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KAP - Meuterei auf dem Mond

Date post: 03-Jan-2017
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Frank Petermann
Schreibmaschinentext
Scanned by Manni Hesse 2007
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Arkadi und Boris Strugazki

Ein Roboter bricht aus

und

Wladimir Firsow

Meutere/ ouf dem Mond

VERLAG KULTUR

UND FORTSCHRITT BERLIN 1969

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Originaltitel:

Ein Roboter bricht aus:

Спонтанный рефлекс Aus dem Russischen von Erich Einhorn Meuterei auf dem Mond: Бунт

Aus dem Russischen von Gisela Kuhnert

Der Abdruck dieser Übersetzung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags

«Das Neue Berlin"

Umschlag und Illustrationen: Hans Räde

Verlag Kultur und Fortschritt, 108 Berlin, Glinkastr. 13-15

7/1969

Lizenz-Nr. 3-285/178/69

Satz und Druck: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden

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Arkadi und Boris Strugazki

Ein Roboter bricht aus

Urm verspürte Langeweile. Eigentlich ist Langeweile als Reaktion auf Eintönigkeit oder Unzufriedenheit mit sich selbst und Gleichgültigkeit dem Leben gegenüber nur dem Menschen und einigen Tieren eigen. Langeweile setzt ein subtiles und höchst organisiertes Nervensystem voraus. Dazu gehört die Fähigkeit, zu denken oder zumindest zu leiden. Urm hatte kein Nervensystem im üblichen Sinne des Wortes, und er konnte auch nicht denken, geschweige denn leiden. Er konnte nur rezi­pieren, sich Vorgänge einprägen und handeln. Dennoch ver­spürte er Langeweile.

Und das lag daran, dafj sein Herr fort war und es für ihn ringsum nichts Neues mehr gab, woran sich sein Gedächtnis üben konnte. Für Urm war aber das Speichern von Erinnerun­gen der Zweck seines Daseins. Er war von einem unersätt­lichen Wissensdurst, von einem grenzenlosen Drang erfüllt, so­viel wie möglich in sich aufzunehmen und zu behalten. Dies galt für alle ihm unbekannten Tatsachen und Erscheinungen, deren Bestehen in Raum und Zeit als Reizquelle zumindest für eins seiner fünfzehn „Sinnesorgane" dienen konnte. Waren keine unbekannten Tatsachen und Erscheinungen vorhanden, so mufjte er eben welche ausfindig machen.

Urm kannte aber alles ringsum genau bis ins kleinste. Seit­dem er existierte, kannte er diesen großen quadratischen Raum mit den grauen rauhen Wänden, der niedrigen Decke und der Eisentür. Es roch hier stets nach erwärmtem Metall und Ma­schinenöl. Von oben drang ein vages tiefes Brummen hierher, das die Menschen ohne Spezialgeräte nicht vernehmen konnten. Urm hatte aber ein vortreffliches „Gehör". Die Tageslichtlam­pen an der Decke brannten nicht, doch Urm „sah" alles im Raum dank seiner Infralichtanlage und den Impulsspeichern.

Urm empfand also Langeweile und beschlofj, sich auf die Suche nach neuen Eindrücken zu machen. Sein Herr war schon

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eine halbe Stunde fort. Urm wußte aus Erfahrung, daß sein Herr nicht so bald zurückkehren werde. Das war sehr wichtig, denn einst hatte Urm ohne Befehl einen kleinen Spaziergang durchs Zimmer gemacht, und als der Herr ihn dabei erwischte, nahm er an ihm eine Änderung vor, so daß Urm, von Neugier geplagt, außerstande war, auch nur einen Peilungsfühler zu rühren. Jetzt war dies offenbar nicht mehr zu befürchten.

Urm tat einen wuchtigen Schritt vorwärts. Der Zementboden erdröhnte unter seinen dicken Kautschuksohlen, und er hielt einen Augenblick lauschend inne, wobei er sich etwas vor­beugte. In den Lauten, die vom vibrierenden Zement ausgingen, war aber kein einziger ihm unbekannter Ton, und Urm strebte der gegenüberliegenden Wand zu. Er trat dicht an sie heran und schnupperte. Sie roch nach feuchtem Beton und rostigem Eisen. Nichts Neues. Da machte Urm kehrt, ritzte die Wand mit sei­nem scharfen stählernen Ellbogen, durchquerte das Zimmer und blieb vor der Tür stehen. Es war gar nicht einfach, die Tür zu öffnen; Urm musterte eine Weile das Schloß und verglich es mit seinen früheren Erfahrungen. Schließlich streckte er die zackige Greifzange der linken Hand aus, packte geschickt den Schloßriegel und drehte ihn. Die Tür ging mit einem leisen Knarren auf. Das war interessant, und Urm öffnete und Schloß sie einige Male, bald schnell, bald langsam, horchte und prägte sich alles ein. Dann trat er über die hohe Schwelle und sah sich einer Treppe gegenüber. Sie war schmal, ziemlich hoch und hatte Steinstufen. Urm zählte blitzschnell achtzehn Stufen bis zum ersten Treppenabsatz, wo Licht brannte. Er wußte bereits, was Stufen sind, und stieg gemächlich die Treppe hinauf. Vom Treppenabsatz führte eine Holztreppe mit zehn Stufen zu einem breiten Korridor nach rechts. Nach einigem Zögern bog er dorthin ab, ohne recht zu wissen, warum er es tat. Der Korri­dor war noch interessanter als die Treppe. Allerdings war diese bedeutend schmaler.

Der Korridor strömte Wärme aus und erstrahlte in infra­rotem Licht. Es ging von gerippten Heizkörpern aus, die in einigem Abstand vom Boden an der Wand befestigt waren.

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Diese Heizkörper erweckten Urms Interesse, denn er sah sie zum erstenmal. Er bückte sich und packte eine Rippe mit bei­den Zangen. Ein Knacks, ein metallisches Kreischen, und eine dichte Wolke heißen Dampfes schoß zur Decke. Siedendes Was­ser rauschte ihm vor die Beine. Urm hob die Rippe in die Höhe, betrachtete sie, ließ aus seinem Brustpanzer die elastischen Fühler der Mikromanipulatoren hervorschnappen und unter­suchte vorsichtig die Bruchstelle. Dann zog er die Fühler wieder ein, die Rippe rollte zu Boden, und Urm watete durch die Pfüt­zen. Er erreichte das Ende des Korridors. Über einer niedrigen Tür flammte eine rote Tafel auf. „Vorsicht! Ohne Schutzklei­dung Eintritt verboten!" las Urm. Er wußte, was „Vorsicht" be­deutete, wußte aber auch, daß dieses Wort nur für Menschen galt. Ihn, Urm, konnte das nicht angehen. Er streckte die Hand aus und stieß die Tür auf.

Hier gab es viel Interessantes und Neues. Vor ihm lag ein Riesensaal mit vielen Gegenständen aus Metall, Stein und Plasten. In der Mitte des Saals stand eine runde, meterhohe Betonkonstruktion, die wie ein flacher Kasten mit einem Eisen­oder Bleideckel aussah. Zahlreiche Kabel liefen von diesem Ding zu den Wänden, an denen Marmortafeln mit glänzenden Geräten und Schalthebeln angebracht waren. Rings um den Betonkasten lag ein Schutznetz aus Kupferdraht, von der Decke hingen glänzende Kniehebel herab, die genau wie Urms Hände in Zwick- und Greifzangen ausliefen.

Urm schritt geräuschlos über den Kachelboden, näherte sich dem Kupfernetz, ging herum und blieb stehen. Dann ging er noch einmal herum. Das Netz hatte keinen Durchschlupf. Da hob Urm ein Bein und trat mühelos hindurch. Kupferdrahtfet­zen blieben an seinen Schultern hängen. Zwei Schritt vor dem Betonkasten machte er halt. Sein runder, globusartiger Kopf drehte sich nach rechts und links. Urm bewegte die Ebonit­hörmuscheln, die Antennen seiner Peiler spitzten sich. Der Bleideckel des Kastens strahlte infrarotes Licht aus, das selbst in dem warmen Raum zu spüren war. Außerdem ging von dem Kasten noch eine Ultrastrahlung aus. Urm konnte bei Röntgen-

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und Gammastrahlen gut sehen, und es schien ihm, als sei der Deckel durchsichtig und als liege unter ihm ein schmaler, tiefer Schacht, der mit leuchtendem Staub gefüllt war. Aus seinem „Gedächtnis" stieg langsam der Befehl auf, unverzüglich fort­zugehen. Urm wufjte nicht, von wem dieser Befehl stammte und wann er ergangen war. Offenbar kannte ihn Urm schon, solange er existierte, ebenso wie vieles andere, das er nie ge­sehen und erlebt hatte. Urm gehorchte nicht. Seine Neugier war stärker. Er beugte sich über den Kasten, streckte die Zangen aus und hob mit einiger Anstrengung den Deckel.

Eine Flut von Gammastrahlen blendete ihn. An den Mar­mortafeln flammten rote Signallichter auf, eine Sirene heulte. Einen Augenblick lang erblickte Urm durch die transparenten Umrisse seiner Hände das Innere des Betonschachts, dann schmifj er den Deckel hin und rief mit tiefer, rauher Stimme: „Opasnost! Gefahr! Danger! Wej hsian! Abunai!"

Das dumpfe Echo rollte durch den Saal und verhallte. Urm schwenkte seinen Rumpf herum und hastete dem Ausgang zu. Der Schock, den der Strom radioaktiver Teilchen in seinen Kon­trollzählern ausgelöst hatte, trieb ihn vom Betonkasten weg. Natürlich konnten ihm weder die starken Strahlungen noch die mächtigen Teilchenströme etwas anhaben; selbst der Aufent­halt in der aktiven Zone des Reaktors konnte für ihn keine schädlichen Folgen haben. Urms Schöpfer hatte ihm aber den Drang eingeprägt, sich von den Quellen intensiver Strahlungen möglichst fernzuhalten.

Urm trat auf den Korridor, Schloß die Tür umständlich hinter sich, stieg über den gerippten Heizkörper und stand wieder auf dem Treppenabsatz. Im nächsten Augenblick gewahrte er einen Menschen, der eilig die Holztreppe herabstieg.

Dieser Mensch war viel kleiner als Urms Herr. Er hatte einen weiten hellen Staubmantel an, und sein Haar war un­gewöhnlich lang und blond. Solche Menschen hatte Urm noch nie gesehen. Er sog die Luft ein und spürte den bekannten Duft weißen Flieders, den er auch an seinem Chef schon wahr­genommen hatte, nur viel schwächer.

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Der Treppenabsatz lag im Halbdunkel, die Treppe hinter dem Mädchen war jedoch hell erleuchtet, deshalb bemerkte sie Urm erst nicht. Als sie seine Schritte vernahm, blieb sie stehen und rief ungehalten: „Wer ist dort? Bist du's, Iwaschow?"

„Guten Tag, wie geht's?" fragte Urm heiser. Das Mädchen schrie auf. Aus dem Halbdunkel näherten

sich ihr ein glänzender Kopf mit schmalen Glasaugen, wuchtige Stahlschultern und dicke bewegliche Arme. Urm betrat die unterste Stufe der Holztreppe, und das Mädchen stieß wieder einen Schrei aus.

Es war noch nie vorgekommen, daß ein Mensch auf seinen Gruß nicht geantwortet hatte, aber dieser sonderbare schrille unartikulierte Laut hatte nichts mit den Antworten gemein, an die Urm gewöhnt war. Sein Interesse wuchs, und er ging auf das Mädchen zu, das erschrocken zurückwich. Die Holzstufen knarrten unter seinen Tritten.

„Zurück!" kreischte das Mädchen. Urm machte halt, neigte den Kopf zur Seite und horchte. „Zurück, du Ungetüm!" Urm kannte den Befehl „Zurück". Auf diesen Befehl mußte er

den Rumpf wenden und seine Schritte in die entgegengesetzte Richtung lenken, bis der Befehl „Halt" kam. Gewöhnlich gingen aber die Befehle von seinem Herrn aus, außerdem war Urm von Forschungsdrang erfüllt. Er stieg die Treppe hinauf, bis er sich vor dem Eingang zu einem kleinen Zimmer befand.

„Zurück! Zurück! Zurück!" schrie das Mädchen. Urm blieb nicht stehen, verlangsamte aber seine Schritte. Ihn

interessierte das Zimmer. Er sah zwei Schreibtische, Stühle, ein Zeichenbrett, einen Schrank mit Büchern und dicken Mappen. Während er die Schubladen herauszog, die Mappen öffnete und laut die Aufschriften las, die mit schwarzer Tusche deutlich am Rand der Zeichnungen standen, schlüpfte das Mädchen ins Nebenzimmer, versteckte sich hinter dem Sofa und packte den Telefonhörer. Urm bemerkte es, da er auch im Nacken ein Ob­jektiv hatte, doch der kleine langhaarige Mensch interessierte ihn nicht mehr. Er stapfte über die am Boden verstreuten Pa-

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piere und ging weiter. Hinter seinem Rücken schrie das Mäd­chen ins Telefon: „Nikolai Petrowitsch? Nikolai Petrowitsch, ich bin's, Galja! Nikolai Petrowitsch, Urm, Ihr Urm ist hier bei uns eingedrungen! Urm! J a ! Ich weiß nicht . . . Ich bin ihm be­gegnet, als er aus der großen Reaktorhalle kam . . . Ja , ja, er war in der Reaktorhalle . . . Was? Anscheinend nicht."

Urm hörte nicht zu. Er trat in die Halle, blieb dort wie ge­bannt stehen und bewegte intensiv die schwarzen Peilantennen. Er war perplex. An der gegenüberliegenden Wand hing etwas Großes, Glänzendes und Kaltes. Im infraroten Licht schien es ein graues, undurchdringliches Quadrat zu sein,' das jedoch bei gewöhnlicher Beleuchtung silbrig glitzerte. Aber nicht das wun­derte Urm. In dem sonderbaren Quadrat befand sich ein schwarzes Monstrum, auf dessen Kopf sich Hörner bewegten. Der Kopf war rund wie ein Globus. Urm konnte nicht feststel­len, wo sich das Monstrum befand. Der Entfernungsmesser teilte ihm mit, daß ihn 12,08 Meter von dem unbekannten Gegenstand trennten, das Peilgerät widerlegte dies aber: Da war gar kein Gegenstand, nur eine glatte, fast vertikale Fläche in einer Entfernung von 6,04 Metern. Urm hatte bisher nichts dergleichen erlebt, und sein Peilgerät und seine Objektive hatten ihm noch nie so widerspruchsvolle Angaben gemacht. In seinen Organismus war das Bedürfnis eingegraben, alles, wo­mit er in Berührung kam, vollständig zu klären, und er schritt entschlossen vorwärts, wobei er folgendes feststellte und es sich einprägte: Nach dem Entfernungsmesser beträgt die Entfer­nung das Doppelte der vom Peilgerät gemeldeten . . . Er schritt auf den Spiegel zu. Das Glas zerplitterte, und Urm prallte gegen die Mauer, die sich dahinter befand. Offenbar war hier nichts mehr zu tun. Urm kratzte am Stuck, schnupperte, machte kehrt und schritt zum Ausgang, ohne auf den Wächter zu achten, der mit kalkweißem Gesicht am Notsignal zog. Ein Schneesturm, ein weißer Wirbel schlug ihm entgegen.

Als Nikolai Petrowitsch Koroljow den Hörer auflegte, war Piskunow bereits im Vorraum und zog hastig seinen Mantel an.

2 Ein Roboter

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„Wo willst du hin?" „Dorthin, versteht sich . . . " „Wart mal, wir müssen uns doch überlegen, was wir tun

wollen, wenn dieses Ungetüm im Kraftwerk herumzutollen beg inn t . . . "

„Wenn es nur im Kraftwerk wäre", unterbrach Rjabkin Ko-roljow. „Und das Laboratorium? Und die Lagerräume? Und wenn er hierher, in die Siedlung, einen Abstecher macht?"

Koroljow dachte angestrengt nach. Piskunow trat ungeduldig von einem Bein aufs andere, die

Hand auf der Klinke. „Wir müssen alle vier hin", schlug Kostenko zaghaft vor.

„Wir müssen ihn finden und . . . festhalten." Piskunow verzog das Gesicht, und Rjabkin, der am Garde­

robenständer seinen Mantel suchte, brummte mürrisch: „Ihn festhalten ist leicht gesagt. Woran soll man ihn festhalten? An den Hosen? Er ist eine halbe Tonne schwer, die Schlagkraft seiner Hand beträgt 300 Kilo. Schweig lieber, Kostenko. Du bist neu hier, hast noch keine Ahnung . . . "

„Hört mal", sagte Koroljow entschlossen. „Wir machen fol­gendes: Ich rufe gleich im Praktikantenheim an und bringe dort alle auf die Beine. Du, Rjabkin, rennst inzwischen zur Ga­rage . . . Teufel noch mal, heute ist ja Sonnabend, da sind sicher alle im Klub . . . Macht nichts, hol wenigstens drei Fahrer. Sie sollen die Bulldozer anlassen. Nicht wahr, Piskunow?"

„Ja, ja, so schnell wie möglich. Bloß . . ." „Und du, Piskunow, rennst ins Institut. Du mufjt heraus­

finden, wo Urm ist, und sofort in der Garage anrufen. Kostenko, du gehst mit ihm. Schnell, Genossen, es eilt. Wenn der Kerl blofj nicht inzwischen durchs Tor gekommen ist!"

Sie zogen sich hastig ihre Mäntel an und stürmten auf die Strafje. Rjabkin glitt aus und rifj Kostenko mit.

„Verflucht." „Was ist los, die Brille?" „Nein, alles in Ordnung." Der scharfe Wind fegte Wolken trockenen Schnees über die

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Straße, heulte in den Drähten, brummte im Eisengewirr der Hochspannungsmasten. Die Fenster des Hauses warfen matt­gelbe Lichtquadrate auf die Schneewehen, alles andere aber lag in tiefem Dunkel.

„Also bis nachher", sagte Rjabkin. „Seid vorsichtig, Freunde, setzt euch nicht unnötigen Gefahren aus."

Er glitt wieder aus, lag strampelnd im Schnee, schimpfte auf das Gestöber, auf Urm und überhaupt auf alle, die mit der ganzen Geschichte etwas zu tun hatten, und verschwand dann im Dunkel.

„Ich verstehe nicht, was die Bulldozer sollen", brach Kosten­ko das Schweigen.

„Was würden Sie vorschlagen?" erkundigte sich Piskunow. „Ich weiß nicht. . . Verstehe es einfach nicht. Wollen Sie Urm

vernichten?" Piskunow seufzte. „Wir wollen ihn aufhalten." Er hob seine

Mantelschöße und watete durch eine Schneewehe. Kostenko folgte ihm betreten. Vor ihnen lag ein Schneefeld, dahinter die Chaussee. Jenseits der Chaussee befand sich das Kraft­werk.

Um den Weg zu verkürzen, ging Piskunow über die Öd-fläche, auf der im Herbst die Baugrube für ein neues Gebäude ausgehoben worden war. Kostenko hörte, wie Piskunow etwas vor sich hin brummte und über einen Haufen verschneiter Zie­gel und Armaturen stolperte. Sie kamen immer schwerer voran. Im Schleier des Schneetreibens schimmerten die ver­streuten Lichter des Instituts.

„Warten Sie doch", sagte Kostenko schließlich. „Wir wollen ein wenig verschnaufen . . . "

Piskunow hielt inne. Er kannte Urm wie kein anderer im Institut. Jede Schraube, jede Elektrode, jede Linse dieser groß­artigen Maschine war durch seine Hände gegangen. Er war der Meinung gewesen, jede Bewegung Urms unter allen Umständen berechnen und vorhersagen zu können. Und nun . . . Urm hatte „eigenwillig" seinen Keller verlassen und trieb sich im Kraft­werk herum. Wie hatte das geschehen können?

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Urms Verhalten wurde von seinem „Gehirn", einem un­gemein komplizierten und subtilen Apparat aus Germanium-Platin-Schaum und Ferrit, gesteuert. Hatte eine gewöhnliche Rechenmaschine Zehntausende Trigger - Schaltelemente, die Impulse empfingen, speicherten und auslösten -, so waren in Urms „Gehirn" ungefähr 18 Millionen logische Zellen unter­gebracht. Ihnen waren Reaktionen auf eine Unzahl von Situa­tionen, veränderte Umstände einprogrammiert, und sie konn­ten eine Unmenge von Operationen auslösen. Was konnte auf das „Gehirn", auf das Programm eingewirkt haben? Die Strah­lungen des Atomreaktors? Nein. Folglich war im „Gehirn" selbst etwas los. Ein Programm. Ein neues kompliziertes Pro­gramm. Piskunow leitete selbst die Programmierung . . . Die Programmierung . . . Daran lag es also!

Piskunow erhob sich langsam. „Ein spontaner Reflex!" sagte er. „Sicherlich ist es ein spontaner Reflex! Idiot!"

Kostenko starrte ihn erschrocken an. „Wie bitte . . . " „Jetzt ist mir alles klar. Natürlich . . . Wer hätte das gedacht?

Alles ging so g l a t t . . . " „Schauen Sie mal!" rief Kostenko plötzlich. Er sprang auf. Den grauschwarzen Himmel über dem Insti­

tut durchzuckte eine blaue Stichflamme, vor der sich die Um­risse der schwarzen Gebäude deutlich und zugleich irreal aus dem Schneetreiben abhoben. Die Lichter an der Umfriedung des Instituts blinzelten und erloschen.

„Das ist der Umformer", sagte Piskunow heiser. „Er befin­det sich gerade gegenüber dem Reaktorturm. Urm ist dort . . . Und der Wächter . . . "

„Los!" rief Kostenko. Sie begannen zu rennen. Das war aber nicht so einfach. Der

Gegenwind erschwerte jeden Schritt, sie stolperten in Löcher, auf denen Pulverschnee lag, fielen hin, erhoben sich wieder, stolperten wieder.

„Schneller, schneller!" stachelte Piskunow den anderen an. Der Wind und die Aufregung trieben ihm Tränen in die

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Augen, sie rannen ihm über die Wangen, froren an den Wim­pern ein, behinderten die Sicht. Piskunow packte Kostenko an der Hand und riß ihn mit.

„Schneller! Schneller!" In der Siedlung hatte man wahrscheinlich die Stichflamme

über dem Institut bemerkt. Eine Sirene heulte, in den Wach­häusern waren plötzlich alle Fenster erleuchtet, der Lichtstrahl eines Scheinwerfers huschte übers Feld, holte Schneehügel, die Gitter der Hochspannungsmaste aus dem Dunkel, glitt über die Umfriedung des Instituts und machte schließlich am Tor halt. Vor dem Tor hasteten kleine schwarze Schatten umher.

„Wer ist dort?" fragte Kostenko schwer atmend. „Die Wache, vielleicht auch Miliz . . . " Piskunow blieb stehen,

rieb sich die Augen, seine Stimme überschlug sich. „Sie haben . . . das Tor . . . verriegelt. - Ein Glück! Dann ist Urm noch dort."

Offenbar war Alarm geschlagen worden. Nun tasteten be­reits drei Scheinwerferstrahlen die Umfriedung des Instituts ab. Schnee wirbelte im bläulichen Licht. Durch das Heulen des Windes drangen Rufe, jemand schimpfte laut. Schließlich heul­ten Motoren auf, man hörte das Kreischen von Gleitketten. Riesige Bulldozer rollten aus der Garage.

„Kostenko", sagte Piskunow. „Schauen Sie sich das aufmerk­sam an. Wir wohnen der ungewöhnlichsten Razzia in der Ge­schichte der Menschheit bei. Lassen Sie sich nichts entgehen, Kostenko!"

Kostenko schielte zu Piskunow hinüber. Es schien ihm, als seien die Wangen des Ingenieurs tränennaß. Aber es war wohl geschmolzener Schnee.

Nun kam das Kreischen der Gleitketten von rechts. Die Bull­dozer hatten die Chaussee erreicht. Man konnte bereits die zitternden Lichtkegel der Planierraupen erkennen. Fünf Lichter.

„Fünf gegen einen", flüsterte Piskunow. „Er hat keine Chan­cen mehr. Der spontane Reflex wird ihm nichts helfen."

Plötzlich trat eine Änderung ein. Kostenko wußte zunächst nicht recht, was geschehen war. Der Schneesturm heulte wie

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vorher, Pulverschnee fegte über den Boden dahin, immer noch heulten die Motoren der Bulldozer.

Die Scheinwerferstrahlen glitten aber nicht mehr übers Feld, sondern faßten das Tor ein. Die Torflügel standen weit offen, und vor ihnen war kein Mensch zu sehen.

„Was mag dort los sein?" fragte Kostenko. „Sollte er tatsächlich . . ." Piskunow vollendete den Satz nicht, und wie auf Verab­

redung rannten sie zum Institut. Bis zum Tor waren es kaum noch zweihundert Meter, als Piskunow einen Mann mit einem Gewehr beinah überrannt hätte. Der Mann stieß einen Schrei aus und sprang zur Seite. Piskunow packte ihn an der Schulter. „Was ist los?"

Der Mann, der eine Pelzmütze mit der Kokarde der Miliz trug, schüttelte fassungslos den Kopf. „Er ist uns entkommen", sagte er. „Hat das Tor umgestoßen und ist fort. Beinahe hätte er Makejew niedergestampft. Ich will zur Siedlung, Hilfe holen . . . "

„Wohin ist er entkommen?" Der Milizionär wies unsicher nach links. „Dorthin, scheint mir, zur Chaussee . . . " „Er wird also bald auf die Bulldozer stoßen, kommen Sie." Und dann geschah etwas, was sie ihr Leben lang nicht ver­

gessen würden. Aus dem Schneetreiben tauchte plötzlich etwas Riesenhaftes, Unförmiges auf, rote und grüne Lichter blinzel­ten ihnen entgegen, und eine schrille Stimme sprach: „Guten Tag, wie geht's?"

„Halt, Urm!" brüllte Piskunow verzweifelt. Kostenko sah den Milizionär davonrennen, sah, wie Pisku­

now die geballten Fäuste schüttelte, dann stampfte der Riese, in Dampf gehüllt, die balkendicken Beine hochhebend, an ihm vorbei und verschwand im Schneegestöber.

Urm schloß sorgfältig die Tür hinter sich, wie er es stets tat, wenn sie nicht zugeschlagen war, und blieb nach einigen Schrit­ten stehen. Ringsum war alles voller Laute, voller Bewegung

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und grellem Licht. Durch die Nacht drangen Funkwellen wie ein buntes Kaleidoskop. 13,5 Meter vor Urm befand sich ein niedriges Gebäude mit breiten Fenstern hinter schmiedeeiser­nen Gittern. Die Mauern strahlten starkes infrarotes Licht aus. Aus dem Gebäude drang ein mächtiges tiefes Dröhnen. Millio­nen Schneeflocken wirbelten durch die Luft und schmolzen augenblicklich auf Urms wuchtigen Panzerschultern, die vom Atommotor erhitzt waren.

Urm drehte den Kopf hin und her und fand, daß sein in­teressantes und nächstes Untersuchungsobjekt das niedrige Ge­bäude gegenüber sein müsse. Er bemerkte einen windgeschütz­ten Pfad, der zum Eingang führte. Um das Gebäude waren kleine Tannen gepflanzt, und er hielt sich eine Weile auf, um eine von ihnen zu knicken und zu betrachten. Dann öffnete er die Tür und trat ins Gebäude.

Die beiden Männer, die in der schmalen Stube am Tisch saßen, sprangen auf und starrten ihn entgeistert an. Er Schloß die Tür hinter sich, schob sogar den Riegel vor und blieb vor ihnen stehen.

„Guten Tag, wie geht's?" fragte er. „Genösse Piskunow?" gab einer der Männer zurück. „Genösse Piskunow ist nicht da. Was soll ich ihm ausrichten?"

erkundigte sich Urm gleichmütig. Die Menschen interessierten ihn nicht. Seine Aufmerksam­

keit galt einem kleinen struppigen Wesen, das sich in einer Ecke an die Wand drückte. ,Warm, lebendig, riecht stark, kein Mensch', entschied Urm und sagte: „Guten Tag, wie geht's?"

„Rrr . . .", entgegnete das Wesen mit dem Mut der Ver­zweiflung, fletschte die scharfen weißen Zähne und preßte sich noch fester in die Ecke.

Urms ganze Aufmerksamkeit galt dem Hund, und er achtete gar nicht darauf, daß die Milizionäre eine Barrikade aus Tisch und Schrank errichtet hatten und nun ihre Pistolen zogen.

Das Hündchen jaulte kläglich und sprang mit eingezogenem Schwanz an Urm vorbei. Urm war jedoch schneller als der Hund. Er war schneller als das schnellste Tier. Blitzschnell und

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lautlos machte sein Rumpf eine halbe Umdrehung, und sein langer ausgestreckter Arm, der wie ein Fernrohr aussah, packte das Hündchen. Im selben Augenblick knallte ein Schuß. Dem einen Milizionär waren die Nerven durchgegangen. Die Kugel prallte mit einem metallischen Klicken von Urms Rückenpan­zer ab und blieb in der Wand stecken. Stuck rieselte zu Boden.

„Laß das, Sidorenko!" brüllte der andere Milizionär. Urm lieft das zitternde Hündchen los und starrte die beiden

Männer an, die mit bleichen Gesichtern, doch fest entschlossen, ihre Waffen schußbereit hielten. Er schnupperte neugierig. In der Luft lag der ihm unbekannte Geruch rauchlosen Pulvers. Das Hündchen verkroch sich zwischen den Stiefeln der beiden Milizionäre. Doch Urm interessierte sich nicht mehr für das Tier. Er machte kehrt und ging zur nächsten Tür, die eine Warntafel mit einem Schädel, gekreuzten Knochen und einem roten Blitz trug. Die Milizionäre sahen versteinert zu, wie seine Zangenfinger das Schloß abtasteten. Die Tür sprang auf. Da besannen sie sich und stürzten ihm nach: „Halt! Zurück! Zu­rück !"

Verzweifelt klammerten sie sich an Urm. Der Gedanke, was dieses stählerne Monstrum im Transformatorenraum anstel­len könnte, raubte ihnen fast den Verstand. Doch Urm beach­tete sie gar nicht. Ihre Bemühungen machten auf ihn keinen Eindruck. Mit dem gleichen Erfolg hätten sie versuchen kön­nen, einen fahrenden Traktor aufzuhalten. Da stieß der eine Milizionär seinen Kameraden zur Seite und feuerte schräg von unten das ganze Magazin auf Urms Kopf ab. Der lichtüber­flutete Transformatorenraum hallte von den Schüssen wider.

Urm wankte. Die Ebonitmuschel des rechten akustischen Re­zeptors zerbrach. Das gebogene Horn des Peilers blieb an einem Draht hängen. Das Glasdach klirrte, Scherben flogen herab.

Urm hatte noch nie einen Überfall erlebt. Er hatte keinen Selbsterhaltungstrieb und keine Erfahrung im Kampf gegen den Menschen. Er konnte aber Tatsachen vergleichen, logische Schlüsse ziehen und ein Verhalten wählen, das seine Sicher­heit am besten gewährleistete. Diese Kombinationen dauerten

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Bruchteile von Sekunden. Im nächsten Augenblick machte er kehrt und stürmte mit drohend ausgestreckten Zangen auf die Menschen los.

Die Milizionäre entwichen jeder in eine andere Richtung. Der eine versteckte sich hinter der Schalttafel, der andere sprang hinter den massiven Stahlmantel des nächsten Trans­formators und lud hastig seine Pistole. „Sidorenko! Renn in die Wachstube und gib das Alarmsignal!" brüllte er.

Sidorenko konnte jedoch die Tür nicht erreichen. Urm war viel schneller als der Mensch. Kaum steckte der Milizionär den Kopf hinter der Schalttafel hervor, versperrte ihm Urm mit zwei Sätzen den Weg. Da beschlossen die beiden Milizionäre, gleichzeitig hinauszurennen. Doch auch das gelang ihnen nicht, denn Urm sauste mit der Geschwindigkeit eines D-Zuges von der Schalttafel zum Transformator und zurück.

Die Schalttafel bekam einen Sprung, als Urm sie anstieß. Durch die Schußlöcher in der Glasdecke heulte der Wind.

Schließlich wurde Urm dieses Spiels überdrüssig, und er be-schloß, die Menschen in Ruhe zu lassen. Plötzlich blieb er vor dem Transformator stehen und steckte die Hände unter das Gehäuse. Die Milizionäre benutzten die Gelegenheit und rann­ten in die Wachstube. Im selben Augenblick ertönte ein ohren­betäubendes Krachen, eine blaue Stichflamme schoß empor, und das Licht erlosch. Aus dem Transformatorenraum drang der beizende Geruch von verbranntem Metall, Rauch und heißem Lack. Die Milizionäre wußten anfangs nicht, was geschehen war. Plötzlich erbebte die Wachstube von schweren Schritten, und eine schrille Stimme rief durch die Finsternis: „Guten Tag, wie geht's?"

Das Schloß knackte. Die Tür ging kreischend auf, im dunklen Rechteck hob sich für eine Sekunde die wuchtige Silhouette des stählernen Monstrums ab, dann schnappte die Tür wieder zu.

Urm stapfte über den verschneiten Hof des Instituts. Es war stockfinster, und selbst Urms infrarote Sehkraft konnte kaum die Dunkelheit durchdringen. Er unterschied nur eine schwache Strahlung um Rumpf und Beine, auf denen die Schneeflocken

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schmolzen. Einige schwach phosphoreszierende Menschen­schatten huschten zwischen den Gebäuden dahin. Urm schenkte ihnen keine Beachtung. Er schritt weiter und lieft sich von den Angaben des Peilers leiten, obwohl ein Horn von der Kugel abgerissen und eine genaue Entfernungsmessung jetzt unmög­lich war.

Urm fühlte sich von den fernen Lichtern der Siedlung ange­zogen, die durch das Schneetreiben matt herüberschimmerten. Dann flammten dort blaue Scheinwerferstrahlen auf. Er stieß auf eine Mauer, blieb unentschlossen stehen und wandte sich nach links. Er wußte sehr wohl, daß, Mauern im allgemeinen Türen haben. Bald darauf erreichte er den Ausgang, ein großes Eisen­tor. Es war verschlossen. Auf der anderen Seite erscholl erreg­tes Stimmengewirr, und durch einen Spalt drang helles blaues Licht.

„Guten Tag", sagte Urm und stemmte sich gegen das Tor. Es ließ sich nicht eindrücken, war fest verriegelt. Irgendwo in der Ferne knirschte Metall. Jenseits des Tores ging etwas sehr In­teressantes vor sich. Urm verstärkte den Druck, trat einen Schritt zurück, warf den Kopf in den Nacken und stieft mit voller Wucht seine Panzerbrust gegen das Tor. Die Stimmen auf der anderen Seite verstummten, dann rief jemand:

„Zurück! He, schieß nicht auf diesen Satan!" „Guten Tag, wie geht's?" sagte Urm und warf sich wieder

gegen das Tor. Es fiel zu Boden. Der Riegel war stärker als die in die Betonmauer eingelassenen Angeln, und nun lag das Tor wie ein Brett im Schnee. Urm schritt an den zurückweichen­den Milizionären vorbei und verschwand im Schneesturm.

Er stapfte mühevoll über den mit Pulverschnee bedeckten unebenen Boden. Plötzlich verlor er das Gleichgewicht und glitt aus. Er war nie zuvor gefallen, stemmte sich mit den Armen gegen den Boden und richtete sich mit angezogenen Beinen wie­der auf.

Er blieb stehen und sah sich um. Vor ihm blinkten die Lich­ter der Häuser. Links, ganz nahe, erblickte er drei Menschen­figuren, etwas weiter weg ratterten Bulldozer, die hinterein-

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ander dem Tor zurollten. Urm wandte sich nach links. Als er an den Menschen vorbeikam, begrüßte er sie und erkannte in einem von ihnen den „Chef". Der Chef konnte ihn daran hin­dern, sich weiter zu bewegen. Urm wußte dies und beschleu­nigte deshalb seine Schritte.

Urm erreichte einen glattgestampften Platz. Ein heller Licht­kegel hüllte ihn vom Kopf bis zu den Füßen ein. Metallriesen mit schweren Stoßplatten rollten auf ihn zu und stoppten zischend und fauchend.

Urm befand sich fünf Schritt vor dem vorderen Bulldozer, drehte langsam seinen runden Kopf nach rechts und links und wiederholte: „Guten Tag, wie geht's?"

Koroljow sprang vom Bulldozer. Der Fahrer rief erschrok-ken: „Wo wollen Sie hin. Genösse Ingenieur?"

Im selben Augenblick tauchte Piskunow auf der Chaussee auf. Mit wirrem Haar - er hatte seine Mütze im Schnee ver­loren -, die Hände in den Taschen seines offenen Mantels ver­graben, machte er einen Bogen um den Bulldozer und blieb einige Meter vor Urm stehen. Urm überragte ihn wie ein Turm, seine eckigen Schultern schimmerten im Scheinwerferlicht, sein dampfender Rumpf glänzte feucht, sein runder Schädel mit den schmalen Glasaugen, den abstehenden Rezeptormuscheln und dem Peilerhorn sah einem furchterregenden und zugleich ko­mischen Kürbiskopf ähnlich, mit dem die Burschen im Dorf die Mädchen erschrecken. Sein Kopf pendelte gleichmäßig hin und her, die Augen verfolgten jede Bewegung Piskunows.

„Urm!" rief Piskunow laut. Urms Kopf hörte zu pendeln auf, seine Arme streckten sich

senkrecht aus. „Urm, aufgepaßt!" Urm antwortete: „Ich bin bereit." Jemand lachte nervös. Piskunow tat einen Schritt vorwärts und legte seine behand­

schuhte Hand auf Urms Brust. Er fingerte hastig am Panzer herum, um den Schalter zu finden, der die Rechenmaschine in Urms Gehirn mit der Kraft- und Bewegungsanlage verband.

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Da geschah das Unerwartete - unerwartet für alle, außer für Piskunow, der gerade das am meisten gefürchtet hatte. Offen­bar hatte Urm Assoziationen behalten, die ihm signalisierten, daß ihn diese Geste des Chefs lahmen konnte. Kaum hatten Piskunows Finger den Schalter berührt, da machte Urm eine Wendung, sein gepanzerter Arm fuhr blitzartig über Piskunow hinweg, der sich gerade noch bücken konnte, und Urm schritt ohne Hast auf die Chaussee zurück. Koroljow gewann als erster die Fassung wieder.

„He, Jungs!" schrie er. „Laßt die Bulldozer an und schneidet ihm von links und rechts den .Weg zum Tor ab . . . Piskunow! He, Piskunow!"

Piskunow hörte aber nicht. Während die Bulldozer von bei­den Seiten der Chaussee heranrollten, Schneewolken aufwir­belnd, rannte er Urm nach.

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„Halt, Urm!" brüllte er, und seine Stimme überschlug sich. „Halt, du Bestie! Zurück! Zurück!"

Er geriet außer Atem. Urm schritt immer schneller aus, und die Entfernung zwischen ihnen vergrößerte sich zusehends. Schließlich blieb Piskunow stehen, steckte die Hände in die Taschen und blickte ihm mit eingezogenem Kopf nach. Korol­jow und Rjabkin rannten auf Piskunow zu, gefolgt von Ko­stenko.

„Warum hast du das getan?" fragte Koroljow. Piskunow schwieg. Dann sagte er: „Er gehorcht nicht. Ver­

stehst du, Kolja ? Er gehorcht nicht. Das ist ein spontaner Reflex." Koroljow nickte. „Das denke ich auch." „Gewiß!" rief Rjabkin. „Ebensogut hätten Sie es einem

Eisenbahnzug überlassen können, sich selbst die Strecke zu wählen . . . "

„Was ist das, ein spontaner Reflex?" fragte Kostenko schüch­tern. Er bekam keine Antwort.

„Eigentlich ist es allerhand." Koroljow schneuzte sich und steckte das Taschentuch ein. „Er gehorcht nicht! Das ist doch . . . "

„Nun aber los!" sagte Piskunow entschlossen. Unterdessen hatten die Bulldozer einen Halbkreis um Urm

gebildet, der gemächlich über die Chaussee stapfte. Ein Bull­dozer schnitt ihm den Weg ab, ein anderer folgte ihm auf den Fersen, die anderen drei rollten von den Seiten heran, zwei von links, einer von rechts. Urm hatte längst gemerkt, daß er um­ringt war, sich aber wohl nicht weiter darum gekümmert. Er setzte seinen Weg fort, bis sein Brustpanzer an den Bulldozer stieß. Er stemmte sich nach vorn, der Bulldozer schwankte ein wenig, und der Fahrer griff bestürzt an die Hebel. Urm nahm einen kurzen Anlauf und warf sich gegen die Planierraupe. Stahl knirschte auf Stahl, und unterhalb des Scheinwerferkegels stoben Funken durch das Schneetreiben. Im gleichen Augen­blick erreichte die Stoßplatte des hinteren Bulldozers Urm. Er machte halt, nur sein Schädel drehte sich langsam wie ein Glo­bus. Aus dem Brustpanzer krochen wie kleine schwarze Schlan-

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gen die Mikromanipulatoren hervor, fuhren über den Rand der Platte und zogen sich zurück. Von rechts und links rollten noch zwei Bulldozer heran und schnitten Urm den Rückzug ab. Urm war gefangen.

„Genossen Ingenieure! Genösse Piskunow! Was sollen wir weiter tun?" rief der Fahrer des ersten Bulldozers.

„Genösse Piskunow ist nicht da. Was soll'ich ihm ausrichten?" fragte Urm, holte aus und schlug auf die Stoßplatte los. Die Schläge folgten in gleichmäßigen Abständen wie die eines Boxers am Punchingball; bei jedem Schlag lehnte sich Urm zu­rück, und Funken sprühten unter seinen stählernen Fingern hervor.

Piskunow, Koroljow, Rjabkin und Kostenko eilten herbei. „Man muß etwas unternehmen, sonst haut er sich kaputt",

sagte Rjabkin besorgt. Piskunow kletterte schweigend auf die Raupenkette des Bull­

dozers, Rjabkin packte ihn jedoch am Mantel und zog ihn herunter.

„Was fällt dir ein?" brummte Piskunow gereizt. Rjabkin sagte: „Du bist der einzige, der Urm bis in alle

Einzelheiten kennt. Wenn er dir was antut, dann kann sich das hier noch einige Monate hinziehen. Ein anderer muß es ver­suchen."

„Stimmt", sagte Koroljow. „Ich gehe." Einer der Arbeiter, die sich um die Ingenieure geschart hat­

ten, schlug vor-. „Vielleicht nehmen Sie einen von uns? Wir sind jünger und flinker."

„Laßt mich lieber", sagte Kostenko finster. Koroljow warf ihnen einen ironischen Blick zu. „Wer von euch weiß, was man tun muß?" Alle schwiegen. „Na seht ihr. Ich weiß es aber. Und wenn ich, wenn mir . . .

ihr versteht, dann holt die Laboranten. Piskunow soll sich her­aushalten."

Er warf die Pelzjacke zu Boden und kletterte auf den Bull­dozer. Piskunow riß sich von Rjabkin los.

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„Lassen Sie mich, Rjabkin! Was für ein Unsinn! Ich werde selber . . . "

Rjabkin antwortete nicht. Kostenko^ trat von der anderen Seite hinzu und faßte Piskunow fest um die Schultern. Der ver­stummte, biß sich auf die Lippen und blickte Koroljow nach.

Urm tobte mittlerweile. Sein Unterkörper war von den Bull­dozern fest eingeklemmt, sein Oberkörper bewegte sich jedoch frei und drehte sich blitzschnell hin und her, während seine stählernen Fäuste auf die Stoßplatten einhämmerten. Dampf­wolken zogen durch das Schneegestöber. Ein Faustschlag hat eine Stoßkraft von 300 Kilogramm, ging es Kostenko durch den Kopf.

Mit zusammengebissenen Zähnen hockte Koroljow zwischen den Bulldozern vor Urm und pafjte einen geeigneten Augen­blick ab. Das Gekreisch und Gehämmer dröhnte ihm in den Ohren. Er wußte, daß Urm ihn bemerkt hatte, denn die Glas­augen blickten ihn unverwandt an und schienen unheilvoll zu funkeln.

„Sachte, sachte", flüsterte Koroljow. „Hör doch endlich auf, du Schuft!"

Plötzlich entstand ein neuer Laut - etwas krachte, entweder war es Urms Arm oder die Stoßplatte des Bulldozers. Jetzt durfte keine Sekunde mehr verloren werden. Koroljow bückte sich, Urms Arm stieß hart an seinem Kopf vorbei, Koroljow preßte sich an den Stahlpanzer. Da geschah wieder etwas Un­erwartetes. Urms Arme sanken herab. Das Dröhnen hörte auf, nur das Heulen des Sturms über den Feldern und das Fauchen der Traktoren waren noch zu hören. Bleich und schweißbedeckt richtete sich Koroljow auf und hob die Arme zu Urms Brust­panzer. Ein scharfes Klicken, und die grünen und roten Lichter an Urms Schultern erloschen.

„Schluß", sagte Piskunow heiser und Schloß die Augen. Alle redeten plötzlich laut durcheinander, man lachte und

scherzte. Die Fahrer halfen Koroljow auf und hoben ihn her­über. Piskunow umarmte und küßte ihn.

„Jetzt aber ins Institut", sagte er abgehackt. „An die Arbeit.

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Das wird eine Woche, einen Monat in Anspruch nehmen . . . Wir müsseh ihm diese Mätzchen abgewöhnen und ihn zu einem richtigen Urm, einer Universal-Roboter-Maschine, machen."

„Was war eigentlich in Urm gefahren?" fragte Kostenko. „Was ist das, ein spontaner Reflex?"

Koroljow, der müde und übernächtig aussah, erklärte es ihm: „Urm wurde im Auftrag der Direktion für interplanetarische Flüge konstruiert. Er unterscheidet sich von den anderen kyber­netischen Maschinen, auch von den vollkommensten, dadurch, daß er unter Verhältnissen arbeiten soll, die nicht einmal der genialste Programmierer genau voraussehen kann. Zum Bei­spiel auf der Venus. Wer weiß, was für Verhältnisse dort herr­schen? Vielleicht ist sie mit Wasser bedeckt oder mit Wüste, vielleicht auch mit Dschungeln oder siedendem Pech. Dorthin Menschen zu schicken ist einstweilen unmöglich. Das ist viel zu gefährlich. Auf die Venus werden wir Urms, Dutzende Urms schicken. Wie soll man aber die Programme für sie aufstellen? Der Haken ist ja gerade der, daß man bei dem jetzigen Stand der Kybernetik den Maschinen nicht beibringen kann, abstrakt zu .denken' . . . "

„Das ist mir nicht ganz klar." „Stell dir mal vor, wir lassen eine kybernetische Maschine

eine unbekannte Gegend erforschen, um die Aktivität des Bo­dens, das Vorhandensein von Mineralien, Pflanzen, Tieren usw. zu ermitteln. Die Maschine soll diese Gegend im Kreis durch­streifen und dann diesen Kreis von Nord nach Süd durch­queren. Wissen wir, daß die Gegend eben ist, so kann die kybernetische Vorrichtung höchst einfach sein: ein bis zwei Rezeptoren, ein Gyrokompaß, ein paar Relais . . . Heute gibt es.in Sowchosen Zehntausende solcher Geräte an Traktoren und selbstfahrenden Kombinen. Sie eignen sich aber nur für ver­hältnismäßig ebenes Gelände. Wenn wir aber nicht wissen, wie das Gelände beschaffen ist? Und wenn es dort Schluchten, Sumpf und Sandboden gibt? Da können unsere Maschinen kaputtgehen oder steckenbleiben . . . Deshalb müssen wir sie

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mit einem komplizierten Gehirn und einem ausgedehnten Pro­gramm versehen. Man kann der Maschine ,beibringen', Fur­ten zu suchen, oder ihr verbieten, tief ins Wasser zu gehen oder sich Schluchten zu nähern. Man kann ihr beibringen, Hinder­nisse zu umgehen oder sie womöglich zu überwinden, und zwar mit Hilfe von allerlei Vorrichtungen, zum Beispiel mittels eines hochleistungsfähigen Gleichgewichtsr6<(lers, wie unser Urm ihn hat, oder mit Hilfe von Armen und Beinen wie die Urms . . . Das ist es eben, weshalb wir Urm mit Armen und Beinen versehen haben, denn Räder und Raupenketten eignen sich nicht überall."

„Das ist mir alles klar", sagte Kostenko ungeduldig. „Mich interessiert nur . . . "

„Nun folgendes", fuhr Koroljow unbeirrt fort. „Nehmen wir an, wir haben der Maschine ein Programm für den Fall vor­geschrieben, daß sie auf eine Mauer stößt. Die Maschine muß die Mauer umgehen. Wir haben aber nicht berücksichtigt, daß sie unterwegs auf dichtes Gestrüpp stoßen kann. Sie würde das Gestrüpp für eine Mauer halten und es umgehen, obwohl sie es mit Leichtigkeit durchqueren könnte"

„Klar", sagte Kostenko. „Oder wir haben ihr beigebracht, Schlammboden zu vermei­

den, damit sie nicht einsinkt, und die Maschine weicht vor einem harmlosen Acker, einer Sandfläche, einem Stück Torf­land zurück. Wir müssen der Maschine einprägen, unter jeden beliebigen, sogar unter völlig phantastischen Verhältnissen zu handeln, von denen wir Programmierer nicht die geringste Vorstellung haben. Die Maschine muß neue Eigenschaften er­werben, die ihr die Fähigkeit ersetzen können, zu begreifen, daß ein Gestrüpp zwar einer Mauer ähnelt, doch passierbar ist, daß Schlammboden zwar dem Signal .weicher Boden' entspricht, daß aber doch ein Unterschied zwischen beiden besteht. Kurz, die Maschine muß schnell lernen, von einzelnen logischen Ver­bindungen wie ,weicher Boden - Sumpf oder ,Festgefügtes, Lichtundurchlässiges - Mauer' zu abstrahieren. Wie soll man das aber der Maschine einprägen? Piskunow hat vorgeschla-

4 Ein Roboter

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gen, eine Maschine zu bauen, die sich die Programme selbst stellt. Man hat in Urms ,Gehirn' ein Programm untergebracht, das die leeren Zellen des Gedächtnisses füllen soll. Mit anderen Worten, man hat Urm den Drang eingegeben, zu experimen­tieren, .Neues zu erfahren. Dieses Programm (wir nennen es inneres Programm) wurde dem Grundprogramm beigefügt und funktioniert gemeinsam mit ihm. Nach Piskunows Ansicht würde Urm, wenn er auf etwas Neues, Unvorhergesehenes stieße, vor ihm nicht zurückweichen und es nicht übersehen, sondern im Rahmen des Grundprogramms dieses Neue erfor­schen und es entweder überwinden oder zum Nutzen des Grundprogramms verwenden. Urm soll also ohne Hilfe des Menschen in jedem neuen Fall die günstigste Handlungsart wählen. Das ist das vollkommenste Bewußtseinsmodell der Welt. Das Resultat hat uns ziemlich überrascht. Theoretisch hatten wir damit gerechnet, aber praktisch . . . Kurz, die Kom­bination von innerem Programm und Grundprogramm ließ Tausende neue, unvorhergesehene Möglichkeiten entstehen, wie die Maschine auf äußere Einwirkungen reagieren könnte. Piskunow hat sie spontane Reflexe genannt. Diese spontan ent­stehenden kleinen Programme haben das Grundprogramm so­zusagen überwuchert, das innere Programm hat die Oberhand gewonnen und Urm zu selbständigem Handeln verleitet."

„Was gedenken Sie jetzt zu tun?" j g ^

sich gähnend. „Wir werden die analytischen Fähigkeiten des ,Gehirns', das Rezeptorsystem, vervollkommnen . . . "

„Und der spontane Reflex?" „Piskunow hat schon etwas in petto . . . Kurzum, die Urms

werden die Pioniere der unerforschten Planeten und Ozean­tiefen sein. Da werden Menschen nichts riskieren müssen . . . Hör mal, Kostenko, wollen wir nicht endlich schlafen gehen? Da du bei uns arbeiten sollst, wirst du schon alles rechtzeitig erfahren, verlaß dich drauf."

„Wir werden einen anderen

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Wladimir Firsow

Meuterei auf dem Mond

„Innokenti Borissowitsch, die Verbindung muß jeden Augen­blick abreißen. Sie fällen schon den Mast!" rief Lebedinski.

Er kauerte in einem unbequemen Stahlrohrsessel vor dem Videofon und versuchte langsam und kurz zu atmen.

Schade, dachte er, daß man die wunderbare Luft nicht mit­nehmen kann. Erst hier auf dem Mond hatte er sie zum ersten­mal richtig schätzengelernt. Wie herrlich ist es, tief durchzu­atmen ohne Angst vor dem unerbittlich vorrückenden Zeiger des Manometers. Wenn ich zur Erde zurückkomme, werde ich meine ganze Freizeit irgendwo an einem Flußufer liegend ver­bringen und nach der Yoga-Methode atmen.

Draußen, vor dem Bullauge flackerte rhythmisch eine Flamme. Die revoltierenden Roboter waren dabei, die mas­siven Pfeiler der Funkmaste zu zerstören. Aus der Dunkelheit lösten sich, ^n Atombrennern angestrahlt, die gespenstischen Umrisse der Automaten, und lange Schatten tanzten über die zerklüfteten Kraterhänge.

Schon neigte sich der Mast, fiele er, würde der Videofon-Bild­schirm erlöschen. Die Verbindung mit der Station war dann nur noch über Satelliten möglich, vorausgesetzt, daß die Roboter nicht bis zur Kuppelantenne vordrangen. Die Satelliten tauch­ten jedoch nicht allzu häufig über der Basis auf. Zur Mond­umkreisung brauchten sie immerhin zwei Stunden. Und wenn Fedossejew nicht gefunden wird? dachte Lebedinski. Dann bin ich geliefert.

„Fjodor Iljitsch, was geht da draußen vor?" erkundigte sich Professor Smolny per Videofon.

Lebedinski zuckte schweigend mit den Schultern. „Beobachten Sie alles genau. Ich glaube, es kann für Fedos­

sejew wichtig sein." Lebedinski sah auf den Infrarotbildschirm. Die Nacht brach

gerade erst an. Auf dem Bildschirm waren deutlich klobige

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Lastwagen zu erkennen, die für den Bau des Observatoriums bestimmte lange Stahlträger zur Kratermitte schleiften, wo eine phantastische Anlage entstand. Flinke Bau-Roboter waren eifrig am Werk, beschnupperten, befühlten und korrigierten dauernd irgend etwas. Die Wagen fuhren in strenger Reihen­folge, wie es ihnen der mechanische Wille des zentralen Kri­stallgehirns vorschrieb.

Etwas abseits vom Trubel zerstückelte ein Reparatur-Roboter sachkundig Lebedinskis Geländefahrzeug. Die abmontierten Teile warf er auf eine gehorsam wartende „Flunder", einen Transport-Roboter. ;

„Etwas muß bei der Konstruktion der Maschinen außer acht gelassen worden sein", sagte Lebedinski. „Unten auf der Erde waren sie zahm wie Lämmer. Ich hatte meine helle Freude an ihnen."

„Fjodor Iljitsch, vielleicht machen Sie doch den Sprengstoff fertig? Für den Fall, daß man Fedossejew nicht findet. Sonst schlagen die Roboter noch alles kurz und klein."

„Nicht doch immer dieses Thema, Innokenti Borissowitsch! Ich verstehe durchaus, daß der Internationale Rat Ihnen die Hölle heiß macht. Aber Fedossejew wird sich schon einfinden. Ein Mensch ist schließlich keine Stecknadel. Noch ist Zeit."

Professor Smolny nickte und überlegte. Natürlich hatte der Rat Radikalmittel vorgeschlagen. Sprengstoff gab es auf der Basis genug, und dem „Nilpferd", so wurde das zentrale Kri­stallgehirn genannt, eine Ladung vor die Füße zu werfen machte selbst im unbequemen Skaphander keine Schwierigkeiten. Le­bedinski hätte genügend Zeit, sich vor der Explosion in die Kuppel zu retten. Doch mit der Zerstörung des zentralen Kri­stallgehirns wäre auch der Bau des Observatoriums in Frage gestellt. Menschen können nicht wie Roboter vierundzwanzig Stunden hintereinander arbeiten. Drei Schichten zu je zwanzig Mann, rechnete Smolny aus. Auf jede Maschine ein Mann. Nicht einmal die Hälfte der Leute könnte auf der Station unter­gebracht werden. Außerdem müßten sie verpflegt werden. Die Zeit drängte, denn in drei Monaten sollte das Raumschiff

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„Ozean" zum Mars starten. Die Planeten warteten nicht. Den Start verschieben hieße aber, das fertige Raumschiff auf den Schrotthaufen werfen. Innerhalb von zwei Jahren würde es hoffnungslos veralten.

Aus alter Gewohnheit wollte sich der Professor über den Bart streichen. Augenblicklich ließ er die Hand sinken. Den Bart hatte er sich schon vor Monaten abnehmen lassen. Auf dem Mond trug man keinen. Im Skaphander war er unbequem und gefährlich.

Lebedinski starrte aufs Videofon. Hinter dem Professor war der Funker aufgetaucht. Er reichte dem Professor einen Funk­spruch.

„Von den Amerikanern", sagte der Chef der Station, wäh­rend er den Text überflog. „Die ,Potomac' hat manövriert und nimmt Kurs auf den Mond. Foster teilt uns mit: Er will es schaffen, er nimmt jedes Risiko in Kauf."

„Gott mit ihm." Lebedinski seufzte. „Ich kann mir nicht vor­stellen, wie er bei dem Flug fast vierundzwanzig Stunden her­ausholen will!"

„Die .Potomac' hat nahezu direkten Kurs mit zehnfacher Beschleunigung. Der Treibstoffverbrauch ist unwahrscheinlich hoch. Fosters ganzer Monatsvorrat geht für den einen Flug drauf. Dafür gewinnt er Zeit."

„Foster ist ein feiner Kerl", sagte Lebedinski nachdenklich. „Er hat's jetzt nicht leicht."

Er seufzte wieder und blickte auf die Uhr. Auf dem Bildschirm des Videofons erschien zum zweiten Mal

die Gestalt des Funkers. „Innokenti Borissowitsch, ein Raketogramm von Tschered-

nitschenko!" „Da hören Sie, Fjodor Iljitsch", sagte Smolny mit gespielter

Munterkeit. „Tscherednitschenko v(ill zwei Minuten ge­winnen. Prachtjungs, diese Fahrer. Ihre Aufgabe wird nun be­deutend leichter. Doch für den Fall der Fälle, halten Sie den Sprengstoff bereit." Der Bildschirm erlosch.

Aus, dachte Lebedinski. Sie haben den Mast gefällt. Jetzt

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bleibt nichts weiter übrig als zu warten. Und wenn Fedossejew nicht gefunden wird?

Er langte zum Pult und schaltete den überflüssig gewordenen Apparat aus.

In der offenen Schleusenkammer stand der Kundschafter-Roboter in Bereitschaft und lockerte seine acht Gliederfüße. Es sah aus, als bebe er vor Erregung über die bevorstehende wilde Jagd. Lebedinski wußte natürlich, daß es eine ganz gewöhnliche Funktionskontrolle nach der Eingabe des neuen Programms war. Ein Automat kann nicht vor Erregung beben.

Lebedinski trat aus der Luftschleuse und Schloß hinter sich die hermetische Tür. Er hatte keine allzu große Hoffnung, daß sein Plan gelang. Wahrscheinlich würde auch dieser Roboter den Gehorsam verweigern, sobald er sich außerhalb der Kup­pel befand. Genau wie die anderen vor ihm. Zwei Bau-Roboter, die untätig unter dem Schutzdach gestanden hatten, waren, als Lebedinski ihnen die Lochkarten mit dem Programm einge­schoben hatte, einer nach dem anderen zu den Revoltierenden übergelaufen. Aber eine andere Wahl gab es für Lebedinski nicht. Unter der Kuppel zu atmen fiel ihm immer schwerer.

Ein dummer Zufall. Lebedinski war auf die Basis gekommen, um die automatische Rakete mit den Bauelementen für das ge­plante Observatorium in Empfang zu nehmen. Die Roboter hatten friedlich gearbeitet und eine Trasse zum Bauplatz ge­legt. Gesteuert hatte sie das „Nilpferd", der Roboter-Koordi­nator mit fester Titanpanzerung, die das leistungsstarke Kri­stallgehirn vor Meteoritenschlägen schützen sollte. Lebedinski hatte das Programm des „Nilpferds" verändert, und die Roboter waren folgsam hinter dem Geländefahrzeug zum Kosmodrom hermarschiert. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden hatten sie die Rakete entladen. Bis Sonnenuntergang waren noch ein paar Stunden verblieben, und Lebedinski hatte sich schon ge­freut, daß er zur Station zurückkehren konnte, ehe es dunkel wurde. Als die Roboter den letzten Träger am Straßenrand aus­geladen hatten und die Rakete abgeflogen war, war er aus der

i n

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Kuppel getreten, um die Roboter zum Bauplatz zurückzuschik-ken. Doch als er das Programm unter dem Panzer des „Nil­pferds" hervorzog, ertönte plötzlich das Alarmsignal.

Die Ursache? Eine ganz gewöhnliche Sonneneruption. Lebe­dinski handelte genau nach Weisung. Er verkroch sich unter der Schutzkuppel und wartete, bis die Strahlungswelle nachließ. Er mußte lange warten. Endlich erlosch am Schaltpult die rote Lampe des Indikators. Lebedinski ging hinaus und erblickte ein Bild unwahrscheinlicher Verwüstung.

Im Krater tat sich Unbeschreibliches. Dort, wo vor kurzem die Rakete gestanden hatte, ragte ein seltsames, gerüstähn­liches Gebilde empor. Geschäftig eilten die Roboter hin und her. Helle Funken sprühten auf. Zwei Roboter schweißten eifrig den eben erst von der Rakete angelieferten Träger für das Teleskop an das Gerüst. Die Antennen der Funkmeßanlagen waren umgelegt, an Lebedinskis Geländefahrzeug fehlten die Raupenketten. Ein leuchtend gelb gestrichener Reparatur-Ro­boter nahm es fein säuberlich auseinander. Aus dem Gelände­wagen ergoß sich ein silbriger Strahl und fiel weiß geflockt zu Boden. Lebedinski kam nicht gleich darauf, daß aus dem aufge­schlitzten Schlauch die Reste seines Sauerstoffvorrates ent­wichen.

An Sauerstoff dachte er im ersten Moment gar nicht. Er ver­suchte, Verbindung zu den Robotern aufzunehmen, um sie aus­zuschalten. Sie reagierten jedoch überhaupt nicht auf seine Signale. Der erschrockene Ingenieur machte einen Satz nach vorn und stellte sich den Robotern in den Weg, denn es war noch nie vorgekommen, daß die Maschinen vor einem Men­schen nicht haltgemacht hätten. Doch diesmal warf ihn der tollgewordene Mechanismus um, und nur wie durch ein Wun­der konnte er sich vor den Raupenketten retten.

Lebedinski begriff, daß die Dinge schlecht standen. Er ging in die Kuppel zurück und erstattete dem Chef der Station Be­richt über die unverständliche Revolte der Roboter.

„Wieviel Sauerstoff haben Sie noch?" fragte Smolny. Lebedinski blickte auf den Armaturengurt seines Skaphan-

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ders. Das trübe Indikatorauge zeigte an, dafj die Flaschen nur noch wenig Sauerstoff, etwa für zwei Stunden, enthielten. Höchste Zeit, sie aufzuladen, beschloß Lebedinski in Gedanken, aber da fielen ihm die weißen Flocken am Geländefahrzeug ein. Bleibt mir nichts weiter übrig, als in der Kuppel auszuharren, dachte er. In der Kuppel gibt es immerhin einen Monatsvorrat an Sauerstoff. Um sein Gewissen zu. beruhigen, kontrollierte er den Manometerstand und erstarrte. Der Zeiger stand auf Null.

„Innokenti Borissowitsch, irgend etwas ist nicht in Ordnung!" rief er. „Ich sehe gleich mal nach."

Er klappte das Helmgitter herunter und verließ die Kup­pel durch die Luftschleuse.

Der Sauerstoffvorrat der Basis wurde in großen Flaschen aufbewahrt, die in Reih und Glied unter dem Meteoritenschutz­dach an der Außenwand standen. Diese Stelle war zum Auf­füllen der leeren Behälter besonders günstig. Lebedinski er­schrak. Nicht eine Flasche stand mehr an ihrem Platz. Die Ro­boter hatten also auch hier gehaust. Davon zeugten die zer­fetzten Sauerstoffbehälter und die ihm nur zu gut bekannten weißen Flocken zu seinen Füßen.

Blitzschnell überrechnete er die Ausmaße der Kuppel. Un­gefähr sechs Stunden könnte die Luft unter der Kuppel reichen. Für zwei Stunden eigener Vorrat. Machte zusammen acht Stun­den. Bis zur Station waren es 500 Kilometer. Für ein Gelände­fahrzeug zehn Stunden Weg. Im günstigsten Falle neun. Das hieß also, ein Geländefahrzeug schaffte es nie und nimmer. Ausgerechnet jetzt war die „Rubin", mit der man diese Strecke in fünfzehn Minuten bewältigen konnte, auf der^erdnahen Or­bital-Station zum Triebwerkwechsel.

Zehn Minuten nach Lebedinskis Bericht verließ das super­schnelle Raupenfahrzeug „Grashüpfer-3" die Station und nahm bei Maximalgeschwindigkeit Kurs auf die Basis. Fahrer waren Schröder und Bek-Nasarow. Nach weiteren fünfzehn Minuten jagte Stepan Tscherednitschenko, der beste Fahrer auf dem Mond, mit seinem Fahrzeug hinterher.

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Über Funk gingen Hilferufe an die Erde und an die ameri­kanische Station Little America, die sich am Nordufer des Meeres der Gefahren befand. Eine Stunde später war die UNO über die Ereignisse auf dem Mond informiert. Das eben erst von einer Zwischenumlaufbahn gestartete amerikanische Mond­schiff „Potomac" änderte seinen Kurs und flog mit Höchstge­schwindigkeit zum Mond. Auf Dutzenden von Forschungs- und Raumfunkstationen, auf den künstlichen Satelliten und in den Rechenzentren der Erde herrschte Alarmstufe Eins. Dreiein­halbtausend Mann kämpften um das Leben eines Kosmonau­ten.

Die Station war am Südabhang des halbzerstörten Torriceiii-Kraters errichtet worden - am Rande des Meeres der Ruhe. Ein idealer Ort für den ersten Stützpunkt. Hier hatte die Erfor­schung des Mondes ihren Anfang genommen. Die Station war weit genug vom Äquator entfernt, um nicht der unerträglichen Hitze des langen Mondmittags ausgesetzt zu sein. Die nörd­licher gelegenen, tausend Kilometer langen Ebenen der beiden Grenzmeere, des Meeres der Ruhe und des Meeres der Heiter­keit, die Geländefahrzeugen kaum ernst zu nehmende Hinder­nisse boten, ließen schnelle und fruchtbare Forschungsarbeit zu. Im Süden wurde die Station von einem gigantischen, schluchtenreichen Kettengebirge mit den Kraterriesen Theo-philus und Cyrillus begrenzt. Hier schlummerten unzählige faszinierende Geheimnisse. Hundert Jahre würden nicht aus­reichen, sie zu lüften. Doch das wichtigste war, in dieser Ge­gend gab es Wasser. Tausende Kubikmeter Eis lagen dicht unter der Mondoberfläche. So fiel der teure Wasser- und Sauer -stöfftransport von der Erde fort. Der Atomreaktor der Station erzeugte genügend Energie, so daß durch Elektrolyse praktisch unbegrenzte Mengen des wertvollen Sauerstoffs gewonnen werden konnten. Mit Wasserstoff war es schlechter bestellt, daran herrschte ständig Mangel. Die EL-Triebwerke der „Ru­bin" fraßen ungeheure Wasserstoffmengen. Immerhin erzeugte der Reaktor den Treibstoff für die Mondschiffe. So war man

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nicht auf Erdlieferungen angewiesen. Das erhöhte natürlich das Tempo der wissenschaftlichen Forschungsarbeiten.

Bei allen Vorteilen hatte der für die Station gewählte Ort aber einen großen Nachteil: Das schlackeartige Mondgestein, aus der die mehr oder weniger ebene Mondlandschaft bestand, hielt der Belastung durch die Mondschiffe nicht stand. Für die „Rubin" war daher in der Nähe der Station extra eine kleine Piste angelegt worden. Die schweren Versorgungsraketen da­gegen mufjten die Äquatorialbasis anfliegen, wo die Natur in einem zentral gelegenen kleinen Krater auf der dem Erdball zugekehrten Mondseite einen ausgezeichneten Kosmodrom auf festem Basaltmassiv geschaffen hatte. Der weitere Transport der Frachten erfolgte dann auf den Mondstraßen.

Die Geländefahrzeuge, die zu Lebedinskis Rettung unter­wegs waren, mußten also fünfhundert Kilometer von der Sta­tion bis zur Basis zurücklegen. Elektronenrechner hatten einen exakten Fahrplan ausgearbeitet und die optimale Variante ge­wählt. Lebedinski sollte den Geländefahrzeugen sieben Stunden nach deren Abfahrt entgegengehen. Zu diesem Zeitpunkt würde das erste Fahrzeug hundertfünfzig Kilometer von der Basis entfernt sein. In zwei Stunden - solange reichte der Sauerstoff in den Flaschen gerade noch - könnte der Gelände­wagen noch weitere hundert Kilometer zurücklegen. Die letz­ten fünfzig Kilometer müßte Lebedinski allein schaffen. Zu Fuß war das ausgeschlossen. Ihm blieb aber noch der Kund­schafter-Roboter, der auf ebener Strecke eine Geschwindigkeit von maximal zwanzig Stundenkilometern erreichen konnte. Die Frage war nur, ob der Roboter den Kommandos gehorchen oder sich seinen revoltierenden Kumpanen anschließen würde.

Nur Pjotr Iwanowitsch Fedossejew, der Konstrukteur der Roboter, hätte hierauf eine Antwort geben können. Aber auf dem ganzen Planeten wußte niemand, wo er sich aufhielt. Auf der Erde war ausgerechnet Sonntag, und in den Wäldern um Moskau gab es für leidenschaftliche Jäger wie Fedossejew ge­nug verschwiegene Winkel.

Die Experten aus dem Luna-Institut hatten vorgeschlagen,

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von den Beobachtungsstationen für Raumschiffe kapazitive, gebündelte Funkwellen auf die Basis zu richten. Die Radar­strahlen, so meinten sie, würden jede Funkwellenverbindung zwischen den Robotern und dem zentralen Kristallgehirn un­möglich machen und dem Kundschafter-Roboter das Revoltie­ren verwehren. Die Berechnungen ergaben jedoch, dafj es aus­geschlossen war, mit der vorhandenen Technik das gesamte von den Robotern benutzte Frequenzband zu überdecken. Zu allem Übel wufjte man nicht, auf welche Frequenz der Kund­schafter-Roboter ansprach. Das herauszubekommen in der noch verbliebenen Zeit war ein Ding der Unmöglichkeit. Dennoch ermittelten die Rechenzentren für alle großen Radarstationen und Radioteleskope Programme, und Dutzende von Antennen richteten ihre Gitterschirme auf den winzigen Punkt am Rande der Zentralbucht aus.

Noch nie war der Nachrichtenweg von der Erde zum Mond so in Anspruch genommen wie jetzt. Professor Klein, Vizeprä­sident des Internationalen Luna-Rates, ließ sich ständig über den Standort der Geländewagen und das Befinden Lebedinskis berichten. Gemeinsam mit dem Chef der Station, Professor Smolny, legte er die Einzelheiten der Operation fest. Er hatte auch vorgeschlagen, die Verbindung zwischen Station und Ba­sis über das Nathrichtensatelliten-System herzustellen. Und so wurde bereits dreißig Minuten, nachdem die wild gewordenen Roboter alle Radarmaste gefällt hatten, die Verbindung von der Station zur Basis wiederhergestellt. Doch nun mußten die von der Stationsantenne ausgestrahlten Funkwellen einen enorm langen Weg vom Mond bis zum Nachrichtensatelliten zurücklegen, der sich 36 000 Kilometer von der Erdoberfläche entfernt befand. Von hier aus gelangten sie zur Erde, legten einige hundert Kilometer bis zu den Riesenantennen des Zen­trums für kosmische Fernverbindung zurück und pflanzten sich von da aus zum Mond fort, bis sie den schlanken Antennenmast über der Basiskuppel erreichten. Die Verbindung war ein­seitig, die Signale des schwachen Basis-Senders drangen nicht bis zur Erde. Aber alle vierzig Minuten tauchte einer der drei

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Äquator-Nachrichtensatelitten des Mondes über der Basis auf, und Lebedinski wurde in der Station gehört.

„Und dennoch bestehe ich auf unserem Plan", sagte Pro­fessor Klein erregt zum Chef der Station. „Die Funkwellen­bündel geben uns keine volle Garantie für den Erfolg des Durchbruchs. Verweigert der Kundschafter-Roboter den Ge­horsam, dann ist der Tod Ihres Kollegen so gut wie sicher. Die ,Potomac' schafft es auch nicht. Bestenfalls erreicht sie die Ba­sis dreißig Minuten eher als das Geländefahrzeug. Mehr kann man beim besten Willen nicht aus dem Mondschiff heraus­holen. Ich wundere mich überhaupt, daß Foster noch am Leben ist und die Funkverbindung noch besteht."

„Ich habe mit Lebedinski gesprochen", sagte Smolny. „Er lehnt die Zerstörung des .Nilpferds' kategorisch ab."

„Nein, Sie sind wirklich unbelehrbar." Klein klatschte in die Hände. „So seid ihr Russen, denkt immer an euch selbst zu­letzt. Jede idiotische Maschine bedeutet euch mehr als die eigene Haut. Ich wiederhole noch einmal: Ich verlange von Ihnen, dem Chef der Station, daß Sie Herrn Lebedinski befeh­len, das Kristallgehirn in die Luft zu sprengen. Und je eher, desto besser."

„Gut, ich erteile ihm den Befehl", gab sich der Professor ge­schlagen. „Ich fürchte nur, Lebedinski wird nicht auf mich hö­ren. Er ist überzeugt, daß man Fedossejew findet."

Smolny sah auf das große Zifferblatt über dem Bildschirm. Sechs Stunden waren die Geländefahrzeuge bereits unterwegs. Er stellte sich vor, wie Lebedinski bewegungslos in seinem Ses­sel kauert und ebenfalls den kreisenden Sekundenzeiger ver­folgt. Jede Runde - eine Minute. Und das noch sechzigmal. In genau einer Stunde werden sich von den Antennen der Erd- und Raumstationen mächtige Ströme von Radioimpulsen lösen. Sie werden sich in anderthalb Sekunden im Raum zwischen Erde und Mond ausbreiten bis hin zu dem dreihundert Meter langen Krater, der in undurchdringlicher Dunkelheit liegt. Sie werden auf Felsen stoßen, zurückgeworfen werden, sich brechen, sich überlagern und den schweigenden Äther mit unheimlichem,

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dem menschlichem Ohr nicht vernehmbarem Zirpen erfüllen. Äußerlich wird sich im Krater nichts verändern, bis die toll­wütigen Roboter plötzlich in ihren Bewegungen stocken. Im Wirbel der Funkwellenbündel ersterben die Kommandos des zentralen Kristallgehirns. Die Roboter stehen still. Dann öffnet sich die Luftschleuse, und heraus tritt eine häßliche Metall­spinne, die den Geländefahrzeugen entgegeneilt. In ihren Klauen hält sie eine unbewegliche Gestalt im Skaphander.

Die Elektronenrechner haben jeden Meter Weg, jeden Liter Sauerstoff in den Flaschen berechnet. Eine Stunde und dreiund­fünfzig Minuten verbleiben Lebedinski noch, wenn er das Ven­til des Sauerstoffgerätes ganz aufgedreht hat, um sein gelähm­tes Gehirn zu reinigen und Kraft zu finden, bis zur Schleuse zu kommen. Das wird genau anderthalb Minuten in Anspruch nehmen. In einhundertdreizehn Minuten trägt ihn der Roboter vierzig Kilometer. Mehr schafft er nicht, auch nicht mit der roten Havarielochkarte im Rechenwerk. Nur die Erkundungs­geländewagen, die „Grashüpfer", kommen auf der Mondober­fläche schneller voran. Ihre Maximalgeschwindigkeit beträgt auf ebener Fläche fünfzig Stundenkilometer. In dem Augen­blick, wo Lebedinski das Ventil schließt und sich den herme­tischen Helm überstülpt, befindet sich Tscherednitschenkos Fahrzeug hunderfünfzig Kilometer weit von der Basis entfernt. Lebedinski fehlen dreißig Minuten zum Überleben.

Erregt legte der Professor den Lochstreifen der Rechen­maschine beiseite und schwenkte seinen Sessel herum, zu dem am Hauptpult sitzenden Tewossian. Jeden Augenblick müßten die Raketogramme von den Geländefahrzeugen eintreffen. Dann würde sich herausstellen, ob es Tscherednitschenko ge­lungen war, die Berechnungen zu korrigieren und wenigstens ein paar Minuten gutzumachen. Unwillkürlich wird man aber­gläubisch, ging es Smolny durch den Kopf. Mißbilligend musterte er Tewossians schief ausrasierten Nacken.

Die Tonbandspulen auf dem Hauptpult kreisten. Smolny blickte zur Uhr. Schröder ist pünktlich wie immer, dachte er. Sein Bericht traf genau auf die Sekunde ein.

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Der zweite Geländewagen interessierte den Chef der Station jetzt nicht sonderlich. Schröders „Grashüpfer" sollte mit Höchst­geschwindigkeit zur Basis fahren, ohne jedoch die im Alarmzu­stand zugelassene Grenze zu überschreiten. Inzwischen war er, obwohl fünfzehn Minuten eher gestartet, weit hinter Tschered-nitschenko zurückgeblieben. In diesen fünfzehn Minuten hatte Tscherednitschenko allen Ballast von seinem Geländewagen ge­worfen, einschließlich der schweren Sauerstoffflaschen mit einem Vorrat für mehrere Tage. Sein Sauerstoff reichte nun nicht einmal mehr für die Rückfahrt. Das war aber nicht weiter gefährlich, da der zweite Geländewagen unmittelbar folgte. Tscherednitschenkos „Grashüpfer" konnte dadurch einiges an Zeit herausholen. Das hatte Professor Smolny einkalkuliert, als er in die riskante, laut Instruktion streng verbotene Fahrt einwilligte.

Professor Smolny kannte Tscherednitschenko gut, diesen unverwüstlichen Fighter und mehrfachen Landesmeister in den technischen Disziplinen. Ein Draufgänger. Für riskante, doch wohlbegründete Entscheidungen der geeignete Mann. Deshalb hatte er ihm diese schwere Aufgabe übertragen, von deren Lö­sung Lebedinskis Leben abhing. Wie kein zweiter steuerte Tscherednitschenko den Wagen und das im Gefahrenzustand, wenn die roten Lampen am Schaltpult eine Überbelastung an­kündigten und nur noch die Intuition des Fahrers eine Kata­strophe verhindern konnte. Unwahrscheinlicher Mut und Wil­lenskraft gehörten dazu. Der Professor wußte, Tscheredni­tschenko würde durchhalten.

Insgeheim mußte sich Smolny eingestehen, daß er Mironow, dem zweiten Fahrer, nicht so fest vertraute. Der kleine Geo­physiker war erst seit kurzem auf der Station, und niemand von der jetzigen Besatzung kannte ihn von früher. Der Pro­fessor erinnerte sich an eine halbvergessene Episode aus der Zeit gleich nach Mironows Ankunft auf dem Mond. Ein Mete­orit hatte eine Wasserzisterne beschädigt, die gerade erst zum Eingang des Stationsgebäudes geschafft worden war. Jeder Tropfen Wasser war damals noch eine Kostbarkeit gewesen!

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Zum Transport waren automatische Zisternen mit Elektrohei­zung verwendet worden, denn heifies Wasser lieft sich besser umfüllen. Der Meteorit hatte ein anständiges Loch in die Zi­sterne geschlagen. Der austretende Heißwasserstrahl gefror sofort auf dem Boden. Mironow aber, vom Alarmsignal her­beigerufen, überprüfte erst pedantisch seinen Skaphander, ob­wohl Bek-Nasarow es schon vorher getan und ihm versichert hatte, daß alles in Ordnung wäre. Mironows Verhalten ent­sprach genau der Instruktion, die jeden verpflichtete, beim Ver­lassen der Gebäude persönlich den Skaphander zu kontrollie­ren. Einige hundert Liter waren ausgelaufen, und der Wasser­vorrat war dahin. Der reguläre Start der „Rubin" mußte ver­schoben werden. Gewiß, dafür waren die Stationsbewohner un­versehens zu einer herrlichen Eisbahn gekommen, und eine allgemeine Begeisterung fürs Schlittschuhlaufen brach aus. Einige Tage lang aber hatte sich Bek-Nasarow Mironow ge­genüber betont reserviert verhalten.

Eigentlich war an diesem Vorfall nichts Besonderes. Schließ­lich ist Wasser bloß Wasser. Im unkontrollierten Skaphander hinauszugehen konnte hingegen den schnellen und sicheren Tod bedeuten. Der Professor hatte einerseits Verständnis für das Verhalten des Neuen. Andererseits mißfiel ihm Mironows Mißtrauen einem Kameraden gegenüber, auch wenn es unbe­absichtigt war.

Es hatte noch andere Kleinigkeiten gegeben, die im pulsie­renden Mondalltag Unbeachtet geblieben waren. Jetzt aber fie­len sie dem Professor wieder ein und beunruhigten ihn. Er be­dauerte schon, Mironow im ersten Fahrzeug mitgeschickt zu haben. Aber eine andere Möglichkeit hatte es nicht gegeben. Weder Schröder noch Bek-Nasarow, die Besatzung von „Gras-hüpfer-3", waren meisterhafte Fahrer. Und andere standen im Moment nicht zur Verfügung.

Wieder betrachtete der Stationschef Tewossians lächerliche Frisur. Wenn wir Verstärkung bekommen, muß unbedingt ein Friseur dabeisein, dachte er. Die Jungs verschandeln sich ja gegenseitig.

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Er sah auf die Uhr. Von Tscherednitschenko fehlte immer noch jede Nachricht.

Neben dem dunklen Bildschirmoval flackerte beharrlich ein grünes Lämpchen. Die Erde war sprechbereit. Smolny drückte auf einen Knopf.

„Innokenti Borissowitsch, wir haben Fedossejews Frau ge­funden", rief der junge Sekretär des Astro-Rates mit sich über­schlagender Stimme. Er arbeitete erst seit einigen Tagen beim kosmischen Nachrichtenstab und war vor der Kamera immer noch schrecklich aufgeregt. „Sie sagt, Pjotr Iwanowitsch wollte sich heute unbedingt das Fußballspiel ansehen. Er hat den Fern­seher mit im Wagen."

„Was für ein Fußballspiel?" fragte Smolny begriffsstutzig. Im gleichen Augenblick fiel ihm aber ein, daß die ganze Station der Halbfinalbegegnung um den Weltpokal gespannt entgegen­sah, die aus London über Kosmovision übertragen wurde. Die zweite Halbzeit mußte bereits laufen.

Fußball interessierte den Chef der Station jetzt am allerwenig­sten. Im Moment beschäftigte ihn einzig und allein die Frage, warum Tscherednitschenkos Raketogramm ausgeblieben war.

„Hören Sie selbst", sagte der Sekretär. Aus dem Lautsprecher kam zweihunderttausendstimmiges

Geschrei. Der Reporter drang kaum durch. Rotweiß gekleidete Spieler stürmten auf das Tor der sowjetischen Mannschaft zu.

„. . . und nun ist der schnelle Mittelstürmer am Ball. Seine exakten Abgaben sind immer sehr gefährlich. Und jetzt um­spielt er unsere Verteidigung, gleich wird er ein Tor schießen! Gleich ist es passiert!"

Der Lautsprecher dröhnte. Smolny verzog das Gesicht. Der Ball flog hoch über die Latte in die Zuschauertribüne.

„Der Spielstand bleibt unverändert", vernahm der Professor schließlich. „Ich möchte die kurze Spielpause benutzen, um die Zuschauer daran zu erinnern . . . "

Jäh riß die Stimme ab, eine kurze Stille trat ein. Dann war der Ton wieder da.

„Liebe Fernsehzuschauer!" sagte jemand. „Ich wende mich in

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einer dringenden Angelegenheit an Sie. Wahrscheinlich sieht sich auch Pjotr Iwanowitsch Fedossejew dieses Spiel an. Er wird von der Luna-Station verlangt. Pjotr Iwanowitsch! Setzen Sie sich bitte unverzüglich mit dem Astro-Rat in Verbindung! Ein Mensch schwebt in Lebensgefahr."

Die Kamera hatte den Torwart erfaßt, der den Ball ins Mit­telfeld schlug. Dann verschwand das Stadion vom Bildschirm, und wieder erschien der aufgeregte Sekretär.

„Haben Sie gehört?" fragte er. „Ich glaube bestimmt, daß sich Fedossejew jetzt bald meldet."

„Hoffentlich", brummte 4er Professor. „Sicherlich sitzt er ir­gendwo vor seinem Fernseher und hat darüber die Jagd ver­gessen."

Keine schlechte Idee, die Fernsehdurchsage, dachte er. Fe­dossejew wird bestimmt wissen, wie seine Roboter zur Ver­nunft zu bringen sind. Hauptsache, Tscherednitschenko schafft es.

Doch Tscherednitschenko schwieg, obwohl der vereinbarte Zeitpunkt für seine Meldung längst verstrichen war. Er schwieg auch nach einer Stunde noch, als es Zeit wurde, das Kristall­gehirn durch die Funkwellenbündel lahmzulegen. Ob Lebedin­ski einem Geländefahrzeug, das als vermißt gelten mußte, ent­gegengehen, oder ob er in der Kuppel bleiben sollte, in qual­voller Agonie, allein gelassen mit der vagen Hoffnung auf die „Potomac", darüber galt es augenblicklich neu zu entscheiden.

Tscherednitschenko schwieg, weil sein Geländewagen weitab von der Straße inmitten unpassierbarer Felsen lag.

Die Straße zur Basis war gleichzeitig mit der Station gebaut worden. Das hatte keine große Mühe gekostet, denn der Süd­zipfel des Meeres der Ruhe ist eine ebene Fläche. Nur stellen­weise hatte man den Boden glätten und hellgestrichene Metall­markierungen mit Lichtsignalanlagen für die Nacht aufstellen müssen. Selbst bei völliger Dunkelheit war es kein Problem, ein Geländefahrzeug durch die beiden Markierungsreihen hin­durchzusteuern. Die Markierungen waren überdies ausgezeich-

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net auf dem Radarschirm zu erkennen. Mit einem Wort, das Fahren auf dieser Straße machte zu keiner Tageszeit Schwierig­keiten. Sogar die Transport-Roboter, die „Flundern" mit ihrem primitiven Kristallgehirn, legten den Weg zwischen Basis und Station immer ohne Zwischenfälle zurück.

Von der ersten Sekunde an hatte Tscherednitschenko alles aus dem Fahrzeug herausgeholt. Er hatte den Beschleunigungs­hebel weit hinter die Sperre gedrückt und den Wagen vorwärts gejagt, daß die Motoren stöhnten.

Die breite, tiefhängende Erdsichel gab genügend Licht, so daß die an die Finsternis gewöhnten Augen alle Einzelheiten der Mondoberfläche gut unterscheiden konnten. Tscheredni­tschenko hatte nicht einmal die Scheinwerfer eingeschaltet.

Mironow saß schweigend hinter ihm und kämpfte mit dem aufkommenden Brechreiz.

Die schnelle Fahrt im „Grashüpfer" hatte ihre Tücken. Das schwere Fahrzeug stampfte bei der hohen Geschwindigkeit wie ein Schiff und hob sich mitunter fast vom Boden. Die aus­gezeichnete Federung fing das Stampfen nicht ab, sondern ver­stärkte es nur noch. Es war, als pflüge der Wagen eine wild­bewegte See, als schösse er über Wellenberge und Täler.

Bei den Probefahrten auf der Erde war nichts dergleichen beobachtet worden. Erst auf dem Mond, unter den Bedingun­gen der verringerten Schwerkraft, hatte sich dieser Mangel herausgestellt. An eine Korrektur war nicht mehr zu denken gewesen. Im übrigen war das Schlingern und Stampfen in Kauf genommen worden, zumal noch niemand mit Höchstgeschwin­digkeit hatte fahren müssen.

Der „Grashüpfer" schaukelte jetzt fürchterlich. Mironow stellte mit einiger Verwunderung fest, daß sein Magen sehr empfindlich auf jede Bewegung des Fahrzeugs reagierte. Eine lange Fahrt stand bevor. Entsetzen packte ihn, sobald er daran dachte.

Auf dem Radarschirm zeigte sich bald ein kleiner Punkt. „Grashüpfer-3." Über Funk tauschte Tscherednitschenko mit Schröder und Bek-Nasarow „Grußbotschaften" aus. Dann blieb

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„Grashüpfer-3" zurück, und für Tscherednitschenko und Miro­now wurde es Zeit, die Plätze zu wechseln.

Auf dem Fahrersitz erging es Mironow noch schlechter. Und zum erstenmal seit seiner Ankunft auf dem Mond leuchteten vor ihm am Pult zwei rote Lampen auf. Warnsignale. Die Apparaturen waren an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit. Das beunruhigte Mironow. Rundherum gähnte Hunderte Kilo­meter weit luftleerer Raum, durchsetzt von kosmischen Strah­lungsströmen. Lange, zermürbende Stunden einer wahnwit­zigen Hetzjagd in undurchdringlichem Dunkel standen noch bevor. Die dreihundert Stunden währende eisige Mondnacht hatte gerade erst begonnen, der Sauerstoff in den Flaschen reichte aber nicht einmal für vierundzwanzig Stunden. Miro­now durchzuckte der Gedanke, daß eine Panne des anderen Geländewagens auch für sie beide schicksalhaft werden könnte.

Aus dem mit einer dicken Bio-Schutzhülle abgeschirmten Heck strömte die unbändige Kraft der Neutronenwirbel. Mit voller Kapazität speiste der Kernreaktor die Triebwerke. Alle energieschluckenden Apparaturen - Sender, Scheinwerfer, Ka­binenbeleuchtung und -heizung - waren ausgeschaltet. Schon seit geraumer Zeit lag die Geschwindigkeit des „Grashüpfers" an der obersten Grenze. Trotzdem reichte sie nicht, den vom Elektronenrechner ausgeklügelten Fahrplan wenigstens etwas zu unterbieten.

Tscherednitschenko überlegte. Mehr war aus dem Fahrzeug offenbar nicht herauszuholen. Das riskante Wettrennen mit dem Tod hatte jeden Sinn verloren, denn Lebedinskis Sauerstoff ging unweigerlich dreißig Minuten vor ihrem Zusammentreffen zu Ende. Irgend etwas mußte geschehen.

Das Geländefahrzeug besaß Triebwerke für schwerste Be­dingungen. Irgend so ein Schlaukopf hatte sie mit großen Lei­stungsreserven projektiert. Tscherednitschenko wußte nur zu gut, daß der Reaktor nicht mehr hergab, denn die Regelstäbe hielten den Reaktorhaushalt genau in den vorgeschriebenen Grenzen.

Die Stäbe waren aber so weit angehoben, daß das beabsich-

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tigte Leistungsniveau längst erreicht war. Die einzige Möglich­keit, noch etwas aus dem Reaktor herauszuholen, bestand darin, sie ganz zu entfernen.

Tscherednitschenko hatte am Bau und an der Erprobung der ersten „Grashüpfer" teilgenommen. Außer einer Überhitzung konnte nicht allzu viel passieren, wenn man einen Teil der Stäbe entfernte.

Er Schloß seinen hermetischen Helm und öffnete die Tür zur Triebwerkkammer.

Als er, den Schweiß von seiner Stirn wischend, wieder in der Fahrerkabine auftauchte, flackerten am Schaltpult mehrere rote Warnlampen auf.

„Was haben Sie gemacht?" fuhr Mironow ihn an. „Wir können jeden Moment in die Luft fliegen!"

„Ich habe ein paar Regelstäbe rausgenommen", sagte Tsche­rednitschenko und betätigte den Beschleunigungshebel.

Sofort erhöhte sich die Geschwindigkeit des Fahrzeugs. Kurze Zeit später erschien allerdings ein weiterer roter Punkt am Schaltpult.

Die Überhitzung des Reaktors hatte begonnen. . Zum erstenmal in seinem Leben empfand Mironow Todes­

angst. Er hatte das Gefühl, als verwandle sich das Geländefahr­zeug allmählich in eine entsicherte Bombe, die beim geringsten Stoß explodiert. Ihm schien es, als flöge sie mit ihnen durch die nachtschwarze Wand direkt in den Sternenhimmel hinein.

Die rettenden Kontrollautomaten waren ausgeschaltet, sonst hätten sie sich längst in die Steuerung eingemischt. Der Be­schleunigungshebel, der weit hinter der Sperre lag, vibrierte unter Mironows Fingern, als wollte er sich jeden Augenblick losreißen. Plötzlich wurde Mironow von dem Wunsch über­mannt, den Hebel für den Bruchteil einer Sekunde loszulassen, damit sein Magen wieder zur Ruhe kam und die Alarmsignale am Pult erloschen. Nur mit Mühe bezwang er sich. Der geringste Temporückgang bedeutete Lebedinskis sicheren Tod, das wußte Mironow.

Er sah zur Uhr. Das Geländefahrzeug war knappe zwei

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Stunden unterwegs. Noch sieben Stunden Höllenqual, dachte er. Das halte ich nicht aus!

Er geriet in Wut über den endlosen Weg, über die revoltie­renden Roboter, über Tscherednitschenko, der sich hinten auf dem Sitz lümmelte, als sei nichts geschehen, über die eigene Ohnmacht und über die grausame Mondwelt, deren Erfor­schung derartige Strapazen mit sich brachte. Und die Wut half ihm durchzustehen.

Zum Glück war es inzwischen Zeit, das Rakelogramm durch­zugeben. Tscherednitschenko setzte sich auf den Fahrersitz und nahm das Mikrofon zur Hand. Mironow rang mit letzter Kraft die Magenkrämpfe nieder und überprüfte die Geräte auf ihre Funktionstüchtigkeit.

Auf dem Dach des Geländefahrzeuges wurden in kurzen Vertikalrohren vier kleine Raketen mitgeführt. In einer dieser Raketen drehten sich jetzt die Spulen eines winzigen Tonbands, dessen feiner Stahldraht Tscherednitschenkos Worte aufnahm. Wenige Minuten später stieg die Rakete in hundert Kilometer Höhe auf; dabei wurden die Antennen ausgefahren und ge­richtet. Auf dem Gipfelpunkt, wo die Krümmung der Mond­oberfläche die Station nicht mehr verbarg, gaben die Bänder die gespeicherten Informationen an den Äther ab. Die Instru­mente der Station zeichneten das Raketogramm auf genauso feinen Stahldraht auf. Anschließend wurde es auf ein gewöhn­liches Tonband übertragen, und die Information konnte abge­hört werden.

Von diesem Raketogramm hatte Smolny Lebedinski, wenige Minuten bevor die Funkverbindung abriß, unterrichtet.

Nach sechs Stunden führte die Straße hinauf in die Berge, die das „Meer der Ruhe" von der Zentralbucht trennen. Tscheredni­tschenko vertiefte sich in die Karte und überlegte.

Das vom Ballast befreite Fahrzeug kam in raschem Tempo voran. Dennoch reichte seine Geschwindigkeit nicht, um recht­zeitig bei Lebedinski zu sein.

Es blieb eine letzte Chance. Tscherednitschenko hatte beim

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Bau der Straße mitgearbeitet und kannte sich hier aus, Nach einigen Kilometern machte die Straße, ehe sie ins Gebirge ab­bog, einen scharfen Knick, den einzigen auf der Strecke. Seiner­zeit war der Vorschlag gemacht worden, diesen Umweg zu ver­meiden. Beim Abstecken der Trassen hatte Tscherednitschenko die gesamte Strecke abgefahren. Später hatte man sich aber doch für die Umgehungsvariante entschieden, obwohl ein Teil der geraden Strecke schon markiert worden war.

Tscherednitschenko stoppte das Geländefahrzeug. Mironow ächzte.

„Was ist los?" fragte er in krächzendem Flüsterton. „Es bleibt uns nichts weiter übrig, als den geraden Weg zu

nehmen, Oleg Nikolajewitsch. Sonst schaffen wir's nicht", sagte Tscherednitschenko.

Die letzten Kilometer hatten Mironow endgültig zermürbt. Kraftlos hing er in seinem Sessel. Er nahm sich mit aller Ge­walt zusammen, um Tscherednitschenko nicht an den Kragen zu gehen und dessen Hände von der Schaltung zu reißen. Wäre nicht der regelmäßig wiederkehrende Brechreiz gewesen, hätte Mironow am Ende noch das Bewußtsein verloren.

Tscherednitschenko bemerkte sehr wohl den Zustand seines Kameraden, war jedoch außerstande, ihm zu helfen. Dazu hätte er die Geschwindigkeit verringern müssen. Das aber konnte er nicht. Die verfluchte Schaukelei wirkte sich allmählich auch auf seinen gestählten Organismus aus. Aber noch hielt er sich auf­recht. Gleich zu Anfang der Fahrt hatte Tscherednitschenko Mironow am Schaltpult abgelöst und den „Grashüpfer" allein gesteuert.

Mironow war mit Tscherednitschenkos plötzlichem Entschluß einverstanden, obwohl er wußte, was sie erwartete. Den Para­graphen der Instruktion, der nächtliche Fahrten im Gebirge streng untersagte, kannte er in- und auswendig. Aber im Augenblick dachte er nicht an die bevorstehenden Gefahren, hielt sie sogar für irreal. Er war zu jedem Risiko bereit, wenn nur die Schaukelei bald aufhörte.

Riesige, glanzlose Sterne hingen über dem Fahrzeug. Bril-

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lant-Staubwolken ballten sich über dem Weg zusammen. Die Flügel majestätisch ausgebreitet, schwamm der Schwan im Sternenmeer, den riesigen Smaragd des Deneb im Schnabel. Über dem Geländefahrzeug hing der Erdball, eingehüllt im blauen Dunst der Atmosphäre. Unter dem Fahrzeug tauchte mit einemmal eine doppelte Feuerpunktlinie auf, machte einen scharfen Knick nach links und verschwand hinter dem unsicht­baren, von Sternentüpfelchen gezeichneten Horizont.

Tscherednitschenko langte zum Pult und schaltete die Schein­werfer ein. Sie warfen aber nur einzelne Lichtpunkte auf die Einöde.

„Alarmstufe Eins. Helm schließen, anschnallen!" Tscheredni­tschenko blickte zur Uhr.

Das Geländefahrzeug ruckte an, walzte einen der nächsten Markierungsstäbe nieder und verließ die Straße.

Zuerst ging alles verhältnismäßig gut, doch plötzlich war die Hölle los.

Der „Grashüpfer", ein ideales Fahrzeug für die Mondober­fläche, wurde von Gliederfüßen in Raupenketten-Pantoffeln ohne die geringste Schwierigkeit über alle Unebenheiten des Bodens getragen. Dort, wo weder Raupenketten-Gelände­wagen noch Kugelgleiter oder andere Mondfahrzeuge durch­kamen, bahnte sich der „Grashüpfer" beinahe mühelos seinen Weg.

Doch jetzt hatte selbst dieser unverwüstliche Koloß zu kämp­fen. Seine Geschwindigkeit verringerte sich, die Sperrklinke am Beschleunigungshebel mußte mit der Hand gehalten werden. Tscherednitschenko ließ sich dadurch nicht beirren. Ihm ging es einzig und allein darum, die Richtung einzuhalten.

Das blieb jedoch ein frommer Wunsch. Plötzlich bemerkte Tscherednitschenko, daß das Steinchaos bedrohliche Ausmaße annahm. Der hell leuchtende Deneb war zwar ein sicherer Orientierungspunkt, dennoch schien der „Grashüpfer" bei dem Zickzackkurs von der befahrbaren Route abgekommen zu sein. In der absoluten Dunkelheit war nichts mehr zu erkennen. Le­diglich vorn klaffte in der Wand aus Finsternis ein phantasti-

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sches, vom Scheinwerferlicht gebohrtes Loch. Und dort tanzten undurchdringliche schwarze Schatten.

Zweimal zerschnitten breite Spalten den Weg. Mit Leichtig­keit sprang der „Grashüpfer" über sie hinweg. Die Sprünge in dem vom Ballast befreiten Fahrzeug kosteten Tscheredni­tschenko keine große Anstrengung. Doch bald brach unter den Gliederfüßen eine lockere Steinkante weg, und das Fahrzeug legte sich zur Seite. Es kippte und rutschte bergab. Der auto­matische Stabilisator verhinderte ein Überschlagen, und Tsche­rednitschenko, mit dem Kopf nach unten in den Haltegurten hängend, konnte gerade noch alle rechten Füße des Fahrzeugs zur Seite auswerfen und die linken einholen.

Der „Grashüpfer" richtete sich auf, rührte sich aber nicht vom Fleck. Tscherednitschenko war kaum noch imstande, einen kla­ren Gedanken zu fassen. Er warf einen Blick auf die Instru­mente. Anscheinend war alles in Ordnung. Vor seinen Augen tanzten weiße Flocken. Er wollte sie wegwischen, stieß jedoch an die Helmscheibe.

„Wie steht's, Oleg Nikolajewitsch?" fragte er mit undeut­licher Stimme.

„Ich lebe", rauschte es aus Mironows Sprechfunkanlage. Das Geländefahrzeug setzte sich langsam wieder in Bewe­

gung, geriet aber auf dem Geröll ins Rutschen. Vorwärts, nichts als vorwärts, dachte Tscherednitschenko. Trotz alledem, wir schaffen es. Nur vertikale Wände sind für den „Grashüpfer" unüberwindbar. Er sah zur Uhr. In einigen Minuten würde Lebedinski die Kuppel verlassen. Höchste Zeit, das Raketo­gramm abzuschicken.

Das Raketogramm ging nie ab. Die leichten Abschußrohre waren, als das Fahrzeug umgekippt war, völlig plattgedrückt worden.

In der folgenden Stunde fand ein einziges wahnsinniges Wett­rennen mit dem Sekundenzeiger statt. Wie ein Eisbrecher das Packeis, so nahm der „Grashüpfer" die Steinriesen im Sturm. Er wurde über die erstarrten Wellen des Steinmeers geschleu­dert, kraxelte und überschlug sich, sprang und glitt aus. Schon

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in der ersten Viertelstunde rissen zwei Raupenketten. Infolge der heftigen Stöße versagten die Geräte. Vergeblich blickte Tscherednitschenko auf den Indikator, der über alle Erschei­nungen im Funkbereich der Nachrichtensatelliten informierte. Der Indikator leuchtete nicht auf, obwohl die Satelliten min­destens zweimal über dem Geländefahrzeug hinweggeflogen sein mußten. Die Stöße waren mitunter so stark, daß die An­schnallgurte Tscherednitschenkos Brustkorb beinahe eindrück­ten. Außerdem schien das System der Wärmeregulierung de­fekt zu sein. Die Temperatur im Skaphander stieg zusehends. Die Heizung mußte ganz abgestellt werden.

Als das Fahrzeug für Sekunden stehenblieb und Anlauf zur Überwindung eines neuen Hindernisses nahm, hielt Tscheredni­tschenko blitzschnell nach dem wegweisenden Deneb Ausschau. Der ferne, gleichgültige Stern blickte kalt und starr auf sie herab. Der Abstand zu ihm schien seit dem Antritt der wahn­witzigen Fahrt unverändert. Tscherednitschenko wußte jedoch, daß der Eindruck trog und es bis zur Straße nicht mehr weit sein konnte.

Und es war wirklich nicht weit. Keine zwei Kilometer. Da verlor Tscherednitschenko die Gewalt über das Fahrzeug. Der „Grashüpfer" rutschte in eine Spalte, kippte um und tat keinen Muckser mehr.

Am schwersten fiel es, sich zu einem Blick auf die Uhr zu zwingen. Der Schädel wollte platzen, so unerträglich waren die Kopfschmerzen. Dumpf raunte die Stimme des Stations­chefs - sie mahnte, forderte, befahl. Das Rauschen in den Ohren vermochte die Worte nicht zu übertönen, doch blieb ihr Sinn unklar. Eins nur vergegenwärtigte sich Lebedinski immer wie­der : Wenn ich das Bewußtsein verliere, ist es aus. Mit unwahr­scheinlicher Anstrengung zwang er sich, die Sekunden auf dem großen Zifferblatt zu zählen. Er wußte nicht mehr warum, aber er zählte und zählte.

Alles andere wäre zu ertragen gewesen, nur nicht diese nerv­tötende Stimme. Dabei konnte man sich nicht konzentrieren.

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Mit letzter Kraft drückte Lebedinski auf einen Knopf am Gür­tel, um die Stimme zum Schweigen zu bringen. Vergeblich. Lebedinski war nicht einmal mehr imstande, sich zu wundern. Doch da fiel ihm der Sender wieder ein. Er beugte sich weit vor, lag fast über dem Schaltpult und tastete mit dem Handschuh die Knöpfe ab. Die Stimme dröhnte mit fürchterlicher Laut­stärke. Sie war nicht zu überhören.

„Fjodor Iljitsch, Sie müssen jetzt hinausgehen. Weshalb sa­gen Sie nichts? Antworten Sie bitte. Hören Sie mich? Der Satel­lit ist über Ihnen. Antworten Sie, Fjodor Iljitsch. Schalten Sie die Sauerstoffzufuhr ein. Schließen Sie den Helm. Stehen Sie auf!"

Die Stimme des Professors hallte unter der Kuppel wider und bohrte in Lebedinskis Gehirn. Sie mahnte, forderte, befahl. Schließlich begriff Lebedinski, daß er aufstehen mußte.

Nach einigen vergeblichen Versuchen gelang es ihm endlich, aber er fiel gleich wieder zu Boden.

Der Schmerz des Aufpralls brachte ihn in die Wirklichkeit zurück. Ohne sich zu erheben, drehte er das Ventil auf und spürte sogleich, wie der lebenspendende Sauerstoff in seine Lungen drang. Er Schloß den Helm, um keinen einzigen Liter des wertvollen Gases ungenutzt ausströmen zu lassen. Dann stützte er sich mit Händen und Füßen ab und blickte zur Uhr.

„Ich gehe", sagte er und stand auf. „Senden Sie die Funkwel­lenbündel aus."

Anderthalb Sekunden später wurden seine Worte auf der Erde vernommen. Sofort breiteten sich unsichtbare Energie­ströme im Weltraum aus. In der Station stellte Professor Smolny die Kontrollstoppuhr. Von nun an unterwarf sich alles dem Lauf ihres Zeigers, der Lebedinskis Minuten, vielleicht die letzten, zählte.

Mit einer Drehung des Hebelschalters stellte Lebedinski die Kuppelscheinwerfer ein, gleißendes Licht ergoß sich über den Krater. Jetzt konnte er hinaustreten.

Doch vergeblich drückte er gegen die Tür der Schleusen­kammer. Sie gab nicht nach. Hastig prüfte er, ob sie entriegelt

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war. Noch ein Blick auf den Druckanzeiger. Alles in Ordnung. Die Tür öffnete sich aber nicht. Furcht packte ihn. Er nahm An­lauf und stieß mit aller Gewalt gegen die Tür, riskierte dabei, seinen Skaphander zu beschädigen. Sie gab nicht einen Milli­meter nach. Voller Verzweiflung sah sich Lebedinski in der Kuppel nach einem schweren Gegenstand um, mit dem er die verfluchte Tür einschlagen konnte. Er hatte wohl gestöhnt, denn Smolny fragte sofort, was los wäre.

Die Stimme des Chefs zwang ihn, sich zusammenzunehmen. „Alles in Ordnung", sagte er. „Gleich öffne ich die Luft­

schleuse." ; Noch einmal blickte er auf die Instrumente. Was war bloß ge­

schehen? Was hatte er nicht beachtet? Der fürchterliche Ge­danke, daß die revoltierenden Roboter die Tür von draußen zuhalten könnten, durchzuckte ihn. Die Signalanlage zeigte j e ­doch an, daß die Außentür offenstand und der in der Schleuse stehende Kundschafter-Roboter durch die undurchdringlichen Wände gegen die Funkbefehle des „Nilpferds" sicher abge­schirmt war.

Einige Stunden zuvor hatte sich die Tür noch ganz leicht öffnen lassen, daran erinnerte sich Lebedinski. Was mochte in­zwischen vor sich gegangen sein?

Bei unterschiedlichen inneren und äußeren Druckverhält­nissen verhinderte die automatische Blockierung das Öffnen der Tür. Der Druckmesser bewies jedoch eindeutig, daß in der Schleusenkammer normale Druckverhältnisse herrschten.

Plötzlich fiel es Lebedinski wie Schuppen von den Augen. Viele Stunden schon befand er sich in einem verschlossenen Raum, in dem der Luftvorrat nicht aufgefüllt worden war. Die menschliche Lunge entnahm der Luft bei jedem Atemzug bis zu vier Prozent Sauerstoff und verwandelte ihn in Kohlen­dioxyd, das die exakt funktionierenden Regeneratoren stö­rungsfrei eliminierten. Der Druck unter der Kuppel war ge­fallen, zwar nur minimal, um zwei bis drei Prozent etwa, aber doch genug, um einen Druck auf die Tür von einigen hundert Kilogramm zu erzeugen.

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Schnell begann Lebedinski, den Druck in der Schleuse a b ­zugleichen. Die Tür öffnete sich. Nach anderthalb Minuten stelzte der Kundschafter-Roboter im Licht der Scheinwerfer durch die Aufjentür. Links, hundert Meter von der Kuppel ent­fernt, begann der Weg zur Station. Der Roboter aber schwenkte nach rechts. Dorthin, wo seine Kumpane emsig hin und her rannten.

Das ist das Ende. Sollen all die Qualen vergebens gewesen sein? dachte Lebedinski. Absolute Gleichgültigkeit bemächtigte sich seiner. Aber dennoch erstattete er dem Chef der Station ordnungsgemäß Meldung.

„Kehren Sie sofort in die Kuppel zurück", befahl Smolny. „In der Apotheke ist ein Schlaf mittel. Nehmen Sie drei Tablet­ten. Verringern Sie die Sauerstoffzufuhr, legen Sie sich hin und warten Sie auf das Geländefahrzeug."

„Das ist sinnlos", sagte Lebedinski resigniert. „Außerdem will ich nicht im Schlaf sterben."

„Führen Sie den Befehl aus", wurde er von Smolny unter­brochen. „Verlieren Sie keine . . ."

Mitten im Satz hielt der Professor inne. Lebedinski vernahm plötzlich gedämpftes Stimmengewirr. Dann ertönte in seinem Helm eine unendlich ferne, unbekannte Stimme:

„Fjodor Iljitsch! Hier spricht Fedossejew. Berichten Sie bitte sofort, was die Roboter bauen. Hören Sie mich? Antworten Sie!"

Fedossejew war schwer zu verstehen. Anscheinend hatte der Nachrichtensatellit den Bereich der Funksicht wieder verlassen.

„Ich habe Sie verstanden", sagte Lebedinski akzentuiert. „Doch was sie bauen, läßt sich schwer beschreiben. Hohe Trä­ger, auf denen Neigungsgitter befestigt sind. Das Ganze er­innert an ein Radioteleskop."

„Und was für ein Programm hat das ,Nilpferd'?" fragte Fe­dossejew erregt. Seine Stimme, die über mehrere Fernsprech­vermittlungen und Relaisstationen aus der kleinen Siedlung bei Moskau kam, war kaum noch zu hören.

„Das Programm habe ich vor der Sonneneruption rausgenom-

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men", sagte Lebedinski. Blitzartig schoft ihm ein Gedanke durch den Kopf.

„Programmieren Sie sofort, hören Sie mich?" . . . Fedossejews Stimme wurde noch undeutlicher. „Programmieren Sie . . ."

Die Stimme verschwand. Aber Lebedinski wußte, was er zu tun hatte. Er drehte sich um und hastete zur Schleuse.

Eisige Kälte brachte Mironow wieder zu sich. Er hing in den Anschnallgurten. In der Kabine herrschte absolute Dunkelheit. Mironow tastete den Verschluß ab und drückte auf einen Knopf. Die Gurte hakten aus, und er fiel, Halt suchend, auf den ab­schüssigen Boden.

Er kniete sich hin, schaltete die Kopflampe ein, aber anstelle hellen Lichts nahm er nur ein verschwommenes Flimmern wahr.

Bin ich etwa blind? dachte er entsetzt und griff an seinen Helm.

Silbergrauer, von vereinzelten Funken erhellter Nebel schwamm ihm vor den Augen. Mironow versuchte den Helm zu öffnen, aber das Helmgitter gab nicht nach. Plötzlich merkte er, was los war, und bekam einen Schreck.

Die Helmscheibe war innen mit einer dicken Reifschicht be­deckt. Offensichtlich hatte die hermetische Isolierung der Fahr­zeugkabine einen Defekt, denn jetzt herrschte hier kosmische Kälte. Fieberhaft betätigte Mironow die Taste für die Behei­zung der Helmscheibe. Nach wenigen Minuten rann ihm eisiges Wasser den Hals hinab. Die Scheibe wurde wieder klar.

Kraftlos mit den Armen baumelnd, hing Tscherednitschenko in den Gurten des Fahrersitzes. Im Schein der Lampe glitzer­ten Splitter von Instrumenten, blinkte die Pfütze einer erstarr­ten Flüssigkeit.

Mironow fühlte, daß er am Ende war. Sein Gehirn arbeitete mechanisch weiter. Er berechnete die kläglichen Sauerstoff­reste, überschlug in Gedanken die Kilometer durch das unpas­sierbare Gebirge und erwog die allerletzten Chancen. Er wußte nur zu gut, daß das alles zu nichts führen konnte. Einzig und allein das anerzogene Gefühl für Disziplin ließ ihn weiter nach

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sinnlosen Varianten für ihre Rettung suchen. Dumpfe Gleich­gültigkeit erfaßte ihn. Dennoch ging er zu seinem Kameraden und löste dessen Gurte. Tscherednitschenko stöhnte auf.

Das war Musik in Mironows Ohren. Er drehte das Ventil an Tscherednitschenkos Sauerstoffflasche ganz auf und drückte auf den blauen Knopf an dessen Gürteltastatur. Unter Tsche­rednitschenkos Helm zersprang eine kleine Ampulle. Ein be­lebendes Gas-Tonikum drang in Tscherednitschenkos Lungen. Nach wenigen Sekunden erhob er sich taumelnd.

Noch nie im Leben hatte Tscherednitschenko einen Auftrag nicht erfüllt. Kaum war seine Helmscheibe abgetaut, blickte er auf die Uhr am Ärmel seines Skaphanders. Lebedinski mußte schon lange unterwegs sein.

Tscherednitschenko sprang zum Schaltpult und betätigte den Beschleunigungshebel. Das mechanische Herz des Fahrzeugs, erzitterte, sein nach unten gesunkener Bug hob sich ein wenig. Das war alles.

Die Freude beim Anrucken des Fahrzeugs und die Enttäu­schung, daß es dabei blieb, waren der letzte Schlag für Miro­nows bis zum Zerreißen gespannte Nerven. Die Vorstellung, 400 000 Kilometer vom Heimatplaneten entfernt in dieser Steinwüste begraben zu sein, lahmte ihn vollends. Er dachte nicht mehr an Lebedinski, dessen Minuten gezählt waren, und auch nicht an seinen Gefährten. Ein einziger Gedanke hämmerte in seinem Kopf: Hätten wir die Straße nicht verlassen, wären wir jetzt nicht in dieser fatalen Lage.

Sein starrer Blick war auf Tscherednitschenko gerichtet, der ihm etwas zurief. Mironow verstand kein Wort.

Tscherdnitschenko nahm einen kleinen Havarieballon aus der Wandhalterung und befestigte ihn am Raumanzug. Die großen Rückenballons ohne fremde Hilfe auszuwechseln war schwer, doch das Havarieventil an der linken Schulter ließ im Notfall zu, beliebige Ballons am Skaphander zu befestigen.

„Fangen Sie in einer Stunde an, Signalraketen abzufeuern", sagte er zu Mironow. „Alle fünf Minuten eine Rakete. Achten Sie auch auf die Satelliten."

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Etwas unsicher ging er über den geneigten Boden der Fahrer­kabine und öffnete ein Wandschränkchen. Aufmerksam ver­folgte Mironow jede seiner Bewegungen, ohne jedoch zu be­greifen, was der andere vorhatte. Tscherednitschenko nahm einen Raketengurt heraus.

Das 20. Jahrhundert kannte viele neue technische Sportarten, die schnell wie die Menschheit selbst waren. Gewöhnliche Auto-und Motorradrennen, Fallschirm- und Segelflugsport waren von Wasserski- und Unterwasserbootwettkämpfen, von Flügen mit Luftschlangen und Rennen auf Raketen-Skiern abgelöst worden. Seit der Entwicklung der Kosmonautik hatten sich Tausende begeistert dem Raketengurt-Flugsport verschrieben.

Tscherednitschenko gehörte zu den ersten Landesmeistern in dieser neuen Sportart. Sprünge von einem halben Kilometer waren für ihn eine Kleinigkeit. Seinen letzten Rekord hielt er bereits über drei Jahre.

Alle Kosmonauten beherrschten die Kunst, mit dem Raketen­gurt zu fliegen. Wegen der schwer einzuschätzenden Entfernung und der möglichen schlimmen Folgen wurden die Gurte auf dem Mond nicht verwendet. Tscherednitschenko hatte, weil sich kein Partner fand, immer allein trainiert. Nie trennte er sich von seinem Raketengurt. Die geringere Anziehungskraft des Mondes - auf der Erde betrug sie das Sechsfache - er­laubte ihm Sprünge, von denen er auf der Erde nicht zu träumen gewagt hätte. Mit geübtem Handgriff schloß Tscheredni­tschenko die Gurtschlösser. Und erst da begriff Mironow, daß er allein bleiben sollte in dem beschädigten Fahrzeug inmitten unwegsamer Felsen und daß vor ihm die 300 Stunden währende eisige Mondnacht lag.

Was wird aus mir? dachte er in panischer Furcht. Er machte einen Schritt auf Tscherednitschenko zu, um ihn zurückzuhal­ten. Auf der Eiskruste rutschte er aus und fiel, lächerlich mit den Armen rudernd, auf den Rücken. Tscherednitschenko beugte sich über ihn und bemerkte hinter Mironows Helm­scheibe angstvoll aufgerissene Augen. Hätte er Zeit gehabt, dieser Blick hätte ihn nachdenklich gemacht. Aber der uner-

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bittliche Zeiger zählte nicht mehr die Minuten, sondern die Se­kunden, die Lebedinski verblieben waren. Das war jetzt wich­tiger als alles andere.

Tscherednitschenko reichte Mironow die Hand und half ihm beim Aufstehen.

„Ich fliege Lebedinski entgegen", sagte er. „In einer Stunde, wenn Schröders ,Grashüpfer' hier eintrifft, gehen Sie mit dem Signalwerfer hinaus. Vergessen Sie nicht, die Peilwinkel an­zugeben. Die ,Potomac' ist nicht mehr weit, sie hilft uns bei der Suche nach Ihnen. Sauerstoff haben Sie genug." Er wandte sich zur Ausstiegsluke.

Über dem beschädigten „Grashüpfer" schienen, ohne zu flackern, gleichgültig die Sterne. Tiefschwarze Nacht ringsum. Tscherednitschenko suchte den Himmel nach dem Deneb ab. Da war er. Leuchtete, als wäre nichts geschehen . . .

Für Sekunden wurde Tscherednitschenko von Grauen ge­packt. Er war sich der Gefahren eines solchen Nachtflugs be-wußt. Sobald man sich vom Boden abgehoben hatte, verlor man jedes Gefühl für Höhe und Tiefe. Man wufjte nicht, wohin man flog, ob hinauf zu den Sternen oder auf gratige Felsen hinab. Unwillkürlich malte er sich aus, wie er auf einem Berg aufschlagen würde. Das schnürte ihm die Kehle zu.

Langsam legte er die Hände auf den Steuerhebel des Raketen­gurts . . .

Dieser Flug war zweifellos Tscherednitschenkos beste Lei­stung. Aber in keinem Kampfrichterprotokoll wurde sie fest­gehalten. Für sie gab es weder Urkunde noch Auszeichnung. Dennoch waren sich alle Fachleute einig, daß Tscheredni­tschenko einen unvorstellbaren Rekord aufgestellt hatte, der in Dutzenden von Jahren nicht zu brechen war.

Tscherednitschenko versicherte später, der Flug sei gar nicht so schwierig gewesen. Wer sollte das nachprüfen? Niemand hatte den Mut, Tscherednitschenkos Husarenstück zu wieder­holen.

Der Flug im Raketengurt hatte nicht lange gedauert. Nach drei Minuten hatte Tscherednitschenko unter sich die doppelten

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Markierungslichter erblickt. Schwebend setzte er auf der Straße auf. Dann hastete er mit Riesensprüngen weiter, bis der Treib­stoff im Raketengurt verbraucht war. Nach zehn Minuten er­blickte er im Lichtschein seiner Lampe eine häßliche Metall­spinne, die in ihren Vorderklauen einen Mann im Skaphander trug.

Er eilte Lebedinski mitten auf der Straße entgegen, wobei er hastig den Havarieballon löste . . .

Nach einer guten Stunde leuchteten die Scheinwerfer des zweiten Geländefahrzeugs auf, und bald darauf meldete Schrö­der, dem es gelungen war, mit der „Potomac" Funkverbindung aufzunehmen, Foster habe Mironows Peilwinkel empfangen.

Fünf Tage später, nachdem die „Rubin" neue Triebwerke be­kommen hatte,landete Fedossejew auf dem Mond.

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Im Krater der Basis, von Scheinwerfern angestrahlt, schal­teten und walteten die Roboter. Ihr Bauwerk war bereits ab­getragen, und die gefällten Mäste und Antennen standen wie­der an Ort und Stelle. Nur ein Haufen zersägter Balken, der neben der Basiskuppel lag, erinnerte an die turbulenten Ereig­nisse der letzten Stunden.

Nachdem Fedossejews Assistenten ihre Instrumente aufge­stellt und funktionsbereit gemacht hatten, wurden die Roboter angehalten. Die langwierige Untersuchung des „Nilpferds" be­gann.

Nach 48 Stunden verkündete Fedossejew endlich ihren Ab­schlug. Im Krater wimmelte es wieder von Robotern. Fedos­sejew lehnte es ab, zur Station zu fliegen, so verlockend der Gedanke an eine Ruhepause auch war. Er vertrug die geringere Schwerkraft des Mondes nicht und zog es vor, so schnell wie möglich in seine gewohnte Erdumgebung zurückzukehren.

Smolny und Lebedinski begleiteten den Gast. Natürlich galt ihre erste Frage der Ursache für das Verhalten der Roboter.

„Das Paradoxe an der Geschichte ist, daß die Erscheinung, mit der wir es hier zu tun haben, schon über zwanzig Jahre be­kannt ist", erklärte Fedossejew. „Bei Untersuchungen des menschlichen Gehirns ist man darauf gestoßen. Daß sie auch bei Robotern auftreten kann, hat uns allerdings überrascht.

Sie erinnern sich vielleicht, wieviel Diskussionen es in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren um den Mechanismus des Ge­dächtnisses gegeben hat. Das Problem schien nicht sonderlich kompliziert zu sein, seine Lösung wurde jeden Tag erwartet. Allein bis heute ist es nicht restlos gelungen, das Geheimnis zu lüften. Deshalb mußten bei der Entwicklung von Rechenauto­maten und später auch beim Bau von Robotern Gedächtnis­speicher konstruiert werden, die nichts mit dem menschlichen Gehirn gemein hatten und auf ganz anderen Prinzipien be­ruhten.

Unsere ersten Roboter waren wegen des begrenzten Um-fangs gespeicherter Informationen primitiv. Die Entwicklung des Kristallgehirns erlaubte uns schließlich, den Automaten bei

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gleichem Gewicht und Ausmaß der Speicherwerke hundertmal mehr Informationen einzugeben. Dennoch unterschieden sich die Automaten mit Kristallgehirn im Grunde nicht von den ersten mit Röhren bestückten Rechnern der vierziger Jahre. Sie wissen sicherlich, daß beispielsweise die Mondroboter nur ganz einfache Operationen selbständig durchführen können. Um sie komplex einsatzfähig zu machen, bedurfte es eines zentralen Kristallgehirns, des ,Nilpferds,' dessen Volumen vier Kubik­meter übersteigt.

Im übrigen haben die Wissenschaftler herausgefunden, daß das menschliche Gehirn über gigantische, uns noch unbekannte Gedankenspeicher verfügt. Jasper und Penfield haben seiner­zeit in der Gehirnrinde Bereiche entdeckt, in denen unter Strom­einwirkung ganz unwahrscheinliche Erscheinungen auftraten. Menschen erlangten die Fähigkeit, sich an Dinge zu erinnern, die sie längst vergessen hatten. Während einer Testseance de­klamierte eine Frau plötzlich seitenlang griechische Verse, ob­wohl sie die Sprache gar nicht kannte. Wie sich bei einer Über­prüfung dann ergab, hatte sie die Verse als Kind von ihrem Bruder, einem Gymnasiasten, gehört. Menschen ohne musika­lisches Gehör, die noch nie ein Instrument in der Hand gehabt hatten, konnten vor Jahren gehörte Melodien richtig wieder­geben. Bis heute ist das Wesen dieser Erscheinung noch nicht erforscht. Wie seltsam das auch klingen mag, es ist nicht einmal geklärt, auf welche Art die Informationsspeicherung vor sich geht, auf biologischer, chemischer oder physikalischer Grund­lage.

Allerdings hätten wir nie vermutet, daß nicht nur das mensch­liche, sondern auch das künstliche Gehirn eine derartige Fähig­keit zur Gedankenspeicherung besitzt. Wir waren der Ansicht, mit der Konstruktion des Kristallgehirns die Bereiche und den Umfang der Informationsspeicherung festgelegt zu haben. Das heißt, nur nach Eingabe eines neuen Programms sollten die ge­speicherten Informationen abgerufen und entsprechende Im­pulse ausgelöst werden, um die Maschine programmgemäß in Aktion zu setzen. Sobald das Programm gelöscht war, sollte

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sich das Kristallgehirn aus einem aktiv wirkenden Zentrum wieder in einen passiven Speicher verschiedener, voneinander isolierter Nachrichtenelemente verwandeln.

Bei der verhältnismäßig kleinen Gehirnmasse der Arbeits­roboter war das auch so. Im großen Kristallgehirn entstanden jedoch uns bekannte Verbindungen, so daß es die Fähigkeit errang, alle irgendwann einmal ausgeführten Programme zu speichern. Die Aufzeichnungen waren sehr schwach. Unsere Instrumente registrierten sie nur, weil wir wußten, was wir suchten. Unter normalen Bedingungen können sich diese .zu­sätzlich' gespeicherten Informationen nicht auf die Funktion der Automaten auswirken. Dennoch muß man zugeben, daß die Speicherkapazität des Kristallgehirns nicht unseren Berech­nungen entspricht, sondern in Wirklichkeit um ein Mehrfaches größer ist.

Hätte Lebedinski nicht vor der Sonneneruption das Programm herausgenommen, wären wir nie auf diese unerwarteten Vor­gänge im Kristallgehirn gestoßen. Die durch ein Programm aus den Gedächtnisspeichern abgerufenen Signale sind so stark, daß sie die schwachen Signale von den .zusätzlichen' Informationen vollständig überdecken. Da das Programm aber herausgenom­men war, löste der starke Radiationsstrom der Sonneneruption die gleiche Wirkung auf das Kristallgehirn aus wie der elek­trische Strom bei den Versuchen von Jasper und Penfield auf das Gehirn ihrer Patienten. Die alten Programmaufzeichnungen übernahmen die Funktion echter Programme. Und nur die Ein­führung des wirklichen Programms beendete im konkreten Falle das Chaos.

Jetzt erscheint alles klar und einleuchtend, doch als ich von der Meuterei erfuhr, ahnte ich noch nicht, daß der Grund da­für das fehlende Programm sein könnte. Zuerst hielt ich das Ganze für eine gewöhnliche Panne. Erst als Lebedinski mel­dete, die Roboter seien dabei, ein Radioteleskop zu errichten, kam ich darauf.

Es gibt ein Projekt, eine Reihe von Untersuchungen auf der Venus nur mit Robotern durchzuführen. So sollen mögliche

fil

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Opfer eines Angriffs von Flugechsen vermieden werden. Um von den Robotern durch die dichte Ionosphäre der Venus In­formationen erhalten und ihre Tätigkeit kontrollieren zu kön­nen, ist die Errichtung von neuartigen Venus-Observatorien vorgesehen, die die Verbindung zur Erde und den Satelliten er­möglichen. Kurz vor dem Abtransport der Roboter auf den Mond wurden in der Wüste Gobi entsprechende Versuche ge­macht. Irgend so ein Neunmalkluger ließ die Roboter dort Baumaterial beschaffen. In der Überzeugung, daß auf der Venus keine Menschen existieren, blockierte er kurzerhand die Sicherungsketten zum Schutze der Menschen. Ich habe erst da­von erfahren, als es zu spat war. Bei meiner Ankunft hatten die Roboter schon eine geologische Expedition in die Flucht geschlagen und einen Bohrturm demontiert. Viel hätte nicht ge­fehlt, und die Geologen hätten mich wegen dieser Sache aus­einandergenommen.

Aber alles hat eben zwei Seiten. Diese Geschichte wird uns die Möglichkeit geben, die Speicherkapazität des Kristall­gehirns vorerst um das Hundertfache zu erhöhen, und das bei unverändertem Lichlraumprofil. Sollten sich meine Vermutun­gen als richtig erweisen, so kann Ihr gewichtiges .Nilpferd' bald von einem winzigen .Mäuschen' abgelöst werden. Rechenauto­maten werden sich in der Tasche unterbringen lassen. Jeder Stu­dent kann eine ganze Bibliothek mit ins Examen nehmen. In drei, vier Jahren, denke ich, haben wir das Problem gelöst. Übrigens wollte ich Sie noch konsultieren. Was halten Sie da­von, wenn wir die hier entdeckte Erscheinung ,Lebedinski-Ef-fekt' nennen?"

Fedossejews Abflug war zur Mondmitternacht anberaumt worden. Eine Stunde vor dem Start der „Rubin" traf „Gras­hüpfer-3" auf der Basis ein, und Fedossejew lernte endlich Ste-pan Tscherednitschenko kennen.

„Mironow konnte leider nicht mitkommen", erklärte Profes­sor Smolny dem Gast. „Unser Arzt meint, seine Blutergüsse und Schrammen müßten im Krankenhaus behandelt werden.

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Er erlaubt Mironow nicht, die Station zu verlassen. Dafür ist Tscherednitschenko gesund und munter . . . "

Es ging auf Mitternacht zu. Für Fedossejew wurde es Zeit, abzufliegen. Neben der startbereiten „Rubin" verabschiedete er sich von den „Männern im Mond". Achtundvierzig Stunden im Skaphander mit nur kurzen Ruhepausen in der engen Kuppel hatten ihn sehr mitgenommen, und er wünschte sich nur eins: endlich einmal richtig auszuschlafen.

Er stieg zum Mondschiff empor und drehte sich an der Luke noch einmal um.

Unten standen die Männer in ihren Raumanzügen. Sie war­fen dichte schwarze Schatten bis unter die Rakete. Im Schein­werferlicht tummelten sich die Roboter und beseitigten die letz­ten Spuren ihrer Zerstörungswut.

Fedossejew winkte und trat in die Schleuse. Die Einstiegs­vorrichtung glitt langsam in den Flugkörper.

Auf einer geräuschlosen, himbeerroten Flammensäule stieg die „Rubin" zum Zenit empor und verschwand, verlor sich zwi­schen den Sternen.

Der Professor sah ihr nach und wandte sich dann an Tsche­rednitschenko : „Auf dem Rückflug werden zwei Geologen mit­kommen. Im Morgengrauen steht Ihnen die Erkundung der Plinia bevor."

Tscherednitschenko nickte bedächtig. Er ahnte nicht, daß er von dieser Erkundung nicht zurückkehren würde.

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