal dergesamte Tauschwert zu, der dem Ge-

brauchswert der Arbeitskraft für den Ka-pitalisten entspräche. Wer also beim Ka-pitalisten für 100.- Euro Waren produziert,erhält nicht etwa 100.- Euro (vielleichtnoch abzüglich der Abschreibungen fürden Maschinenpark und den Arbeitslohndes Vorarbeiters), sondern einen außer-dem noch um den „Mehrwert“ reduzier-ten Lohn. Dieser Mehrwert wird vom Ka-pitalisten angeeignet – und zwar nicht vor-rangig um seines eigenen Luxus willen,sondern vor allem deshalb, um unter Kon-kurrenzbedingungen (auch Kapitalistenkonkurrieren untereinander!) noch effizi-entere Maschinen anschaffen zu können,mit denen dann noch mehr produziertwerden kann, um noch mehr Arbeitskräf-te freizusetzen oder ihren Arbeitslohn nochmehr drücken zu können – und so weiterad revolutionem. Theoriestrategisch ge-sehen behauptet Marx hier also die funk-tionelle Instabilität des Systems „Kapita-lismus“: Ein System, das auf private Mehr-wertaneignung angelegt ist (und unter Kon-kurrenzbedingungen angelegt sein muss!),erweist sich für ihn als nicht zukunftsfähig.Marx unterscheidet in diesem Prozess derAkkumulation des Kapitals zwei verschie-dene Verelendungsprozesse, die denLohnabhängigen betreffen. Zum einen ver-schlechtert sich dessen relative Positionin der Einkommenspyramide: Obwohl seinabsolutes Einkommen steigen mag, sosteigt das des Kapitalisten noch viel schnel-ler. (Ganz ähnlich sprechen wir heute voneiner sich immer weiter öffnenden „Sche-re zwischen Arm und Reich“.16) Zum an-deren kann sich unter bestimmten histori-schen Bedingungen das Einkommen vonMenschen sogar absolut verschlechtern– wie es Marx etwa in der Frühphase derIndustrialisierung der Landwirtschaft17 unddann wieder in der Frühphase der städti-

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schen Industrialisierung glaubte beobach-ten zu können.Warum aber kann man bei einem absolutsteigenden Einkommen überhaupt von ei-ner Verelendung sprechen? Bedeutet dieRede von der „Verelendung“ nicht Orwell-sches Neusprech, wenn man die Tatsa-che ignoriert, dass ein einfacher Menschfür sein Hemd, historisch gesehen, immerweniger Minuten arbeiten muss? Lebt einheutiger Industriearbeiter nicht inzwischenlängst luxuriöser als so mancher afrikani-sche Stammeshäuptling?Die Antwort auf diese Frage leitet Marxaus der Tatsache her, dass Menschen aufArbeitsmärkten gegeneinander konkur-rieren müssen und damit auch als Perso-nen den Launen des Marktes ausgelie-fert sind. Nicht ohne Absicht sind diesebeiden zentralen Eigenschaften der kapi-talistisch verfassten Produktionsweiseauch im zentralen Dokument des Marxis-mus zu finden, nämlich im Kommunisti-schen Manifest von 1848:

„Das Kapital hat die Bevölkerung ag-glomeriert, die Produktionsmittel zen-tralisiert und das Eigentum in wenigenHänden konzentriert. Die Arbeiter, diesich stückweise verkaufen müssen,sind eine Ware wie jeder andere Han-delsartikel und daher gleichmäßig al-len Wechselfällen der Konkurrenz, al-len Schwankungen des Marktes aus-gesetzt.“18

Obwohl sich also im Kapitalismus die bloßmaterielle Situation des Arbeiters gelegent-lich verbessert haben mag, hat sich seineSituation als Mensch in ihm eher ver-schlechtert. Indem man zulässt, dass dieWare Arbeitskraft auf Märkten gehandeltwerden darf, lässt man im Grunde auch

zu, dass letztlich immer mehr die WareMensch auf den Märkten gehandelt wird.Ein Mensch mag noch so liebenswert,geistvoll, begabt oder schön sein – wenner nichts produziert, das einen Tausch-wert hat, fällt er unbarmherzig aus derMaschinerie der Gesellschaft heraus.Letztlich, so Marx, führe das System desKapitalismus dazu, dass wir die Menschennicht um ihrer selbst willen, sondern nurwegen der von ihnen produzierten Tausch-werte schätzen. Kurz: „Wirb oder stirb“19

– produziere also einen Tauschwert odergehe unter.Marx betont m.E. mit Recht, dass hier einsowohl ökonomisch als auch moralischhöchst relevantes Problem vorliegt. Müs-sen wir den Wohlstand, an den wir unsgewöhnt haben, durch einen vielleicht zuhohen moralischen Preis bezahlen? Undumgekehrt: Müssten wir bei dem Versuch,diesen moralischen Preis zu senken, auchmit sinkendem Wohlstand rechnen? Undso scheint die eingangs formulierte Be-hauptung, dass es vielleicht unmöglich ist,ein Wirtschaftssystem zu installieren, dasgleichzeitig gerecht und effizient ist, durchdie Marxsche Problemexplikation sogarnoch bestätigt zu werden.Viele Menschen mögen sich angesichtsder in Deutschland steigenden Arbeitslo-senzahlen und der mit ihnen verbundenenindividuellen Schicksale fragen, ob Marxmit seiner Analyse des Kapitalismus nichtdoch letztlich Recht gehabt hat. In letzterKonsequenz bedeutete dies nämlich: Stän-dig steigende Arbeitslosenzahlen und eineständige Verschlechterung der Arbeitsbe-dingungen würden von den Menschennicht mehr länger akzeptiert und durch einerevolutionäre politische Grundsatzent-scheidung beseitigt werden. Der Kapita-lismus wäre dann tatsächlich nicht zu-

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kunftsfähig, weil die Menschen nicht mehrlänger bereit wären, seine moralischenKosten zu tragen.

II. Marx über die Unmoral des Kapi-talismus

Es muss also falsch sein, dass die Ausbil-dung der einzelnen Kräfte das Opfer derTotalität notwendig macht; oder wenn auchdas Gesetz der Natur noch so sehr dahinstrebte, so muss es bei uns stehen, dieseTotalität in unserer Natur, welche dieKunst zerstört hat, durch eine höhereKunst wiederherzustellen.

Friedrich Schiller (1795)20

Es scheint mir zunächst wichtig daraufhinzuweisen, dass Marx im deskriptivenTeil seiner Erklärungsskizze21 nicht zumoralisieren versucht – genauer: Im Lau-fe seines Lebens zwang er sich immermehr dazu, Werturteile durch deskriptiveund erklärende Analysen zu ersetzen. Da-her ist auch seine Kritik am „Kapitalisten“nicht gleichbedeutend mit einer Kritik anbestimmten Personen und erst recht nichtan deren moralischer Qualität: Wenn sienicht vom Markt verschwinden wollen,müssen Kapitalisten so handeln, wie siehandeln.22 Auch der Kapitalist agiert imkapitalistischen Wirtschaftssystem nichtfrei: Er mag zwar reich sein und immermehr Kapital akkumulieren; aber er mussdas meiste Geld, das er dem Arbeiter vor-enthält, nein: vorenthalten muss, reinvestie-ren, um im Konkurrenzkampf zwischenden Kapitalisten nicht zurückzufallen. Derpersönlichen Verschwendungssucht, wiesie einzelnen Individuen vielleicht zumVorwurf gemacht werden könnten, wer-den dadurch sogar systemimmanenteGrenzen gesetzt. Der Kapitalist darf sichandererseits aber auch nicht zu sehr al-

truistisch gebärden: Wer seinen Arbeiternmehr zahlt als den tendenziell sinkendenGrenzlohn, wird das nicht lange tun kön-nen. Auch ein wohlwollender Kapitalistkann nicht gegen die Marktgesetze han-deln.Marxens moralische Verurteilung des Ka-pitalismus ist also keine Personenkritik,sondern Gesellschafts- bzw. Systemkritik.Sie hat zwei geistesgeschichtliche Wurzeln,nämlich die idealistische PhilosophieKants und Hegels sowie die RomantikRousseaus und Friedrich Schillers. Begin-nen wir mit der idealistischen Philosophieund der Frage, warum sie die Basis fürMarxens moralische Verurteilung des Ka-pitalismus bilden konnte, obwohl Marxihre Geschichtsphilosophie und Ontologieablehnte.Was macht eigentlich die Würde des Men-schen aus, die nach Marxens Auffassungim Kapitalismus so schmählich unter dieRäder kommt? Was unterscheidet uns imKapitalismus noch von einem Tier? Mankönnte sagen: Im Grunde nichts. Bienenund Eichhörnchen sammeln aus Über-lebensgründen emsig Nektar bzw. Nüsse;ihre Verhaltens-Restriktionen ergeben sichaus ihrer natürlichen Umgebung, der siesich zwar anpassen, die sie aber nicht ver-ändern können. Die Menschen hingegenziehen aus Existenzgründen stundenlangSchrauben an einem Fernseher fest oderbearbeiten stundenlang Steuererklärungenwildfremder Menschen. Ihre Verhaltens-Restriktionen ergeben sich aus ihrer ge-sellschaftlichen Umgebung, der sie sichzwar anpassen, die sie aber nicht verän-dern können – und zwar schon deshalb,so Marx, weil sie sie nicht begriffen ha-ben. Und die Globalisierung, so die jetztoft zu hörende Auffassung, zwänge unsjetzt sogar dazu, diese schönen Tätigkei-

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ten nicht mehr nur 35 oder 38,5 Stundenin der Woche auszuüben, sondern 40 odergar wieder 42 Stunden lang. So gesehen,wären wir wie die Bienen und Eichhörn-chen einfach ein Teil der Natur und damitauch ihren Gesetzen der Lebenserhaltungund Fortpflanzung unterworfen.Doch nach Kant, dessen Freiheitstheorieunausgesprochen den Hintergrund derMarxschen Frühschriften bildet, gilt die-ser Determinismus für den Menschennicht. Kant versucht sich in seinen moral-theoretischen Schriften an dem Nachweis,dass der Mensch in moralisch und intel-lektuell relevanter Hinsicht dem Kausal-gefüge der Natur nicht (mehr) unterliegt.Für Planeten und Steine, so Kant, mögen(Natur-)Gesetze gelten – für den Men-schen gelten selbstgesetzte Maximen; inder Natur mag es Regelmäßigkeiten ge-ben – in der Menschenwelt gibt es Re-geln; das Verhalten physikalischer Objektemag erklärt werden können – das Verhal-ten von Menschen kann nur verstandenwerden, weil und insoweit es vernunft-gesteuert ist. Der Mensch ist eben auto-nom: Er setzt sich seine Ziele selbst undentscheidet „frei“, was er tun möchte –etwa jagen, fischen oder kritisieren.23 Diephilosophische Norm, an der Marx die ka-pitalistischen Produktionsverhältnissemisst, ist also der autonom über sich ver-fügende Mensch.24 Mehr noch: DerMensch kann nicht nur frei entscheiden,was er tun will, sondern er kann auch freidie Regeln gestalten, nach denen er lebt.Er kann also nicht nur sich selbst, son-dern im Prinzip auch eine humane Gesell-schaft entwerfen.Doch diese Freiheiten sind bloß abstrakt.Sie mögen dem Menschen vielleicht alsGattungswesen zukommen; doch im realexistierenden Kapitalismus werden sie

immer mehr beschnitten. Um an das obi-ge Beispiel anzuknüpfen: Kann der Arbei-ter denn frei entscheiden, ob er nach dem975. Gegenstand, den er von A nach Bbewegt hat, einfach nach Hause geht?Natürlich nicht – seine Kinder würden ih-ren abgemahnten oder gar entlassenenVater beim Abendbrot vorwurfsvoll an-gucken. Kann er frei entscheiden, wie erden Gegenstand von A nach B bewegensoll? Natürlich nicht – das schreibt ihmder Meister oder der Vorarbeiter vor.25

Um ein Wort von Rousseau auf die Marx-sche Sichtweise zu beziehen: Der Menschist frei geboren, doch überall liegt er inindustriellen Ketten – nämlich in denen derArbeitsteilung, der kapitalistischen Orga-nisation und des Arbeitsmarktes.26

Mit dieser gesellschaftlichen Entwicklungist nach Marx also eine wesentliche Dehu-manisierung des Menschen verbunden.Das wichtigste, ja geradezu definierendeMerkmal des Menschen ist nämlich seineFreiheit – und gerade die wird ihm unterkapitalistischen Bedingungen genommen.Der Mensch wird damit seinem Wesen„entfremdet“ – und zwar in dreifacherHinsicht.Erstens wird der Mensch im kapitalisti-schen Arbeitsprozess vom Objekt seinerArbeit entfremdet. Grundsätzlich geltezwar, dass die Investition von Arbeit inein Objekt einen Anspruch auf Eigentumbegründet (man denke an das Hasenbei-spiel). Dieser Lockesche Grundsatz geltejedoch nicht in der kapitalistischen Mo-derne: Wenn ich an einem Fließband eineSchraube an einem Fernseher festziehe,dann trage ich zwar zur Kapitalbildung desKapitalisten bei, aber ich erwerbe unterdiesen (bürgerlichen) Produktionsbedin-gungen weder an der Schraube noch andem Fernseher irgendein Eigentumsrecht.

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Und dieses Problem nimmt nach Marx indem Maße zu, wie die Voraussetzungenfür die Produktion kapitalintensiver wer-den: Mit zunehmender Kapitalintensität derProduktion hat der Arbeiter immer weni-ger Kontrolle über das Produkt, das erherstellt, und über den Prozess, in dessenVerlauf er es herstellt.Zweitens wird der Mensch im Kapitalis-mus seinem (freiheitstheoretisch bestimm-ten) Wesen entfremdet: Er kann, wie er-wähnt, nicht bestimmen, wie und was erproduziert; der Mensch wird zur Mario-nette nachfragegesteuerter Produktions-strukturen. In dieser Kritik knüpft Marxan Hegel an, der die Weltgeschichte alseinen Prozess modelliert hatte, in dem derMensch sich aus tierischen Anfängen her-aus (in denen die Organismen eher Ma-schinen gleichen) zu einem seiner selbstbewussten und freien Wesen entwickelt.Der voll entwickelte (europäische) Menschkann sich nach Hegels Auffassung selbstreflektieren und Alternativen bedenken.Die Kantische Frage „Was soll ich tun?“gewinnt nur vor dem Hintergrund dieserWahlfreiheit zwischen Alternativen über-haupt praktische Bedeutung; und nur un-ter dieser Voraussetzung kann der Menschdurch Vorstellungskraft und Phantasiegeleitet neue Wege beschreiten und bildetnicht nur ein passives Ensemble der Um-stände, unter denen er agiert. Kann er je-doch das Ziel seines Arbeitens nicht selbstbestimmen, wird er nach Marx selbst zumObjekt und fällt in bereits überwundeneStadien der Menschwerdung zurück. We-nigstens gilt das für den Lohnabhängigen;schließlich ist es der viel beschriebene In-vestor und nicht der Arbeiter, der beimAnblick einer stillen Bucht ausrufen kann:„Hier stelle ich mir ein zehnstöckiges Fünf-Sterne-Hotel vor!“

Und drittens entfremde ich mich durchdie vorgenannten Prozesse auch von denanderen Menschen. Im Kapitalismus kannich nur marktlich vergiftete Beziehungenzu anderen Menschen aufbauen.27

Wir sehen also, dass nach Marx die reinökonomische „Pauperisierung“28 des Ar-beiters, moralisch gesehen, das fast schongeringere Problem darstellt. Die morali-sche Verurteilung des Kapitalismus ge-winnt erst unter der Perspektive wirklicheDurchschlagskraft, dass die Menschenihrer ontologischen Freiheit beraubt wer-den – und damit der Möglichkeit, zualler-erst zu Menschen zu werden, die in ihremLeben substantiell etwas anderes machenkönnen und wollen als nur Schrauben fest-ziehen oder Steuererklärungen bearbeiten.„Der Mensch ... ist nur da ganz Mensch,wo er spielt“ – dieser berühmte AusspruchFriedrich Schillers besagt: Der Mensch istnur da Mensch im vollen Sinne des Wor-tes, wo er einer selbstbestimmten undnicht überlebensrelevanten Tätigkeit nach-geht.29

Wenn das kapitalistische Wirtschaftssy-stem die Menschen also „verelenden“lässt, dann geht es nicht, wie die ober-flächliche Marx-Kritik annimmt, um ihrenKontostand, sondern um ihre Würde.Denn „Verelendung“ bedeutet bei Marxmehr als nur das nach seinen Prämissentendenziell sinkende Lohneinkommen.Schon im Althochdeutschen bedeutet „eli-lenti“ so viel wie „in fremdem Land“, „aus-gewiesen“ oder „unglücklich“.30 „Verelen-dung“ ist also schon etymologisch gese-hen nicht gleichbedeutend mit Verarmungim ökonomischen Sinne, sondern ein Vor-gang, in dessen Verlauf der Mensch einenfür sein Wesen entscheidenden geistigen,psychischen und humanen Verlust erlei-det. Kurz: Im Kapitalismus wird der

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Mensch seinem Wesen entfremdet – unddas bedeutet nach Kants anthropologi-schen Prämissen: Im Kapitalismus wirder wieder unfrei.Natürlich sind wir heute mit Recht miss-trauisch, wenn man vom „Wesen“ einesDinges spricht.31 Aber verschiedene Äu-ßerungen von Marx zeigen durchaus mithinreichender Klarheit, wie er sich einen(nicht) entfremdeten Menschen vorstellte– nämlich als ein Wesen, das nur außer-halb des Arbeitsprozesses, also außerhalbdes „Reiches der Notwendigkeit“, zu sichselbst kommen kann. Und das betrifft denKapitalbesitzer (Zitat 1) und den Arbeiter(Zitat 2) gleichermaßen:

(1) „Je weniger du ißt, trinkst, Bücherkaufst, in das Theater, auf den Ball,zum Wirtshaus gehst, denkst, liebst,theoretisierst, singst, malst, fichtst etc.,um so [mehr] sparst du, um so grö-ßer wird dein Schatz, den weder Mot-ten noch Raub fressen, dein Kapital.Je weniger du bist, je weniger du deinLeben äußerst, um so mehr hast du,um so größer ist dein entäußertes Le-ben, um so mehr speicherst du aufvon deinem entfremdeten Wesen.“32

(2) „Sowie nämlich die Arbeit verteiltzu werden anfängt, hat jeder einen be-stimmten ausschließlichen Kreis derTätigkeit, der ihm aufgedrängt wird,aus dem er nicht heraus kann; er istJäger, Fischer oder Hirt oder kritischerKritiker und muß es bleiben, wenn ernicht die Mittel zum Leben verlierenwill – während in der kommunistischenGesellschaft, wo jeder nicht einen aus-schließlichen Kreis der Tätigkeit hat,sondern sich in jedem beliebigenZweige ausbilden kann, die Gesell-schaft die allgemeine Produktion re-

gelt und mir eben dadurch möglichmacht, heute dies, morgen jenes zutun, morgens zu jagen, nachmittags zufischen, abends Viehzucht zu treiben,nach dem Essen zu kritisieren, wie ichgerade Lust habe, ohne je Jäger, Fi-scher, Hirt oder Kritiker zu werden.Dieses Sichfestsetzen der sozialen Tä-tigkeit, diese Konsolidation unsres eig-nen Produkts zu einer sachlichen Ge-walt über uns, die unsrer Kontrolle ent-wächst, unsre Erwartungen durch-kreuzt, unsre Berechnungen zunichtemacht, ist eines der Hauptmomente inder bisherigen geschichtlichen Ent-wicklung ...”.33

Wie können wir nun dieser aus moralischerSicht desaströsen Entwicklung entkom-men? Der späte Marx, der sich mehrereJahrzehnte auf die ökonomische Funk-tionslogik der Wirtschaft eingelassen hat-te, kommt zu einem überraschendenSchluss:

„Das Reich der Freiheit beginnt in derTat erst da, wo das Arbeiten, dasdurch Not und äußere Zweckmäßig-keit bestimmt ist, aufhört; es liegt alsoder Natur der Sache nach jenseits derSphäre der eigentlichen materiellenProduktion. … Die Freiheit in diesemGebiet kann nur darin bestehn, daßder vergesellschaftete Mensch, dieassoziierten Produzenten, diesen ihrenStoffwechsel mit der Natur rationellregeln, unter ihre gemeinschaftlicheKontrolle bringen, statt von ihnen alsvon einer blinden Macht beherrschtzu werden; ihn mit dem geringstenKraftaufwand und unter den ihrermenschlichen Natur würdigsten undadäquatesten Bedingungen vollziehen.

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Aber es bleibt dies immer ein Reichder Notwendigkeit. Jenseits dessenbeginnt die menschliche Kraftentwick-lung, die sich als Selbstzweck gilt, daswahre Reich der Freiheit, das aber im-mer nur auf jenem Reich der Notwen-digkeit als seiner Basis aufblühn kann.Die Verkürzung des Arbeitstags ist dieGrundbedingung.“ 34

Marx wusste um die wohlstandsfördern-den Effekte der Arbeitsteilung und Spe-zialisierung; es konnte für ihn also nichtdarum gehen, das Rad der Geschichte zuganzheitlichen Produktionsformen zurück-zudrehen. Vielmehr ist es die Verkürzungdes Arbeitstages, die der späte Marx alsein entscheidendes Kriterium für dieMenschlichkeit einer Wirtschaftsordnungerkennt. Es geht ihm darum, „Freiheitdurch Freizeit“35 zu erringen. In der Tat:Ich kenne kein besseres Kriterium.Aber das bedeutet: Eine Gesellschaft wiedie unsrige, die es nicht schafft, (wieder)steigende Wochenarbeitszeiten und (wei-terhin) steigende Arbeitslosenzahlen zuvermeiden, muss sich mit Marx vorhaltenlassen, in humanistischem Sinne zu ver-elenden – weil offenbar entweder die öko-nomischen Mechanismen noch nicht soweit durchschaut sind, dass die humani-stischen Kollateralschäden kapitalistischenWirtschaftens weiter verringert werdenkönnen, oder aber die kollektive Entschei-dung, genau dieses zu tun, noch aussteht.Das zweite Kriterium für die Menschlich-keit einer Wirtschaftsordnung ist nämlichdie bewusste und (!) kollektive Entschei-dung über Ziele und Mittel der Produk-tion. Unsere Freiheit bestünde dann dar-in, dass wir unseren „Stoffwechsel mit derNatur“ so regeln, dass wir die blindenKräfte des Marktes unter eine „gemein-

schaftliche Kontrolle“ bringen. Genau dieswurde im Sozialismus versucht. Ist esmöglich?

III. Die Funktionslogik des KapitalismusDas sozialistische Experiment, das dieVorstufe der kommunistischen Verheißungbilden sollte, ist katastrophal gescheitert.Warum? Werfen wir nun einen Blick aufdie heutigen Sozialwissenschaften, umdafür eine Erklärung zu finden.Wer etwas erklären will, bedarf einer Theo-rie. Jede Theorie über menschliches Zu-sammenleben bedarf eines bestimmtenMenschenbildes. Marx stellt, wie wir sa-hen, in diesem Punkt keine Ausnahme dar:Die Kantische Theorie der Freiheit und dieHegelsche Theorie der geschichtlichenEntwicklung standen bei seinem Men-schenbild und bei seinem TheoriemodellPate. Welche Entwicklung nahm nun dieTheorie der Freiheit seit Kant? Und wel-ches Menschenbild vermitteln uns die heu-tigen, durch die Ökonomik dominiertenSozialwissenschaften?36

Kants Theorie der Freiheit beruhte auf ei-ner scharfen Trennung des Bereichs, indem Naturgesetze gelten (für ihn also diePhysik) und des Reiches, in dem sie nichtgelten – also des Reichs der Freiheit, indem wir Entscheidungen treffen und ver-antworten können. Die Geschichte desDenkens seit Kant ist nun die Geschichteder m.E. erfolgreichen Ausweitung desnaturwissenschaftlichen Paradigmas auchauf außerphysikalische Gebiete.Zunächst: Wenn man die Chemie außerAcht lässt – eine Disziplin, die mit KantsVorstellung von menschlicher Autonomiewohl noch vereinbar gewesen wäre –, soscheitert seine Auffassung spätestens ander Biologie. Wir können heutzutage nichtmehr sagen, dass es niemals einen „New-

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ton des Grashalms“ geben werde.37 Auchwenn dieses Prädikat möglicherweisenoch nicht auf Darwin selbst zutrifft (ob-wohl er schon im Prinzip zeigte, wie einGrashalm „ohne Absicht“ zustande kom-men kann), sollten wir spätestens den Mo-lekularbiologen des 20. Jahrhunderts die-se Bezeichnung zugestehen. Sie haben ge-zeigt: Die Welt der Lebewesen (ihre Struk-tur, ihre Geschichte und ihr Verhalten) lässtsich durchaus mit Hilfe des naturwissen-schaftlichen Paradigmas beschreiben underklären.38 Die wichtigste Konsequenz die-ser Entwicklung war, dass die Sonderstel-lung des Menschen im Sinne Kants schritt-weise aufgegeben werden musste: Human-biologie, Psychologie und Sozialwissen-schaften haben den Menschen erfolgreichin das naturwissenschaftliche Paradigmaintegriert.Das Verhaltensmodell, das sich dabei imLaufe der Zeit in den Sozialwissenschaf-ten herausgebildet und bewährt hat, ist dasModell des Homo oeconomicus, das wirkurz so formulieren können: Der Menschist ein kostensensitiver Eigennutzmaxi-mierer. Der Mensch denkt also wenigerans Große Ganze oder an das „Gemein-wohl“, sondern zunächst an sich selbstund das eigene Wohl, das er unter Beach-tung der jeweils anfallenden Kosten zu ma-ximieren sucht. Wir müssen also immerdamit rechnen, dass die Menschen ihreeigenen Interessen verfolgen und nicht dieInteressen der Organisation, der sie ange-hören – und schon gar nicht die Interes-sen „der Menschheit“ oder „des Staates“.Dieses Modell bildet den harten Kern39 desökonomischen Forschungsprogramms,das seit Jahrzehnten in den Sozialwissen-schaften erfolgreich ist.40

Natürlich ist das ökonomische Verhaltens-modell auch empirischen Einwänden aus-

gesetzt. Es gibt Anomalien, also Vorgän-ge, die mit ihm bisher nicht erklärt wer-den konnten. So neigen Menschen bei-spielsweise dazu, ihren Besitz nur deshalbhöher zu bewerten als ein gleichwertigesGüterbündel, weil er ihr Besitz ist. Oder:Beim Versuch, mögliche Verluste zu ver-meiden, entscheiden Menschen oft irra-tional. Oder: Schon die Art und Weise,wie ihnen Entscheidungssituationen offe-riert werden, nimmt auf ihre EntscheidungEinfluss (framing).41 Doch Anomalienkennt jede Theorie: Nach Thomas Kuhn42

gibt es selbst in den Naturwissenschaftenkeine einzige Theorie ohne Anomalien.Streng genommen sind also alle Theorienfalsch. Die Antwort darauf ist nun aller-dings nicht etwa der Verzicht auf Theo-rie, sondern eine bessere, leistungsfähigereTheorie. Wer also meint, man brauche dasin zahlreichen Sozialwissenschaften em-pirisch und theoretisch sehr erfolgreicheHomo oeconomicus-Modell lediglich aufGrund einiger Anomalien nicht zu berück-sichtigen, irrt: Der Feind einer falschenTheorie ist eine bessere Theorie. Eine sol-che gibt es jedoch bisher nur in Ansät-zen.43

Beginnen wir mit der Frage, wie wir „kol-lektiv entscheiden“ können, wer was wannproduziert. Marx verlangte von einer Wirt-schaftsordnung, die nicht zur Entfrem-dung des Menschen von seiner Gattungs-norm der Freiheit führen solle, dass wirsolche Entscheidungen „gemeinschaftlich“fällen. Geht so etwas?Gehen wir auch hier wieder von einem ein-fachen Beispiel aus. Angenommen, dieEntscheidung steht an, ob auf einem Ak-ker y in Z Gerste oder Zuckerrüben ange-baut werden sollen oder die Ackerflächezur Viehweide umfunktioniert werden soll.Um diese Entscheidung sachgemäß tref-

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fen zu können, benötigt man Informatio-nen – über die klimatischen Bedingungen,über die bisherige Fruchtfolge, über Ab-satzchancen und Preise, über die Verfüg-barkeit von Arbeitskräften und Geräten undüber deren Preise – und so fort.Wer hat einen Anreiz, sich diese Informa-tionen zu besorgen? Im Kapitalismus gilt:Der Eigentümer. Wer eigenes Geld inve-stiert, achtet darauf, dass es möglichstnicht fehlinvestiert wird; denn eine falscheEntscheidung kostet das eigene Geld. ImSozialismus gilt: Das Kollektiv. Aber werist das Kollektiv, und wie stellt der Ab-stimmungsmechanismus sicher, dass einesachgerechte Entscheidung gefällt wird?Geben bei einer kollektiven Produktions-entscheidung nicht vielleicht eher politi-sche Loyalitäten den Ausschlag oder ein-fach nur menschliche Sympathie oderAntipathie? Haben die Mitglieder einesKollektivs überhaupt einen Anreiz, falscheEntscheidungen zu vermeiden, wenn dieKosten falscher Entscheidungen soziali-siert werden können?Weiter: In der Marktwirtschaft beeinflus-sen Preise die Produktionsentscheidungen.Preise haben aber eine Informationsfunk-tion: Sie informieren über Knappheiten,Nachfrageintensitäten und die Schwereder Bedingungen, unter denen ein Gut be-reitgestellt werden kann. Aber im Sozia-lismus gibt es kein freies Preissystem,44

sondern kollektive Entscheidungen überdie Bedingungen, unter denen etwa derBetrieb X dem Betrieb Y Fertigwaren oderVorprodukte liefern soll. Nach Marx darfdas auch nicht anders sein, will man sichnicht wieder den „Launen des Marktes“aussetzen. Der Strom von Waren undDienstleistungen wird im Sozialismus da-her systematisch fehlgesteuert, weil Infor-mationen durch Marktpreise nicht gene-

riert und transportiert werden können.Mehr noch: Individuelle, eigenverantwort-liche und deshalb informierte Entschei-dungen vor Ort werden durch zentrale unddeshalb weniger informierte Entscheidun-gen ersetzt. Denn Zentralisierung bedeu-tet Informationsverlust: Keine Behörde undkein Ministerium kann die vielen, in Mil-lionen Köpfen vorhandenen Informatio-nen so filtern und auswerten, dass einejeweils vor Ort sachangemessene Ent-scheidung zustande kommt.45 Die Ent-scheidungsträger können höchstens hof-fen, dass die Informationen, die in ihreEntscheidungen einfließen, sachangemes-sen sind. Darin mag man das spezifischePrinzip Hoffnung des Sozialismus erbli-cken.Wie hängt nun das Problem des mangeln-den Wissens mit der Theorie des Homooeconomicus zusammen? Grundsätzlichgilt: Auch die Bereitschaft, nach Informa-tionen zu suchen, unterliegt einem Kosten-Nutzen-Kalkül. Und das gilt vor allem auchfür die Begrenzung dieser Informations-kosten. Wir sprechen zwar vom „rationa-len“ Eigennutzmaximierer; aber wir dür-fen ihn uns nicht so vorstellen, dass ersich vor jeder Entscheidung, die er trifft,perfekt informiert. Im Gegenteil: Die Be-schaffung von Informationen erzeugt ja ih-rerseits Kosten, die gegen den (subjekti-ven) Nutzen abgewogen werden, den wei-tere Informationen einbringen werden. Derrationale Homo oeconomicus begrenztalso seine Rationalität46 – wenn wir unter„Rationalität“ perfekte Information verste-hen. Der rationale Nutzenmaximierer in-formiert sich also nicht maximal, sondernoptimal – je nach den Bedingungen, dieer vorfindet. Und wenn die ökonomischenFolgekosten falscher Entscheidungen vonanderen getragen werden – warum dann

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sich überhaupt informieren? Und so müs-sen beispielsweise unsere Demokratien mitdem Phänomen kämpfen, dass der durch-schnittliche Bürger sich zwar recht genauinformiert, wenn er eine Waschmaschinekaufen will; doch seine Wahlentscheidungscheint er eher am Schlips als am Gripsdes Kandidaten auszurichten.47 Mit einerschlechten oder ungeeigneten Waschma-schine muss man sich schließlich schonab morgen herumärgern, während dieKosten falscher politischer Entscheidun-gen erst viel später spürbar werden – ofterst nach einer Generation.Der erste Grund, warum der Kapitalismusdem Sozialismus systematisch überlegenist, ergibt sich also aus der verschiedenenBewältigung der Informationsproblema-tik. Das Preissystem prozessiert Informa-tionen über Knappheiten und Bedürfnis-se, die anders nicht zu erhalten wären, unddie Eigentumsordnung gibt Anreize für dieIndividuen, sich um sachangemessene undrentable Produktionsentscheidungen zukümmern.Aber nicht nur im Austausch mit anderenergeben sich Informationsprobleme. Sietauchen vielmehr schon innerhalb einerOrganisation auf, etwa in einer Firma.Überall, wo Aufgaben delegiert werden,entsteht ein Überwachungsproblem. Wenneine Abteilung einen Auftrag erhält, dannhat jeder Angehörige dieser Abteilung einInteresse daran, dass sie diesen Auftragauch ordentlich ausführt – aber nicht un-bedingt auch daran, ihn selbst ordentlichauszuführen. Der kostensensitive Eigen-nutzmaximierer bürdet eben lieber Müheund Arbeit anderen auf, als selbst tätig zuwerden. In jedem Unternehmen gibt esalso ein Überwachungs- und Kontrollpro-blem; und der Versuch, es zu lösen, er-zeugt Überwachungs- und Kontrollkosten

sowie leider auch Überwachungsfehlerund Kontrollversagen – etwa wenn selbstdie Kontrolleure, aus welchen Gründenauch immer, lieber nicht so genau hinsehen.Durch Kontrollversagen und durch sinken-de Arbeitsmoral werden die Ergebnisseeiner Organisation negativ beeinflusst. Ineiner Marktwirtschaft ist das noch keineKatastrophe: Organisationen mit sinken-der Effizienz werden eben einfach durchden Markt bestraft; wer schlampt, produ-ziert teurer, und dadurch sinkt sein Markt-anteil. Die Marktwirtschaft hat also auf dieArbeitsmoral einen disziplinierenden Ef-fekt: Wer spürt, dass das eigene Verhal-ten einen Einfluss auf die Chance hat, denArbeitsplatz zu behalten, arbeitet anders,als wenn der eigene Arbeitsplatz von po-litischen Garantien abhängt.Der zweite Grund, warum der Kapitalis-mus dem Sozialismus systematisch über-legen ist, ergibt sich also aus der verschie-denen Bewältigung der Kontrollproble-matik. Im Sozialismus lässt sich dasWohlwollen des Vorgesetzten zur Not auchdurch stramme Parolen erringen – zu La-sten des Produktes und damit der Kon-sumenten. Im Kapitalismus wird ein sol-ches Verhalten tendenziell durch den Kon-sumenten, also den Markt, abgestraft –und daher systematisch seltener auftre-ten.48

Der dritte Grund schließlich, warum derKapitalismus dem Sozialismus systema-tisch überlegen ist, ergibt sich aus der un-terschiedlichen Bewältigung der Innovat-ionsproblematik. Wir kennen inzwischendie geradezu sprichwörtlich gewordeneLeistungsfähigkeit der sozialistischenVolkswirtschaften: Der Spott, dass dieDDR es geschafft habe, in den achtzigerJahren den größten 1-Megabyte-Chip derWelt zu bauen, klingt so manchem Beob-

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achter noch im Ohr. An diesem Beispielwird schlaglichtartig deutlich: Auch dieEntscheidung, neue Wege zu gehen undetwas zu riskieren, hängt von einem Ko-sten-Nutzen-Kalkül ab. Wenn der Durch-schnittsmensch risikoaversiv und status-quo-orientiert ist, dann bedarf es beson-derer Anreize, sich auf Neues einzulassen.Der Kapitalismus winkt hier neben politi-schen Freiheitsspielräumen mit Pionier-gewinnen: Wer im Wettlauf um die künfti-gen Bedürfnisse des Konsumenten vorneliegt, kann besonders viel verdienen. Daaber niemand wissen kann, welche inno-vativen Wege sich als gangbar erweisenund welche nicht, ist eine dezentrale In-novationskultur einer zentralen systema-tisch überlegen. Niemand hätte Ende dersiebziger Jahre dem Studienabbrecher undGaragenbastler Bill Gates zugetraut, alsChef der Firma Microsoft einmal zu denreichsten Männern der Welt zu gehören.Wandel und Veränderung, die der Kapita-lismus systematisch fördert, verlangen An–passungsbereitschaft und Reaktionsver-mögen. Doch Wandel und Veränderungbefremden uns – sie entfremden uns demGewohnten und Althergebrachten. Verän-derung ist daher etwas, das wir nur schwerakzeptieren und daher noch schwerer kol-lektiv (also politisch) durchsetzen können.Denn unser psychisches Verhältnis zu Ver-änderungen ist ambivalent. Auf der einenSeite wünschen wir uns nur allzu oft, dieWelt möge auf keinen Fall so bleiben, wiesie ist. Auf der anderen Seite fürchten wirnichts so sehr wie ihre grundlegende Ver-änderung: Wird das Ergebnis auch er-wünscht sein? Würden wir uns in einerderart veränderten Welt auch wohlfühlen?Wir wissen es nicht im voraus. Verände-rungszumutungen sind daher immer poli-tisch riskant. Und antimoderne Strömun-

gen in Politik und Literatur lassen erah-nen, in welch selbstschädigendem Aus-maß wir die Ruhe der Veränderung vor-ziehen.49

Der so viel gescholtene Wettbewerb ist nundas systematische Mittel, mit dem dieMarktwirtschaft die genannten drei zen-tralen Probleme löst. Wettbewerb unterMarktbedingungen erzwingt, dass sich dieWirtschaftssubjekte im Interesse der Kun-den angemessen informieren; er bringt dieOrganisationen dazu, ihre Mitarbeiter an-gemessen zu kontrollieren; und er fördertMenschen, die bereit sind zu innovieren.Und damit ist er ein Entdeckungsverfahrenfür das, was Menschen wirklich wollen.50

Der Wettbewerb verlangt also viel – keinWunder, dass Menschen systematischversuchen, ihm zu entkommen. Viele Pro-duzenten versuchen daher, den Staat fürihre besonderen Interessen zu instrumen-talisieren – sei es, dass Bauern und Berg-leute durch politische Pressionen ihre Ein-kommen auch unter veränderten Welt-marktbedingungen zu retten versuchen, seies, dass Firmen und Konzerne dem Wett-bewerb durch das Erreichen einer Mono-polstellung zu entkommen versuchen.Kartellbehörden und Wettbewerbsrechtsind die ordnungspolitischen Mittel, sol-che Monopole zu bekämpfen und die Pro-duzenten zur Arbeit im Interesse des Kon-sumenten zu zwingen. Dieser Kampf istnicht immer erfolgreich: Der jährliche Sub-ventionsbericht der Bundesregierung zeigt,wie viele Niederlagen die Politik im Kampffür den Wettbewerb immer noch erleidet.Die problemlösende Kraft des Wettbe-werbs ist nun keine Erfindung (oder garPropaganda) von Liberalen. Sogar der rus-sische Revolutionär Leo Trotzki fragtesich, ob „ein Übermaß an Solidarität dieGefahr einer Entartung des Menschen zu

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einem sentimental passiven Herdenwesenin sich“ berge. Seine hellsichtige Antwort:Das hänge davon ab, ob es gelingt, die„mächtige Kraft des Wettstreites“ auf einehumane Weise zu nutzen.51 Genau das istdie ordnungspolitische Zukunftsaufgabedes Kapitalismus.Natürlich könnte man all diesen Proble-men dadurch zu entkommen versuchen,dass man zwar den Sozialismus beibehält,aber den Menschen ändert. Marxens hi-storischer Materialismus legte sogar nahe,dass die Eigenschaften des Menschennicht, wie der Feuerbachsche Materialis-mus annahm, anthropologisch konstantsind, sondern ein „Ensemble der gesell-schaftlichen Verhältnisse“ bilden. Wäredies so, dann wäre das Wesen des Men-schen durch gesellschaftliche Grundsatz-entscheidungen im Kern veränderbar. Ge-nau deshalb wollte der Sozialismus zumNeuen Menschen erziehen – also zu ei-nem Menschen, dessen Eigenschaften mitdem Kommunismus vereinbar sind, indem jeder nach seinen Fähigkeiten arbei-tet und jeder nach seinen Bedürfnissenkonsumiert. Doch es ist zu befürchten,dass es sich eher umgekehrt verhält: DerHomo oeconomicus arbeitet nach seinenBedürfnissen und konsumiert nach seinenFähigkeiten. Und daher muss der Sozia-lismus misslingen.52

IV. Die Ethik des Kapitalismus

Übrigens ist auch der Gegensatz der Na-tionalökonomie und der Moral nur einSchein und, wie er ein Gegensatz ist, wie-der kein Gegensatz. Die Nationalökono-mie drückt nur in ihrer Weise die morali-schen Gesetze aus.

Karl Marx53

Ich beginne mit einem Gedankenexpe-riment. Stellen wir uns einen Menschen

vor – von der Wiege bis zur Bahre –, undrechnen zusammen, was er auf seinemWege an Gütern verbraucht.54 Schon kurznach der Zeugung fallen Vorsorgeunter-suchungen an; auch während und kurznach der Geburt sind ärztliche Leistun-gen fällig. Auf seinem späteren Lebens-weg verbraucht der Mensch der Industrie-länder etwa 5 Kilotonnen Frischwasser,mehrere Tonnen Eiweiß, Fette und eineunübersehbare Menge an Kohlenhydraten,Vitaminen und sonstigen Nahrungsbe-standteilen sowie alle Ressourcen, die zuihrer Erzeugung aufgebracht werden müs-sen. Aber unser Mensch will nicht nur er-nährt, sondern auch behaust und beklei-det sein: Mehrere Kilotonnen Baustoffe,mehrere hundert Kilogramm Baumwolle,Wolle und Kunstfasern sowie die Res-sourcen zu ihrer Herstellung kommen hin-zu. Außerdem will und soll er kulturelleDienstleistungen konsumieren (etwa die-se Zeitschrift lesen) sowie Auto fahren undreisen können. Auch möchte er in Frie-den leben und nicht ermordet oder körper-verletzt werden; das erfordert Aufwendun-gen für seine Sicherheit. All dies ist nurmöglich, wenn es andere Menschen gibt,die ihm diese Güter und Dienstleistungenzur Verfügung stellen. Und das Wichtig-ste: Diese Menschen müssen ausgebildetwerden (genauer: sie müssen sich freiwil-lig ausbilden lassen wollen), damit sie un-serem Modellmenschen diese Güter undDienstleistungen überhaupt zur Verfügungstellen können.Worin besteht nun unter dieser Perspekti-ve das grundlegende moralische Problemmenschlichen Zusammenlebens, das die-ses Gedankenexperiment aufwirft? Nachmeiner Auffassung ist es das folgende:

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Wie können wir es erreichen, dass derMensch alles das, was er auf seinemLebensweg beansprucht, von ande-ren freiwillig erhält?

Dies ist m.E. das grundlegende Problemder politischen Ökonomie. Politisch ist es,weil wir durch eine politische Entschei-dung die Rahmenbedingungen bereitstel-len müssen, die es erlauben, miteinanderfriedlich zu kooperieren und die betref-fenden Güter und Dienstleistungen freiwil-lig auszutauschen; und ein Problem derÖkonomie ist es, weil wir diese Güter undDienstleistungen produzieren müssen.Und es hängt, wie wir im 20. Jahrhunderterfahren mussten, entscheidend von derArt der Rahmenbedingungen ab, ob die-se Produktion in ausreichendem Maßegelingt und ob und in welchem Maße derfreiwillige Austausch zustande kommt.55

Der Markt ist der soziologische Ort frei-willigen Austauschs. Er ist das beste bis-her bekannte Instrument, das oben for-mulierte Problem der politischen Ökono-mie zu lösen. In Anspielung auf ein WortWinston Churchills über die Demokratiewürde ich mit Paul Krugman56 sagen: DerMarkt hat zweifellos viele Nachteile; aberjede konkurrierende Institution ist nochviel schlechter. Machen wir uns daher die10 komparativen Vorteile des Marktesklar.

Zehn komparative Vorteile des Marktes(1) Die Marktwirtschaft erlaubt die Ko-ordinierung menschlichen Handelns miteinem Minimum an Konsensbedarf bzw.Zwang. Nur Käufer und Verkäufer müs-sen sich einig werden; Kommitees, Gre-mien, der Blockwart oder auch bloß derNachbar müssen dabei nicht gefragt wer-den.

(2) Die Politik wird durch den Markt vonder Aufgabe entlastet, Verteilungsproblemezu lösen. Dan Usher hat dies in einem be-rühmt gewordenen Gedankenexperimenterläutert:„Wir stellen uns eine Gemeinschaft mitfünfzehn Leuten vor, die in einer Demo-kratie organisiert sind, in der alle Entschei-dungen per Votum getroffen werden undin der die strenge und unbegrenzte Mehr-heitsregel vorherrscht. Um zu zeigen, waspassiert, wenn eine demokratische Regie-rung das Einkommen unter den Bürgernaufzuteilen versucht, abstrahieren wir vonder Produktion und unterstellen statt des-sen, daß das Volkseinkommen in Höhevon 300.000 Dollar der Gemeinschaft wieManna vom Himmel in den Schoß fälltund daß diese keine andere Wahl zu tref-fen hat als über die Zuteilung der 300.000Dollar auf ihre Bürger abzustimmen. In derRealität könnte es sich bei einer solchenGemeinschaft um einen demokratisch re-gierten Staat handeln, in dem Ölkonzes-sionen die einzige Einkommensquelle sind.Die für uns relevante Frage lautet nun: Wiewürde das Einkommen in einer solchenGesellschaft zugeteilt werden?“57

Ushers plausible Antwort: Die Zuteilungwäre dauerhaft instabil, weil wechselndeKoalitionen ständig wechselnde Vertei-lungsergebnisse erzwingen könnten. ImExtremfall könnten 8 Leute die anderen 7enteignen, so dass die 7 einen hohen An-reiz hätten, einen achten aus der Mehr-heitskoalition herauszubrechen – usw. adbellum omnia contra omnes.(3) Die Marktwirtschaft verringert die ne-gativen Auswirkungen tendenziell illegiti-mer Mehrheitsentscheidungen. Eine Mehr-heitsentscheidung ist deshalb tendenziellillegitim, weil die überstimmte Minderheitmit ihren Präferenzen nicht zum Zuge

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kommen konnte. Daher ist eine Politik, dieden Konsensbedarf minimiert, einer Poli-tik vorzuziehen, die ihn maximiert – undder Markt ist das beste bekannte Mittel,den Konsensbedarf zwischen Menschenzu minimieren.(4) Der Markt registriert nicht nur Präfe-renzen, sondern auch deren Intensitäten;sie drücken sich in der Zahlungsbereit-schaft aus. So bilden sich Marktpreise,die wiederum Angebot und Nachfrage re-gulieren und die Chancen maximieren,dass jeder mit seinen Bedürfnissen amMarkt Berücksichtigung findet.(5) Tauschpartner müssen über Güter undLeistungen verfügen, die anderen attrak-tiv erscheinen. Nur dann sind sie ja bereit,ihre eigenen Güter und Leistungen gegendie der Marktgegenseite zu tauschen. Daszwingt die Menschen dazu, in gegenseiti-gem Interesse zu arbeiten, und selbst Egoi-sten haben einen Anreiz, den Interessenanderer zu dienen.58 Transaktionen amMarkt erfüllen also die wichtige morali-sche Forderung: Berücksichtige die Inter-essen anderer Menschen!(6) Durch wachsenden Austausch stellensich alle besser. Denn jeder gewinnt –sonst würde der Austausch nicht zustan-de kommen. Wachsendes Handelsvolu-men ist daher der beste Indikator für denWohlstand einer Gesellschaft.(7) Der Markt erzeugt systematisch Inno-vationsanreize, denn neue Ideen führen zubesseren oder billigeren Produkten. Da-her gibt es Fortschritt und Entwicklung –vom quäkenden Grammophon zur DVD-Dolby-Surround-Multimedia-Anlage undvom lärmenden Zweitakter mit Holzscha-lensitz von Carl Benz zum katalysatorbe-wehrten Achtzylinder-Einspritzmotor-Mercedes mit Ledersitzen, Klimaanlageund GPS-System.

(8) Ein funktionierender Markt erfüllt auchpolitische Funktionen: Er schützt Minder-heiten. Wer schmackhafte Brötchen backt,hat Kunden – auch wenn er eine schwar-ze oder „gelbe“ Hautfarbe hat oder jüdi-schen oder moslemischen Glaubens ist.Der Austausch auf dem Markt fördert alsoauch die Integration von Migranten.(9) Der Weltmarkt ist das beste bisherbekannte Mittel zur Förderung des Welt-friedens. Demokratisch verfasste Markt-wirtschaften haben bisher noch nie gegen-einander Kriege geführt.59

(10) Und schließlich erfüllt der Markt inoptimaler Weise das Ideal der Selbstbe-stimmung. Geld ist, wie Dostojewski er-kannte, geprägte Freiheit – und je mehrman davon hat, desto größer sind dieHandlungsfreiheiten und desto größer dieWahrscheinlichkeit, dass man in einemSystem lebt, das auch politische Freihei-ten kennt.

Sieben Problembereiche des MarktesWas sind nun die Nachteile des Marktes?Es ist ja kaum anzunehmen, dass eine vonMenschen erdachte Institution nur posi-tive Eigenschaften und Wirkungen hat.

(1) Zu den wesentlichen Einwänden vonMarx gegen den Kapitalismus gehörte dieUnmenschlichkeit der frühkapitalistischenArbeitsbedingungen. Wir können demnicht widersprechen, müssen aber hinzu-setzen, dass der Marsch in die Städte im19. Jahrhundert eine rationale Anpassungs-reaktion der Menschen war, die auf demLande keine wirtschaftliche Zukunft mehrsahen. Die Alternative zur Proletarisierungwar nämlich nicht das selbstbestimmteDorfleben, sondern das Verhungern.60 Wirdürfen ferner nicht übersehen, dass derAufbau eines produktivitätsfördernden

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Kapitalstocks im 19. Jahrhundert unteräußerst ungünstigen demografischen Be-dingungen stattfand: Europa litt unter ei-ner Bevölkerungsexplosion – Ursachenicht nur verschärfter Armut, sondernauch diverser Auswanderungswellen. Manmuss dennoch zugeben: Die erste Gene-ration im Kapitalismus zahlt immer einebesonders harte Investitionszeche; unddas gilt auch heute noch für jede Gesell-schaft, die den ersten Schritt in die kapi-talistische Moderne wagt.(2) Der zweite Einwand von Marx gegenden Kapitalismus war, dass die kapitali-stische Maschinerie das Wesensmerkmaldes Menschen, nämlich die Freiheit, un-terdrückt. Diesen Satz müssen wir inso-weit relativieren, als der Mensch in seinerRolle als Konsument souverän ist, in sei-ner Rolle als Produzent dagegen nicht.61

Auch hier sollten wir zugeben, dass derMensch im Kapitalismus durch die lau-nenhaften Konsumwünsche der Mitmen-schen in gewissem Sinne fremdbestimmt,„entfremdet“ ist und bleiben wird. Wieauch immer wir die Produktionsentschei-dungen regeln: Wenn es Märkte gibt, wirdes immer einen Rest von Fremdbestim-mung geben, der nicht aufhebbar ist, ohnedass wir unsere Freiheiten als Konsumen-ten abschaffen. Insofern können wir unsdurchaus an die eingangs erwähnte Un-schärferelation erinnert fühlen: Je mehr wirunseren Freiheitsspielraum als Konsumentvergrößern, desto mehr sind wir gezwun-gen, auf die Wünsche der MitmenschenRücksicht zu nehmen. Und umgekehrt:Wer für seine Mitmenschen nichts tut, ver-liert an Freiheitsspielräumen. Denn Geldist, wie Dostojewski erkannte, geprägteFreiheit.(3) Der dritte Einwand gegen den Marktist, dass er Externalitäten erzeuge. Zwar

mag es sein, dass sich Autokäufer undAutoverkäufer nach dem Tausch besserstehen; aber dies gelte nicht für Dritte, dievom Autofahren betroffen sind – etwadurch Abgase, Verkehrsgefährdungen undStraßenbau. Solche negativen Externalitä-ten lassen sich grundsätzlich auf zwei We-gen ausgleichen. Zum einen kann man dieBetroffenen entschädigen oder sogar dieTätigkeit verbieten, die solche Externali-täten erzeugt. Oder man kann durch staat-liche Regelungen einen komplexenTauschprozess etablieren, in dem wir unsalle gegenseitig das Recht zugestehen, ein-ander solche negativen Externalitäten zu-zufügen – weil wir nämlich anders nichtin den Genuss der positiven Externalitätendes Straßenverkehrs kämen wie etwaleichte Verfügbarkeit von Gütern undMobilität. Unsere Straßenverkehrsordnungkann unter ökonomischer Perspektive alsein derartiger Tausch angesehen werden:Wir alle sind von den Autos der jeweilsanderen negativ betroffen, gleichzeitig aberhaben wir alle ein positives Interesse dar-an, fahren zu können; und selbst der alteMensch, der nicht (mehr) selbst fährt, hatein Interesse daran, dass Ärzte, Lieferan-ten oder Schwiegertöchter mit den Enkel-kindern möglichst kostengünstig zu ihmkommen können. Daher geben wir unsdurch eine kollektive Entscheidung eineRahmenordnung, die unter bestimmtenVoraussetzungen und Bedingungen allenerlaubt, zum gegenseitigen Nutzen eigeneZiele anzusteuern. Diese Bedingungenkönnen aber natürlich nicht durch denMarkt, sondern nur politisch gesetzt wer-den – wobei dabei beachtet werden soll-te, ob die jeweiligen Regeln wohlstands-fördernde oder wohlstandsminderndeAuswirkungen haben.62

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(4) Der Markt ermöglicht Verträge zuLasten Dritter. In diesen Fällen bestehtauf Seiten des betroffenen Dritten kein In-teresse daran, selbst die betreffende Akti-vität ausüben zu dürfen. Auch hier gilt:Nicht der Markt, sondern nur die Politikkann solche Verträge als nichtig oder garals kriminell einstufen – wie es etwa beieinem Vertrag zwischen Kunden und Zu-hälter zu Lasten einer Minderjährigen oderZwangsprostituierten der Fall wäre.(5) Marktprozesse fördern einen Struktur-wandel: Sie lassen Industrien sterben, diejahrzehntelang ihren Mann nährten, weilFreihandel, neue Produkte und/oder effi-zientere Produktionsverfahren sie unren-tabel gemacht haben. Dieser Strukturwan-del ist für die Mehrheit der nicht betroffe-nen Konsumenten von Vorteil, erhalten siedoch bestimmte Waren immer billiger undin immer besserer Qualität. Doch für diebetroffenen Produzenten ist der Struktur-wandel natürlich von Nachteil: Sie verlie-ren ihren Arbeitsplatz, mindestens jedochan Einkommen. Es ist daher eine wichtigestaatliche Aufgabe, die vom Strukturwan-del betroffenen Menschen wieder in denArbeitsprozess einzugliedern oder sie aufandere Weise zu kompensieren. Die west-europäischen Länder sind dabei unter-schiedlich erfolgreich. Sie haben aber nichtim wünschenswerten Ausmaß (an)erkannt,dass der Vorteil, den die Vielen haben,nicht durch den Nachteil der Wenigen er-kauft werden darf. Man kann es nicht deut-lich genug sagen: Dies ist ethisch nichtzu rechtfertigen.63 Aber nicht nur eine fal-sche Politik, sondern auch falsche gesell-schaftliche Erwartungen können hier ei-nen selbstschädigenden Einfluss ausüben:Neue Arbeitsplätze entstehen eben nur inneuen Industrien. Die in Deutschland vor-herrschende christlich-grüne Ideologie64

ist jedoch tendenziell innovationsfeindlichund damit tendenziell auch antikapitali-stisch. Gentechnik, Nanotechnik oder in-härent sichere Atomtechnik könnten auchin Deutschland zahllose Arbeitsplätze unddamit volkswirtschaftlichen Wohlstandschaffen. Tatsächlich entsteht beides inanderen Ländern.65 Aber genau hier liegtdie Aufgabe einer integrierten Wirtschafts-und Sozialpolitik: Wie schaffen wir es,dass Menschen nicht unnötig darunter lei-den müssen, dass die Wechselfälle desMarktes und des Strukturwandels nichtvoraussehbar sind? Denn wenn es Wech-selfälle des Marktes gibt, dann könnenMenschen im Prinzip nie wissen, ob sieauch übermorgen noch etwas zu essenhaben werden – oder, auf unsere Verhält-nisse übertragen: ob sie sich ihr Auto oderihre Wohnung (vielleicht sogar: Frau undKinder) noch leisten können werden.(6) Der Markt schafft immer auch Verlie-rer. Der übergangene Heiratskandidat istenttäuscht; die übergangene Firma hättegerne auch an uns ihr Produkt verkauft;und manche Hochschule hätte es gernegesehen, wenn der Studierende sich gera-de für sie entschieden hätte. Aber solcheDinge gehören zum Preis der Freiheit:Wenn wir Wahlfreiheit haben wollen, dannkönnen wir nicht verhindern, dass es Ver-lierer gibt. Wir können durch eine faireWirtschafts- und Sozialpolitik nur verhin-dern, dass die Menschen das Gefühl be-kommen müssen, die Gesellschaftsord-nung kümmere sich um die Verlierer selbstdann nicht, wenn ihre Risiken existenzbe-drohend werden.(7) Der Markt ist geistfeindlich. Verstandund Geschmack, so der Vorwurf, seiennur bei Wenigen anzutreffen, und derenKaufkraft reiche nicht aus, um auch nurein Repertoire-Theater ohne Subventionen

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betreiben zu können. Kein Zweifel: WirHumanisten wünschen uns, dass dieNachfrage nach Büchern, Theater- undKonzertaufführungen sowie Vorträgensteigen möge – und nicht nur die nachComputerspielen. Doch der Markt machtallenfalls deutlich, dass es in humanisti-schem Sinne ein ordnungspolitisches Ver-sagen gibt; für mangelnde Nachfrage istniemals der Markt verantwortlich, sonderndie Menschen sowie die Regeln, die sieverantworten und nach denen sie leben zudürfen meinen.

Schluss: Eine humankapitalistischeAgendaMarx war zweifellos ein Humanist. Auchfür ihn war Bildung der Schlüssel zu ei-nem menschenwürdigen Leben, das ausdem Reich der Notwendigkeit herausragt.Auch nach klassischer humanistischerAuffassung, wie sie etwa Erasmus vonRotterdam formulierte, unterscheiden wiruns erst dann von den auf Effizienz undZweckmäßigkeit angelegten Organismender Natur, wenn wir die Herausforderungangenommen haben, uns durch zweckfrei-es Wissen zu „bilden“: Bildung machtden Menschen. Der mittelalterliche Aus-druck septem artes liberales drückt die-ses Bildungsideal aus: Die drei ersten derSieben freien (!) Künste, das Trivium(Grammatik, Rhetorik und Dialektik) sindeines freien Menschen würdig, weil sie derSchärfung der Argumentationsfähigkeitdienen;66 nur mit ihrer Hilfe können wiruns über die Regeln und Ziele des Zu-sammenlebens normativ verständigen. DieDisziplinen des Quadriviums (Arithmetik,Musik, Geometrie und Astronomie) da-gegen sind eines freien Menschen würdig,weil ihr Ziel die Deskription, die theoria(Schau) ist: Man will die Welt erkennen,

nicht nur in ihr zurechtkommen. Geradedie neuere Diskussion zeigt, dass es ver-fehlt wäre, diese Idee einer allgemeinen,alle Menschen verbindenden Bildung alsüberholt abzutun.67 Selbst in der Um-gangssprache hat sich etwas vom morali-schen Aufforderungscharakter der „Allge-meinen Bildung“ erhalten: Wer uns als„Fachidiot“ erscheint, mag uns als Spe-zialist überzeugen – als Mensch tut er esnicht.Bildung ist jedoch nicht Ausbildung. DennBildung verbindet, Ausbildung trennt –und dies nicht nur, weil Bildung auf denMenschen und den Bürger zielt, der mitseinen Mitmenschen etwas gemeinsamhaben soll, Ausbildung hingegen auf denFachmann, der seinen Mitmenschen etwasvoraus haben soll. Sozialwissenschaftlichgesehen ist Ausbildung ein positionalerWettbewerb: Wir wollen durch eine mög-lichst gute Ausbildung einen möglichstguten Bewerber für das Positionsgut „Ar-beitsplatz“ heranziehen, den die Konkur-renten nicht bekommen (können).68

Ohne fachspezifische, arbeitsteilige Aus-bildung geht es natürlich nicht – auch nichtnach Auffassung Marxens, der sich derwohlstandsfördernden Wirkung der Ar-beitsteilung und Spezialisierung durchausbewusst war. Auch die heutige Humanka-pitaltheorie betont den wohlstandsför-dernden Beitrag von vermehrten Investi-tionen in Ausbildung. Die Agrarökonomiekonnte schon vor geraumer Zeit zeigen,dass Bodenqualität und landwirtschaftli-che Erträge mit dem Wissen steigen, dasder betreffende Landwirt besitzt. Und diesgilt allgemein: Je mehr wir wissen und kön-nen, desto größer ist die Wirtschaftslei-stung. Ökonomen empfehlen daher seitlangem, in Menschen zu investieren69 –und je mehr Geld für diesen Zweck zur

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Verfügung steht, desto besser für denMenschen und seine Zukunft.Von Marx können wir jedoch lernen: Blo-ßer Reichtum ist nicht genug. Seine hu-manistische Perspektive legt nahe, unse-ren gesellschaftlichen Reichtum so einzu-setzen, dass der Mensch seiner eigentli-chen Aufgabe gerecht werden kann, wiesie die Romantiker des 18. Jahrhundertsdefiniert haben: Der Mensch ist nur daganz Mensch, wo er spielt – wo er alsodie drückenden Sorgen der Daseinsbewäl-tigung hinter sich gelassen hat und einerselbstbestimmten und nicht überlebens-relevanten Tätigkeit nachgeht. Deshalbsollten wir ein Wirtschafts- und Gesell-schaftssystem danach beurteilen, wie esdie Aufgabe der humanistischen Erziehungdes Menschen bewältigt.

Der Kapitalismus ist, das sollte hier deut-lich werden, für die Erfüllung dieser Auf-gabe zweifellos eine wichtige Vorausset-zung; aber er ist nicht das Ziel.

Anmerkungen:

1 Popper, Karl R.: Die offene Gesellschaft und ihreFeinde. Band II: Falsche Propheten. Hegel, Marxund die Folgen (1945). Tübingen: Mohr Siebeck2003. 8. Auflage, S. 246.2 Technisch gesprochen: Ist der Ort eines Teilchensbis auf die Größe Ä(x) genau gemessen und gleich-zeitig sein Impuls bis auf Ä(p) genau, dann ist dasProdukt dieser beiden Größen größer oder gleichdem Planck’schen Wirkungsquantum h, d. h. Ä(x) ·Ä(p) ≥ h.3 Proudhon meinte mit „Eigentum“ natürlich nichtden Kochtopf oder die Zahnbürste des Nachbarn,sondern, ähnlich wie Marx, das monopolistischeEigentum an Produktionsmitteln, das anderen nichtnur den Weg zu einem auskömmlichen Einkommenverlegt, sondern sogar noch ihr Existenzminimumgefährdet.4 Vgl. dazu Rabehl, Bernd: Marxismus heute. To-ter Hund oder des Pudels Kern? Vorlesungen an

der Uni Zürich im Februar 1986. Zürich: isp / Veritas-Verlag 1986.5 Vgl. etwa Courtois, Stéphane et al.: Das Schwarz-buch des Kommunismus. Unterdrückung, Verbre-chen und Terror. München: Piper 1998; Furet, Fran-çois: Das Ende der Illusion. Der Kommunismus im20. Jahrhundert. München: Piper 1996; als Meta-kritik: Kurz, Robert: Schwarzbuch Kapitalismus. EinAbgesang auf die Marktwirtschaft. Frankfurt amMain: Eichborn 1999; Mander, Jerry / Goldsmith,Edward (Hg.): Schwarzbuch Globalisierung. Einefatale Entwicklung mit vielen Verlierern und weni-gen Gewinnern. München: Riemann 2002.6 Marxens persönliche Schwächen behandelt aus-führlich Arnold Künzli: Karl Marx. Eine Psycho-graphie. Wien 1965. Vgl. dazu auch die Bemerkun-gen von Ossip K. Flechtheim und Hans-MartinLohmann: Marx zur Einführung. Hamburg: Junius1991, S. 60: „Mehr noch als Engels war Marx einzerrissener Mensch: In seiner Person kämpften diemesserscharfe Intelligenz und universale Bildung desgroßen Forschers, die grandiose Vision des Sehersmit der Ungeduld und Unduldsamkeit des Revo-lutionärs, mit der Vereinsamung, Aggressivität undHybris des neurotischen Genies oder genialen Neu-rotikers ...“.7 Unter dem Begriff „Kapitalismus“ verstehe ichein Wirtschaftssystem, in dem es erstens Privateigen-tum an Produktionsmitteln gibt und in dem zweitensPreise für alle Produktionsfaktoren (also auch fürdie Arbeit!) sich durch Angebot und Nachfrage amMarkt bilden können. Diese beiden definierendenBedingungen sind logisch unabhängig voneinander;es ist also auch ein Wirtschaftssystem (der „DritteWeg“) denkbar, in dem wir zwar Marktpreise zu-lassen, die Produktionsmittel aber im Besitz vonProduktionsgemeinschaften sind. Die Begriffe„Marktwirtschaft“ und „Kapitalismus“ sind letztlichgleichbedeutend: Marktwirtschaften sind ohne Preis-bildung an Märkten und ohne Privateigentum anProduktionsmitteln nicht denkbar (Eucken, Walter:Grundsätze der Wirtschaftspolitik. Tübingen: Mohr(Siebeck) UTB 1952. 6. Auflage 1990, S. 271) Zuden Definitionsproblemen vgl. auch Weede, Erich:Wirtschaft, Staat und Gesellschaft. Zur Soziologieder kapitalistischen Marktwirtschaft und der Demo-kratie. Tübingen: Mohr (Siebeck) 1990, S. 9, Anm. 1.8 Die Hervorhebung signalisiert, dass es nicht ge-nügt, das Gute nur zu denken und zu wollen, son-dern es muss auch institutionalisiert und damit auf

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Dauer gestellt werden können, um für das Lebender Menschen mehr als nur akademische Stamm-tisch-Relevanz zu erhalten. Wie Erich Kästner ein-mal bemerkte, reicht der gute Wille allein noch nichteinmal dazu aus, ein schmackhaftes Mittagessen zukochen.9 Marx unterscheidet Waren und Produkte: „Wereinen Artikel für seinen eigenen unmittelbaren Ge-brauch produziert, um ihn selbst zu konsumieren,schafft zwar ein Produkt, aber keine Ware.“ (KarlMarx: Lohn, Preis, Profit; MEW Bd. 16, S. 123.)Wenn nicht anders angegeben, zitiere ich Marx undEngels unter dem Sigel „MEW“ nach der Gesamt-ausgabe der Werke, hrsg. vom Institut für Marxis-mus-Leninismus beim ZK der SED, Bd. 1-43, Ber-lin: Dietz-Verlag 1956 ff., nach der seitenkonkor-danten Auswahl von Mathias Bertram, Berlin:Directmedia CD-ROM 2000.10 Die „bürgerliche“ Ökonomik würde Marx be-reits hier korrigieren: Jeder Kapitalstock zielt letzt-lich auf die Befriedigung konsumtiver Bedürfnisse.Aber in diesem Abschnitt geht es um die Perspekti-ve von Marx.11 Karl Marx, Das Kapital, Band I; MEW Bd. 23,S. 178; Hv. von Marx.12 In Europa mussten Kleinbauern wegen der Er-tragsentwicklung massenhaft aufgeben. Vgl. dazuWaibl, Elmar: Ökonomie und Ethik. Band 1. DieKapitalismusdebatte in der Philosophie der Neu-zeit. Stuttgart: Frommann-Holzboog 1989. 3. Auf-lage 1992, S. 254-256. Die schlechte Ertragsent-wicklung ist übrigens auch auf Klimaschwankungenzurückzuführen: Vom 14. bis 19. Jahrhundert wares deutlich kühler als heute. Vgl. dazu etwa Art.„Heimat der Tapferen“. In: DER SPIEGEL 51(1996), 9.2., S. 177-178; zur klimatologischen Er-klärung der amerikanischen und europäischen Re-volutionen vgl. Lamb, Hubert H.: Klima und Kul-turgeschichte. Der Einfluss des Wetters auf den Gangder Geschichte, Reinbek b. Hamburg 1989. Vgl.auch Lamb, Hubert H.: Climate, History and theModern World. London und New York: Taylor &Francis 1995, 2. Auflage, sowie Fagan, Brian: TheLittle Ice Age. How Climate Made History 1300-1850. New York: Basic Books 2002.13 Auch der Kapitalist muss befürchten, nach ver-lorenem Wettbewerb ins Proletariat abzusinken.14 Vgl. dazu das berühmte Beispiel der Steckna-del-Produktion in Adam Smith: Der Wohlstand derNationen. Eine Untersuchung seiner Natur und sei-

ner Ursachen. Hg. von Horst Claus Recktenwald.München: Deutscher Taschenbuch-Verlag 1978. 3.Auflage 1983, S. 9-10.15 „Die Arbeit produziert Wunderwerke für die Rei-chen, aber sie produziert Entblößung für den Arbei-ter. Sie produziert Paläste, aber Höhlen für den Ar-beiter. Sie produziert Schönheit, aber Verkrüppe-lung für den Arbeiter. Sie ersetzt die Arbeit durchMaschinen, aber sie wirft einen Teil der Arbeiter zueiner barbarischen Arbeit zurück und macht denandren Teil zur Maschine.“ Vgl. Karl Marx, Öko-nomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre1844; MEW Bd. 40, S. 513.16 In jüngster Zeit scheint dies auch wieder für dieBundesrepublik zu gelten: Zwar stieg das absoluteEinkommen der Armen weiter an, der absolute Ab-stand zwischen den Einkommen jedoch noch vielstärker. Zu neueren Daten vgl. den Art. „Kluft zwi-schen Arm und Reich wird größer“, in: DIE WELT,2.3.2005, URL: http://www.welt.de/data/2005/03/02/592133.html.17 „Die Rationalisierung der Agrikultur einerseits,die diese erst befähigt, gesellschaftlich betrieben zuwerden, die Rückführung des Grundeigentums adabsurdum andrerseits, dies sind die großen Verdien-ste der kapitalistischen Produktionsweise. Wie alleihre andern historischen Fortschritte, erkaufte sieauch diesen zunächst durch die völlige Verelendungder unmittelbaren Produzenten.“ (Karl Marx: DasKapital, Band III; MEW Bd. 25, S. 631.)18 Karl Marx / Friedrich Engels: Manifest der kom-munistischen Partei; MEW Bd. 4, S. 468.19 Mit dieser geistvollen Sentenz schließt DorothySayers’ Kriminalroman „Mord braucht Reklame“.20 Friedrich Schiller: Briefe über die ästhetische Er-ziehung des Menschen. 6. Brief, in: Werke in dreiBänden, Bd. 2, hrsg. v. H. G. Göpfert, München:Hanser-Verlag 1966, S. 459.21 „Das Kapital“ ist unvollendet geblieben.22 Auch Poppers Marx-Kritik betont mit Recht,dass es Marx um Gesetzmäßigkeiten ging – nichtum Anklagen. Vgl. Karl Popper (Anm. 1), Kap.13, bes. S. 99.23 Vgl. dazu Marx, Karl / Engels, Friedrich: Diedeutsche Ideologie; MEW Bd. 3, S. 33. Es handeltsich hier um ein typisch aristokratisches Ideal desselbstbestimmten Müßiggangs, wie man es im 19.Jahrhundert häufig antrifft.24 Waibl (vgl. Anm. 12), S. 295.25 Dies gilt vor allem für die Frühphase der Indu-

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strialisierung. Inzwischen hat sich durch die moderneArbeitsorganisation in vielen Bereichen eine selbst-bestimmtere Produktionsweise (etwa Arbeitsinselnund eigenverantwortliche Produktion-Teams) durch-gesetzt – und zwar aus ökonomischen Gründen.26 Vgl. dazu Reinhard Zintl: Entfremdung als Dia-gnose der Moderne? In: Pies, Ingo / Leschke, Martin(Hrsg.): Karl Marx’ ökonomischer Individualismus.Tübingen: Mohr Siebeck 2005 ([im Druck].27 Karl Marx: Ökonomisch-philosophische Manu-skripte aus dem Jahre 1844; MEW Bd. 40, S. 514.28 Zu diesem Ausdruck vgl. etwa Friedrich Engels:Die Lage der arbeitenden Klasse in England; MEWBd. 2, S. 728. Unter dem „Pauper“ verstehen Marxund Engels in Die deutsche Ideologie den „gegenden Druck der Bourgeoisie widerstandslos gewor-dene[n] Proletarier“ (MEW Bd. 3, S. 183).29 Schiller, Friedrich: Über die Ästhetische Erzie-

hung des Menschen in einer Reihe von Briefen(1793/1794). In: Sämtliche Werke, Band 5. Hrsg.von Gerhardt Fricke und Herbert G. Göpfert. Mün-chen: Hanser 1959, S. 570-669, hier: S. 618. Zuden geistesgeschichtlichen Wurzeln des MarxschenDenkens in der deutschen Romantik vgl. ausführ-lich Waibl (Anm. 12), Kap. V und VI, sowie Kirsch,Guy: Entfremdung – Der Preis der Freiheit? Libe-rale Variationen über ein Thema von Marx. Tübin-gen: Mohr (Siebeck) 1984, S. 62 und 68.30 Vgl. dazu Waibl (Anm. 12), S. 227.31 Zur Kritik des Essentialismus, also der metho-dologischen Annahme, dass Erkenntnis Wesenser-kenntnis ist, vgl. Karl Popper: Das Elend desHistorizismus. Tübingen: Mohr (Siebeck) 1960. 4.Auflage 1984, Abschnitt 10.32 Ökonomisch-philosophische Manuskripte ausdem Jahre 1844, S. 162; MEW Bd. 40, S. 549.33 Karl Marx / Friedrich Engels: Die deutsche Ideo-logie; MEW Bd. 3, S. 33. Diese Passage ist durcheinen Brief eines nach Kalifornien ausgewandertenArbeiters inspiriert, den Marx im ersten Band desKapitals zitiert (MEW Bd. 23, Anm. 713). Es liegteine gewisse Ironie der Geistesgeschichte darin, dassdieser Arbeiter von den Vorzügen ausgerechnet desangelsächsischen Liberalismus schwärmte. Er machtunfreiwillig deutlich, dass in einem solchen Wirt-schaftssystem vielseitig begabte und produktive In-dividuen gewinnen. Weder Marx noch heutige Li-berale sehen mit hinreichender Deutlichkeit, dass esbei weitem nicht nur vielseitig begabte und produk-tive Individuen gibt. Zu den daraus folgenden Zu-

kunftsperspektiven vgl. schon Wells, Herbert G.: DieZeitmaschine. Utopischer Roman (1895). Reinbekbei Hamburg: Rowohlt 1951. Zur hier relevantenSoziologie der Fortpflanzungsdynamik vgl. Bloss-feld, Hans-Peter / Timm, Andreas: Der Einfluß desBildungssystems auf den Heiratsmarkt. Eine Längs-schnittanalyse der Wahl von Heiratspartnern im Le-benslauf. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie undSozialpsychologie 49 (1997), S. 440-476.34 Karl Marx, Das Kapital, Bd. III, MEW Bd. 25,S. 868. Einen ähnlichen Gedanken äußert Marxübrigens schon in den Frühschriften – was eine be-merkenswerte Konstanz der moralischen Idealezeigt: „Der Arbeiter fühlt sich ... erst außer der Ar-beit bei sich und in der Arbeit außer sich. Zu Hauseist er, wenn er nicht arbeitet, und wenn er arbeitet,ist er nicht zu Hause.“ (Wie Anm. 27, S. 514)35 So die Formulierung von Pies, Ingo: Theoreti-sche Grundlagen demokratischer Wirtschafts- undGesellschaftspolitik – Der Beitrag von Karl Marx.Wittenberg-Zentrum für Globale Ethik. Diskussions-papier Nr. 05-3 (2005), S. 14, Anm. 46: „Freiheitund Freizeit gehören für Marx konstitutiv zusam-men. Formelhaft zugespitzt könnte man formulieren:Ihm geht es um Freiheit durch Freizeit – um dieMöglichkeit individueller Selbstverwirklichung in ei-nem sozialen Kontext gesellschaftlicher Produkti-on, der jeden Einzelnen vom Zwang zur Arbeit be-freit und ihm ein breites Spektrum von (Freizeit-)Tä-tigkeiten eröffnet, in denen das Individuum sich alsSelbstzweck erfahren kann.“36 Zur Rolle der Ökonomik vgl. Radnitzky, Gerard/ Bernholz, Peter (Hg.): Economic Imperalism. TheEconomic Method Applied Outside the Field ofEconomics. New York: Paragon 1987; Olson, Man-cur: Umfassende Ökonomie, Tübingen: Mohr (Sie-beck) 1991; Engel, Gerhard: Walter Eucken unddie ordnende Potenz der Wissenschaft. In: WalterEuckens Ordnungspolitik. Hrsg. von Ingo Pies undMartin Leschke. Tübingen: Mohr (Siebeck) 2002,S. 181-213.37 Wir können nach Kants Auffassung nicht hoffen,dass „... etwa dereinst ein Newton aufstehen kön-ne, der auch nur die Erzeugung eines Grashalms nachNaturgesetzen, die keine Absicht geordnet hat, be-greiflich machen werde ...“. Vgl. Immanuel Kant:Kritik der Urteilskraft (Berlin 1790). In: Werke insechs Bänden. Hg. von Wilhelm Weischedel. BandV. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft1975, S. 233-629, hier: S. 516 (A 334).

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38 Vgl. etwa Meier, Heinrich (Hg.): Die Herausfor-derung der Evolutionsbiologie. München: Piper1988. Zu einer ausführlicheren Diskussion, als sieim obigen Text möglich ist, vgl. Engel, Gerhard:Hayek und die gesellschaftlichen Probleme der Evo-lution. In: Friedrich August von Hayeks konstitutio-neller Liberalismus. Hrsg. v. Ingo Pies und MartinLeschke. Tübingen: Mohr Siebeck 2003, S. 35-71, hier: S. 39-42.39 Zu diesem Ausdruck vgl. Imre Lakatos: Falsifi-kation und die Methodologie wissenschaftlicherForschungsprogramme. In: Ders. und Alan Musgra-ve, Hg.: Kritik und Erkenntnisfortschritt. Braun-schweig: Vieweg 1974, S. 89-189, hier: S. 129.40 Soziologie und Politikwissenschaft sprechen hiervom rational-choice-Modell. Zur Rolle des Homooeconomicus in der Soziologie vgl. Esser, Hartmut:Soziologie. Spezielle Grundlagen, Band 1: Situations-logik und Handeln. Frankfurt am Main: Campus1999, Kap. 8.3. Vgl. auch Erich Weede: Mensch,Markt und Staat. Plädoyer für eine Wirtschaftsord-nung für unvollkommene Menschen. Stuttgart: Lu-cius & Lucius 2003, S. 13-20.41 Zu den Forschungsarbeiten vgl. sekundär Weede,Erich: Mensch und Gesellschaft. Tübingen: Mohr(Siebeck) 1992, Kap. 10.42 Kuhn, Thomas S.: Die Struktur wissenschaftli-cher Revolutionen. Frankfurt am Main: Suhrkamp1967. 2. Auflage 1976.43 Vgl. dazu etwa Falk, Armin: Homo Oeconomi-cus versus Homo Reciprocans: Ansätze für ein neu-es Wirtschaftspolitisches Leitbild? In: Perspektivender Wirtschaftspolitik 4 (2003), Heft 1, S.141-171;vgl. auch Vanberg, Viktor: Rational Choice vs. Pro-gram-based Behavior. In: Rationality and Society14 (2002), Heft 1, S. 7-54.44 Mit dem Fehlen einer preisgestützten Wirtschafts-rechnung begründete Ludwig von Mises schon vorüber 80 Jahren seine These von der mangelndenZukunftsfähigkeit des Sozialismus. Vgl. Mises, Lud-wig von: Die Wirtschaftsrechnung im sozialistischenGemeinwesen. In: Archiv für Sozialwissenschaft undSozialpolitik 47 (1920), Heft 1, S. 86-121. Im Ge-gensatz zu zahlreichen Intellektuellen, die 1989 vomZusammenbruch des Sozialismus unangenehm über-rascht wurden, haben liberale Wirtschaftswissen-schaftler von jeher an der Funktionsfähigkeit sozia-listischer Wirtschaftssysteme gezweifelt.45 Dieser Gedanke wird besonders von Hayek inden Vordergrund seiner Sozialismus-Kritik gestellt.

Vgl. Hayek, Friedrich August von: Individualismusund wirtschaftliche Ordnung. Erlenbach-Zürich:Rentsch 1952; Die Anmaßung von Wissen. Tübin-gen: Mohr (Siebeck) 1988.46 Herbert Simon spricht daher von der „boundedrationality“. Vgl. Herbert Simon: Models of BoundedRationality. 2 Bände. Cambridge, MA: MIT Press1982.47 Klassisch dazu Downs, Anthony: ÖkonomischeTheorie der Demokratie (1957). Tübingen: Mohr(Siebeck) 1968.48 Aus der Organisationssoziologie und Organisa-tionsökonomik wissen wir, dass Trittbrettfahren undDrückebergerei natürlich in keiner Organisationeliminierbar sind. Aber gerade dann kommt esdarauf an, wie dieses Verhalten im Interesse allerzumindest minimiert werden kann. Vgl. dazu Weede(Anm. 40), Kap. 2; Winiecki, Jan: The DistortedWorld of Soviet-Type Economies. London: Routled-ge and Kegan Paul 1988.49 In einem 1937 erschienenen Roman heißt es:„Als er in den Fjord hineinsegelte, sah er sein hei-matliches Tal unter schweren Nebeln liegen. DieGipfel der Berge waren verhüllt, und Regen ... fegteüber die Planken des Schiffes. »So war es schonimmer!« sagte Thorolf. »Ich wüßte nicht, daß dieWälder jemals weniger schwarz gewesen wären,wenn wir hier einfuhren.« – »Ja,« entgegnete Bard,sein Freund, der das Steuer hielt, »so war es schonimmer ...« – und es schien, dass er sich dessen freu-te.“ (Hueck-Dehio, Else: Die Hochzeit auf Sandnes.Berlin: Franz Eher Nachf. 1937, S. 7.) Das Thema„Ruhe und Veränderung“ gehört zu den ältesten The-men der politischen Philosophie. Vgl. dazu Popper,Karl R.: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde.Band I: Der Zauber Platons. Tübingen: Mohr(Siebeck) 2003, 8. Auflage, Kap. 4.50 Vgl. dazu Hayeks Aufsatz „Der Wettbewerb alsEntdeckungsverfahren“, in: Hayek, Friedrich Augustvon: Freiburger Studien. Gesammelte Aufsätze. Tü-bingen: Mohr (Siebeck) 1969, S. 249-265.51 Zitiert nach Junker, Thomas / Hoßfeld, Uwe:Die Entdeckung der Evolution. Eine revolutionäreTheorie und ihre Geschichte. Darmstadt: Wissen-schaftliche Buchgesellschaft 2001, S. 139.52 Vgl. Scheuch, Erwin K.: Muß Sozialismus miß-lingen? Sieben Aufsätze. Asendorf: MUT-Verlag1991.53 Ökonomisch-philosophische Manuskripte ausdem Jahre 1844; MEW Bd. 40, S. 551.

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54 Schiefenhövel, Wulf / Vogel, Christian / Vollmer,Gerhard: Von der Wiege bis zur Bahre. Was uns amMenschen interessiert. In: Deutsches Institut fürFernstudien (Hg.): Funkkolleg „Der Mensch – An-thropologie heute“. Studienbrief 1. Tübingen: DIFF1992, S. 1/1-1/42.55 Götz Aly (Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkriegund nationaler Sozialismus. Frankfurt am Main: S.Fischer 2005) hat jüngst gezeigt, wie der National-sozialismus das Problem definierte – nämlich alsRessourcenbeschaffung durch militärisch organisier-ten (Ostgebiete) und kriminellen (Judenenteignung)Raub. Auch deshalb gehört der Nationalsozialismuszu den schlimmsten Zivilisationsbrüchen der Ge-schichte.56 Krugman, Paul: Schmalspur-Ökonomie. Die 27populärsten Irrtümer über Wirtschaft. München:Econ 2002, S. 17.57 Usher, Dan: Die ökonomischen Voraussetzun-gen der Demokratie. Frankfurt am Main: Campus1983, S. 38.58 Dies ist die grundlegende Einsicht der neuerenWirtschaftsethik. Vgl. neuerdings Homann, Karl /Lütge, Christoph: Einführung in die Wirtschaftsethik.Münster: LIT-Verlag 2004.59 Die Politikwissenschaft spricht hier vom „kapi-talistischen Frieden“. Vgl. etwa Weede, Erich: SomeSimple Calculations on Democracy and War Invol-vement. In: Journal of Peace Research 29 (1992),No. 4, S. 377-383.60 Vgl. dazu Pies (Anm. 35), S. 25.61 Kurz: „Entfremdung ist die Kehrseite der mo-dernen Freiheit und des Selbstverständnisses dermodernen Subjektivität.“ Vgl. Ottmann, Henning:Art. „Entfremdung“. In: Staatslexikon. Hrsg. von derGörresgesellschaft. Freiburg: Herder 1995, Sp.278-283, hier: Sp. 282.62 Es sei hier wenigstens kurz erwähnt, dass derWirtschaftswissenschaftler und NobelpreisträgerRonald Coase den Begriff der Externalität einergrundlegenden Kritik unterzogen hat. Wichtig seinicht, dass der Staat versucht, negative Externali-täten privaten Tausches auszugleichen, weil das jaebenfalls wieder Externalitäten erzeuge, sondern dassdie Eigentumsrechte der beteiligten Akteure inwohlstandsfördernder Weise ausgestaltet werden.Vgl. Coase, Ronald: The Problem of Social Cost.In: Journal of Law and Economics 3 (1960), S. 1-44.

63 Vgl. dazu die kritischen Bemerkungen in Mankiw,N. Gregory: Grundzüge der Volkswirtschaftslehre.Schaeffer Poeschel 2001, 2. Auflage, S. 203: „Inder Praxis kommt es kaum jemals dazu, dass dieVerlierer des Außenhandels entschädigt werden.“Dänemark scheint mir hier die fortschrittlichste Re-gelung in Europa zu haben: Nach Arbeitsplatzverlustdurch Strukturwandel erhält man 1 Jahr lang etwa90% des Einkommens und eine effektive Einstiegs-hilfe in den ersten Arbeitsmarkt.64 Vgl. dazu Engel, Gerhard: Grüner Antikapitalis-mus. Zur Ideologiekritik der Umweltbewegung. In:Georg Batz (Hrsg.): Aufklärung und Kritik, Son-derheft 8 (2004), Schwerpunkt „Ernst Topitsch“,S. 136-158.65 Der in Deutschland entwickelte Kugelhaufen-Reaktor wird nun in China zur Marktreife gebracht.Zur Forschungspolitik Singapurs vgl. Traufetter,Gerald: Schatzinsel für Eliteforscher. In: DER SPIE-GEL 13 (2005), 26.3., S. 148-150.66 Die Grammatik steht an der Spitze der „Siebenfreien Künste“, weil ohne ihre Beherrschung in allenanderen nichts geschaffen werden kann. Vgl. dazuBuck, August: Humanismus. Seine europäische Ent-wicklung in Dokumenten und Darstellungen. Frei-burg, München: Alber 1987, S. 48 f.67 Beispiele sind Fischer, Ernst Peter: Die andereBildung. Was man von den Naturwissenschaftenwissen sollte. München: List 2002, 5. Auflage;Schwanitz, Dietrich: Bildung. Alles, was man wis-sen muss. München: Goldmann 2002. Klassisch:Gombrich, Ernst H.: The Tradition of General Know-ledge. In: Mario Bunge (Ed.): The Critical Approachto Science and Philosophy. Essays in Honour of KarlR. Popper. Glencoe: The Free Press 1964, S. 431-444.68 Vgl. dazu Hirsch, Fred: Die sozialen Grenzen desWachstums. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1980.69 Vgl. dazu Schultz, Theodore W.: In Menscheninvestieren. Die Ökonomik der Bevölkerungsqua-lität. Tübingen: Mohr (Siebeck) 1986.


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