+ All Categories
Home > Documents > Kants Antwort auf Hume und eine linguistische Analyse seiner Modalbegriffe

Kants Antwort auf Hume und eine linguistische Analyse seiner Modalbegriffe

Date post: 18-Dec-2016
Category:
Upload: andreas
View: 216 times
Download: 0 times
Share this document with a friend
25
Kants Antwort auf Hume und eine linguistische Analyse seiner Modalbegriffe von Andreas Kamlah, Universität Osnabrück Abstract: The concept of necessity plays a central role in Kant’s philosophy, but seems to lead to severe paradoxes. On the one hand he states: ‘Notwendigkeit und strenge Allgemeinheit sind sichere Kennzeichen einer Erkenntnis a priori’. On the other hand he talks also about ‘notwen- dig (d. i. nach einer Regel)’, which means ‘necessary according to the empirical natural laws’. However, he never states explicitly the distinction between these two different concepts of necessity. Either Kant’s philosophy is inconsistent or we have to assume that he indeed inter- changes two different concepts, even if he does not tell us that there is a difference between syn- thetic apriori necessity and natural necessity. This paper defends the hypothesis of two differ- ent necessities and then shows how this strategy makes possible a rational reconstruction of Kant’s epistemology. Key words: Kantian a priori necessity, Kantian a posteriori necessity, natural necessity by Kant. 1. Vorbemerkung Die folgende Untersuchung ist aus dem schlichten Bedürfnis entstanden, Kant zu verstehen. Ich hatte dabei ursprünglich nicht den Ehrgeiz, zur Kantforschung etwas beizutragen, sondern nur, zu erfahren, wie Kant glaubte, Humes Problem, dass wir die Notwendigkeit der Wirkung einer Ursache nicht zeigen können, gelöst zu haben, und worin er die spezifische Leistung der apriorischen Prinzipien für die empirische Erkenntnis erblickte. Teil der Lösung ist das Kausalprinzip. Danach ergibt sich aus Ursachen notwendig die Wirkung. Dazu müssen aber die Naturgesetze notwendig sein. „Notwendigkeit und strenge Allgemeinheit sind also sichere Kennzeichen einer Erkenntnis a priori“ (KrV, B 4). Sind dann also alle Naturgesetze a priori gültig? Das wäre nahezu absurd. Tatsächlich gibt es nach Kant auch empirische Gesetze. Wie reimt sich das zusammen? Dabei stellt sich bald heraus, dass bereits diese schlichte von mir gestellte Frage von verschiedenen Kantinterpreten verschieden beantwortet wird. Ich selbst sah mich außerstande, einen Sinn in Kants transzendentaler Analytik zu erblicken, wenn ich nicht annahm, dass er das Wort ‚notwendig‘ wie jeder Sprecher der Umgangs- sprache in zwei völlig verschiedenen Weisen gebraucht, die ich als ‚denknotwendig‘ oder auch ‚epistemisch notwendig‘ (a priori gültig) und ‚naturnotwendig‘ oder auch ‚ontisch notwendig‘ (auf Grund von empirischen Naturgesetzen gültig) bezeichne. In der mir zugänglichen Literatur fand ich für mein Problem keine Hilfe. Überall war nur von Notwendigkeitsbegriffen bei Kant die Rede, bei denen ‚notwendig‘ mindes- Kant-Studien 100. Jahrg., S. 28–52 DOI 10.1515/KANT.2009.002 © Walter de Gruyter 2009 ISSN 0022-8877 Brought to you by | University of North Carolina Authenticated | 152.15.236.17 Download Date | 9/18/13 3:10 PM
Transcript
Page 1: Kants Antwort auf Hume und eine linguistische Analyse seiner Modalbegriffe

28 Andreas Kamlah

Kants Antwort auf Humeund eine linguistische Analyse seiner Modalbegriffe

von Andreas Kamlah, Universität Osnabrück

Abstract: The concept of necessity plays a central role in Kant’s philosophy, but seems to leadto severe paradoxes. On the one hand he states: ‘Notwendigkeit und strenge Allgemeinheit sindsichere Kennzeichen einer Erkenntnis a priori’. On the other hand he talks also about ‘notwen-dig (d. i. nach einer Regel)’, which means ‘necessary according to the empirical natural laws’.However, he never states explicitly the distinction between these two different concepts ofnecessity. Either Kant’s philosophy is inconsistent or we have to assume that he indeed inter-changes two different concepts, even if he does not tell us that there is a difference between syn-thetic apriori necessity and natural necessity. This paper defends the hypothesis of two differ-ent necessities and then shows how this strategy makes possible a rational reconstruction ofKant’s epistemology.

Key words: Kantian a priori necessity, Kantian a posteriori necessity, natural necessity by Kant.

1. Vorbemerkung

Die folgende Untersuchung ist aus dem schlichten Bedürfnis entstanden, Kant zuverstehen. Ich hatte dabei ursprünglich nicht den Ehrgeiz, zur Kantforschung etwasbeizutragen, sondern nur, zu erfahren, wie Kant glaubte, Humes Problem, dass wirdie Notwendigkeit der Wirkung einer Ursache nicht zeigen können, gelöst zu haben,und worin er die spezifische Leistung der apriorischen Prinzipien für die empirischeErkenntnis erblickte.

Teil der Lösung ist das Kausalprinzip. Danach ergibt sich aus Ursachen notwendigdie Wirkung. Dazu müssen aber die Naturgesetze notwendig sein. „Notwendigkeitund strenge Allgemeinheit sind also sichere Kennzeichen einer Erkenntnis a priori“(KrV, B 4). Sind dann also alle Naturgesetze a priori gültig? Das wäre nahezu absurd.Tatsächlich gibt es nach Kant auch empirische Gesetze. Wie reimt sich das zusammen?

Dabei stellt sich bald heraus, dass bereits diese schlichte von mir gestellte Fragevon verschiedenen Kantinterpreten verschieden beantwortet wird. Ich selbst sahmich außerstande, einen Sinn in Kants transzendentaler Analytik zu erblicken, wennich nicht annahm, dass er das Wort ‚notwendig‘ wie jeder Sprecher der Umgangs-sprache in zwei völlig verschiedenen Weisen gebraucht, die ich als ‚denknotwendig‘oder auch ‚epistemisch notwendig‘ (a priori gültig) und ‚naturnotwendig‘ oder auch‚ontisch notwendig‘ (auf Grund von empirischen Naturgesetzen gültig) bezeichne. Inder mir zugänglichen Literatur fand ich für mein Problem keine Hilfe. Überall warnur von Notwendigkeitsbegriffen bei Kant die Rede, bei denen ‚notwendig‘ mindes-

Kant-Studien 100. Jahrg., S. 28–52 DOI 10.1515/KANT.2009.002© Walter de Gruyter 2009ISSN 0022-8877

Brought to you by | University of North CarolinaAuthenticated | 152.15.236.17

Download Date | 9/18/13 3:10 PM

Page 2: Kants Antwort auf Hume und eine linguistische Analyse seiner Modalbegriffe

Kants Antwort auf Hume und eine linguistische Analyse seiner Modalbegriffe 29

tens ‚a priori gültig‘ bedeutete. Markku Leppäkoski traf in seinem Vortrag auf demBerliner Kantkongress jedoch die gleiche Unterscheidung wie ich. Er sprach in ers-ten Falle von ‚de dicto notwendig‘ und im zweiten Falle von ‚de re notwendig‘.1 Dasermutigte mich, meine Überlegungen zu publizieren. Ich stand ja mit meiner Inter-pretation nicht mehr völlig allein da.

Der Text wurde ursprünglich zum Gebrauch in Lehrveranstaltungen verfasst.Daher verwendet er außer allgemein bekannten Schriften Kants fast keine weiterenQuellen. Es kommt mir hier vor allem darauf an, einsichtig zu machen, wieso Kantzwei verschiedene Notwendigkeitsbegriffe verwenden konnte, ohne das zum Themaseiner Reflexion zu machen, und dass das legitime und normale menschliche Praxisdes Umgangs mit Sprache ist.

Dabei fühle ich mich dem Ideal verpflichtet, dass bei einer Interpretation dieGedanken Kants in die heute geläufige Sprache der Wissenschaftstheorie übersetztwerden. Für viele Kantinterpreten wird das eine Verstoß gegen wichtige Grundsätzeder Hermeneutik sein. Sie wollen Kant nur in seiner eigenen Sprache interpretieren.Wenn er für zwei Arten von Notwendigkeit nur ein Wort benutzt, darf man dannnicht in der Interpretation zwei Wörter dafür verwenden, das wäre dann unkan-tisch. Ich kann darauf nur antworten, dass ich und möglicherweise auch manchemeiner Leser Kant nur verstehen können, wenn wir seine Gedanken in unserer Spra-che wiedergeben, und die ist die der heutigen Wissenschaftstheorie. Ob ich diesemIdeal auch gerecht werden kann, sei dahingestellt.

2. Kants „Lösung“ des Humeschen Problems

Kants Kritik der reinen Vernunft hat zwei Ziele. Kant will einerseits die Grenzender reinen Vernunft aufzeigen. In dieser Hinsicht ist sein Anliegen dem der analyti-schen Philosophie mit ihrer Metaphysikkritik vergleichbar. Andererseits will er auchdie Reichweite der reinen Vernunft aufweisen, und, indem er das tut, den Miss-brauch der reinen Vernunft durch eine Grenzüberschreitung erklären. Das sagt ersehr schön in der Vorrede zur Ausgabe B der Kritik der reinen Vernunft. Es ist sehrnützlich, diese Vorrede zu lesen, nachdem man sich längere Zeit mit dem Text des soschwierigen Buches herumgeschlagen hat. Man sieht dann umso deutlicher, wieKant in der Vorrede das sagt, was für das ganze Buch wirklich wichtig ist. Allerdings

1 Leppäkoski verwendet die Termini „de re“ und „de dicto“ nicht im in der Modallogik üb-lichen Sinne. (Leppäkoski, Markku: „The Transcendental Must: Kant’s Various Notions ofNecessity“. In: Kant und die Berliner Aufklärung. Akten des IX. Internationalen Kant-Kon-gresses, Band II. Hrsg. von Volker Gerhardt, Rolf-Peter Horstmann und Ralph Schumacher.Berlin 2001). Auch P. Krausser weist darauf hin, dass es für Kant neben der apriorischeneine empirisch reale Möglichkeit und Notwendigkeit gibt. Ich sehe jedoch nicht, dass er da-mit dasselbe meint wie ich. In der Tabelle auf S. 134 ist die empirisch reale Möglichkeit Kon-struierbarkeit nach synthetisch apriorischen Grundsätzen (Krausser, Peter: Kants Theorieder Erfahrung und Erfahrungswissenschaft. Frankfurt/M. 1981, 130ff.).

Brought to you by | University of North CarolinaAuthenticated | 152.15.236.17

Download Date | 9/18/13 3:10 PM

Page 3: Kants Antwort auf Hume und eine linguistische Analyse seiner Modalbegriffe

30 Andreas Kamlah

macht er auch einige recht vollmundige Versprechungen in der Vorrede; der Stil isthier selbstbewusst und pathetisch, und es ist sehr die Frage, wie weit er später in derLage sein wird, die Versprechungen dieser Vorrede einzuhalten. Berühmt ist dieStelle, in der Kant dem Verstand seine Rolle zuweist. Er hilft uns dabei, anstelle einerwirren Anhäufung von „Wahrnehmungen“ zu einer systematisch geordneten und ob-jektiven „Erfahrung“ zu gelangen. Kant vergleicht den Verstand mit einem Richter:

Die Vernunft muß mit ihren Principien, nach denen allein übereinkommende Erscheinungen fürGesetze gelten können, in einer Hand und mit dem Experiment, das sie nach jenen ausdachte, inder anderen, an die Natur gehen, zwar um von ihr belehrt zu werden, aber nicht in der Qualitäteines Schülers, der sich alles vorsagen läßt, was der Lehrer will, sondern eines bestallten Rich-ters, der die Zeugen nöthigt auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt. (KrV, B XIII)

Das ist zunächst nur ein Bild, und man möchte genau wissen, wie Kant sich dasvorstellt. Was macht eigentlich der Richter mit seinem Gesetz? Wie weit legt diesesGesetz bereits die Antworten fest, die der Zeuge zu geben hat? Wie weit strukturiertes diese Antworten vor? Das ist natürlich für das Verständnis der Kritik der reinenVernunft eine ungeheuer wichtige Frage, denn damit wird erst deutlich, ob Kant imersten konstruktiven Teil, der transzendentalen Analytik seine Aufgabe löst, die ersich in diesem Buch gestellt hatte.

Kant versucht, in der transzendentalen Analytik auch eine Antwort auf das „Hu-mesche Problem“ zu finden. Dieses Problem hat Kant bekanntlich sehr beunruhigtund war Anlass zu seiner berühmten „kopernikanischen Wende“:

Ich gestehe frei: die Erinnerung des David Hume war eben dasjenige, was mir vor vielen Jahrenzuerst den dogmatischen Schlummer unterbrach und meinen Untersuchungen im Felde der spe-culativen Philosophie eine ganz andre Richtung gab. (Prol, Vorrede, AA 04: 260.6)

Was ist nun dieses Problem? Wenn auf ein Ereignis eines Typs A immer eines vomTyp B zeitlich folgt, glauben wir, dass A die Ursache von B ist. Ich kann diese Ursa-che aber weder wahrnehmen noch mathematisch beweisen. Wir haben offenbar nurdie Angewohnheit, solche ursächlichen Verknüpfungen anzunehmen, ohne dass esdafür wirklich eine Rechtfertigung gibt.

Hume hat richtig bemerkt, sagt Kant, dass der Begriff der Ursache – jener sprichtstattdessen auch von „Kraft“ und „notwendige[r] Verknüpfung“ – nicht aus der Er-fahrung stammt, und in der Tat lässt sich Humes Argumentation mit gewissemRecht so lesen:

When we look about us towards external objects, and consider the operation of causes, we arenever able, in a single instance, to discover any power or necessary connexion; any quality,which binds the effect to the cause, and renders the one an infallible consequence of the other.We only find, that the one does actually, in fact, follow the other. The impulse of one billiard-ball is attended with motion in the second. This is the whole that appears to the outward sen-ses. The mind feels no sentiment or inward impression from this succession of objects: Conse-quently, there is not, in any single, particular instance of cause and effect, any thing which cansuggest the idea of power or necessary connexion.2

2 Hume, David: An Inquiry Concerning Human Understanding and Concerning the Princi-ples of Morals. Oxford 1902, 63.

Brought to you by | University of North CarolinaAuthenticated | 152.15.236.17

Download Date | 9/18/13 3:10 PM

Page 4: Kants Antwort auf Hume und eine linguistische Analyse seiner Modalbegriffe

Kants Antwort auf Hume und eine linguistische Analyse seiner Modalbegriffe 31

‚Kräfte‘, ,notwendige Verknüpfungen‘, d.h. Kausalzusammenhänge kann mansinnlich nicht wahrnehmen. Da aber nach Hume alle Begriffe letztlich auf die Wahr-nehmung zurückgeführt werden müssen, weiß er eigentlich nicht, wie er für dieseZusammenhänge einen Begriff finden könnte. Also, schließt Hume, ist der Ursa-chenbegriff nur das psychologische Produkt der Gewohnheit, das, was bisher immerpassiert ist, als notwendig anzusehen.

Eine zweite Möglichkeit ist ebenfalls auszuschließen: Die Kausalzusammenhängesind auch nicht von logischer Natur. Die Wirkung ist keine logische oder analytischeFolge der Ursache. Hume forderte – so stellt es Kant dar – die Vernunft auf, ihm„Rede und Antwort zu geben“:

[…] mit welchem Rechte sie sich denkt: daß etwas so beschaffen sein könne, daß, wenn es ge-setzt ist, dadurch auch etwas anderes nothwendig gesetzt werden müsse; denn das sagt derBegriff der Ursache. Er bewies unwidersprechlich: daß es der Vernunft gänzlich unmöglich sei,a priori und aus Begriffen eine solche Verbindung zu denken, denn diese enthält Nothwendig-keit; es ist aber gar nicht abzusehen, wie darum, weil Etwas ist, etwas anderes nothwendigerWeise auch sein müsse, und wie sich also der Begriff von einer solchen Verknüpfung a priorieinführen lasse. (Prol, Vorrede, AA 04: 257.24)

So gerät Hume in ein Dilemma.Es gibt jedoch, sagt Kant, noch eine dritte denkbare Lösung des Problems. Der

Ursachenbegriff gehört zum Werkzeugkasten meines Verstandes, mit dem wir aus-gerüstet sind und den wir nach bestimmten methodologischen Regeln dieses Ver-standes anwenden. Der Ursachenbegriff ist ein Stammbegriff des Verstandes, denman verwendet, wenn man ein objektive Aussage über ein Kausalverhältnis macht,etwa: „Sonne ist durch ihr Licht die Ursache der Wärme.“ (Prol, § 29, AA 04:312.16). Wir kommen sogleich auf dieses Beispiel zurück.

Nun ist es vielleicht eine wichtige Erkenntnis, dass wir über Bezeichnungenverfügen, die weder durch sogenannte ostensive Definitionen, durch Hinweis aufwahrnehmbare Dinge erlernt werden: ,Dies ist ein Kaninchen, jenes vielmehr ein Af-fenpinscher usw.‘, noch auch wie die Konjunktion und die Disjunktion durch Defi-nitionen mittels rein logischer Relationen gewonnen werden können. Heute weisenwir diesen Begriffen, die Kant „Kategorien“ nennt, die philosophischen Logiken alsihren Kontext zu, die Modallogik, induktive Logik, Logik der Konditionale usw.Das Problem, wie man zu einem legitimen Gebrauch von Bezeichnungen wie ,not-wendig‘, ,wahrscheinlich‘, ,wenn A der Fall wäre, wäre auch B der Fall‘ kommt, istheute ein Problem der Semantik. Kant hatte also die besondere Natur dieser Begriffegesehen, und das war zweifellos eine historische Leistung.

Damit scheint für ihn die Antwort zunächst einfach. Hume fragt nach der Her-kunft eines Begriffs, Kant zeigt, woher dieser Begriff stammt. Er liegt „im Gemüte“bereit, ist sozusagen im Gehirn fest verdrahtet.3 Kant rühmt sich nun der „voll-

3 Dieses Bild darf nicht zu wörtlich genommen werden. Kant verwahrt sich dagegen, dass dieKategorien zur biologischen Ausstattung des Homo sapiens gehören. Ihre Existenz mussa priori bewiesen werden, siehe KrV, B 168.

Brought to you by | University of North CarolinaAuthenticated | 152.15.236.17

Download Date | 9/18/13 3:10 PM

Page 5: Kants Antwort auf Hume und eine linguistische Analyse seiner Modalbegriffe

32 Andreas Kamlah

ständige[n …] Auflösung des Humeschen Problems“ (Prol, § 30, AA 04: 313.8),aber was er in den Prolegomena darüber sagt, wirft mehr Fragen auf, als es beant-wortet.

Für den Augenblick will ich Kants Theorie der Kategorien einmal nicht in Fragestellen. Ich will vielmehr fragen: Wieso glaubte Kant, durch den Nachweis der Her-kunft eines Begriffs Humes Problem lösen zu können? Er sagt:

Erfahrung wird allererst durch [den] Zusatz des Verstandesbegriffs (der Ursache) zur Wahrneh-mung erzeugt. (Prol, § 22, AA 04: 305, Fn.)

Hier soll also die Subsumtion unter den Kausalbegriff, dessen nichtempirischeExistenz dabei gar nicht in Zweifel gezogen werden soll, die Notwendigkeit einesKausalverhältnisses garantieren; so klingt das jedenfalls zunächst. Aber Kant weißnatürlich selbst, dass man mehr beweisen muss, um eine Kausalbeziehung als not-wendig zu erweisen.

Um das hier vorliegende Problem besser verstehen zu können, müssen wir unsklarmachen, dass Hume in der Untersuchung (Inquiry) zwei verschiedene Problemeformuliert. In Abschnitt VII fragt er nach der Herkunft des Begriffs der notwendi-gen Verknüpfung. In Abschnitt IV fragt er nach der Berechtigung, einen durchempirische Verallgemeinerung gewonnenen Allsatz als allgemeingültig ansehen zudürfen. Beide Probleme hängen natürlich eng miteinander zusammen. Nichtsdesto-weniger handelt es sich hier um signifikant verschiedene Fragestellungen.

Das heutige ,Humesche Problem‘, so wie es in der wissenschaftstheoretischenLiteratur (z.B. bei K. R. Popper und auch bei W. Stegmüller) auftaucht, ist dasInduktionsproblem aus Abschnitt IV.4 Hier geht es darum, wie man aus einigen ein-zelnen Beobachtungen auf einen allgemeinen Satz schließen kann. Kant befasst sichjedoch mit dem Humeschen Problem der Kausalität aus Abschnitt VII.

Die Verwechslung des Humeschen Problems der Kausalität mit seinem Induk-tionsproblem hat zu der irrigen Auffassung geführt, Kant habe mit dem Kausalprin-zip eine Art von Prinzip der Uniformität der Welt formulieren wollen, wonach über-all und immer die gleichen Naturgesetze gelten. So schreibt W. C. Salmon:

Kant attempted to deal with the problem of induction in just this way, by establishing a prin-ciple of uniformity of nature, in the form of the principle of universal causation, as a synthetic apriori truth.5

Kant indessen erwähnt Hume niemals im Zusammenhang mit einem Uniformi-tätsprinzip: ,In ähnlichen Situationen geschieht Ähnliches‘, sondern meist nur zu-sammen mit dem Kausalbegriff (KrV, B 5; B 127; B 788).

4 Popper, Karl Raimund: Logik der Forschung. Tübingen 1966, 3ff. Wolfgang Stegmüller in-terpretiert die Transzendentale Analytik als den Versuch, eine Alternative zum Induktions-verfahren zu finden. Seine an sich interessante Interpretation entfernt sich aber sehr weitvon Text der KrV und soll hier nicht zur Sprache kommen („Gedanken über eine möglicherationale Rekonstruktion von Kants Metaphysik der Erfahrung“, Ratio 9, 1967, 1ff.; 10,1968,1ff.).

5 Salmon, Wesley C.: The Foundations of Scientific Inference. Pittsburgh 1966, 41.

Brought to you by | University of North CarolinaAuthenticated | 152.15.236.17

Download Date | 9/18/13 3:10 PM

Page 6: Kants Antwort auf Hume und eine linguistische Analyse seiner Modalbegriffe

Kants Antwort auf Hume und eine linguistische Analyse seiner Modalbegriffe 33

Es gibt zwar auch Stellen, die sich als Uniformitätsprinzip deuten lassen, abernicht im Zusammenhang mit Hume:

Was Erfahrung unter gewissen Umständen mich lehrt, muß sie mich jederzeit und auch jeder-mann lehren. (Prol § 19, AA 04: 299.17)

Kant kann jedoch auf die Lösung des Humeschen Induktionsproblems nicht ein-fach verzichten. Es stellt sich für ihn notgedrungen so, wie es sich für jedermannstellt, der eine glaubwürdige Theorie der Erfahrung aufstellen will. Es reicht nicht,nur den Begriff der Notwendigkeit zu haben. Man muss auch nachweisen, dass dieNotwendigkeit besteht. Haben wir also bisher stets folgendes Gesetz bestätigt ge-funden:

Wenn ein Körper lange genug von der Sonne beschienen ist, so wird er warm. (Prol, § 29,AA 04: 312.10)

so reicht uns das nicht, wir wollen auch noch sagen können:

Die Sonne ist durch ihr Licht die Ursache der Wärme. (ibid.)

Kant ist sich darüber im Klaren, dass er dieses Problem lösen muss. Er muss zei-gen können, dass Kausalhypothesen, etwa „Licht erzeugt Wärme“, einer ausrei-chenden empirischen Bestätigung fähig sind und damit gültige Naturgesetze wer-den. Für eine Lösung verweist er in den Prolegomena den Leser auf den „Abschnittvon der transzendentalen Urteilskraft“, 137f. in der Kritik der reinen Vernunft unddort – es handelt sich um das Schematismuskapitel – blättert der Leser ratlos undfindet die versprochene Antwort eigentlich nicht.6 Doch darauf komme ich gleichzurück.

Wie also kommen wir zu Naturgesetzen? Bleiben wir zunächst bei den Prolego-mena. Dieses Werk hat den Vorteil, dass Kant hier seine Ideen übersichtlicher undkompakter darstellt als in der Kritik der reinen Vernunft. Der Leser verliert sichnicht so sehr in Details. Auf diese Weise treten auch die Angelpunkte in Kants Ge-dankengeflecht stärker in das Blickfeld des Lesers.

In den Prolegomena betont Kant immer wieder, dass der naturgesetzliche Zusam-menhang nicht aus der Wahrnehmung stammt, sondern aus dem „Verstand“, derdie „Wahrnehmungen“ irgendwie verarbeitet, um schließlich zu Urteilen zu kom-men, in denen sich „Erfahrung“ artikuliert.

Der Verstand schöpft seine Gesetze (a priori) nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieservor. (Prol, § 36, AA 04: 320.11)

[…] die reine[n] Verstandesbegriffe […] dienen gleichsam nur, Erscheinungen zu buchstabiren,um sie als Erfahrung lesen zu können (Prol, § 30, AA 04: 312.33).

6 Kant meint offenbar das gesamte zweite Buch der „transzendentalen Analytik“, die „Ana-lytik der Grundsätze“ (KrV, A 130–292), das auch den Namen „Transcendentale Doctrinder Urtheilskraft“ trägt, der aber nur im Titel der Einleitung und des ersten Hauptstücksauftritt. Hier ist Kant seine „Architektonik“ ein wenig aus den Fugen geraten.

Brought to you by | University of North CarolinaAuthenticated | 152.15.236.17

Download Date | 9/18/13 3:10 PM

Page 7: Kants Antwort auf Hume und eine linguistische Analyse seiner Modalbegriffe

34 Andreas Kamlah

Weil Kant sein Hauptgewicht auf diesen Punkt lenkt, tritt eine andere wichtigeFrage ganz in den Hintergrund, wie nämlich das Zusammenspiel zwischen Wahr-nehmungen und Verstand funktioniert.

An mehreren Stellen klingt es so, als reiche bereits die Einsicht aus, dass die Er-kenntnis

[…] ein Zusammengesetztes [ist,] aus dem […] was wir durch Eindrücke empfangen, und dem,was unser eigenes Erkenntnißvermögen […] aus sich selbst hergiebt […] (KrV, B 1).

Sehen wir, wie sich die Verbindung zwischen der Unmöglichkeit, in den Wahrneh-mungen eine Naturgesetzlichkeit zu finden und der Subsumtion der Erscheinungenunter die Verstandesbegriffe für Kant darstellt:

[W]enn die Sonne den Stein bescheint, so wird er warm. Dieses Urtheil ist ein bloßes Wahrneh-mungsurtheil, und enthält keine Nothwendigkeit, ich mag dieses noch so oft und andere auchnoch so oft wahrgenommen haben; die Wahrnehmungen finden sich nur gewöhnlich so ver-bunden. Sage ich aber: die Sonne erwärmt den Stein, so kommt über die Wahrnehmung nochder Verstandesbegriff der Ursache hinzu, der mit dem Begriff des Sonnenscheins den derWärme nothwendig verknüpft, und das synthetische Urtheil wird nothwendig allgemeingültig,folglich objectiv, und aus einer Wahrnehmung in Erfahrung verwandelt. (Prol, § 20, AA 04:301, Fn.)

Hier stutzt der Leser. Wie kann ein Begriff ein Urteil notwendig machen und washeißt ,notwendig‘? Will Kant etwa behaupten, der ursächliche Zusammenhang zwi-schen Sonnenschein und Wärme lasse sich als notwendig einsehen und wäre damitsynthetisch a priori? Denn:

Findet sich also ein Satz, der zugleich mit seiner Nothwendigkeit gedacht wird, so ist er ein Ur-theil a priori. (KrV, B 3)

Andererseits sagt er doch ausdrücklich, die Kategorien machten aus einem empi-rischen und subjektiven Wahrnehmungsurteil ein objektives und notwendiges.

Kant ist durchaus klar, dass die Verwendung eines Verstandesbegriffs allein nochnicht aus einem Urteil ein notwendiges Urteil machen kann, und meint das auch garnicht so. Wir müssen das Zitat nicht so lesen. Wir können auch statt „Sage ich aber:Die Sonne erwärmt den Stein …“ einsetzen: ,Habe ich aber Gründe, zu sagen: DieSonne erwärmt den Stein …‘ Über die Gründe, die einen hier berechtigen, so zu re-den, schweigt Kant sich hier allerdings aus.

Die Gründe könnten von zweierlei Art sein, entweder das Gesetz (das ich einmaletwas burschikos formuliere) ,Wenn Licht auf Steine fällt, so werden diese warm‘lässt sich a priori begründen, oder das Kausalprinzip als ‚regulatives Prinzip‘ er-möglicht in irgendeinem Sinne eine induktive Bestätigung dieses Gesetzes, die sonstnicht möglich wäre. In Termini der heutigen Wissenschaftstheorie ausgedrückt: Die„Grundsätze des reinen Verstandes“ (also auch das Kausalprinzip) sind Gesetzar-tigkeitskriterien, die mögliche Kandidaten für eine induktive Bestätigung auszeich-nen. Leider äußert sich Kant in der transzendentalen Analytik so gut wie gar nichtzu dieser Frage, und auch spätere Bemerkungen zur Bestätigung empirischer Ge-

Brought to you by | University of North CarolinaAuthenticated | 152.15.236.17

Download Date | 9/18/13 3:10 PM

Page 8: Kants Antwort auf Hume und eine linguistische Analyse seiner Modalbegriffe

Kants Antwort auf Hume und eine linguistische Analyse seiner Modalbegriffe 35

setze haben einen eher beiläufigen Charakter, der der Wichtigkeit dieser Operationin keiner Weise gerecht wird.

3. Denknotwendigkeit und Naturnotwendigkeit bei Kant: Naturgesetze

Wir sind hier an einem Punkt angekommen, an dem sich die Frage, was eigentlich,notwendig‘ heißt, nicht mehr umgehen lässt. Sind nur apriorische Urteile notwen-dig oder auch empirische Gesetze?

Wenn ,notwendig‘ hier mit ,a priori‘ gleichzusetzen ist, dann ist die Wahrneh-mung schlechthin überflüssig zur Bestätigung eines Urteils der Erfahrung. Da aberdie Kategorien ausdrücklich „zum Behufe einer möglichen Erfahrung“ da sind,muss die Erfahrung in der Erkenntnis mindestens eine wichtige Rolle spielen. Dahermüssen wir erst verstehen, was bei Kant ,notwendig‘ heißt, ehe wir weiterlesen kön-nen. Wir entkommen dem Dilemma, wenn wir annehmen dürfen, dass Kant zwei-erlei Notwendigkeitsbegriffe nebeneinander verwendet, ohne immer genau zu sa-gen, von welchem dieser Begriffe gerade die Rede ist, dem der Naturnotwendigkeitund dem der Denknotwendigkeit. (Das ist allerdings nicht der SprachgebrauchKants. Der Terminus ,denknotwendig‘ ist kein Kant’scher Ausdruck; ,naturnotwen-dig‘ kommt bei ihm nur als „Naturnotwendigkeit“ bei der Diskussion der Willens-freiheit vor, als der Zwang, den die Naturgesetze auf das Geschehen ausüben (s. KrV,B 566ff., B 570 ff.).)

Naturnotwendig oder ontisch notwendig gültig ist jede Aussage, die auf Grundder Naturgesetze (bei Kant auf Grund der „besonderen Naturgesetze“) gilt. Denk-notwendig oder epistemisch notwendig ist jede Aussage, die auf irgendeinem nicht-empirischen Wege als wahr erwiesen werden kann. Für den notwendigen Kausal-zusammenhang reicht die Naturnotwendigkeit völlig aus. Wir werden beobachten,wie die Sonne Steine erwärmt und gelangen auf diese Weise zu der Überzeugung,dass mit hoher Wahrscheinlichkeit hier ein Naturgesetz vorliegt:

Steine, die von der Sonne beschienen werden, erwärmen sich.

Das ist dann ,naturnotwendig‘. Kant könnte Humes Zweifel beheben, wenn ereine apriorische induktive Logik begründen könnte. Humes Problem (in der moder-nen Fassung) wäre dann gelöst; das Verfahren der Induktion wäre grundsätzlich alszulässig erkannt.

Suchen wir doch bei Kant nach Anzeichen für eine Unterscheidung zweier Not-wendigkeitsbegriffe! Das Kausalgesetz (Kants „zweite Analogie der Erfahrung“)lautet in der ersten Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft:

Alles, was geschieht (anhebt zu sein) setzt etwas voraus, worauf es nach einer Regel folgt. (KrV,A 189)

Dem entspricht auch die bei Kant vorkommende Wendung „nach einer Regel (d.i.nothwendigerweise)“ (KrV, B 239).

Brought to you by | University of North CarolinaAuthenticated | 152.15.236.17

Download Date | 9/18/13 3:10 PM

Page 9: Kants Antwort auf Hume und eine linguistische Analyse seiner Modalbegriffe

36 Andreas Kamlah

Diese Deutung legt eine Formulierung à la Hempel-Oppenheim nahe, wonach ineiner ,deduktiv-nomologischen‘ Erklärung ein Ereignis E aus AnfangsbedingungenR1, R2 … Rm und Naturgesetzen L1, L2 … Ln logisch folgt.7 Lese ich also Kantszweite Analogie der Erfahrung folgendermaßen: Alles, was geschieht, lässt sich ausRandbedingungen und Naturgesetzen deduktiv-nomologisch erklären, dann sindL1, L2 … Ln Kants ,Regeln‘, und die ,Notwendigkeit‘, von der hier die Rede ist, istdie ,Naturnotwendigkeit‘, d.h. die Notwendigkeit auf Grund der geltenden Natur-gesetze.

Der Gebrauch des Worts ,Regel‘ ist bei Kant nicht ganz einheitlich. Eine Regel giltmit einem geringeren Grad von Notwendigkeit als ein Gesetz. Es liegt also nahe,,Regel‘ mit ,Naturgesetz‘ (im üblichen Sinne) zu übersetzen und ,Gesetz‘ bei Kantfür a priori begründbare Gesetze zu reservieren. Kants Sprachgebrauch ist aber lei-der nicht einheitlich. Er verwendet ,Regel‘ gelegentlich auch für a priori gültige Ge-setze und Gesetz häufig auch für Naturgesetze im üblichen Sinne.8 Dennoch liegt esnahe, bei der Formulierung der zweiten Analogie der Erfahrung ,Regel‘ als ,Natur-gesetz‘ zu lesen.

Mit dem Begriff der Notwendigkeit sind noch andere Termini verbunden, derenInterpretation Schwierigkeiten bereitet. Wenn ein Erfahrungsurteil „nothwendigallgemeingültig“ ist (Prol, AA 04: 301.4–13), oder besser „gemeingültig und mithinnothwendig“ (Prol, AA 04: 298.28), dann brauchen wir nicht mehr zu glauben,Kant verwickelte sich hier in Widersprüche, weil „notwendig“ auch mit „a priori“gleichzusetzen sei. Hier redet Kant von der Naturnotwendigkeit. Wenn er hingegenvon „notwendig und streng allgemein“ spricht, meint er offenbar stets Aprioriur-teile. Das ist sehr verwirrend, weil „allgemeingültig“ und „streng allgemein“ einan-der so ähnlich sind.

Also verfügt Kant durchaus über einen Terminus für die Naturnotwendigkeit,und häufig ergibt sich einfach aus dem Kontext, dass er nicht von Denknotwendig-keit, sondern von Naturnotwendigkeit redet. Aber es gibt keine systematische Tren-nung der beiden Notwendigkeitsbegriffe bei Kant; er sagt nirgends, dass man zweiArten der Notwendigkeit sorgfältig zu unterscheiden habe. Eine solche Unterschei-dung ist auch in der Sekundärliteratur nicht sehr häufig thematisiert worden.

Markku Leppäkoski nennt, was ich hier ,naturnotwendig‘ nenne ,de re notwendig‘und was ich hier ,denknotwendig‘ nenne, ,de dicto notwendig‘.9 Er benutzt damiteine alte Terminologie. Mir scheint nur, dass er diese Termini nicht in der üblichenWeise verwendet.

Vilem Murdoch spricht in seiner Dissertation10 allerdings von zwei Notwendig-keitsbegriffen bei Kant und nennt sie ,necessitas consequentis‘ und ,necessitas con-sequentiae‘. Diese Unterscheidung hat mit der hier vorgenommenen eine gewissen

7 Hempel, Carl Gustav: Aspects of Scientific Explanation. New York/London 1965, 3ff.8 Gloy, Karen: Kants Theorie der Naturwissenschaft. Berlin/New York 1976, 19 Fn.9 Siehe Fußnote 1.

10 Murdoch, Vilem: Kants Theorie der physikalischen Gesetze. Berlin/New York 1987.

Brought to you by | University of North CarolinaAuthenticated | 152.15.236.17

Download Date | 9/18/13 3:10 PM

Page 10: Kants Antwort auf Hume und eine linguistische Analyse seiner Modalbegriffe

Kants Antwort auf Hume und eine linguistische Analyse seiner Modalbegriffe 37

Verwandtschaft. Der Terminus ,necessitas consequentis‘ bezeichnet die unbedingteNotwendigkeit: YB, ,necessitas consequentiae‘ hingegen die einer Folgerung aus ir-gendwie vorgegebenen Prämissen: Y (A → B). Wenn A die Konjunktion der gültigenNaturgesetze ist, stimmt die necessitas consequentiae von B mit unserer Notwen-digkeit überein, aber nur in diesem Falle.11

Etwas deutlicher ist bei Kant die Unterscheidung zwischen den a priori gültigenund den besonderen Gesetzen des Naturgeschehens:

Regeln, so fern sie objectiv sind, (mithin der Erkenntniß des Gegenstandes nothwendig anhän-gen), heißen Gesetze. Ob wir gleich durch Erfahrung viel Gesetze lernen, so sind diese doch nurbesondere Bestimmungen noch höherer Gesetze, unter denen die höchsten (unter welchen an-dere alle stehen) a priori aus dem Verstande selbst herkommen […]. (KrV, A 126)

Besondere Gesetze, weil sie empirisch bestimmte Erscheinungen betreffen, können [von denGesetzen a priori] nicht vollständig abgeleitet werden, ob sie gleich alle insgesammt unter jenenstehen. Es muß Erfahrung dazu kommen, um die letztere überhaupt kennen zu lernen; von Er-fahrung aber überhaupt und dem, was als ein Gegenstand der selben erkannt werden kann, ge-ben allein jene Gesetze a priori die Belehrung. (KrV, B 165)

Es sind also gewisse Gesetze, und zwar a priori, welche allererst eine Natur möglich machen;die empirischen können nur vermittelst der Erfahrung, und zwar zufolge jener ursprünglichenGesetze, nach welchen selbst Erfahrung allererst möglich wird, stattfinden und gefunden wer-den. (KrV, B 263)

Es sind viele Gesetze der Natur, die wir nur vermittelst der Erfahrung wissen können […].(Prol, § 36, AA 04: 318.33)

Wir müssen aber empirische Gesetze der Natur, die jederzeit besondere Wahrnehmungen vor-aussetzen, von den reinen oder allgemeinen Naturgesetzen, welche, ohne daß besondere Wahr-nehmungen zum Grunde liegen, blos die Bedingungen ihrer nothwendigen Vereinigung in einerErfahrung enthalten, unterscheiden […]. (Prol, § 36, AA 04: 320.1)

Diese allgemein bekannten Belegstellen bezeugen unzweifelhaft, dass Kant zwi-schen reinen, apriorischen Naturgesetzen und zwischen „empirischen“ oder „be-sonderen“ Gesetzen unterschieden hat. Diese Unterscheidung ist nicht nur einmaloder gelegentlich getroffen worden, sondern ein fester Bestandteil seiner theoreti-schen Philosophie.

Warum also zieht er dann nicht ebenso deutlich die Grenze zwischen ,Denknot-wendigkeit‘, (d.h. Notwendigkeit auf Grund von apriorischen Prinzipien) und ,Na-turnotwendigkeit‘, d.h. Notwendigkeit auf Grund der besonderen Gesetze?

4. Kants Definitionen der Notwendigkeit

Der Sache nach kommen die Modalitäten ‚notwendig‘ und ‚möglich‘ bei Kant so-wohl als physikalische Modalitäten als auch als apriorische oder gar als logischeModalitäten vor. In vielen Kontexten verwendet Kant aber einfach die Wörter‚möglich‘ und ‚notwendig‘ ohne jeden Zusatz und ohne anzugeben, um welche Art

11 YA =: A ist notwenig; ◊A =: A ist möglich.

Brought to you by | University of North CarolinaAuthenticated | 152.15.236.17

Download Date | 9/18/13 3:10 PM

Page 11: Kants Antwort auf Hume und eine linguistische Analyse seiner Modalbegriffe

38 Andreas Kamlah

von Modalitäten es sich jeweils handelt. Es sieht vielfach so aus, als mache er keinenUnterschied zwischen der physikalischen Möglichkeit, d.h. der Möglichkeit aufGrund der tatsächlich geltenden empirischen Naturgesetze und der apriorischenMöglichkeit, der Möglichkeit auf Grund der synthetischen Urteile a priori. DieserUnterschied wird auch von vielen Interpreten nicht gemacht. Was Kant ‚real mög-lich‘ nennt, wird von diesen Interpreten vielfach als ‚synthetisch a priori‘ möglichgedeutet. Wenn diese Interpreten recht haben, wäre Kants Philosophie nicht vielwert. Wenn Kant sagt, die Wirkung sei notwendige Folge der Ursache und ‚notwen-dig‘ hier im Sinne von ‚synthetisch a priori notwendig‘ gemeint, dann ist das einfachhochgradig falsch und steht im Übrigen im Widerspruch zur Versicherung Kants, esgebe empirische Naturgesetze. Also ist ‚notwendig‘ oft im Sinne von ‚physikalischnotwendig‘ oder ‚naturnotwendig‘, wie wir das heute gebrauchen, gemeint.

Man wird sich nun Kants Kapitel über die „Postulate des empirischen Denkens“vornehmen, um über seine Auffassung von den Modalitäten näheren Aufschluss zuerhalten, zumal es sich nach Kants eigener Aussage hier um „Erklärungen“ (damalsein Ausdruck für ,Realdefinitionen‘) handelt.

Das dritte Postulat, das der Notwendigkeit, lautet:

Dessen Zusammenhang mit dem Wirklichen nach allgemeinen Bedingungen der Erfahrung be-stimmt ist, ist (existirt) nothwendig […]. (KrV, A 218)

Dieser Satz liest sich zunächst so, als meine Kant, notwendig sei, was aus den„Bedingungen der Erfahrung“, d.h. aus den synthetischen Urteilen a priori logischfolge. Eine derartige Interpretation findet sich in vielen Büchern über Kant, z.B. beiK. Gloy12. Aber wo bleibt bei dieser Lesart die Wendung „dessen Zusammenhangmit dem Wirklichen“?

Was ist nun dieses „Wirkliche“? Man könnte glauben, Kant meine damit dieWahrnehmungen. „Wirklich“ sind jedoch bei Kant nicht nur Wahrnehmungen, son-dern auch alles, was aus Wahrnehmungen mit empirischen Gesetzen erschlossenwird:

Wo also Wahrnehmung und deren Anhang nach empirischen Gesetzen hinreicht, dahin reichtauch unsere Erkenntniß vom Dasein der Dinge. (KrV, B 273)

Aus Kants Erläuterungen zum dritten Postulat (vor allem B 279–280) ergibt sich,dass er mit dem „Wirklichen“ vor allem die Ursache einer Wirkung meint. Nunkann ja gemeint sein:

Durch eine Tatsache bedingt notwendig ist, was aus ihr und aus synthetischen Ur-teilen a priori logisch folgt.

Vielleicht wäre das Ergebnis eines Stoßes zweier Kugeln in diesem Sinne ,notwen-dig‘, da es vollständig aus den Anfangsbedingungen und aus solchen Gesetzen derMechanik folgt, die Kant glaubt, aus synthetischen Grundsätzen a priori ableiten zukönnen. Eine solche Deutung kommt der Intention des Textes schon näher, ist aber

12 S. Gloy, Karen: Kants Theorie der Naturwissenschaft. Berlin/New York 1976, 20.

Brought to you by | University of North CarolinaAuthenticated | 152.15.236.17

Download Date | 9/18/13 3:10 PM

Page 12: Kants Antwort auf Hume und eine linguistische Analyse seiner Modalbegriffe

Kants Antwort auf Hume und eine linguistische Analyse seiner Modalbegriffe 39

immer noch nicht mit Kants eigenen Anmerkungen zum dritten Postulat verträglich,wie wir sogleich sehen werden.

Zunächst scheint er der Wahrnehmungsdeutung recht zu geben:

[…] die Nothwendigkeit der Existenz [kann] niemals aus Begriffen, sondern jederzeit nur ausder Verknüpfung mit demjenigen, was wahrgenommen wird, nach allgemeinen Gesetzen derErfahrung erkannt werden. (KrV, A 227)

Doch dann fährt er fort:

Da ist nun kein Dasein, was unter der Bedingung anderer gegebener Erscheinungen, als noth-wendig erkannt werden könnte, als das Dasein der Wirkungen aus gegebenen Ursachen nachGesetzen der Causalität.

Vorher hatte er gesagt:

Was endlich das dritte Postulat betrifft, so geht es auf die materiale Nothwendigkeit im Da-sein […].

Nimmt man beide Sätze zusammen, so erhält man: Das dritte Postulat „geht […]auf [bezieht sich auf] das Dasein der Wirkungen aus gegebenen Ursachen nach Ge-setzen der Kausalität“.

Was sind nun diese Gesetze? Im nächsten Satz sagt er:

Also ist es nicht das Dasein der Dinge […] sondern ihres Zustandes […] nach empirischen Ge-setzen der Causalität.

Die fraglichen Gesetze sind also die empirischen Naturgesetze und diese Gesetzesind notwendig:

Die Nothwendigkeit betrifft also nur die Verhältnisse der Erscheinungen nach dem dynami-schen Gesetz der Causalität […].

– das ist wohl eine Sammelbezeichnung für eben genannte empirische Naturge-setze –,

und die darauf sich gründende Möglichkeit, aus irgendeinem gegebenen Dasein (einer Ursache)a priori auf ein anderes Dasein (der Wirkung) zu schließen.

Damit wäre die Notwendigkeit einzelner Ereignisse unter bestimmten Rand-bedingungen ,naturnotwendig‘. D.h. wir haben hier wieder die Notwendigkeit, vonder im Zusammenhang mit der zweiten Analogie der Erfahrung die Rede war:„nach einer Regel (d. i. notwendig)“.

Damit wäre wahrscheinlich gemacht, dass Kant neben einem epistemisch verwen-deten Notwendigkeitsbegriff

notwendig = synthetisch a priori wahr

noch einen ontischen Begriff der physikalischen Notwendigkeit, der ,Naturnotwen-digkeit‘, verwendet. Diese Klärung ist von großer Bedeutung für die Frage, was nuneigentlich Kants Lösung des Humeschen Problems ist. Offenbar behauptet er nicht,die Wirkungen ließen sich aus den Ursachen synthetisch a priori ableiten. Sonderndie Notwendigkeit der Verknüpfung zwischen Ursache und Wirkungen ist nur die-jenige der empirischen Naturgesetze.

Brought to you by | University of North CarolinaAuthenticated | 152.15.236.17

Download Date | 9/18/13 3:10 PM

Page 13: Kants Antwort auf Hume und eine linguistische Analyse seiner Modalbegriffe

40 Andreas Kamlah

Ich denke, dass sehr wohl eine einheitliche Rekonstruktion von Kants Notwen-digkeitsbegriff möglich ist, der dann – wie wir gleich sehen werden – verschie-den verwandt werden kann, so dass die verschiedenen Verwendungsweisen auch alsGebrauch zweier verschiedener Begriffe aufgefasst werden kann. Dazu möchte icheinfach mit einem Vorschlag beginnen, der dann an Kants Texten überprüft werdenmuss. Er lautet:

Primär notwendig ist, was zu jeder Zeit gilt

oder in Formeln

A ist primär notwendig, YpA, genau dann, wenn A wahr ist und es zu A eine Aus-sagenfunktion B(t) gibt, so dass B(t) für alle t ∈ T zu A logisch äquivalent ist. Dabeiist T die Menge aller Zeitpunkte. Notwendig ist dann ein Satz, der aus C, einem pri-mär notwendigen, logisch folgt:

YA ↔Def ∃C(Y pC ∧ (C ⇒ A))

Natürlich sind dann auch alle primär notwendigen Sätze notwendig.

Zur Rechtfertigung meines Deutungsansatzes möchte ich zunächst Kants ‚Schema‘der Notwendigkeit anführen:

Das Schema der Nothwendigkeit ist das Dasein eines Gegenstandes zu aller Zeit. (KrV, B 184)

Ferner verwendet Kant oft die Wendung „nothwendig (d. i. jederzeit gültig)“(siehe auch B 238) und „aeternitas necessitas phaenomenon“ (KrV, B 186),oder „jederzeit (d. i. nothwendigerweise)“ (KrV, B 246), „jederzeit d. i. nach einerRegel […] woraus sich dann ergiebt […] daß, wenn der Zustand, der vorhergeht,gesetzt wird, [eine] bestimmte Begebenheit unausbleiblich und nothwendig folge“(KrV, B 243–244), was darauf hinweist, dass notwendig auch „nach einer Regel“heißt. Kant unterscheidet nicht zwischen primär notwendig und notwendig, abernatürlich ergibt sich: Sind nun „Regeln“ ,primär notwendig‘ – in meiner Termino-logie –, dann heißt „nach einer Regel“ „notwendig“ schlechthin.

Wie ist aber eine solche Deutung mit Äußerungen wie „Nothwendigkeit undstrenge Allgemeinheit sind also sichere Kennzeichen einer Erkenntniß a priori“(KrV, B 4) zu vereinbaren?

Müssen wir nicht aus solchen Äußerungen schließen, dass nur apriorische Urteilenotwendig sind, aber keine empirischen Naturgesetze?

5. Linguistische Auflösung des Interpretationsdilemmas

Wir können den gordischen Knoten aufknüpfen, ohne ihn zerhauen zu müssen,wenn wir uns darüber klar werden, dass wir uns beim letzten Beispiel im epistemi-schen Kontext befinden, d.h. über Erkenntnis reden. Kant sagt hier keineswegs,dass alle notwendigen Urteile a priori gültig sind, sondern dass Urteile, die als not-

Brought to you by | University of North CarolinaAuthenticated | 152.15.236.17

Download Date | 9/18/13 3:10 PM

Page 14: Kants Antwort auf Hume und eine linguistische Analyse seiner Modalbegriffe

Kants Antwort auf Hume und eine linguistische Analyse seiner Modalbegriffe 41

wendig erkannt werden, a priori gelten. Einige Zeilen vor dem letzten Zitat schreibter nämlich:

Findet sich […] ein Satz, der zugleich mit seiner Nothwendigkeit gedacht wird, so ist er ein Ur-teil a priori (KrV, B 3).

Empirische Naturgesetze mögen notwendig sein, ihre Erkenntnis bleibt aber un-sicher. Daher können nur apriorische Sätze auch als notwendig erkannt werden. Da-mit komme ich zur zentralen These meines Aufsatzes:

Kant gelangt de facto zu zwei Notwendigkeitsbegriffen, indem er den einen, dieNotwendigkeit von Naturgesetzen in zwei verschiedenen Weisen gebraucht,ontisch (oder objektiv) und epistemisch, in der Bedeutung: „als notwendigerweisbar“. Wir können ihm deshalb nicht vorwerfen, dass er nur von einer Ka-tegorie der Notwendigkeit redet. Er folgt dabei nur einer üblichen Praxis desUmgangs mit Sprache.

Es ist klar, dass nur apriorische Sätze im strengen Sinn erweisbar notwendig seinkönnen. Die Notwendigkeit von empirischen Naturgesetzen lässt sich nur wahr-scheinlich machen.

Wie gehen wir nun im Alltag mit Ausdrücken wie ‚notwendig‘ um?Es gibt viele Verwendungsweisen des Wortes ‚notwendig‘. Es kann eine Ver-

pflichtung charakterisieren, ein wirtschaftliches Erfordernis, eine praktische oderauch apodiktische Gewissheit, einen physikalischen Zwang und wohl noch man-ches andere mehr. Meist wird die Notwendigkeit mit dem Verbum ‚müssen‘ be-schrieben.

Du musst Dich bei Frau Müller entschuldigen (Verpflichtung).Navigare necesse est – Seefahrt tut Not (wirtschaftliches Erfordernis).Durch diese hohle Gasse muss er kommen. Es führt kein andrer Weg nach Küss-

nacht (praktische Gewissheit; Schiller, Wilhelm Tell).Wenn Karl größer als Fritz ist, ist notwendigerweise Fritz kleiner als Karl.(apodiktische Gewissheit).Wenn Du das Weinglas fallen lässt, wird es notwendigerweise zerbrechen (physi-

kalischer Zwang).Diese vielen Bedeutungen von ‚notwendig‘ („müssen“ usw.) sind familienähnlich

wie die verschiedenen Spiele, die Wittgenstein diskutiert.13

Von den verschiedenen Varianten der Notwendigkeit sind für uns allerdings nurdie beiden letzten interessant, die apodiktische Gewissheit (Denk- oder epistemi-sche Notwendigkeit) und der physische Zwang (Natur- oder ontische Notwendig-keit). Jeder von uns verwendet im Alltagsdiskurs die Modalitäten ‚notwendig‘ und‚möglich‘ sowohl epistemisch als auch ontisch, ohne das als problematisch zu emp-finden. In dem Satz über Fritz und Karl wird ‚notwendig‘ epistemisch gebraucht.Hier ist nicht von einem Zwang durch Naturgesetze die Rede. Es handelt sich aber

13 Wittgenstein, Ludwig: Schriften. Frankfurt/M. 1960; Bd. 1, § 66 u. § 67.

Brought to you by | University of North CarolinaAuthenticated | 152.15.236.17

Download Date | 9/18/13 3:10 PM

Page 15: Kants Antwort auf Hume und eine linguistische Analyse seiner Modalbegriffe

42 Andreas Kamlah

um einen analytischen Satz (so wie wir das heute verstehen). Wir können aber auchsagen:

Bei Temperaturen von –10° C wird eine mit Wasser gefüllte verschlossene Flaschenotwendigerweise zerbrechen.

Damit meinen wir ‚auf Grund der Naturgesetze zerbrechen‘ und verwenden soeine ontische Modalität, reden von Seinsnotwendigkeit.

Auch Kant verwendet ‚möglich‘ und ‚notwendig‘ mal ontisch und mal epistemisch.Ist das nun nur die Gedankenlosigkeit der Umgangssprache oder lässt sich diese kon-textbedingte Doppeldeutigkeit rechtfertigen? Ich denke ja. Wir müssen auch Philo-sophen zugestehen, dass sie sich so ausdrücken wie andere Menschen auch.

Kant verwendet sogar den Terminus „Naturnotwendigkeit“, der auch bei ihmeinen physikalischen Zwang zum Ausdruck bringt. Das tut er aber nur im Vorwortder Kritik der reinen Vernunft und in der Transzendentalen Dialektik im Zusammen-hang mit der Diskussion der Willensfreiheit. Hätte er auch in der TranszendentalenAnalytik davon rechten Gebrauch gemacht, wäre dieser Aufsatz vielleicht überflüssig.

Wenn sich meine Deutungshypothese bewähren soll, muss sie natürlich mit allenVorkommnissen von „notwendig“ bei Kant konfrontiert werden, bei denen dieserTerminus mit „a priori“ gleichgesetzt wird, und es muss gezeigt werden, dass wir unsin allen diesen Fällen im epistemischen Kontext bewegen. Wenn Kant etwa schreibt

[…] also ist der Erfahrungssatz allemal zufällig (Prol § 22, AA 04: 305, Fn.),

dann muss gezeigt werden, dass ‚zufällig‘ = ‚nicht notwendig‘ hier epistemisch ge-meint ist. Nun beginnt Kant den fraglichen Satz folgendermaßen:

Wenn ich sage: Erfahrung lehrt mir etwas, so meine ich jederzeit nur die Wahrnehmung, die inihr liegt, z.B. daß auf die Beleuchtung des Steins durch die Sonne jederzeit Wärme folge, undalso ist der Erfahrungssatz so fern allemal zufällig.

Hier ist davon die Rede, wie „Auf die Beleuchtung des Steins durch die Sonne folgtjederzeit Wärme“ erkannt werden kann. Der epistemische Kontext ist also gesichert.

6. Möglichkeit

Weitere Aufschlüsse erhalten wir von der Untersuchung des Möglichkeitsbegriffs,der mit dem der Notwendigkeit eng zusammenhängt. In der Modallogik gilt: Mög-lich ist, dessen Negation nicht notwendig ist; Notwendig ist, dessen Negation nichtmöglich ist:

M ◊A ↔ ¬Y¬A. YA ↔ ¬◊¬A.

Gilt aber diese Beziehung tatsächlich für Kant? Es gibt eine Stelle in seinen Vor-lesungen, die das belegt, z.B.:

Brought to you by | University of North CarolinaAuthenticated | 152.15.236.17

Download Date | 9/18/13 3:10 PM

Page 16: Kants Antwort auf Hume und eine linguistische Analyse seiner Modalbegriffe

Kants Antwort auf Hume und eine linguistische Analyse seiner Modalbegriffe 43

Nothwendig ist das, wovon das Gegenteil unmöglich ist.14

Doch sehen wir uns seine Postulate der Notwendigkeit und Möglichkeit an, kom-men uns daran wieder einige Zweifel. Das Postulat für die Möglichkeit ist das ersteder drei „Postulate des empirischen Denkens überhaupt“ (KrV, B 265–266) undlautet:

Was mit den formalen Bedingungen der Erfahrung (der Anschauung und den Begriffen nach)übereinkommt, ist möglich. (KrV, B 265)

Dem würde nach der Modallogik für die Notwendigkeit entsprechen:

Was durch die formalen Bedingungen der Erfahrung bestimmt ist, ist notwendig.

Das entsprechende dritte Postulat lautet aber anders, wie wir in Abschnitt 5 ge-sehen haben. Die Bedingung für die Notwendigkeit ist dort wesentlich stärker, alsunser künstlich erzeugtes Postulat verlangt. Wir würden gerne auch den umgekehr-ten Versuch machen und uns aus dem Postulat für „notwendig“ eines für „möglich“herstellen. Das ist aber wegen der verwickelten Struktur des dritten Postulats we-sentlich schwieriger und soll deshalb hier unterbleiben.

Scheinbar erfüllen Notwendigkeit und Möglichkeit also nicht mehr die BeziehungM. Das liegt aber nur daran, dass es keine absolut notwendigen Ereignisse gibt. Des-halb sagt Kant in seiner Metaphysikvorlesung: „Die Erkenntniß der Nothwendig-keit ist daher eine hypothetische Erkenntniß“ (V-MP-L2/Pölitz, AA 28: 557.27) undwiederholt das in ähnlicher Weise mehrere Male, d.h. Notwendigkeit gibt es nur aufGrund einer vorgegebenen Bedingung und Kant baut diese Aussage in das drittePostulat mit ein. Wir könnten aber eben so gut sagen:

Notwendig ist, dessen Negation unmöglich ist. Aber als Einzelding oder einzelnesEreignis gibt es so etwas in Wirklichkeit nicht.

(Die Fixsternsphäre des Ptolemäus wäre z.B. ein absolut notwendiges Ding. Aberdie gibt es ja bekanntlich nicht.)

Kant sagt, die drei Postulate seien „Erklärungen“; so hießen damals Realdefini-tionen oder Explikationen. Wir müssten daher dem ersten Postulat alles entnehmenkönnen, was über die Möglichkeit gesagt werden kann. Hat Kant beim Begriff derMöglichkeit in erster Linie die synthetisch apriorische Möglichkeit vor Augen? Das

14 Es ist von gewisser Bedeutung, in welcher Umgebung die zitierte Stelle erscheint. Der Ab-schnitt in der Metaphysikvorlesung heißt „Vom Notwendigen und Zufälligen“ und hat vielÄhnlichkeit mit den Unterabschnitt „Die Postulate des empirischen Denkens überhaupt“ inder Kritik der reinen Vernunft, wobei die Tendenz dahingeht, ‚notwendig‘ mit ‚a priori gül-tig‘ gleichzusetzen. Wie weit das eine Vereinfachung durch die Hörer von Kants Vorlesungoder authentisch ist, bleibt dahingestellt. Dies Stelle, die uns hier besonders interessiert, lau-tet: „Alle Dinge haben necessitatem derivativam; die kann ich erkennen a priori secundumquid, aus Gründen der Erfahrung. Notwendig ist das, wovon das Gegenteil unmöglich ist;possibile ist das, was mit den Regeln des Denkens übereinstimmt; contingens ist das, waswovon das Gegenteil möglich ist. Dieses sind Nominaldefinitionen, bloße Worterklärun-gen.“ V-MP-L2/Pölitz, AA 28: 557.28.

Brought to you by | University of North CarolinaAuthenticated | 152.15.236.17

Download Date | 9/18/13 3:10 PM

Page 17: Kants Antwort auf Hume und eine linguistische Analyse seiner Modalbegriffe

44 Andreas Kamlah

etwas, das da möglich sein sollte, muss natürlich beschrieben werden. Das geschiehtdurch einen Begriff, der ebenfalls als möglich oder auch als real bezeichnet wird.Also redet Kant von der Möglichkeit von Begriffen. Aber offenbar hat er das Pos-tulat nur für „Begriffe a priori“ formuliert:

Aber ich lasse alles vorbei, dessen Möglichkeit nur aus der Wirklichkeit in der Erfahrung kannabgenommen werden, und erwäge hier nur die Möglichkeit der Dinge durch Begriffea priori, von denen ich fortfahre zu behaupten: daß sie niemals aus solchen Begriffen für sichallein, sondern jederzeit nur als formale und objective Bedingungen einer Erfahrung überhauptstatt finden können. (KrV, A 223, Version Hartenstein)

Kurz darauf spricht er noch von der Möglichkeit „gedichteter Begriffe“ von„Substanzen, von Kräften, von Wechselwirkungen, aus dem Stoffe, den uns dieWahrnehmung bietet“ (KrV, A 222), die nur „auf Erfahrung und deren bekannteGesetze gegründet werden kann“. Es muss also eigentlich Kants erstes Postulat auchfür diesen Fall ergänzt werden:

Mit apriorischen Begriffen (z.B. Zahlen) formulierte Sachverhalte sind möglich,wenn sie mit den formalen Bedingungen der Erfahrung übereinstimmen. Mit em-pirischen Begriffen formulierte Sachverhalte oder auch Dinge oder Ereignisse sindmöglich, wenn sie mit der Erfahrung, d.h. den auf sie gegründeten Gesetzen, imEinklang sind.

Ist Kants Begriff der realen Möglichkeit, der für zwei verschiedene Bereiche dieMöglichkeit verschieden begrenzt, also ein siamesisches Zwillingspaar? Wir könnenvielleicht die Zwillinge auseinander operieren und Kant zwei verschiedene Möglich-keitsbegriffe unterstellen, einen epistemischen, die Verträglichkeit mit allen Urteilena priori, die Denkmöglichkeit, und einen ontischen, die Verträglichkeit mit dem em-pirischen Naturgesetzen, die Naturmöglichkeit. Diese beiden Möglichkeitsbegriffestehen dann über die obige Formeln M der mit den entsprechenden epistemischenund ontischen Notwendigkeiten, Denknotwendigkeit und Naturnotwendigkeit, inBeziehung.

Kant tut uns aber leider nicht den Gefallen, sich so einfach und klar auszudrü-cken. Wenn Kant sein erstes Postulat nur für bestimmte Fälle formuliert, und vierSeiten später noch weitere Fälle behandelt, die nicht mehr in den Anwendungsbe-reich seines Postulats fallen, dann verhält er sich hier wie die Juristen, die auch je-derzeit einem Gesetz einen neuen Paragraphen hinzufügen können, der eine Defini-tion einfach erweitert, ohne dass sie dort, wo sie zuerst auftritt, geändert werdenmuss.

Sollen wir daher Kant unterstellen, er verfahre wie ein Jurist? Das ist nicht anzu-nehmen, da nicht das juristische, sondern das mathematische Denken sein Vorbildist. Dennoch ist es für Kant nicht untypisch, dass er etwas, was er bereits geschrie-ben hatte, stehen ließ und, anstatt seine Formulierungen zu verbessern, einfach an-dere nachschob. Gelegentlich sind die nachgeschobenen Bemerkungen Fußnoten, in

Brought to you by | University of North CarolinaAuthenticated | 152.15.236.17

Download Date | 9/18/13 3:10 PM

Page 18: Kants Antwort auf Hume und eine linguistische Analyse seiner Modalbegriffe

Kants Antwort auf Hume und eine linguistische Analyse seiner Modalbegriffe 45

denen Kant wichtige Formulierungen zu revidieren scheint. Derartige Fußnotenkönnen wahrhaften Sprengstoff enthalten.15

Dass Kant neben epistemischen Modalitäten auch ontische verwendet, wird beimMöglichkeitsbegriff noch deutlicher als beim Begriff der Notwendigkeit.

Wir gelangen hier zu keiner abschließenden Bewertung des Möglichkeitsbegriffs.Bisher sieht es so aus, als ließe sich die Möglichkeit apriorischer Begriffe mit einerepistemischen Möglichkeit identifizieren und die Möglichkeit empirischer Begriffemit einer ontischen. Beide stehen dann über die Bedingung M in Relation zu denentsprechenden Notwendigkeiten.

7. Einige Deutungen aus der Sekundärliteratur

Es wäre seltsam, wenn bisher niemand bemerkt hätte, dass Kant die Modal-begriffe sowohl epistemisch als Denknotwendigkeit und Denkmöglichkeit, als auchontisch, als Naturnotwendigkeit und Naturmöglichkeit gebraucht. Guido Schnee-berger war in seiner sehr lesenswerten Dissertation Kants Konzeption der Modal-begriffe bereits sehr nahe an dieser Erkenntnis16. Er schrieb aber, nachdem er sichmit Kants Schema der Notwendigkeit: „das Dasein eines Gegenstandes zu allerZeit“ (KrV, B 184, Schneeberger 1952, 90) und der Gleichung „jederzeit (d. i. noth-wendigerweise)“ (KrV, B 246) befasst hatte:17

Gegen dieses Schema der realen Notwendigkeit liegt vielleicht der Einwand nahe, dass hier einWiderspruch vorliegt, indem die Bestimmung ‚zu aller Zeit‘ als eine zeitliche einen unvermeid-lich empirischen Charakter habe, die Notwendigkeit aber ein Kennzeichen apriorischen Cha-rakters verlange, die genannte Allgemeinheit also zum Schema untauglich sei.

Er meint dann, empirisch könne man allenfalls zu einer Aussage gelangen, dassetwas „bisher zu aller Zeit“ der Fall ist. Insofern seien nur apriorische Urteile wirk-lich zeitlich universell, sagen aus, dass etwas „jederzeit“ gilt. Damit landet Schnee-berger notgedrungen bei der Deutung „notwendig = als notwendig einsehbar“ undmuss die daraus resultierenden Widersprüche bei der Notwendigkeit der Wirkungenvon Ursachen in Kauf nehmen. Darüber scheint er sich dann doch nicht klar gewor-den zu sein.

Wir sind aber nicht gezwungen, mit Schneeberger und vielen anderen AutorenNotwendigkeit in erster Linie apriorischen Urteilen zuzuschreiben.18 Zu diesen

15 S. z.B. KrV, B 579 Fn: Bei der gerechten moralischen Beurteilung einer Handlung müssteman eigentlich den „intelligiblen Charakter“ eines Menschen betrachten. Dieser ist uns aberprinzipiell unbekannt. Fazit: ein gerechtes Urteil ist grundsätzlich nicht möglich.

16 Schneeberger, Guido: Kants Konzeption der Modalbegriffe. Basel 1952.17 Schneeberger 1952, 90.18 Auch Hans Poser hat sich ausführlich mit Kants Modalbegriffen befasst. Seine gewiss inte-

ressanten Ergebnisse berühren allerdings nicht die hier diskutierten Fragestellungen („Kantsabsolute Modalitäten“, Grazer philosophische Studien 20, 1983, 121ff.; dort finden sichAngaben zu weiteren einschlägigen Arbeiten von Poser).

Brought to you by | University of North CarolinaAuthenticated | 152.15.236.17

Download Date | 9/18/13 3:10 PM

Page 19: Kants Antwort auf Hume und eine linguistische Analyse seiner Modalbegriffe

46 Andreas Kamlah

gehört auch K. Gloy mit ihrer sonst exzellenten Dissertation19, aus der ich vieleAnregungen erfahren habe. Sie kommt mit dem Begriff der ‚hypothetischen Not-wendigkeit‘ der hier formulierten ‚ontischen Notwendigkeit‘ bereits sehr nahe.20

‚Notwendigkeit‘ ohne Zusatz ist für sie jedoch stets eindeutig unsere ‚epistemischeNotwendigkeit‘. Sie weist auf drei Gegensatzpaare hin: ‚Notwendigkeit – Zufällig-keit, Allgemeinheit – Beschränktheit, Objektivität – Subjektivität‘, welche nachihrer Meinung alle den Unterschied zwischen (apriorischen) Gesetzen und Regeln(empirischen Naturgesetzen) kennzeichnen. ‚Notwendigkeit‘, ‚Allgemeinheit‘ und‚Objektivität‘ sind nach dieser Auffassung ‚Wechselbegriffe‘:

Jedes der Gegensatzpaare ist für sich allein notwendig, aber auch hinreichend zur Unterschei-dung von [apriorischen] Gesetzen und Regeln [d.h. empirischen Gesetzen].21

Das führt zu der untragbaren Folgerung, dass letztlich nur apriorische Gesetzeobjektiv sind, da nur diese auch notwendig sind. „Der Körper ist schwer“ kann da-nach nur dann ein objektives Urteil sein, wenn es sich a priori beweisen lässt. Es las-sen sich durchaus Stellen bei Kant finden, die prima facie eine solche Deutung zustützen scheinen. Doch wenn K. Gloy recht behielte, könnte Kant kein sehr diffe-renziertes Bild von der Erkenntis entwerfen. Nach einer solchen Auffassung ist fürempirische Naturgesetze in der Wissenschaft eigentlich kein Platz. Denn danachsind dann empirische Gesetze zwar allgemeine, aber bislang noch nicht als synthe-tisch a priori nachgewiesene Urteile. Nun gibt es tatsächlich Stellen, die eine solcheInterpretation nahe legen, nämlich dass

[die] Nothwendigkeit der Gesetze dem Begriffe der Natur unzertrennlich anhängt und daherdurchaus eingesehen werden will. (MAN, AA 04: 469.6)

Aber das kann auch als ein Gebot verstanden werden: Versuche stets Naturge-setze auf tiefer liegende zurückzuführen! Und das ist dann einfach übliche naturwis-senschaftliche Methodologie.

Man lese das letzte Zitat einmal sorgfältig! Wenn die ‚Notwendigkeit der Gesetze‘bereits deshalb besteht, weil sie a priori gültig sind, wird es zu einer trivialen Tau-tologie. Die Aufforderung einen a priori gültigen Satz einzusehen, kann nicht be-sonders bemerkenswert sein. Wenn dagegen darin von der ontischen Notwendigkeitdie Rede ist, bekommt er einen nichttrivialen Sinn. Dasselbe gilt für ähnliche Stellenwie:

Selbst Naturgesetze, wenn sie als Grundgesetze des empirischen Verstandesgebrauchs betrach-tet werden, führen zugleich einen Ausdruck der Nothwendigkeit, mithin wenigstens der Ver-muthung einer Bestimmung aus Gründen, die a priori und vor aller Erfahrung gültig sind, beisich. (KrV, B 198)

Auch dieser Satz würde völlig trivial und nichtssagend, wenn diese Naturgesetzebereits als a priori gültig bekannt wären. Der „Ausdruck der Notwendigkeit“ kann

19 Gloy, Karen: Kants Theorie der Naturwissenschaft. Berlin/New York 1976.20 Gloy, Karen, ebenda 30.21 Gloy, Karen, ebenda 62.

Brought to you by | University of North CarolinaAuthenticated | 152.15.236.17

Download Date | 9/18/13 3:10 PM

Page 20: Kants Antwort auf Hume und eine linguistische Analyse seiner Modalbegriffe

Kants Antwort auf Hume und eine linguistische Analyse seiner Modalbegriffe 47

nicht darin bestehen, dass sie bereits a priori gelten, denn das wird ja erst ver-mutet.22

Manche Autoren vertreten die Auffassung, dass die Notwendigkeit der Natur-gesetze daher rührt, dass sie apriorische Anteile enthalten, so wie Kant ja sagt, „dassunsere Erfahrungserkenntnis ein Zusammengesetztes sei“ aus apriorischen und em-pirischen Bestandteilen (KrV, B 1), so auch Michael Friedman. Er stellt sich in sei-nem brillanten Aufsatz „Causal Laws and the Foundation of Natural Science“23

teilweise dieselben Fragen, die uns auch hier beschäftigen. Er zitiert dort auch weit-gehend die gleichen Stellen aus Kants Schriften, die in diesem Aufsatz auch zitiertwerden. Dabei stößt er natürlich auch auf zweierlei Notwendigkeitsbegriffe:

It follows that Kant recognizes at least two distinct types of necessity (and thus apriority).24

Dem ist zuzustimmen, wenn man den eingeklammerten Ausdruck weglässt. Aberdurch den Zusatz bringt er sich in Schwierigkeiten. Denn nun muss er begründen,wieso alle Naturgesetze in einem direkten oder indirekten Sinn a priori gelten. Kantsagt aber nirgends, dass alle Naturgesetze a priori gültig sind, sondern nur:

Findet sich […] also ein Satz, der zugleich mit seiner Nothwendigkeit gedacht wird, so ist er einUrtheil a priori. (KrV, B 3)

Die meisten Naturgesetze werden aber nicht mit ihrer Notwendigkeit gedacht,auch wenn sie alle notwendig sind. Friedman sucht nun für Kant zu zeigen, dass dieNaturgesetze notwendig sind, weil sie doch irgendwie noch im Wiederschein desLichtes apriorischer Erkenntnis stehen.

Empirical laws that somehow fall under these transcendental principles are then necessary anda priori in a derivative sense. […] They, unlike the transcendental principles themselves, indeeddepend partially on inductively obtained regularities (and thus on perception), yet they are alsoin some sense grounded in or determined by the transcendental principles and thereby acquirea necessary and more than merely inductive status.25

Damit ergibt sich für ihn die Frage, die er nicht beantworten kann:

How do the transcendental principles inject necessity into empirical laws of nature so as to se-cure them a more than merely inductive status? How do judgments that merely record observedregularities or uniformities become truly and ‚strictly‘ universal via the addition of the conceptof causality? 26

Kant sagt dazu, dass die „besonderen Gesetze [die] […] empirische bestimmte

22 Hierher gehört auch die Reflexion 5414 (AA 18: 176.21), in der es heißt: „Doch nimmt manvon den Regeln der Natur immer an, […] daß sie können a priori eingesehen werden“. Wernimmt das an, die Physiker oder nur Kant? Wie kann man so etwas glauben, was man niewissen kann? Wenn Kant das hätte veröffentlichen wollen, hätte er sich vorsichtiger ausge-drückt.

23 Friedman, Michael: „Causal Laws and the Foundation of Natural Science“. In: The Cam-bridge Companion to Kant. Hrsg. von Paul Guyer. Cambridge (Mass.)/London 1992.

24 Ebenda 174.25 Ebenda 174.26 Ebenda 175.

Brought to you by | University of North CarolinaAuthenticated | 152.15.236.17

Download Date | 9/18/13 3:10 PM

Page 21: Kants Antwort auf Hume und eine linguistische Analyse seiner Modalbegriffe

48 Andreas Kamlah

Erscheinungen betreffen […] insgesamt unter [den a priori vorgeschriebenen Ge-setzen] stehen“. D.h. dass die apriorischen Gesetze die Klasse der Naturgesetzecharakterisieren. Damit sind sie Bedingungen für die Gewinnung von physikali-schen Theorien aus den Wahrnehmungen, für das Buchstabieren der Erscheinun-gen, um sie als Erfahrung lesen zu können. Bei diesem Vorgang meint offenbarFriedman, wird Notwendigkeit auf die so erhaltenen Gesetzesaussagen der Physikübertragen.

Dieser Deutung von M. Friedman entspricht auch seine Lesart27 des Postulats derNotwendigkeit: „Dessen Zusammenhang mit dem Wirklichen nach allgemeinen Be-dingungen der Erfahrung bestimmt ist, ist […] notwendig“, die sich von meiner(oben in Abschnitt 4) deutlich unterscheidet. Für ihn ist das ‚Wirkliche‘ eine Mengevon Erfahrungsdaten, aus denen sich mit Hilfe der apriorischen Grundsätze die phy-sikalische Theorie ermitteln lässt, so wie Newton aus den Keplerschen Gesetzen un-ter Anwendung einiger Axiome der Mechanik das Gravitationsgesetz

k = –�mM/r2

ableitet.Er verweist auf mehrere Stellen in Kants Werk, wo Kant selbst die Newtonsche

Ableitung seines Gravitationsgesetzes aus den Keplerschen Gesetzen als ein Muster-beispiel einer Transformation von Wahrnehmungen in eine Erfahrung betrachtet.28

Friedmans Interpretation scheint mit dem Wortlaut des dritten Postulats gutübereinzustimmen, wenn man das „Wirkliche“ mit den Wahrnehmungen identifi-ziert. Wir haben aber bereits gesehen, dass Kant beim „Wirklichen“ im dritten Pos-tulat eher an Ursachen einer Wirkung gedacht hat. Friedmans Deutung brächte unsaber auch in anderer Weise in Schwierigkeiten. Danach wären auch singuläre Aus-sagen notwendig wie: ‚Die Masse des Jupiters ist 318 mal so groß wie die der Erde‘ –natürlich ist sie bedingt notwendig unter Voraussetzung der gegebenen astronomi-schen Daten:

mJupiter = 318 × mErde.

Denn auch diese Aussage ist dann auf die gleiche Weise nach Newtons Verfahrengewonnen. Das soll hier kein Einwand dagegen sein, dass der Übergang von denKeplerschen Gesetzen, – wenn man einmal davon absieht, dass letztere bereits dieKategorie der Quantität enthalten – zur Newtonschen Himmelsmechanik ein gutesBeispiel für den Schritt von der Wahrnehmung zur Erfahrung darstellt.

Es muss allerdings zugegeben werden, dass man im Alltag und auch in der Wis-senschaft so redet: Die beobachteten Daten sind E1, …, En. Daraus folgt nach denGesetzen der Mechanik die Aussage A, die dann also notwendigerweise wahr ist.

27 Friedman, Michael: Kant and the Exact Sciences. Cambridge (Mass.)/London (Engl.) 1992,175ff.

28 Hier ist auch die bereits erwähnte Reflexion 5414 einschlägig und verschiedene Stellen imOpus postumum, die Friedman in seinem Buch zitiert.

Brought to you by | University of North CarolinaAuthenticated | 152.15.236.17

Download Date | 9/18/13 3:10 PM

Page 22: Kants Antwort auf Hume und eine linguistische Analyse seiner Modalbegriffe

Kants Antwort auf Hume und eine linguistische Analyse seiner Modalbegriffe 49

Die Notwendigkeit von A ist dann ebenfalls eine bedingte. A ist notwendig unterder Bedingung E1, …, En. Das muss dann allerdings nicht die Notwendigkeit einerWirkung auf Grund einer Ursache oder die eines empirischen Gesetzes sein.

Dass die Grundsätze a priori des Verstandes Auswahlkriterien für mögliche phy-sikalische Gesetze sind, soll hier nicht bestritten werden. So gehorchen alle Ablaufs-gesetze dem Kausalprinzip, das sie als notwendig charakterisiert – nicht in der For-mulierung der zweiten Analogie der Erfahrung in den Ausgaben A und B, sondern inden jeweils darauf folgenden Passagen. Die Ablaufsgesetze werden nicht notwendigoder ein wenig notwendig, indem man das Kausalprinzip hinzufügt, sondern diesessagt direkt, dass sie es sind.

Es gibt keine verdünnte Notwendigkeit. Kant kann nur sagen, dass er HumesProblem gelöst hat, wenn die Kausalgesetze wirklich (ontisch) notwendig sind. On-tische und epistemische Notwendigkeit sind auch logisch voneinander unabhängig.Wenn ein Naturgesetz an allen Orten und zu allen Zeiten gültig ist, heißt das nochkeinesfalls, dass es auch a priori gültig sein muss, und umgekehrt ist nicht von vorn-herein klar, dass ein a priori gültiger Satz nicht für manche Zeitpunkte etwas ande-res bedeutet als für andere. Kant hat nun, wie wir oben gesehen haben, die Begriffeder ontischen und der epistemischen Notwendigkeit benutzt. Ihm war aber nichthinreichend klar, dass man beide scharf trennen muss. Daher glaubte er, man müssedie ontische auf die epistemische Notwendigkeit reduzieren können, weil – ich wie-derhole ein bereits gebrachtes Zitat – „jene Notwendigkeit der Gesetze dem Begriffeder Natur unzertrennlich anhängt und daher durchaus eingesehen sein will“ (MAN,AA 04: 469.6). Er hat daher in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwis-senschaft bekanntlich große Anstrengungen unternommen, die wichtigen Naturge-setze der Mechanik a priori zu begründen.

8. Hat Kant auch Humes Induktionsproblem gelöst?

Durch unsere Interpretation von ‚notwendig‘ bei Kant sind wir bereits besser inder Lage, Widersprüche in der Kantinterpretation zu vermeiden. Damit klingen nunviele Sätze, in denen ‚notwendig‘ vorkommt, nicht mehr so bedrohlich metaphy-sisch, und wir nähern uns ein wenig einem normalen naturwissenschaftlichen Dis-kurs. Kant hat ja schließlich mehrfach gesagt, dass es viele Naturgesetze gibt, dienicht a priori gültig sind. Das ist auch nicht strittig. In Abschnitt 3 wurden dazuschon einige Stellen zitiert:

Für „empirische Gesetze“ an diesen Stellen sagt Kant sonst oft „Regeln“, wieoben bereits gesagt wurde. Von den Wahrnehmungen zu solchen allgemeingültigenNaturgesetzen zu gelangen, ist Aufgabe des Verstandes. Aber wir wissen immernoch nicht, wie man aus Wahrnehmungsurteilen auf legitime Weise ein Erfahrungs-urteil gewinnt. Denn dass es nicht reicht, einfach zu dem Satz ‚Wenn die Sonne einenStein bescheint, wird er nach unserer bisherigen Wahrnehmung warm‘ den Ursa-chenbegriff hinzuzufügen, ist klar. Schließlich ist der Ursachenbegriff keine Zauber-

Brought to you by | University of North CarolinaAuthenticated | 152.15.236.17

Download Date | 9/18/13 3:10 PM

Page 23: Kants Antwort auf Hume und eine linguistische Analyse seiner Modalbegriffe

50 Andreas Kamlah

formel. Wie kommen wir nun auf legitime Weise zum Resultat: ‚Wenn die Sonneeinen Stein bescheint, erwärmt sie ihn (bewirkt sie in ihm eine Erwärmung)‘?

Die sogenannte einfache ‚Induktion durch Aufzählung‘ (‚soviel wir bisher wahr-genommen haben‘ scheint die allgemeine Regel A zu gelten.) reicht nach Kants Mei-nung nicht dazu, ein Naturgesetz zu bestätigen (KrV, B 3–4). Nun sagt Kant, dassdie Grundsätze des Verstandes notwendige Voraussetzungen für die Erfahrung sind.Außerdem steckt in jedem Erfahrungssatz eine Kategorie. Wir werden also diese Vo-raussetzungen anerkennen und von ihnen Gebrauch machen. Das kann ungefähr sogeschehen – auf Einzelheiten kommt es hier nicht an:

Wir formulieren unsere Hypothese mit quantitativen Begriffen und berücksichti-gen auf diese Weise die Prinzipien der „Axiome der Anschauung“ und der „Antizi-pationen der Wahrnehmung“. Unsere Hypothese behauptet etwas über einen kau-salen Zusammenhang zwischen eine Sonneneinstrahlung von m Watt pro Sekundeund einer dadurch verursachten Erwärmung von p Grad pro Sekunde unter Berück-sichtigung der Außentemperatur, der chemischen Zusammensetzung und Größe desSteines, der Erhaltungssätze der Masse und Energie und des Wärmetransports vonStein in seine Umgebung von n Watt pro Sekunde usw. Wir haben damit auch dieersten beiden „Analogien der Erfahrung“ berücksichtigt.

Haben wir damit das Nötige geleistet, um aus unserer Wahrnehmung auf ein Na-turgesetz schließen zu können? Kant war offenbar nicht dieser Meinung. Die wah-ren Hypothesen müssen immer noch durch Induktion gefunden werden, wenn auchnicht mehr mit Hilfe der Induktion durch Aufzählung.

Das wird in Kants Physikvorlesung von 1785 (in der sog. Danziger Physik) deut-lich, in der explizit gesagt wird:

[Hypothesen] sind in der Naturwissenschaft unvermeidlich. Die Wahrscheinlichkeit der Be-weise beruhet auf der simplicitaet der angenommenen Ursache. Die Hypothese ist also weitwahrscheinlicher, bei der man alle Erscheinungen aus einer Ursache erklären kann, als diejenigewo man viele Ursachen braucht um die Begebenheiten zu erklären von der die Rede ist, dennhier ist schon zu viel Künstelei. (AA 29: 103.34)

An einigen Stellen seines Werkes beschreibt Kant auch die Regeln, die bei derÜberprüfung solcher Hypothesen verwendet werden, z.B. im Anhang zur transcen-dentalen Dialektik (KrV, B 670–732, insbes. B 678–B 692) und in der Erste[n] Ein-leitung in der Kritik der Urteilskraft. (z.B. Abschnitt IV–V). Er nennt neben anderenGrundsätzen auch das sogenannte „Occamsche Rasiermesser“:

[…] daß man die Anfänge (Principien) nicht ohne Noth vervielfältigen müsse (entia praeter ne-cessitatem non esse multiplicanda).

Kants naturwissenschaftliche Methodologie ist hier keineswegs eine andere alsdiejenige der Naturwissenschaftler seiner Zeit. Die methodologischen Regeln, dieKant im Anhang zur Dialektik beschreibt, sind bekannte Regeln der Naturwissen-schaftler, darunter auch induktive Verfahren.

Es ist allerdings auffällig, wie wenig er sich über diese Verfahren äußert. In derKritik der reinen Vernunft kommen sie nur im „Anhang zur transzendentalen Dia-

Brought to you by | University of North CarolinaAuthenticated | 152.15.236.17

Download Date | 9/18/13 3:10 PM

Page 24: Kants Antwort auf Hume und eine linguistische Analyse seiner Modalbegriffe

Kants Antwort auf Hume und eine linguistische Analyse seiner Modalbegriffe 51

lektik“ vor, in der Kritik der Urteilskraft in der Einleitung, aber nicht mehr imHauptteil. Das Wort „Wahrscheinlichkeit“ wird von Kant kaum verwendet. Ver-gleicht man diese Zurückhaltung mit der führenden Rolle, die Induktion und Bestä-tigung in der modernen Wissenschaftstheorie spielen, fällt das schon auf. Offenbarwusste Kant nicht, wie man sie begründen kann. Das sagt er auch in der ersten Ein-leitung zur Kritik der Urteilskraft:

Weder Verstand noch Vernunft können a priori ein solches Naturgesetz [gemeint ist ein Prinzipwie z.B. das des kürzesten Weges] begründen. Denn, daß sich die Natur in ihren blos formalenGesetzen (wodurch sie Gegenstand der Erfahrung überhaupt ist) nach unserm Verstande richte,läßt sich wohl einsehen, aber in Ansehung der besondern Gesetze […] ist sie von allen Ein-schränkungen unseres gesetzgebenden Erkenntnißvermögens frey […]. Auf Rechnung der Er-fahrung kann man ein solches Princip auch keineswegs schreiben. (AA 20: 210.26–27)

Also weder a priori noch a posteriori lassen sich diese Prinzipien begründen.29

Natürlich fällt Kant anschließend noch etwas zu diesen Prinzipien ein; aber das isthier nicht unser Thema.

Was fangen wir aber dann mit Äußerungen an, wie:

[…] die reinen Verstandesbegriffe […] dienen gleichsam nur, Erscheinungen zu buchstabieren,um sie als Erfahrung lesen zu können […] (Prol, § 29, AA 04: 312.31).

Dieser Satz darf nicht so missverstanden werden, als seien die Verstandesbegriffeein Apparat, in den man oben die Wahrnehmungen hineinsteckt und bei dem dannunten die Erfahrungsresultate herauskommen. Die Kategorien ‚dienen‘ dazu, ‚Er-scheinungen zu buchstabieren‘, aber das heißt ja nicht, dass man dazu nicht auchnoch etwas anderes benötigt. Auch:

Der Verstand schöpft seine Gesetze (a priori) nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieservor. (Prol, § 36, AA 04: 320.11)

darf nicht so missverstanden werden. Hier ist ausdrücklich nur von den Apriori-gesetzen die Rede. Kant will in der Kritik der reinen Vernunft und in den Prolego-mena nicht die Frage beantworten, wie Naturwissenschaft überhaupt möglich ist,sondern nur wie „reine Naturwissenschaft“ oder allgemeine ‚Metaphysik‘ möglichist (vgl. KrV, B 20; Prol § 5, AA 04: 280.4), wie man schon am Titel seines berühmtenHauptwerks sieht. Das ist eine Teilantwort auf die Frage nach der Leistungsfähigkeitund den Grenzen der Metaphysik. Die Frage nach der Möglichkeit von Naturwis-senschaft muss indessen von ihm beantwortet werden, weil damit zugleich gezeigtwerden kann, dass es eine Metaphysik der Erfahrung gibt. Diese Antwort ist abernicht sein primäres Ziel, und so versteht man vielleicht auch, warum er in der Kritikder reinen Vernunft relativ wenig zu den Methoden der Naturwissenschaft sagt.

Oben in Abschnitt 2 haben wir bereits Humes Kausalproblem des Abschnitts VIIdes Inquiry vom Induktionsproblem des Abschnitts IV unterschieden. Das letztere

29 Man muss hier allerdings einräumen, dass Kant sich an dieser Stelle auf eine Liste von Prin-zipien bezieht, in der das Occamsche Rasiermesser nicht vorkommt. In der entsprechendenListe in der Einleitung der publizierten Fassung der KU ist es allerdings enthalten.

Brought to you by | University of North CarolinaAuthenticated | 152.15.236.17

Download Date | 9/18/13 3:10 PM

Page 25: Kants Antwort auf Hume und eine linguistische Analyse seiner Modalbegriffe

52 Andreas Kamlah

ist die Frage, wie man ein Induktionsverfahren der Bestätigung von Theorien be-gründet oder durch etwas besseres ersetzt. Kant löst es in der transzendentalen Ana-lytik nicht und behauptet so etwas auch nicht. Ihm geht es vielmehr um die Recht-fertigung des Begriffs der Ursache und der anderen Kategorien. Philosophen wieW. C. Salmon, K. R. Popper und W. Stegmüller muss er leider enttäuschen.

Brought to you by | University of North CarolinaAuthenticated | 152.15.236.17

Download Date | 9/18/13 3:10 PM


Recommended