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Kapitel 1 Schauen, sehen, beobachten - dpunkt.de sehen... · KAPITEL 1. 2. des Motivs hinsichtlich...

Date post: 05-Sep-2019
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dinge anzuschauen, ist einfach. Wir tun es ständig, ohne dem besonders Be- achtung zu schenken, und kommen so durch den Tag. Doch wie oft bleiben Sie stehen, um wirklich zu sehen, auf was Sie gerade schauen? Damit meine ich, etwas eindringlich, lange und gezielt genug zu betrachten, sodass Sie nicht nur sehen, was dort ist, sondern es eingehend studieren und etwas darüber erfahren. In meinem Buch »Die Kunst der Fotografie« habe ich den Unterschied zwi- schen der Wahrnehmung einer gewöhnlichen Person und einem gestandenen Detektiv erläutert, die beide einen Tatort betreten. Die durchschnittliche Person erkennt natürlich die offensichtlichen Blutflecken, doch der Detektiv entdeckt darüber hinaus eine Vielzahl an Indizien, von denen er sagen würde, dass sie ganz offensichtlich seien. Die Durchschnittsperson würde diese Indizien vermut- lich vollständig übersehen. Hierdurch wird der Unterschied zwischen bloßem Hinschauen und eindringlichem Anschauen und Sehen deutlich. Das Beispiel demonstriert auch den Unterschied zwischen dem erfahrenen und dem unerfah- renen Betrachter. Der Detektiv verfügt über Erfahrung. Er hätte all die offensicht- lichen Indizien sicher auch nicht an seinem ersten Arbeitstag erkannt, doch die jahrelange Erfahrung hat seinen Blick geschärft und ihn gelehrt, auf Details zu achten, die dem oberflächlichen Betrachter – und selbst dem Detektiv in seinem ersten Jahr – leicht entgehen. Ein Fotograf kann kein flüchtiger Betrachter sein. Er muss auf die Beziehungen innerhalb des Motivs achten, sei es in einem Studio, auf der Straße, inmitten der Landschaft, bei Architektur oder sonst einem Motiv, das man sich vorstellen kann. Ein Fotograf muss die Beziehungen zwischen den zahlreichen Objekten innerhalb Kapitel 1 Schauen, sehen, beobachten λ Eisformation auf der Zufahrt. Eine kleine Pfütze auf meiner Zufahrt, die nach einer Frostnacht plötzlich zugefroren war. Bruce Barnbaum, Die Essenz der Fotografie, dpunkt.verlag, ISBN 978-3-86491-617-5 D3kjd3Di38lk323nnm
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dinge anzuschauen, ist einfach. Wir tun es ständig, ohne dem besonders Be-achtung zu schenken, und kommen so durch den Tag. Doch wie oft bleiben Sie stehen, um wirklich zu sehen, auf was Sie gerade schauen? Damit meine ich, etwas eindringlich, lange und gezielt genug zu betrachten, sodass Sie nicht nur sehen, was dort ist, sondern es eingehend studieren und etwas darüber erfahren.

In meinem Buch »Die Kunst der Fotografie« habe ich den Unterschied zwi-schen der Wahrnehmung einer gewöhnlichen Person und einem gestandenen Detektiv erläutert, die beide einen Tatort betreten. Die durchschnittliche Person erkennt natürlich die offensichtlichen Blutflecken, doch der Detektiv entdeckt darüber hinaus eine Vielzahl an Indizien, von denen er sagen würde, dass sie ganz offensichtlich seien. Die Durchschnittsperson würde diese Indizien vermut-lich vollständig übersehen. Hierdurch wird der Unterschied zwischen bloßem Hinschauen und eindringlichem Anschauen und Sehen deutlich. Das Beispiel demonstriert auch den Unterschied zwischen dem erfahrenen und dem unerfah-renen Betrachter. Der Detektiv verfügt über Erfahrung. Er hätte all die offensicht-lichen Indizien sicher auch nicht an seinem ersten Arbeitstag erkannt, doch die jahrelange Erfahrung hat seinen Blick geschärft und ihn gelehrt, auf Details zu achten, die dem oberflächlichen Betrachter – und selbst dem Detektiv in seinem ersten Jahr – leicht entgehen.

Ein Fotograf kann kein flüchtiger Betrachter sein. Er muss auf die Beziehungen innerhalb des Motivs achten, sei es in einem Studio, auf der Straße, inmitten der Landschaft, bei Architektur oder sonst einem Motiv, das man sich vorstellen kann. Ein Fotograf muss die Beziehungen zwischen den zahlreichen Objekten innerhalb

Kapitel 1

Schauen, sehen, beobachten

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◀ Eisformation auf der Zufahrt. Eine kleine Pfütze auf meiner Zufahrt, die nach einer Frostnacht plötzlich zugefroren war.

Bruce Barnbaum, Die Essenz der Fotografie, dpunkt.verlag, ISBN 978-3-86491-617-5

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des Motivs hinsichtlich Form, Linie, Tonwert und Farbe sehen, und dies alles innerhalb seiner räumlichen Wahrnehmung. Er muss erkennen, wie die Formen, Linien, Tonwerte und Farben des Vordergrundes mit denen des Mittel- und Hintergrun-des zusammenwirken. Ein Fotograf muss bemerken, dass eine Kamerabewegung von 15 cm nach rechts eine bessere Anordnung der Beziehungen zwischen den Formen vor sei-nem dreidimensionalen Blickfeld ergibt. Ein Fotograf muss sehen, ob die zu fotografierende Person besser vor schwar-zen oder weißen Hintergrund tritt oder ob sie vielleicht vor einem komplexeren Hintergrund drinnen, draußen oder in der Landschaft besser aussieht und so mehr über die Person ausgesagt wird als durch einen einfachen Hintergrund ohne weitere Bildinformation.

Einem Fotografen muss auffallen, dass, wenn das Son-nenlicht im Wald durch das dichte Laub scheint, das ganze Motiv im völligen Chaos untergehen kann: Jegliches Gefühl von Tiefe geht dann womöglich durch das Durcheinander aus hell beschienenen Stellen und tiefsten Schatten, die zufällig über Stämme, Zweige und Blätter verteilt sind, verloren. Doch schon durch eine einfache Änderung der Blickrichtung kann das gleiche Licht eine klare Einteilung zwischen – sagen wir – den Bäumen im Gegenlicht und dem Sonnenlicht, das neben ihnen hindurchflutet, erwirken. Ein Fotograf muss erkennen, dass jede Art von Licht seine Vorzüge und seine Probleme hat. Ein Licht, das für eine bestimmte Sorte von Motiv perfekt ist, kann für eine andere völlig unpassend sein.

Den Unterschied zu erkennen zwischen dem Licht, das das Motiv unterstreicht, und jenem, das von ihm ablenkt, erfordert Erfahrung. Da eine Kamera, sei sie nun analog oder digital, nur das Licht sieht, muss der Fotograf das Licht zu lesen lernen und verstehen, wie es Linien, Formen, Tonwerte, Farben, Tiefe und alle weiteren Aspekte eines Motivs heraus-stellt oder beeinträchtigt. Das Sehen des Lichts erfordert auch deshalb Erfahrung, weil wir darauf getrimmt sind, Objekte zu erkennen. Das machen wir schon von Geburt an. Ein Baby

lernt Mama, Papa und andere wichtige Dinge während sei-nes Heranwachsens zu erkennen, jedoch nicht in dem Sinne, Mama und alles andere als eine Gruppierung von Lichtwerten wahrzunehmen. Es lernt auch nicht, die Verhältnisse von Li-nien, Formen oder Umrissen zu sehen, beispielsweise Mamas ovales Gesicht im Verhältnis zu dem von Papa, sondern die Merkmale der Gesichter an sich zu unterscheiden. Die Objekte eines Motivs als Lichtwerte, Linien, Formen und Umrisse so-wie deren Beziehungen untereinander zu sehen, ist also alles andere als ein naturgegebener Vorgang. Fotografisches Sehen muss wirklich erlernt werden.

Dies ist insofern schwierig, als unsere Augen anders sehen als die Kamera. Während Ihre Augen über eine Szenerie wan-dern, öffnet sich deren Iris an den dunkelsten Stellen ein gutes Stück und schließt sich bei den hellsten Bereichen dement-sprechend. Im Grunde betrachten Sie jede Szenerie also mit mehreren Blendenwerten. Wenn Sie hingegen den Verschluss Ihrer Kamera betätigen, wird die gesamte Szenerie mit der einen von Ihnen gewählten Blende fotografiert. Solange Sie die technischen Aspekte bzgl. der Aufnahmeart (analog oder digital) in Sachen Kontraststeuerung noch nicht verstanden haben, verlieren Sie bereits an dieser Stelle viele Bildinforma-tionen, die Ihnen später auf dem Foto fehlen werden.

Die technische Seite, um ein Motiv möglichst vollständig zu erfassen, ist schon für sich genommen eine Herausfor-derung. Sie besteht nicht nur bei Tageslicht, wenn man es teilweise mit intensivem hellem Sonnenlicht und gleichzeitig tiefen Schatten zu tun hat, sondern auch nachts in einem gewöhnlichen Raum bei sich zu Hause, der nur von einer ein-zigen Lampe beleuchtet wird. Im letzteren Fall sorgen die im Quadrat abnehmenden Lichtintensitäten etwa dafür, dass Per-sonen, die von der Lampe weiter entfernt sitzen, viel dunkler dargestellt werden als jene, die sich näher an der Lichtquelle befinden. Ihnen selbst mögen diese Helligkeitsunterschiede nicht auffallen, da sich Ihre Augen beim Blick auf die ver-schiedenen Personen in weiten Bereichen anpassen können.

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S C H A U E N , S E H E N , B E O B A C H T E N

Nichts davon ist einfach zu erlernen. Erstaunlicherweise fühlen sich jedoch die meisten, die eine Kamera in der Hand halten – sei es eine althergebrachte Großformatkamera, wie ich sie verwende, oder eine Handykamera, wie sie heute prak-tisch jeder hat – als Fotografen. Das wäre so, als würde man je-den mit einem Stift in der Hand als Schriftsteller bezeichnen. So ist es eben nicht!

Fotografie kann ungeahnt schwierig sein. In manchen Menschen schlummert ein entsprechendes Talent und sie tun sich entsprechend leichter. So gerne wir es manchmal glauben wollen: Wir sind eben nicht alle gleich geschaffen. Einige sind groß, andere weniger; einige sind helle, andere wieder nicht; einige von uns sind sportlich und dafür andere so gar nicht. Und wenn Sie genauer hinsehen, werden Sie bemerken, dass es sich dabei in etwa gleicher Anzahl um Männer wie um Frauen handelt. Nun bin ich der festen Überzeugung, dass wir dennoch alle auf dieselbe Weise behandelt und beurteilt werden sollten, auch wenn wir nun wirklich nicht alle gleich geschaffen sind. Übertragen auf die Fotografie würde ich sagen, dass sich einige zu herausragenden Fotografen ent-wickeln können – davon der eine schneller als der andere – , dies aber auf jeden Fall seine Zeit braucht. Und um gut zu werden, muss man lernen und üben. Ganz gleich also, wie viel Talent Sie mitbringen: Sie müssen auch in der Fotografie hart arbeiten, um Ihre Ziele zu erreichen.

Ich habe immer wieder von Leuten gehört, die sich über meine Workshops informierten oder einmal teilgenommen hatten und anschließend behaupteten, »ein gutes Auge« zu haben und ein schönes Motiv erkennen zu können. Ich raube diesen zwar nur ungern die Illusion, doch wie sich noch zei-gen wird, kann fast jeder ein schönes Motiv ausmachen. Es gibt zum Beispiel nur wenige Menschen, die das erste Mal ins Yosemite Valley kommen und dessen Schönheit nicht wahrnehmen. Doch die meisten halten dies bereits für die Fähigkeit, ein gutes Auge zu haben. Dem ist aber nicht so.

Auf dem aufgenommenen Bild hingegen fällt der Lichtabfall dramatisch aus.

Die Verhältnisse werden zusätzlich dadurch kompliziert, dass Ihre Kamera nur ein Aufnahmeobjektiv hat, Ihr Sehap-parat hingegen durch die Bilder aus dem linken und rechten Auge eine Tiefe wahrnehmen kann, wie es Ihre Kamera nicht vermag. Versuchen Sie doch einmal, eine komplexe Szenerie mit einem geschlossenen Auge zu betrachten. Dabei werden Sie feststellen, dass ein Großteil der Tiefe des Seheindrucks verlorengeht. Wenn Sie also in einem Foto den Eindruck von Tiefe vermitteln wollen, müssen Sie lernen, wie die »einäu-gige« Kamera das Motiv bei verschiedenen Arten von Licht sieht, und erkennen, welche davon Ihnen bei der Darstellung von Tiefe nützt.

Wenn Sie Schwarz-Weiß-Fotos machen wollen, kommt er-schwerend hinzu, dass Sie alle Farben in deren entsprechende Grauwerte umwandeln müssen. Ein Rotkardinal mag vor dem tiefgrünen Blattwerk eines Baumes, auf dem er gerade sitzt, stark hervortreten, doch in Schwarz-Weiß-Darstellung wären die Grautöne des Vogels und der Blätter beinahe identisch. Wenn Sie mit Schwarz-Weiß-Filmen arbeiten, müssen Sie ler-nen, wie man mithilfe von Filtern die Grauwerte dieser Farben voneinander trennt, bzw. ein Bildbearbeitungsprogramm dafür bemühen, falls Sie digital arbeiten. Ich erwähne dies vor allen Dingen deshalb, weil bei der Nennung der bedeu-tendsten Fotografen in der fast 200-jährigen Geschichte der Fotografie immer noch vorrangig Schwarz-Weiß-Fotografen genannt werden: Ansel Adams, Edward und Brett Weston, Imogen Cunningham, Sebastião Salgado, August Sander, Julia Margaret Cameron, Henri Cartier-Bresson und viele mehr. Dies liegt nicht nur darin begründet, dass die Fotografie schon fast 100 Jahre vor Einführung der ersten Farbfilme existierte, sondern auch darin, dass viele herausragende Schwarz-Weiß-Fotos auch noch nach dem Aufkommen der Farbfilme produ-ziert wurden – natürlich auch lange vor dem Aufkommen der digitalen Arbeitsweisen.

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Motiv ganz außergewöhnlich erscheinen lassen, während es unter anderen Bedingungen ziemlich gewöhnlich ausschaut. Ein gutes Auge zu haben kann auch bedeuten, an einer beleb-ten Straßenecke inmitten des undefinierten Durcheinanders, das sich meistens abspielt, ein ungewöhnliches und beson-ders interessantes Motiv schnell zu erkennen. Ein gutes Auge zu haben heißt, eine bestimmte Art und Richtung des Lichts auf dem Gesicht einer Person, eventuell in Verbindung mit einer interessanten Ausrichtung des Kopfes, zu erkennen, so-dass ein eindrucksvolles Porträt entsteht – und nicht nur der typische Look aus den meisten kommerziellen Studios oder dem von Porträts »wichtiger Leute«, die eine »wichtige Rede« halten und auf Seite sechs Ihrer Tageszeitung abgebildet sind.

Um gute Fotografien zu erschaffen, müssen Sie das Licht und seine Verhältnisse innerhalb der Szenerie sehen lernen. Sie müssen lernen, mit Ihren beiden Augen so zu sehen, wie die Kamera es mit einem Auge und einer einzigen Blendenein-stellung sieht. Es wäre ideal, wenn die Kamera so sehen könnte wie Sie, doch dem ist leider nicht so.

Entdeckung und Entwicklung persönlicher Interessen

So wie Sie die Methoden des Sehens von Licht und Formbezie-hungen verinnerlichen, müssen Sie auch Ihre persönlichen Inhalte und Ihren Rhythmus erst finden. Ansel Adams zog es aufs Land, genauer gesagt in die Berge, und seine besten Bilder sind zweifelsohne seine eindrucksvollen Gebirgs- und Landschaftsaufnahmen. Er wäre vielleicht auch ein guter Por-trätfotograf gewesen, doch wahrscheinlich nicht so gut wie bei seinen Landschaften … und wäre bei Weitem nicht so bekannt geworden. August Sander wäre umgekehrt vielleicht auch ein guter Landschaftsfotograf gewesen, doch seine Porträts aus der deutschen Arbeiterklasse sind erstaunlich, aufrührend und eindringlich. Diese beiden und all die anderen großen

Ein gutes Auge zu haben bedeutet, die Beziehung zwischen Formen zu erkennen, die einem bei der Betrachtung einer Szenerie am Aufnahmeort regelrecht entgegenspringen, die sich aber bei einem nur leicht verlagerten Standpunkt schon geändert haben kann. Ein gutes Auge bedeutet erkennen zu können, dass bestimmte Licht- oder Wetterbedingungen ein

▲ Abb. 1-1: Ericsson Crags, Sierra Nevada Mountains. Es waren vor allem diese fantastischen Granitwände und -gipfel, die mich zum Wandern im Hochgebirge brachten. Die Fotografie begann als vergnügliches Hobby, war mir aber bald schon sehr wichtig und bedeutete mir viel.

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ich deshalb an einem zweiwöchigen Workshop teil, den Adams in Yosemite abhielt. Mein Interessengebiet stand damit fest: Gebirgslandschaften. Und ich dachte, ich könnte die Fotogra-fie in diesem Bereich am besten von der Person erlernen, die sie in meinen Augen am besten beherrschte.

Kurz nach diesem Workshop gab ich meinen Job als Pro-grammierer in der Rüstungsindustrie auf und widmete mich fortan hauptberuflich der Fotografie. Um mich finanziell über Wasser zu halten, musste ich mich der kommerziellen Architekturfotografie zuwenden, doch mein persönliches Hauptinteresse waren und blieben die Landschaften, die ich in jeder freien Minute weiterhin fotografierte.

Fotografen hat es zu bestimmten Inhalten hingezogen, die für sie eine starke Bedeutung hatten und so andere Themen verdrängten. Deshalb ist deren Werk so herausragend.

Als ich in den frühen 1960er-Jahren mit der Fotografie begann, war ich noch Student. Mein erstes Ziel war es, die Landschaft zu zeigen, in der ich in den Bergen der Sierra Nevada und Kaliforniens gewandert war. Die riesigen Granit-wände in der Sierra mit Gipfeln über 4000 m (Abbildung 1-1), die immensen Schluchten (Abbildung  1-2), die donnernden Flüsse und Wasserfälle, die malerischen Wiesen und Seen (Abbildung 1-3), die gigantischen Mammutbaum- und Zucker-Kiefern-Wälder und zahllose weitere kleine Dinge, die man zuvor nicht erwartet (Abbildung 1-4) hatte, übten eine ma-gische Anziehungskraft auf mich aus. Ich begann zunächst, diese Motive auf Kleinbilddiafilm festzuhalten, und wechselte später zu Kameras mit größeren Filmformaten.

In den späten 1960er-Jahren arbeitete ich als Computer-programmierer, als mich ein befreundeter Kollege, der auf demselben Flur wie ich arbeitete, fragte, ob ich nicht einmal lernen wolle, wie man Schwarz-Weiß-Negative und -Abzüge entwickelt. Meine erste Reaktion war: »Bloß nicht!« Ich wollte mich in den leuchtenden Bergen und nicht in einer düsteren Dunkelkammer aufhalten. Doch irgendwann änderte ich meine Meinung und bat ihn, mir zu zeigen, was der besondere Reiz daran sei. Bald stellte ich fest, dass es weder außeror-dentlich schwierig noch schrecklich düster war. Ich kaufte mir sofort eine größere Kamera, da ich nicht mehr mit dem winzigen Kleinbildformat fotografieren wollte, und begann mit der Landschaftsfotografie in Schwarz-Weiß.

Durch das Studium der Bilder anderer Fotografen  – vor allem jener von Ansel Adams, dessen Bilder noch eindrucks-voller, lebendiger und spektakulärer waren als alles, was ich bisher gesehen hatte  – , wurde ich noch stärker zur Land-schaftsfotografie hingezogen. Sein Werk kam der Darstellung von Landschaft, vor allem auch der Berge, wie ich sie auf mei-nen Wanderungen gesehen hatte, am nächsten. 1970 nahm

▲ Abb. 1-2: Tehipite Valley, North Fork des Kings River. Vom Crown Valley aus gesehen, scheinen sich die sich auftuenden Klüfte mit ihren abgeschliffenen Granitwänden in ihrer rhythmischen Wiederkehr kleiner Gipfel endlos fortzusetzen. Ich glaube, dass jeder, der diese Aussicht genießt, von dieser Erhabenheit ergriffen ist.

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Alle inneren Zweifel verflogen, als meine Mitdozenten Ray McSavaney und John Sexton und ich im August 1979 unsere Workshopteilnehmer zu Brett Weston ins kaliforni-sche Carmel mitnahmen. (Mit der Veranstaltung von eigenen Workshops begann ich 1975.) Bei diesem Besuch zeigte uns Brett eine erstaunliche Auswahl seiner Bilder, von denen die meisten abstrakt waren. Ich werde nie vergessen, wie wir aus seinem Haus gingen, mich einer unserer Teilnehmer an der Schulter fasste und fragte: »Was hältst Du von Bretts Werk?« Ich entgegnete: »Keiner von unserer Gruppe hat daraus mehr mitgenommen als ich.« Mir wurde noch an Ort und Stelle klar, dass seine Arbeiten mich nachhaltig inspiriert hatten.

Irgendwann Mitte bis Ende der 1970er-Jahre begann sich mein Interesse in Richtung abstrakter Bilder zu erweitern – nicht an-stelle der Landschaften, sondern zusätzlich dazu (Abbildung 1-5). Ich erhielt allerdings einen starken Dämpfer, als ich nega-tive Kritik für meine nach eigenem Empfinden besten Werke abstrakterer Fotografie erntete. Die Leute fragten: »Ist das der gleiche Bruce Barnbaum, den ich bisher gekannt habe?« Diese Reaktion reichte aus, dass ich danach weder solche Aufnah-men von mir zeigte, noch weitere abstrakte Bilder produzierte. Vermutlich hatte ich damals einfach noch nicht das Selbstbe-wusstsein, meiner inneren Stimme zu folgen, doch der Drang, etwas Abstrakteres zu machen, blieb bestehen.

▲ Abb. 1-3: Castilleja, Evolution Valley. Indem ich meine 4 × 5-Zoll-Großfor-matkamera statt auf ein Stativ inmitten von Wiesengras und -blumen auf den Boden stellte, konnte ich eine durchscheinende, traumähnliche Stimmung in diesem Foto der zarten Castillejas (»Indian Paintbrush«) erzeugen, die locker auf der Wiese verteilt waren. Für mich war es eine Offenbarung, dass ich die Kamera auf so unorthodoxe Weise einsetzen konnte, um dem Bild ein Gefühl zu vermitteln – das hatte ich so noch nie gesehen.

▲ Abb. 1-4: Streifenhörnchenkuss. Wenn ich so am Lagerplatz sitze, halte ich oft meine Kleinbildkamera bereit, falls etwas Interessantes in der Nähe passiert. In diesem Fall war es ganz erstaunlich. Ich kann zwar nicht genau sagen, was sie da machen, doch für mich sah es nach echter Liebe aus.

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▼ Abb. 1-5: Dünenkämme bei Sonnenaufgang, Death Valley. Das erste abstrakte Foto von mir (1946) wurde von meinen Fotofreunden nur wenig enthusiastisch aufgenommen. Ich zeigte es daher nur ungern, bis ich 1979 die Fotografie von Brett Weston kennenlernte. Seine Bilder waren äußerst abstrakt und doch allesamt wundervoll. Von nun an fühlte ich mich befreit, auch meine eigenen abstrakten Bilder zu präsentieren.

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ohne die vorherigen aufzugeben. Das hat für mich immer gut funktioniert. Es gibt aber auch zahlreiche Kollegen, die das anders angehen. Manche beginnen mit einem einzigen Inte-ressengebiet und konzentrieren sich während ihrer ganzen Laufbahn darauf. Manche springen von Gebiet zu Gebiet und lassen dabei das vorherige hinter sich. Andere wiederum star-ten mit einer ganzen Palette von Interessen und spezialisieren sich nach und nach auf ein oder zwei Gebiete, die sie ein Leben lang begleiten.

Welcher Ansatz ist nun der richtige? Welcher der falsche? Wie sich herausstellt, sind sie alle richtig. Keiner von ihnen ist besser als der andere. Ihr Ansatz muss zu Ihren Interessen pas-sen. Was bei mir gut funktioniert hat, muss es bei Ihnen oder einem anderen Fotografen noch lange nicht … und umgekehrt.

Es gibt Lehrende in der Fotografie, die versuchen, den Schüler auf ein einziges Interessengebiet zu lenken. Ich bin da-mit nicht einverstanden. Wir sind vielseitige Wesen. Wir inter-essieren uns für mehr als eine Sache im Leben, warum sollten wir dann ausgerechnet in der Fotografie nur ein Thema verfol-gen? Als lang gedienter Dozent in Workshops habe ich niemals einen Schüler auf ein einziges Interessengebiet festzulegen versucht. Ich weise zwar auf den Bereich hin, von dem ich das Gefühl habe, dass jemand darin seine intensivsten Arbeiten vorweist, und ermutige ihn dann auch gegebenenfalls, diesen Bereich weiter zu verfolgen. Doch glaube ich, dass Fotografen immer auch als mögliche Quelle der Inspiration in andere Bereiche hineinschauen sollten. Solange Sie für die diversen Bereiche große Leidenschaft empfinden, sehe ich überhaupt kein Problem darin, mehrere Arbeitsfelder zu verfolgen. Warum sollte man dann auf eines davon verzichten? Nur Sie können Ihre Interessengebiete festlegen und manchmal wird man auch von sich selbst überrascht, wie ich im Fall der Kathedralen Englands. Natürlich war meine fotografische Ent-deckung des Antelope Canyon und anderer Schlitzschluchten noch überraschender, vor allem deshalb, weil ich mir solche Orte vorher nie hätte ausmalen können.

Brett Weston hatte mir die Tür zur Abstraktion geöffnet. Ich bemerkte, dass er mich befreit hatte, das zu tun, was ich wirk-lich wollte. Was mir diesen Wandel schlussendlich ermöglicht hatte, war meine plötzlich veränderte Einstellung gegenüber der Abstraktion. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten mir die skeptischen und negativen Reaktionen, die ich von Freunden erhalten hatte, das Gefühl gegeben, die Präsentation eines abstrakten Bildes sei für denjenigen, der sich den Inhalt nicht sofort erschließen könne, verstörend. Doch nachdem ich Bretts Arbeiten gesehen hatte, änderte sich meine Meinung schlagartig. Von dort an spürte ich, dass ich dem Betrachter ein Puzzle lieferte, ihn, wenn man so will, vor eine Heraus-forderung stellte. Ich würde dann zur Seite treten und der Be-trachter könnte das Rätsel lösen … oder eben auch nicht. Statt mit einem Foto Fragen zu beantworten, war ich es nun, der die Fragen stellte. Ich hatte plötzlich festgestellt, dass beide Wege gleichberechtigt sind. Wenn einige Menschen durch die Abstraktionen verstört werden, ist das eben so und einzig und allein deren Problem, nicht meines!

Am 1.  Januar 1980, nur viereinhalb Monate nach dem bahnbrechenden Besuch in Brett Westons Haus, betrat ich den Antelope Canyon, einen Ort, der so abstrakt ist, wie ich es mir niemals hätte träumen lassen. Ohne zu zögern, begann ich in dessen engen Räumen zu fotografieren. Nur sechs Monate danach entdeckte ich auf dem Weg nach Norwegen, wohin ich zur Veranstaltung eines Workshops mit einer Gruppe hand-verlesener professioneller Fotografen eingeladen worden war, die englischen Kathedralen für mich. Vor dieser Reise hätte ich behauptet, kein Interesse daran zu haben, Kirchen zu fotografieren. Doch diese Bauten waren derart eindrucksvoll, monumental, überwältigend und für mich so reizvoll, dass ich schlichtweg keine andere Wahl hatte, als sie zu fotografieren.

Innerhalb der kurzen Zeitspanne von nur sechs Mona-ten erweiterten sich meine Interessen von Landschaften zu Abstraktionen und dann weiter in Richtung monumentaler, alter Architektur. Während meiner gesamten fotografischen Laufbahn habe ich meine Interessengebiete stetig erweitert,

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im Antelope Canyon). Bei mir ist es sogar so, dass, wenn ich ein Gebiet erst eingehend studieren müsste, bevor ich eine Kamera mitbringen dürfte, einen Großteil meiner Spontanität und Begeisterung für diesen Ort verlieren würde. Ich denke nicht, dass meine Bilder dann noch genauso intensiv wären. Ich muss zügig arbeiten und verlasse mich dabei auf mein Bauchgefühl. Ich kann diese Regungen nicht einfach auf irgendwann später verschieben.

Lassen Sie mich dies näher erläutern. Es ist sicher, dass mein lebenslanges Interesse an den Naturgewalten – von der subatomaren bis zur kosmischen Dimension  – zusammen mit meinem akademischen Hintergrund durch meine initi-ale Reaktion auf den Antelope Canyon geprägt wurde. Dessen gewundene Linien der Wechsellagerungen im Sandstein habe ich sofort als visuelle Entsprechungen eines Kraftfelds wahr-genommen, wie man es von den Magnetlinien kennt, wenn man Eisenspäne auf Papier streut, unter dem ein Magnet liegt. Für mich war der Antelope Canyon keine enge, ausgewaschene Sandsteinschlucht – er war ein Kraftfeld. Darüber musste ich nicht erst groß nachdenken, sondern es war eine unmittelbare Reaktion auf den Ort, den ich gerade betreten hatte. Und ich musste ihn auch nicht wiederholt aufsuchen, um meine Reak-tion auf ihn bewusst zu erfassen.

Darüber hinaus musste ich an diesem Ort feststellen, dass die extrem hohen Kontrastverhältnisse in der Schlucht eine vollständig andere Technik erforderten als jene, die ich bis dahin angewendet und in meinen Workshops vermittelt hatte. Statt den Film für die dunkelste Stelle, in der ich noch Einzelheiten darstellen wollte, zu belichten, wählte ich die Belichtung nun anhand der hellsten Stellen im Bild, die weit über zehn Blendenstufen heller waren als die dunkelsten Re-gionen. So war also nicht nur meine tiefste innere Reaktion auf den Antelope Canyon unmittelbar, sie wurde auch durch einen vollständig neuen technischen Ansatz begleitet, um mit den noch nie da gewesenen Lichtverhältnissen in der Schlucht klarzukommen.

Der fotografische Rhythmus

Dies führt mich zum letzten Punkt, den ich in diesem Kapitel besprechen möchte: Ihren persönlichen Rhythmus. Es gibt Fotografen, die gehen in ein Gebiet, erkunden es, lernen es kennen und erfassen im Verlauf der Zeit, wie sie es darstellen wollen, bevor sie ihre besten Bilder machen können. Das Fin-den des eigenen Rhythmus ist ein Prozess des Erweiterns und Lernens. Ich habe schon mehrere Fotografen beobachtet, die diese Entwicklung durchliefen und deren erste Bilder nicht sonderlich interessant waren, obwohl sie sich vor Begeiste-rung für den Gegenstand des Motivs überschlugen. Doch mit der Zeit haben sie sich tiefer eingelassen und ihre Bilder wur-den Schritt um Schritt interessanter, ausgefeilter und erkennt-nisreicher. Sie hatten ihren Weg gefunden und beschritten ihn dann mit großer Energie, Anmut und Geschick.

Harrison Branch, langjähriger Direktor der fotografischen Abteilung der University of Oregon, erkundet einen für ihn fremden Aufnahmeort zunächst ohne Kamera in der Hand. Wenn er einen für ihn interessanten Ort entdeckt hat, kehrt er dorthin immer wieder ohne Kamera zurück, um tiefere Erkenntnisse über diesen Ort und dessen Eigenarten zu ge-winnen. Erst nach mehreren Besuchen nimmt er schließlich seine Kamera mit, um dort zu fotografieren.

Branchs Ansatz unterscheidet sich komplett von meinem. Ich könnte nicht einmal so arbeiten wie er. Bei Workshops, die wir zusammen abgehalten haben, diskutierten wir unsere unterschiedlichen Herangehensweisen mit den Teilnehmern. Im Allgemeinen sehe ich Dinge und reagiere schnell und in-tensiv … oder aber überhaupt gar nicht. Wenn ich ein für mich neues Gebiet betrete, mache ich meine intensivsten Bilder meist gleich zu Anfang (Abbildung 1-6, meine allererste Auf-nahme im Antelope Canyon im Jahre 1980 – äußerst abstrakt und sehr gewagt). Während ich mir weiter die Möglichkeiten des jeweiligen Gebietes erschließe, entdecke ich immer fein-sinnigere Bilder (Abbildung 1-7, meine letzte Aufnahme 1998

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▶ Abb. 1-6: Drehender Schornstein, Antelope Canyon.

Dies ist das erste Negativ, das ich im Antelope Canyon belichtet habe – nur

fünf Monate, nachdem ich Brett Westons Arbeiten gesehen hatte. Es ist

vollständig abstrakt, da es keinerlei Hinweise auf Maßstab oder

Orientierung gibt, und sogar der Gegenstand selbst bleibt unklar, wenn

man ihn nicht sprachlich erläutert.

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▲ Abb. 1-7: Ebenen, Antelope Canyon. Dies ist das letzte Negativ, das ich im Antelope Canyon 1998 belichtete. Es ist immer noch abstrakt, da der Ort selbst abstrakt ist, jedoch nicht in dem Maße wie mein erstes Bild. Seitdem habe ich den Antelope Canyon nie wieder betreten, da er inzwischen völlig überkommerzio-nalisiert ist. Mir ist dieser Ort zu heilig, als dass sich mit ansehen könnte, wie man heute mit ihm umgeht.

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▲ Abb. 1-8: Retrochor, Wells Cathedral. Eine scheinbar unendliche Anzahl von Säulen, Gewölben und Torbögen bildet das musikalische und mathema-tische Gefüge, das für mich die englischen Kathedralen ausmachen. Nicht von farbenprächtigen Gemälden gestört, zeigte sich die Integrität der Strukturen selbst klar und deutlich. Ich hätte niemals gedacht, dass diese Bauten foto-grafisch attraktiv sein könnten, doch sie erwiesen sich für mich als zu unwiderstehlich, um ihnen zu entgehen.

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Für meine gesamte fotografische Laufbahn ist kennzeich-nend, dass meine erste Reaktion auf einen neuen Aufnahme-ort fast immer die intensivsten Bilder ergab. Andere scheinen mir darin zuzustimmen, indem sie stets zu meinen jeweils ersten Aufnahmen von einer Location tendieren. 2009 wurde ich zur Veranstaltung eines Workshops nach Peru eingeladen, zu dem auch einige fotografische Exkursionen in die Anden und zur berühmten Inkastätte Machu Picchu gehörten. Die Veranstaltung war sehr aufregend und höchst erfolgreich und so wurde ich in den nächsten beiden Jahren wieder eingela-den. Am Ende des ersten Jahres fragte mich Adam Weintraub, der mich eingeladen hatte, ob ich ihm einen aufgezogenen

Meine Reaktion auf die Kathedralen Englands, die ich nur sechs Monate später zu Gesicht bekam, war praktisch die gleiche. Vielleicht fiel sie nicht ganz so unmittelbar aus wie im Antelope Canyon, aber ich erfasste die Kathedralen ziemlich schnell als Sinnbilder für die Unendlichkeit (mein mathematisch- naturwissenschaftlicher Hintergrund regte sich wieder), da sich Säule nach Säule, Gewölbe nach Gewölbe und Torbogen nach Torbogen scheinbar unendlich fortsetz-ten (Abbildung 1-8). Die hübschen kleinen Stadtkirchen übten diesen Reiz auf mich nicht aus. Ich brauchte die Größe und Komplexität dieser Kathedralen, um diese Konzepte vollstän-dig darzustellen.

◀ Abb. 1-9: Machu Picchu im Nebel. Dies ist das erste Negativ, das ich in den berühmten Ruinen dieser peruani-schen Inkastätte belichte-te. Die Ruinen machen nur einen kleinen Teil des Bildes aus, das hauptsäch-lich von den Bergen und den Wolken eingenom-men wird und für mich den dramatischen Aspekt der Komposition aus-macht. Obwohl ich zuvor, noch bevor ich selbst vor Ort war, bereits viele Fotos von Machu Picchu gese-hen hatte, war mein Ein-druck von der Umgebung so, als sähe ich sie zum ersten Mal. Deshalb wollte ich in meinem Bild gerade auch die Umgebung zeigen, welche auf die be-rühmten Ruinen als ledig-lich einen Ort inmitten dieser traumartig gewun-denen hohen Berge und Wolken verweist.

Bruce Barnbaum, Die Essenz der Fotografie, dpunkt.verlag, ISBN 978-3-86491-617-5

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dieses Projekt stetig weiter. Meine neuesten Bilder faszinieren mich genauso stark wie mein erstes Bild … und mein bestes kommt ja vielleicht sogar erst noch. Diese Möglichkeit lasse ich mir offen.

Wie die Ausrüstung den fotografischen Rhythmus beeinflusst

Noch während ich als mathematischer Analytiker bei The Aerospace Corporation in der Nähe von Los Angeles arbeitete, begann ich mit der Großformatkamera (4 × 5 Zoll) zu arbeiten. Ich benutze sie auch heute noch mit großer Freude. Sie zwingt mich dazu, sorgsamer hinzusehen, denn ich muss zunächst die Möglichkeiten der Bildkomposition ergründen  – manchmal schnell, doch immer ziemlich gründlich  – , bevor ich meine Kamera am richtigen Platz aufbaue. Im Gegensatz dazu sah ich schon damals viele Leute mit Kleinbildkameras hantieren, die sie wie Schnellfeuerpistolen benutzten, indem sie ein Bild nach dem anderen schossen, ohne sich vorher groß um die optimale Kameraposition oder andere Variationsmöglichkei-ten Gedanken zu machen. Und die Digitalknipser von heute verwenden ihre Kameras häufig wie ein Maschinengewehr, drehen dabei quasi einen Film in der Hoffnung, sich irgend-wann später inmitten von Mist das beste Bild heraussuchen zu können; denn irgendwo muss ja die Kuh sein, die den Mist hinterlassen hat. Diese Arbeitsweise macht sie mehr zu Bild-selektierern als zu Fotografen. Und obwohl ich glaube, dass es durchaus Gelegenheiten gibt, bei denen man auf diese Weise ein wundervolles Bild erhält, tendiere ich doch zu der Haltung, dass Fotografie etwas gedankliche Vorarbeit und Planung benötigt. Viele der großen Fotografen haben in einem Jahr weniger Bilder aufgenommen als einige der Digitalfotografen heute an einem Tag heraushauen.

In vielerlei Hinsicht hat die Digitalfotografie den üblichen Ansatz der Fotografie auf den Kopf gestellt. Früher war es so,

40 × 50-cm-Abzug von einem meiner Peru-Fotos schicken könne. Er wolle es in seiner Pension in Cusco aufhängen, von der aus die meisten seiner Workshops in Peru starten. Ich schickte ihm daraufhin etwa 20 Schwarz-Weiß-JPEG-Bilder, die ich allesamt mit meiner 4 × 5-Zoll-Großformatkamera aufgenommen und später gescannt hatte. Die eine Hälfte der Fotos bestand aus peruanischen Landschaftsbildern und die andere von dem Besuch in Machu Picchu. Adam wählte ein Landschafts- und ein Machu-Picchu-Bild und sagte, dass sie ihm beide gleich gut gefielen. Interessanterweise handelte es sich bei dem Landschaftsbild um das erste Negativ, dass ich in Peru aufgenommen hatte … und auch im anderen Fall war es mein erstes Foto vor Ort (Abbildung 1-9).

Ich weiß nicht, warum ich an einem neuen Ort gleich von Anfang an so intensiv sehe, und doch ist es so. Ich stelle dies immer und immer wieder an mir fest. Welcher Ansatz ist nun richtig? Meine schnelle Reaktion auf einen Ort oder Harrisons gründliche vorherige Analyse? Sie sind beide richtig! Harri-sons Ansatz erweist sich für ihn als perfekt. Er kennt seinen Rhythmus und arbeitet auf diese Weise am besten. Ich kenne meinen und er entspricht meiner Art des Sehens. Sie müs-sen ihren eigenen Rhythmus finden. Es ist gut möglich, dass Harrisons und mein Ansatz gewissermaßen die Extreme dar-stellen und der Ihre irgendwo dazwischen liegt. Das ist völlig in Ordnung. Sie müssen mit der Ihnen eigenen Geschwindig-keit und Muße, ergo Ihrem eigenen Rhythmus arbeiten. Alles andere bringt Sie nur aus dem Konzept. Sie müssen die für Sie angenehmste Arbeitsweise finden.

Und obwohl meine erste Reaktion meistens die intensivste ist, ist dies aber doch nicht durchgängig der Fall. Für mich ist das keine Regel, an die ich mich gebunden fühle. Das perfekte Gegenbeispiel ist meine fortlaufende fotografische Studie der Sanddünen im Death Valley (Abbildungen  4-1 bis 4-3 sowie 7-10 bis 7-12). Erstaunlicherweise entdecke ich jedes Mal, wenn ich dorthin zurückkehre, faszinierende Bilder. Solange ich dort neue und aufregende Dinge zum Fotografieren finde, wächst

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So etwas würde ich nicht als fotografischen Rhythmus bezeichnen, sondern eher als Hoffen, Bangen und Abdrücken, um später zu schauen, was passiert ist. Darin ist keinerlei Form von persönlichem Rhythmus zu erkennen. Es geht nur um Quantität, gepaart mit der Hoffnung, dass irgendwo etwas Qualität versteckt ist. Ich gebe zu, dass auch ich gelegentlich ein paar digitale Aufnahmen zwischendurch lösche, doch ei-gentlich immer nur, weil sich zum Beispiel der Kontrast, den ich für angemessen hielt, doch als zu hoch erweist oder andere Probleme auftauchen, mit denen ich nicht gerechnet hatte. Äußerst selten lösche ich bereits unterwegs ein Bild wegen schlechter Bildkomposition oder stark störender Bildelemente (obgleich auch dies schon ein paar Mal vorgekommen ist).

Ich bin überzeugt, dass alle Fotografie-Neulinge stark von der Disziplin und der gedanklichen Vorarbeit profitieren wür-den, die die Arbeit mit einer Großformatkamera erfordert. Sie

dass ein Fotograf genau hinsah, wobei er sich für die Kompo-sition des Bildes sowie die Suche nach wichtigen Beziehungen innerhalb des Motivs Zeit nahm, bevor er auf den Auslöser drückte  – und das sogar in einem Schnellschussmetier wie der Straßenfotografie. Heutzutage drücken die meisten Digitalfotografen erst ab und sehen dann hin. Sie machen erst die Aufnahme und schauen dann auf das Display an der Kamerarückseite, um zu sehen, was sie da eingefangen haben. Die Digitalkameras laden dazu ein, so zu arbeiten, denn falls man mit seinem Bild nicht zufrieden ist, lässt es sich einfach wieder löschen. Mit Film, bei dem die Aufnahme dauerhaft ist, ist das nicht möglich und man muss gleich zum nächsten Bild übergehen. Während die Digitalfotografie einem die Freiheit gibt, zahllose Bilder zu machen, ist sie zugleich ein zweischnei-diges Schwert, weil sie einem erlaubt, zahllos schlechte Bilder zu machen, ohne dass man es bereuen müsste.

◀ Abb. 1-10: Lama im Nebel, Machu Picchu. Der Nebel war sehr dicht und um-hüllte Machu Picchu mit Dunst, als ich die Treppen emporstieg und einen Blick zurück auf den Ein-gangsbereich warf, wo ich ein Lama erblickte, das ruhig wiederkäute und über die bezaubernde Szenerie blickte. Unsicher, wie lange sich der Nebel halten bzw. das Lama dort stehen bleiben würde, griff ich meine Digital- statt meiner Groß-formatkamera, um diesen magi-schen Moment festzuhalten, bevor er wieder verschwand.

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meiner Großformatkamera verschwindet. Hingegen wäre es mit einer solchen tatsächlich unmöglich gewesen, das Bild des Käfers aufzunehmen, da dieser in ständiger, wenn auch langsamer Bewegung war. Nach etwa einer Minute war er weggeflogen – nicht annähernd lang genug, um meine Groß-formatkamera aufzubauen.

Vielleicht bin ich noch dabei, meinen Rhythmus mit der Digitalkamera zu finden. Vielleicht bin ich aber auch schon angekommen. Ich kann mit ihr auf jeden Fall sehr viel schnel-ler arbeiten als mit meiner Großformatkamera, und doch verspüre ich keinerlei Bedürfnis, die Großformatfotografie zu beenden. Ich glaube nicht, dass Kunst ein sofortiges Kreieren ist; sie bedarf der gedanklichen Vorarbeit. Und obwohl die Ar-beit mit einer großen Kamera auf einem Stativ Zeit benötigt, ist es doch so, dass sich bei ihr ein besonderes Gefühl einstellt: nämlich dass ich Teil einer bereits mehr als ein Jahrhundert

würden lernen, dass das Beobachten und tatsächliche Sehen des Bildinhalts vor der Aufnahme zu besseren Ergebnissen führt, als wenn man bloß abdrückt und das Beste hofft.

Ich besitze und benutze auch eine Digitalkamera. Sie er-möglicht mir, sehr schnell zu fotografieren, was mir meine Großformatkamera gar nicht erlaubt. Die vielen Jahre Arbeit mit Letzterer haben mir jedoch eine Art von Sorgfalt vermit-telt, die ich bei den meisten Digitalfotografen unserer Tage vermisse. Ich schaue zuerst nach den Elementen der Bildkom-position, was in der Regel nur einen kurzen Blick bedeutet (Abbildungen  10 und 11). Obwohl es im Prinzip möglich ge-wesen wäre, das Bild des Lamas in Machu Picchu mit meiner Großformatkamera aufzunehmen – das Lama und der Nebel verharrten dort für eine ganze Weile  – , konnte ich schnell agieren, weil ich eine Digitalkamera bei mir hatte. Ich musste mir keine Sorgen machen, dass das Tier während des Aufbaus

▶ Abb. 1-11: Käfer auf der Veranda. Dieser große Käfer (über 2 cm lang) lief, als ich ihn entdeckte, langsam über unsere vordere Veranda und

mir fielen sofort seine Streifen vor der ebenfalls gestreiften Maserung des Holzbodens auf. Ich lief schnell ins Haus, schnappte meine Digital-

kamera, rannte zurück auf die Ve-randa und kniete nieder, um diesen bemerkenswerten Käfer zu fotogra-

fieren, bevor er wieder weg war. Er bewegte sich so langsam, dass ich

dachte, er sei verletzt. Ich war faszi-niert von der Bildkomposition, da

die Streifen des Tiers und die der Holzmaserung fast rechtwinklig zu-

einander standen. Es war perfekt! Ich machte ein paar Aufnahmen im Makromodus, bevor der Käfer plötz-lich unerwartet wegflog – und zwar erst in mein Gesicht, wobei er mich

fast zu Tode erschreckte!

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andauernden, hoch anerkannten Tradition der Großformat-fotografie bin, die auch heute noch ihren Platz hat. Schließ-lich würde keiner daherkommen und behaupten, dass Paul Strand, Ansel Adams oder einer der beiden Westons mit der digitalen Technologie besser bedient gewesen wären. Denn die langsame und sorgsame Arbeitsweise mit der Großformat-kamera fügt sich nahtlos in den Ansatz der Sorgfalt, welchen ich für ein Grundelement aller Kunst halte. Diese Philosophie überträgt sich auch auf meine digitalen Arbeiten. Ich glaube fest, dass gut durchdachte digitale Aufnahmen genauso als reelle Kunstform gelten wie die Produkte jeder anderen foto-grafischen Methode.

In Kapitel 7 werde ich mehr zu den Vorzügen der Digital-kamera sagen. Wie sich zeigen wird, hat praktisch jede Ka-mera ihre Stärken und kann für kreative und ausdrucksstarke Zwecke verwendet werden. Sie werden zwar nicht auf jeden erdenklichen Kameratyp als Ausdrucksmittel Ihrer persön-lichen Kreativität wechseln können, genauso wenig, wie Sie jeden möglichen Rhythmus zu Ihrer Arbeitsweise machen können, doch ist es sicherlich sinnvoll, zunächst einiges aus-zuprobieren, um sowohl die Ausrüstung als auch den Arbeits-ablauf zu finden, der am besten zu Ihrem eigenen inneren Rhythmus passt.

Bruce Barnbaum, Die Essenz der Fotografie, dpunkt.verlag, ISBN 978-3-86491-617-5


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