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Juni – August 2009 · 4::Interview mit Yoko Tawada Sie kommen aus einem literarischen Elternhaus....

Date post: 28-Jul-2020
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:: Interview mit Yoko Tawada :: José F.A. Oliver und sein LeseLenz :: Gegen das Schubladen-Denken: Eine Unmutsäußerung Juni – August 2009 2 5 J a h r e A d e l b e r t - v o n - C h a m i s s o - P r e i s * * *
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Page 1: Juni – August 2009 · 4::Interview mit Yoko Tawada Sie kommen aus einem literarischen Elternhaus. Wie hat diese Umgebung Sie geprägt? Ohne Bücher gäbe es mich gar nicht. Denn

:: Interview mit Yoko Tawada

:: José F.A. Oliver und sein LeseLenz

:: Gegen das Schubladen-Denken: Eine Unmutsäußerung

Juni – August 2009

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Die Preisträger des Adelbert-von-Chamisso-Preises 2009

Tzveta Sofronieva (Förderpreis), Artur Becker (Hauptpreis)

und María Cecilia Barbetta (Förderpreis)

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Der erste Höhepunkt des Chamisso-Jubiläums-jahres 2009 war die 25. Verleihung des Adelbert-von-Chamisso-Preises an Artur Becker sowie der Förder-preise an María Cecilia Barbetta und Tzveta Sofronievaam 5. März. Zu diesem feierlichen Abend in Münchendurften wir neben vielen Gästen auch zahlreiche Preis-träger der vergangenen Jahre begrüßen.

In den ersten Märztagen begann eine Reihe mitAutorenlesungen und Werkstätten, die von dendeutschsprachigen Literaturhäusern und zahlreichenSchulen veranstaltet werden. Wir freuen uns, dass zumersten Mal auch die österreichischen Literaturhäuserin Salzburg und Graz mit von der Partie sind. Auf derLeipziger Buchmesse stellte die Robert Bosch Stiftunggemeinsam mit ARTE im zentralen Foyer unter derGlaskuppel die neuen Preisträger im Gespräch vor.

In diesem zweiten Chamisso-Magazin finden Sie,verehrte Leser, die Veranstaltungen von Juni bis AnfangSeptember. Besonders freut uns, dass Sie nicht nur inLiteraturhäusern und beim Hausacher LeseLenz, son-dern auch im Rahmen des »Literatursommers Deutsch-land« in Schleswig-Holstein zu mehr als zwei DutzendAbendveranstaltungen mit Chamisso-Preisträgerneingeladen sind.

Lassen Sie sich durch dieses zweite Chamisso-Magazin zu eigenen Entdeckungen anregen!

Dieter BergVorsitzender der Geschäftsführung der Robert Bosch Stiftung

Vom Schreiben in der FremdeEin Gespräch mit Yoko Tawada

Angeln im Fluss dermenschlichen MöglichkeitenEin Porträt von Sasa Stanisic

Sprache ist ein WunderwerkSchüler treffen Chamisso-Preisträger

Haifischhochzeit im Chamisso-KanalAdelbert von Chamisso war nicht nur Literat…

»Literatur sollte immer auch unter-halten, vielleicht gar Spaß machen!«José F.A.Oliver und sein Hausacher LeseLenz

Schluss mit dem Schubladen-DenkenEine Unmutsäußerung von Lerke von Saalfeld

Über literarische SprachwegeEin Essay von Franco Biondi

»verehrter adelbert von chamisso«Ein Brief von SAID an Adelbert von Chamisso

LiteraturveranstaltungenVon Juni bis August

NeuigkeitenTermine – Autoren – Impressum

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4 :: Interview mit Yoko Tawada

Sie kommen aus einem literarischen Elternhaus.Wie hat diese Umgebung Sie geprägt?

Ohne Bücher gäbe es mich gar nicht. Denn meineEltern haben sich während ihres Literaturstudiumskennengelernt. Meine Mutter war in einem buddhisti-schen Tempel aufgewachsen, ihr Vater war dortPriester. Die japanischen Kinder waren während desKrieges gezwungen, an den Staatsshintoismus zu glau-ben und stets bereit zu sein, für den Kaiser zu sterben.Und von heute auf morgen hieß es dann: Das warnichts, das gilt nicht mehr. Diese Erfahrung hat meineMutter zu einem Menschen gemacht, der an keineIdeologie und keine Religion glaubt. Die Literatur gabihr dann neuen Halt im Leben. In der Nachkriegszeitherrschte Aufbruchsstimmung in Japan, eine neueGesellschaft sollte entstehen. Immer mehr Frauen stu-dierten an den Universitäten. So lernten meine Elternsich kennen. Mein Vater machte sich später als Buch-händler selbständig und importierte europäischeFachbücher. Aus irgendeinem Grund nannte er seinekleine Firma »Elbe Shoten« (Elbe-Buchhandlung) –lange bevor ich dann nach Hamburg ging. Ich weißnicht, warum er ausgerechnet die Elbe als Patin wählte;ich fand damals den Rhein oder die Donau literarischinteressanter.

Was waren Ihre ersten Bücher?Schon als ich zwei Jahre alt war, hat mich der Hund

im Bilderbuch mehr interessiert als der Hund als Stoff-

tier. Ich lernte früh lesen und habe unzählige Kinder-und Jugendbücher verschlungen. Darunter auch vieleeuropäische. Ab der 4. Klasse habe ich jeden Tag einBuch gelesen. Ich wusste, wie schwedische Kinderspielen, wovon englische Kinder träumten. Aber als ich1982 das erste Mal nach Europa kam, habe ich es dochals fremd empfunden. In den Büchern fehlen die kör-perlichen Empfindungen – wie Deutschland riecht, dasstand nicht drin. Es schmeckt auch alles anders hier.Die Äpfel etwa sind wunderbar säuerlich. Die Luft isttrocken, und selbst wenn sie mal feucht ist, handelt essich um eine völlig andere Feuchtigkeit als in Japan.Und das Licht erst, das ist ganz verschieden, und eslässt jedes Ding anders zur Geltung kommen, von derKaffeetasse bis zum Himmel.

Sie haben dann ebenfalls Literatur studiert.Ja, und zwar mit dem Schwerpunkt auf russischer

Literatur. Das war die erste europäische Literatur, diefür Japan wichtig wurde. Futabate Shimei, der Endedes 19. Jahrhunderts Turgenjew übersetzte, hat dafüreinen neuen Stil erfunden. Der wurde zur Basis dermodernen japanischen Literatur.

Welche russischen Autoren haben Sie besondersbeeindruckt?

Schon als Schülerin war ich besessen von Dosto-jewskji. Er war wie eine Droge und hatte eine direkteWirkung auf mein Gehirn, aber nicht auf mein Schrei-

Vom Schreiben in derFremde

Seit dreißig Jahren schon ist Yoko Tawada fast ständig unterwegs, zwischen Europa und Asien wie zwischen den Sprachen und Kulturen. Die in Berlin lebende Autorin schreibt sowohl auf Japanisch wie aufDeutsch. Ihre Texte erkunden das fruchtbare Niemandsland zwischenGedicht und Essay, Essay und Erzählung, Erzählung und Gedicht.

Die Fragen stellte Stefan Schomann

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ben. Beim Lesen beschlich mich ein Vorgefühl, als obich gleich in Ohnmacht fallen müsste. Ich wusste, dasssich etwas ganz Dramatisches ereignen wird – dannpassiert doch nichts. Bald darauf stellt sich diese Vor-ahnung erneut ein, und so geht das die ganze Zeit.

Die Lektüre löste also fast körperliche Sensationenaus.

Der ganze Körper wird zum Leseorgan. Wenn manjünger ist, kann man sehr viele Bücher auf diese Weiselesen. Später, wenn man selbst schreibt, filtert undselektiert man neue Bücher sofort. Leider ist dieseeuphorische Phase also vorbei. Aber Tschechow zumBeispiel lese ich immer noch gern. Seine Reise nachSachalin etwa hat mich neulich wieder sehr beschäftigt.Er hat damals drei Monate gebraucht, um diese ferneSträflingsinsel zu erreichen. Es ist interessant, dass erein nicht literarisches, aber doch leidenschaftlichesBuch Insel Sachalin geschrieben hat. Nächstes Jahr wirdin Tokio meine Version des Kirschgartens aufgeführt.

Hat die russische Literatur Ihr eigenes Schreibenbeeinflusst?

Vor einigen Jahren habe ich mit Kenzaburo Oe einePodiumsdiskussion über literarische Einflüsse geführt.Es zeigte sich, dass die Russen auch für ihn sehr wich-tig waren, die Schule des Formalismus etwa. Er hatauch Essays darüber geschrieben, aber erst später,lange nachdem diese Einflüsse in seinem Werk Nieder-schlag fanden. Bei mir ist das auch so, dass ich Anre-gungen nicht analytisch, sondern organisch aufnehme.So wie man einen Schluck Wasser trinkt, der sich dannim Körper verteilt. Es dauert, bis es den Kopf erreicht.

Was war mit den asiatischen Traditionen?Klassische chinesische Literatur lernten wir schon

in der Schule, doch Gegenwartsliteratur aus China wur-de kaum vermittelt. China war zwar ein Nachbarland,aber man hörte nur politische Nachrichten, wusste nichtsvon der neuesten Literatur. Auch aus Südostasien oderdem Nahen Osten kannte man keine Gegenwartslite-ratur. Die alte japanische Literatur fand ich spannend.Die moderne japanische Literatur war mir natürlichvertraut, doch sie war vielleicht zu nah, räumlich wiezeitlich. Da entstand keine Neugierde und keine Sehn-sucht. Die Distanz schafft einen größeren Raum.

Schon als Kind hat mich der Hund im Bilderbuch mehr interessiert als der Hund als Stofftier.

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Interview :: 7

Mit neunzehn sind Sie dann zumersten Mal nach Europa gereist,quer durch die ganze Sowjet-union. In einem Essay vergleichenSie Ihre Annäherung mit der vonTôson Shimazaki, der siebzigJahre zuvor in Marseille an Landgegangen war.

Bevor die TranssibirischeEisenbahn gebaut wurde, reistendie Japaner mit dem Schiff nachEuropa. Sie besaßen ein relativ um-fangreiches Vorwissen aus Büchern;Europa war als imaginäres Kultur-land immer präsent. Lebende Euro-päer kannte man dagegen kaum.Auch ich hatte, abgesehen von mei-nen Lehrern, bis dahin nie mitEuropäern gesprochen. Bis in diesiebziger Jahre lebten in Japanwenig Ausländer.

Europa – ein Kontinent aus Büchern?Genau. Bis dahin war ich kaum verreist gewesen,

ich saß viel lieber in der Bibliothek. Nun aber beganneine wirkliche Reise. Erst ging es mit dem Schiff vonYokohama nach Nachodka, dann weiter mit dem Zugbis Moskau. Das war damals billiger als Fliegen. Außer-dem wollte ich mein Russisch üben. Wenn man solange unterwegs ist, dachte ich, dann erzählt man sichsein ganzes Leben. Die Fahrt dauerte über 160 Stunden,plus 30 Stunden Verspätung.

Eine frühere Erzählung trägt den bezeichnendenTitel »Wo Europa anfängt«. Wo fängt es denn an?

Wenn man mit der Eisenbahn kommt, sieht manmitten im Ural ein Schild, da steht links »Europa« undrechts »Asien«. Das soll die geographische Grenzemarkieren. Aber da ist weder von Asien noch vonEuropa etwas zu sehen, sondern einfach nur Grasland.Asien und Europa sind kulturelle Begriffe. Das Grasfragt nicht danach, wo es wächst.

Sie haben damals auch schon Deutschland besucht.Das war alles so aufregend, dass ich dachte, ich

würde das nicht lange aushalten. Doch auf der Rück-fahrt habe ich Europa bereits vermisst. Über die Firmameines Vater bekam ich schließlich ein Angebot, inHamburg zu arbeiten. Da habe ich auf der Stelle zuge-sagt. Damals hat mich schon das Thema der Mehrspra-chigkeit beschäftigt. Es war eine Überraschung, dassdiese deutsche Sprache, die ich ja vor allem aus Bü-chern kannte, auch von lebenden Menschen gespro-chen wurde. Und dass sie auch in dieser Sprache überdie Liebe, aber auch über die Sonderangebote in einemSupermarkt nachdachten. Was heißt das überhaupt, ineiner Sprache zu leben? Was passiert zwischen zweiMenschen, die verschiedene Sprachen haben? Nacheinem Jahr in der Firma studierte ich dann in HamburgGermanistik. Parallel begann ich auf Deutsch zuschreiben.

Ihr erstes Buch war ein Gedichtband. Ich hatte die Texte auf Japanisch geschrieben, in

Deutschland erschienen sie dann aber zweisprachig.Gemeinsam mit dem Übersetzer bestritt ich etlicheLesungen. Anders als bei uns ist das sehr verbreitethier, diese Kultur der Lesung. Zuerst war mir das etwaspeinlich, ich war schüchtern und hatte keine großeLust. Doch bald fand ich Gefallen daran. Gerade weildas Publikum kein Japanisch verstand, kam der Klangbesonders zur Geltung. Er verselbständigte sich in derLuft, und meine eigene Sprache kam mir so geheimnis-voll vor wie ein Zauberspruch. Literatur ist eben nichtnur das, was auf dem Papier steht, sondern auch das,was erklingt. Auch das ist eine physische Erfahrung;der ganze Körper spricht mit. Um Deutsch zu spre-chen, muss ich mich anstrengen, damals noch mehr alsheute, weil ich die nötige Gesichtsmuskulatur nochnicht entwickelt hatte.

Im Deutschen ist eben alles Arbeit.Ja, in jeder Sprache ist alles Arbeit. Die in Kalifor-

nien lebenden Japaner besitzen einen ganz anderen

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8 :: Yoko Tawada

Gesichtsausdruck als ihre Landsleute zu Hause. DasGesicht wird durch die amerikanische Sprache ge-formt. Auch das meine hat sich verändert, seit ich inDeutschland lebe, nur kann ich das leider schlechtbeschreiben. Andere sehen es eher.

Seither schreiben und veröffentlichen Sie sowohl aufDeutsch wie auf Japanisch. Aber jeweils ganz ver-schiedene Texte, oder?

Auf Japanisch sind einundzwanzig Bücher erschie-nen, auf Deutsch achtzehn. Die Bücher, die ich aufDeutsch geschrieben hatte, habe ich nicht ins Japani-sche übersetzt außer Opium für Ovid und Schwager inBordeaux. Meine japanischen Bücher habe ich nie insDeutsche übersetzt. Die deutschen Leser wissen alsonicht, was in meinen japanischen Büchern steht, undumgekehrt. Auf Englisch und auf Französisch liegenjeweils vier Bücher vor, sie sind aus beiden Sprachenübersetzt. In einer dritten Sprache werde ich zu einerAutorin.

Das klingt fast nach vorsätzlicher Schizophrenie?Hören Sie Stimmen?

(lacht) Ganz richtig, so bin ich! Ich höre zwar nichtwirklich Stimmen, aber ich wünsche mir einen ähnli-chen Zustand beim Schreiben. Wobei die wirklichSchizophrenen ja sehr darunter leiden. Wenn ich dieSprache und die Logik wechsle, ist das zwar auch qual-voll, aber es geschieht unter Kontrolle. Und es erwei-tert meine Möglichkeiten. Während ich auf Japanischschreibe, kann ich auf Deutsch darüber nachdenken,

und umgekehrt. Doch manchmal gerät dann im Kopfzu viel durcheinander. Das Sprachgefühl wird unterUmständen beeinträchtigt, wenn man in zwei Spra-chen gleichzeitig schreibt. Aber von einer Behinderunggewinnt die Literatur manchmal mehr als von einerStilübung.

Viele Menschen zeigen schon innerhalb einerSprache herzlich wenig Sprachgefühl.

Sie sprechen ihre Muttersprache zwar fließend,aber wenn man genauer zuhört, sagen sie nichts Neues,Eigenes. Sie wiederholen nur Sätze, die man schonanderswo oft gehört hat. Doch auch diese Menschenkönnen in einer Fremdsprache unter Umständenetwas Wertvolles sagen. Eben weil sie ihnen nicht ge-läufig ist, weil sie das Fließband der Mutterspracheverlassen.

Wie arbeiten Sie, wie sieht ihr Alltag als Autorinaus?

Ich versuche, gleich nach dem Aufwachen zuschreiben. Ich nehme kein Frühstück, nur Kaffee undein paar Kekse oder Schokolade. Das Gehirn möchteetwas Zucker, der hilft mir beim Schreiben. Äußerlichmache ich dabei einen verschlafenen Eindruck undwäre völlig gesellschaftsuntauglich. Das Schreibenkann unterschiedlich lange dauern; danach frühstückeich.

Was denn?Mal Müsli oder Brot, also deutsch, mal ein Crois-

sant, also französisch, und mal Reis, also japanisch.Man sagt, der Mensch sei ein Gewohnheitswesen. Aberselbst bei den Gewohnheiten bin ich nicht sesshaft.Nach dem Frühstück schreibe ich dann Briefe und E-Mails, stelle Texte zusammen, alles Mögliche, nur keinwirkliches Schreiben. Später treffe ich Freunde, geheaus, besuche Veranstaltungen. Oder ich lese zu Hause.

Häufig aber haben Sie keinen regelmäßigen Tages-ablauf, Sie gehen viel auf Reisen.

Ich gebe rund fünfzig Lesungen im Jahr und binetwa vier Monate nicht zu Hause, weil ich anderswoein Stipendium erhalten habe oder in Japan bin. Aberauch da versuche ich die Morgenstunden beizubehal-ten. Ich kann auch gut am Flughafen oder im Zugschreiben. Allerdings erst, wenn ich dort bin. Deshalbfahre ich immer viel zu früh los. Erst wenn ich direktam Flugsteig sitze, kann ich unbeschwert schreiben.

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Interview :: 9

Sonst könnte ja immer noch etwas dazwischenkom-men. Ein paar Mal war ich so vertieft, dass alle anderenschon eingestiegen waren. Aber dann kam jedes Maleine Angestellte der Fluggesellschaft und fragte: Woll-ten Sie nicht mit dieser Maschine fliegen?

Das Abheben genieße ich jedes Mal. Denn beimSchreiben gibt es, wenn es richtig gut läuft, ähnliche Mo-mente. Da hebe ich gedanklich ab, beflügelt von einermachtvollen, sich beschleunigenden Dynamik, die ausder Sprache heraus kommt. Landungen dagegen habeich nicht gerne. Da kriegt man Ohrensausen, landet wiegeplant, und die Passkontrolle wartet auf mich.

Auch Ihre Figuren sind dauernd unterwegs. Wenn-gleich sie häufiger nicht ankommen, zumindest nichtdort, wo sie wollten.

Reisen und schreiben hängen überhaupt eng zu-sammen. Meine Bücher sind ein Anlass für Reisen,ihretwegen werde ich zu Lesungen oder als »writer inresidence« eingeladen. Dort erfahre ich etwas überLeute und Orte, die wieder Eingang in spätere Textefinden. Während ich nach New York reise, lese ichvielleicht etwas über Prag, schreibe aber noch überBordeaux. Und meine Gastgeber sprechen mit mirdann womöglich über Tokio.

Welche Reise hat Sie zuletzt besonders bereichert?Vor einigen Jahren fuhr ich endlich nach Sachalin,

auf Tschechows Spuren. Ich ging zu einem russischenReisebüro in Hamburg, weil ich dachte, das sind dieSpezialisten. Aber die bekamen einen Schreck undsagten: Nein, das machen wir nicht, das ist zu weit weg.So habe ich die Reise dann in Japan gebucht. Mit demSchiff sind es nur fünf Stunden von Wakkanai. Im Pros-pekt stand: Europa vor der Tür! Weil es zu Russlandgehört, ist es Europa. In gewissem Sinne stimmt dasauch. Die Sowjetunion hat viele Russen dorthin ge-schickt und ihnen viel mehr Gehalt angeboten, damitdas ganze Land bis zum östlichen Ende mit Europäernbewohnt ist. Im Unterschied zu Moskau stehen dortauch noch viele Leninstatuen. Es war eine Zeitreise.

Wieder das alte Thema: Wo liegt Europa, wo Asien?In Berlin benutzt man häufig diesen Ausdruck »im

Osten«. Das kann ganz Verschiedenes bezeichnen.Innerhalb der Stadt meint es das frühere Ost-Berlin.Bei anderen fängt der Osten in Polen an, oder in derUkraine, oder am Ural. Das Tolle an Berlin ist, dassWest und Ost in einer Stadt vorhanden sind, als Kate-

»Es gibt deutsche Leser, diemeine Bücher als Beispiele für soetwas wie ›asiatisches Denken‹ansehen.Dabei kann man sie genauso gutals Beispiel für deutsches Denken bezeichnen, wenn manunbedingt ein Etikett braucht.«

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gorien. Es ist eine Stadt auf derSchwelle. Wenn ich in Pankowspazieren gehe, bin ich im Kopfschon fast in Russland: Maja-kowski-Ring, Boris-Pasternak-Weg, Tschaikowsky-Straße …Und es gibt diese breiten, gera-den Straßen wie die PrenzlauerAllee, die sehen aus, als würdensie mich direkt nach Moskauoder weiter nach Peking bringen.In Hamburg gab es keine solcheStraßen.

Sind Sie deshalb, nach 24 Jah-ren in Hamburg, kürzlich nachBerlin gezogen?

In Berlin leben so viele inter-nationale Künstler, ich genießedie Stadt als eine riesige Theater-bühne. Eigentlich braucht manhier nicht mehr zu reisen, hier istdie ganze Welt zu Hause. Und wiegesagt, es ist eine »eurasische«Stadt …

Kürzlich hatten Sie hier eineDiskussion mit Hiromi Ito überden Begriff einer »internatio-nalen Literatur«. Trifft diesesEtikett auf Sie zu?

Insofern ich keine nationale Literatur produzierenmöchte, könnte ich sagen, dass ich internationale Lite-ratur schreibe. Andererseits halte ich nicht viel vomWort »international«. Denn viele Länder bleiben außenvor, weil ich nicht hinfahren kann, oder weil die Lite-ratur dort unterdrückt wird, oder weil so viele Men-schen dort nicht lesen können. Ich bin ja meist nur inEuropa und Nordamerika und in Ostasien unterwegs.Ich war zum Beispiel leider nur zwei Mal in Afrika.Aber ich finde es natürlich toll, dass Texte von mir inunterschiedlichen Kulturen gelesen werden. Das istmir wichtiger, als in einem Land, in einer Schicht alshohe Literatur bewertet zu werden.

Haben Sie keine Sorge, sich Japan zu entfremden?Nein. Umgekehrt: Als ich in Japan lebte, machte ich

mir nie viele Gedanken über die japanische Kultur, diewar ja da. Das Nô-Theater etwa ist erst von Europa aus

für mich wichtig geworden. Oder die Entwicklung derjapanischen Sprache, die alte Form der Zeichen, damitbeschäftige ich mich hier sehr. In Japan dagegen domi-niert das moderne Japanisch alles. Nein, man verliertnichts. Im Gegenteil, ich muss aufpassen, dass ich hiernicht die ganze Zeit nur über Japan nachdenke. Es istgerade die Differenz zwischen zwei Kulturen, die michfruchtbar macht, nicht das Japanische an sich. ::

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Das Fremde aus der Dose. Graz/Wien:Literaturverlag Droschl, 1992Spiegelbild. Dt. und japan. Aquarelle vonAngelika Riemer. Berlin: Mariannenpresse,1994 Ein Gedicht für ein Buch. Photos vonStephan Köhler. Hamburg: Edition Lange,1996 (Libretto Bd. 1) Nur da wo du bist, da ist nichts. Gedichte& Prosa. Übersetzt von Peter Pörtner. 1987 Das Bad. Kurzer Roman. Übersetzt vonPeter Pörtner. 1989Wo Europa anfängt. Prosa und Gedichte.Jap. und dt., übersetzt von Peter Pörtner.1991 (NA 2006)Ein Gast. Roman. 1993 Tintenfisch auf Reisen. 3 Geschichten.Übersetzt von Peter Pörtner. 1994 Talisman. Von der Muttersprache zurSprachmutter. Literarische Essays. 1996 Aber die Mandarinen müssen heuteabend noch geraubt werden. Prosa &Lyrik. Übersetzt von Peter Pörtner. 1997 Wie der Wind im Ei. Theaterstück. 1997 Zweihundertdreiunddreißig GradCelsius. Ein Feuerbuch. Blixa Bargeld,Kain Karawahn, Yoko Tawada. 1998 Verwandlungen. Tübinger Poetik-Vorlesung. 1998Opium für Ovid. Ein Kopfkissenbuch von22 Frauen. 2000Spielzeug und Sprachmagie in der euro-päischen Literatur. Eine ethnologischePoetologie. 2000Überseezungen. 2002Das nackte Auge. 2004Sprachpolizei und Spielpolyglotte. Litera-rische Essays. 2007Schwager in Bordeaux. Roman. 2008Alle im Konkursbuch Verlag Claudia Gehrke,Tübingen

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Porträt :: 11

Wer ihm schon mal begegnet ist, nennt ihn meistSasa. Einfach Sasa. Als wäre er ein netter Kumpel, derkleine Bruder, irgend etwas in der Art. Es mag daranliegen, dass sein Nachname – Stanisic, was man unge-fähr wie Stanischitz aussprechen sollte – nicht ganzleicht von der Zunge geht. Daran, dass der Chamisso-Preisträger aus dem vergangenen Jahr erst 31 ist, unddamit der bisher jüngste Schriftsteller, dem die Aus-zeichnung verliehen wurde. Oder auch daran, dass erauf die Art und Weise hübsch und freundlich und coolaussieht, wie Angehörige des ehemals nur starken Ge-schlechts das inzwischen glücklicherweise dürfen,wenn sie wollen. Vielleicht eine Art literarisches Jung-männerwunder, analog zum literarischen Fräulein-wunder der späten Neunziger Jahre? Weil er aucheiner der erfolgreichsten aller bisherigen Chamisso-Preisträger ist – sein Roman Wie der Soldat das Gram-mofon repariert wurde bisher in fast dreißig Sprachenübersetzt, hat einige weitere Preise gewonnen underntet überall sehr positive Kritiken –, befindet er sichderzeit häufig unterwegs auf Lesereise, auf Schreib-reise, auf Forschungsreise, »auf allen Kontinenten, bisauf den eisigen«.

In Kolumbien zum Beispiel, wo er kürzlich denText »Besser scheitern« verfasst hat, der natürlich vonSamuel Beckett inspiriert ist und von dem eigenenUnvermögen handelt, sich angesichts der chaotischenZustände in der Stadt Cartagena einigermaßen ange-messen zu verhalten, und mit der Unmöglichkeit, sieangemessen darzustellen. »Ich scheitere, weil ich wie-der nur reproduziere, aus Geschichten anderer meine

eigenen Geschichten mache«, schrieb Sasa Stanisic inseiner Kolumne für das Popkulturorgan Umagazine,die auch auf seiner eigenen Website www.kuenstlicht.de(Untertitel: Schule des Krachenlassens) nachzulesenist – und eine durchaus gelungene Form bewussten undgekonnten Scheiterns vorführt.

Der jüngste Eintrag samt Fotos dort stammt ausAustralien, wo er einen imaginären Trinkwettkampfzwischen einer Gruppe Schriftsteller und einer briti-

Angeln im Flussder menschlichenMöglichkeiten

Sasa Stanisic ist jetzt schreibendin der ganzen Welt unterwegs

Von Ulrike Frenkel

Freundlich und cool: Das literarische »Jungmännerwunder«?

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12 :: Sasa Stanisic

schen Reisegesellschaft inszeniert, »eine große Britinbrüllte eine ganze Seite Ulysses in unsere Richtung, wirantworteten kryptisch in unserer mit Gurr-Lauten ver-setzten Verkaufszahlensprache«, heißt es kurz vordem erfundenen, komischen Showdown, der, wie mandanach erfährt, der puren Langeweile in Perth zu ver-danken ist. Fantasie steht dem 1978 in Visegrad imheutigen Bosnien-Herzegowina geborenen Autor zumFüllen von Leerstellen mehr als ausreichend zur Ver-fügung, das hat er bereits in Wie der Soldat das Gram-mofon repariert vorgeführt, in einem originellen Feuer-werk aus gewählten Worten, funkelnden Bildern, ver-störenden Beobachtungen, einem großen, schwarz-bunten Wortgemälde, das versucht, was wirklich warzu bewahren, was möglich gewesen wäre mit Verstandund Gefühl und Humor zu evozieren.

Der eigentlich unerträglichen Wirklichkeit setztder junge Autor dabei seine Begabung als »Fähigkeiten-zauberer« entgegen, der die Dinge schöner sehenkann, ohne sie zu beschönigen, der sie mit zärtlichemBlick und hartem Verstand lebendig macht und zumTanzen bringt, und genau das betrachtet auch seinkindlicher Erzähler Aleksandar zunächst als Aufgabe.Er folgt der Weisung seines Großvaters: »Die wertvoll-ste Gabe ist die Erfindung, der größte Reichtum die

Fantasie«, sagt Opa Slavko, sozusagen der best boyund der literarische Gewährsmann für diese überbor-dende Geschichte aus dem Jugoslawienkrieg.Aleksandar ist dieser europäischen Katastrophe eben-so wie Sasa Stanisic im Alter von vierzehn Jahren inRichtung Deutschland entkommen, nachdem die ser-bischen Truppen seine Heimatstadt Visegrad einge-nommen hatten und er und die Eltern dort nicht mehrsicher waren. Er ist halb Serbe, halb Bosnier, ebensowie Sasa Stanisic, der dem Ich-Erzähler einige Zügeseiner selbst, einige Begebenheiten aus seinem Lebengeliehen hat, um sie mit erfundenen Ereignissen zuversetzen und das Ganze dann literarisch zu überhö-hen: Zu sinnlichen Geschichten über eine freie, wildeKindheit in Gärten und am Fluss und deren Ende, übereine skurrile Verwandtschaft und deren Auseinander-brechen, über Feste und Fußballspiele und deren Zer-störung durch blutige, grausame Bruderkämpfe. »Ichbin Halbhalb«, lässt der Autor Aleksandar auf demSchulhof lernen. »Ich bin Jugoslawe – ich zerfalle also«.Und bevor er die schmerzliche Erfahrung verdrängthat, dass die eigene Identität von anderen Menschenbeschädigt werden kann, dass man dann im bestenFalle sein Innerstes, seine Erinnerung, retten kann,lässt er ihn aufschreiben, wie es gewesen sein könntein der kleinen Stadt im Osten Bosniens, die ja schoneinmal literarischer Schauplatz war.

Auch Ivo Andric erzählt in seinem Roman DieBrücke über die Drina vom Zusammenleben verschie-dener Völker in Visegrad und von ihren Kämpfen

»Ich bin ein Literaturnomade…«

Mit besonderer Hingabe liest Sasa Stanisic seine Texte, die einem üppigen Fundus an fantasievollen Geschichten entstammen.

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untereinander, wenn auch lange bevor und ganz andersals Sasa Stanisic das tut. Der Jüngere kennt den Textdes großen Vorgängers gut, er ist überhaupt ein fleißi-ger Leser der Klassiker vieler Länder. »Ich bin einLiteratur-Nomade. Mir ist nichts fremd, vom ScienceFiction-Schinken bis zur barocken Lyrik. Ich kann inden meisten Genres etwas Verwertbares finden, irgend-eine Art Vergnügen oder Erkenntnis gewinnen«, sagter. Aber auch wenn er den Fluss seiner Kindheit alsOrt des Glücks beim Angeln und Baden und als Ort desGrauens, als die Strömung später die Kriegstoten mitsich reißt, schildert, schreibt er das eben nicht auf Ser-bokroatisch wie Andric und auch nicht auf Bosnisch,sondern auf Deutsch. (»Ich mag das Bosnisch sehr, weiles mich schon beim Sprechen stärker nachzudenkenzwingt als das Deutsch, das wesentlich selbstverständ-licher, unreflektierter kommt«). Er hat die Sprache erstim Alter von vierzehn Jahren gelernt, in einer Heidel-berger Schule, in der zu seinem Glück Sprachförder-kurse für ausländische Schüler gegeben wurden. »Manhat uns nicht überfordert, sondern erst behutsamsprachlich aufgebaut und erst dann an den eigentlichenUnterricht herangeführt«. Außerdem habe ein Lehrerdort schon seine frühen dichterischen Versuche unter-stützt, sagt Stanisic, der nach dem Abitur Deutsch alsFremdsprache und Slawistik studierte und nach einemArbeitsaufenthalt in den USA am Deutschen Literatur-institut in Leipzig eingeschrieben war.

Dort konnte er mit Dozenten und Kommilitonen anseinen Texten feilen. »Ich hätte ein anderes, schlechte-

res Buch geschrieben,wenn ich nicht inLeipzig studiert hätte«,davon ist er überzeugt.Sein burlesker Stil, seine unkonventionelle, aufregendschöne Ausprägung der deutschen Sprache dürftensofort aufgefallen sein, wobei er als Schriftsteller nichtgerne auf einen Lernprozess reduziert werden möchte.Für ihn und andere deutsche Schriftsteller ausländi-scher Herkunft gelte wohl: »Die Sprache ist die Brücke,auf der wir zum Buch hingelaufen sind« sagt er, und:»Für mich ist das Schreiben an sich eine fremde Spra-che.« Gleichwohl hat die Tatsache, dass er zwei Spra-chen, zwei Heimatländer, zwei Kulturen erfahrenmusste und konnte (»die Musik ist auch eine interes-sante Empfindung – ein bosnisches/serbisches/kroati-sches Lied wird mich des Öfteren wahnsinnig traurigmachen, ja zu Tränen rühren, das ist einem deutsch-sprachigen Lied noch nicht einmal ansatzweise gelun-gen«), seine Literatursprache deutlich und kostbargeprägt, genauso deutlich ist er aber auch ein Kind derPopkultur, des Films, des Comics und des Computers,und, nicht zu vergessen, des Sports. Am meisten, sagter, habe er in Heidelberg beim Kicken am Nachmittagvon seinen neuen Freunden gelernt.

Der Fußball spielt auch in Wie der Soldat dasGrammofon repariert eine wichtige Rolle, eine Schlüs-selszene, in der die gegnerischen Kriegsparteien umLeben und Tod mit dem Ball kämpfen, rutscht vomSpielerischen ins albtraumhaft Ernste. »Das dient als

:: Wie der Soldat das Grammofonrepariert. Roman. München: LuchterhandVerlag, 2006

Viele Gesten unterstreichen seine Erzählungen, die oft biografische Elemente aus dem ehemaligen Jugoslawien enthalten.

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14 :: Sasa Stanisic

Parabel für die ganze Absurdität eines so genanntenBruderkrieges, und auch da ändert sich das Spiel, so-bald es um Leben und Tod geht«, sagt Stanisic. SowohlKrieg wie auch Sport basierten zwar »auf dem Aufein-andertreffen zweier Gegner, aber Krieg kennt kein FairPlay und Sport im Normalfall keinen abgrundtiefenHass.« Das interessiert ihn, und eigentlich hatte er vor,zwei seiner Hobbys wissenschaftlich zu einer Disser-tation über Literatur und Fußball zu verknüpfen – es istihm aber Einiges dazwischen gekommen. Die vielenLesereisen, die Reaktionen aus aller Welt auf Wie derSoldat das Grammofon repariert: »Ich habe von deut-schen Schülern Vorschläge für neuartige Anführungs-zeichen für ›nichtgesagtes Denken‹ (auch Aleksandarmacht sich darüber Gedanken) bekommen. Bosnischeund serbische und kroatische Leser kommen zu denLesungen und erzählen mir ihre Geschichten, schrei-ben das Buch so unendlich weiter. Von amerikanischenDozenten habe ich E-Mails bekommen, sie würden dasBuch in ihren Seminaren besprechen, und als ich gera-de dachte, das gibt’s doch gar nicht, kam so eine ähnli-che Nachricht auch aus Japan« – so geht es einem, dermit seiner ganz eigenen, sensiblen Sprache andereMenschen berührt. Und er schreibt weiter, eigentlichfast ständig, oben genannte Kolumnen, die er »neben-bei als Zeitvertreib macht, oft ist das Zeug, das ich aufwww.kuenstlicht.de stelle, zu persönlich oder zubruchstückhaft, um auf Papier Sinn zu machen«, findeter. Aber das muss man nicht glauben, denn viele derTexte, zum Beispiel die über seinen vor einiger Zeit

gestellten Einbürgerungsantrag und die damit verbun-denen deutschen Verwaltungsabsurditäten spielengekonnt und witzig mit dem intimen Charakter vonInternetäußerungen. Außerdem hat er im vergangenenJahr das Theaterstück »Go West« verfasst, das amGrazer Schauspielhaus uraufgeführt wurde, als musi-kalische Collage über eine singende Familie, die ausÖsterreich in die USA auswandert und dort unter ande-rem Sigmund Freud, Louis Armstrong und MichaelJackson trifft. Gerade wurde die Bühnenfassung vonWie der Soldat das Grammofon repariert in Freiburgaufgeführt. Für einen neuen Roman möchte er sichaber noch Zeit lassen, dem neuen Leben in Berlin, woer gerade hingezogen ist, Raum geben. »Seit heute binich Berliner und ich wünsche uns Berlinern eine hoheJahresdurchschnittstemperatur«, schreibt er. Gleich-wohl, der Laptop bleibt bei ihm immer an, manchmal,gibt er zu, »muss ich mich selbst zwingen, auf ›Ozean‹zu schalten«. Wie sich das anfühlt? Wenn wir Glückhaben, können wir auch darüber einmal etwas vonSasa Stanisic lesen. ::

»›Die wertvollste Gabe ist die Erfindung‹, sagt Opa Slavko«.

Gut besucht war die Lesung mit Sasa Stanisic im vergange-nen Sommer im Park der Robert Bosch Stiftung.

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Workshops /Schullesungen :: 15

»Mit Knistern in den Lüften flattert ein Flugblattheran worauf geschrieben, hier käme uns ein Vogelgelogen«. Wie bitte? Ein Vogel kommt uns »gelogen«?Sollte es nicht »geflogen« heißen? Oder »gelegen«?Oder ist das alles »gelogen«, weil der Vogel in Wahrheitein Flugblatt ist, das zwar flattert, aber doch nur lügt?

Wie dem auch sei – der letzte Satz von Zehra ÇıraksProsagedicht Bussard ist alles andere als eindeutig, undselbst wenn man den gesamten Bussard-Text kennt,wird er nicht eindeutiger. Aber er ist schön. Der feh-lende Buchstabe im Wort kann entlarvend sein, kannunerwartete Bedeutungen freilegen. So wie hier. Genaudas erfuhren mehr als zwanzig – nebenbei gesagt:höchst motivierte – Neuntklässler der Ludwig-Aurba-cher-Hauptschule in Türkheim, als sie Anfang März anZehra Çıraks Lyrik-Workshop in der InternationalenJugendbibliothek im Münchner Schloss Blutenburgteilnahmen. Und sie erfuhren manches mehr: zum Bei-spiel, dass sich Gedichte nicht unbedingt reimen müs-

Sprache ist ein Wunderwerk

Schüler treffen Chamisso-Preisträger

Von Klaus Hübner

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sen. Anhand ihrer eigenen Poeme führte die Chamisso-Preisträgerin des Jahres 2001 den Schülern die Viel-fältigkeit lyrischen Sprechens vor Augen und Ohren.Nach ihrer inspirierenden Einleitung wurden dieJugendlichen dann selbst aktiv: »Schreibe ein Gedichtüber etwas, das dir wichtig ist!«, lautete die Aufgabe.Jeder schrieb ein Wort auf, das ihn gerade besondersbeschäftigte. Auf der Basis dieser Wörter wurden dieSchüler in kleinere Gruppen aufgeteilt und die genann-ten Begriffe um ein weiteres Wort ergänzt. Plötzlichwar das erste Gedicht fertig, und Schritt für Schritt ent-standen zahlreiche lustige und bewegende Texte zuganz unterschiedlichen Themen, von Liebe und Freund-schaft über Strandwanderungen und die Sehnsuchtnach dem Wochenende bis hin zu den Freuden desMofa-Fahrens. Die meisten Schüler statteten ihr Ge-dicht noch liebevoll mit Illustrationen aus und konnteneine schöne Erinnerung an einen gelungenen Workshopmit einer echten Dichterin mit nach Hause nehmen.

Die Robert Bosch Stiftung vergibt nicht nur jähr-lich den Adelbert-von-Chamisso-Preis, sondern siebegleitet die Preisträger auch nach dessen Verleihung.Dieter Berg, der Vorsitzende der Geschäftsführung derStiftung, nennt in seinem Grußwort zum Katalog VieleKulturen – eine Sprache, in dem die Preisträger derletzten 25 Jahre ausführlich vorgestellt werden, alserstes und vorrangiges Beispiel für diese Begleitförde-rung »zahlreiche von der Stiftung unterstützte Lesun-gen, vornehmlich an Schulen«. Das korrespondiertbestens mit vielen anderen, ebenfalls schwerpunktmä-ßig den Schülern in Deutschland zugedachten Aktivitä-ten des Preisgebers. Was also lag näher, als einige derzur 25. Verleihung nach München eingeladenen frühe-ren Preisträger mit Schülern zusammenzubringen?

Mit viel Engagement nahmen die Schülerinnen und Schülerder Ludwig-Aurbacher-Hauptschule an dem von Zehra Çırakgeleiteten Workshop teil.

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Workshops /Schullesungen :: 17

Zsuzsanna Gahse, die den Chamisso-Preis 2006bekommen hatte, fand bei ihrer Lesung allerdings einganz anderes Publikum vor als Zehra Çırak: fast hun-dert bestens vorbereitete und äußerst interessierteSchülerinnen der Kollegstufe des Schwabinger Sophie-Scholl-Gymnasiums. Die Preisträgerin las ausgewähltePassagen aus ihren jüngsten Prosabänden durch unddurch, Instabile Texte /zu zweit und Oh, Roman. DieSchülerinnen erfuhren die Sprache als ein Wunder-werk und erlebten hautnah, welche Bereicherung derRaum zwischen mehreren Sprachen darstellen kann.Dass das poetische Arbeiten mit einer Sprache, geradeauch im Kontext anderer Idiome, beileibe keine Hexe-rei ist, dass es Spaß macht und mehr als das, dass dabeiUnerwartetes, Wundersames, alle Sinne zu neuen Emp-findungen hin Öffnendes herauskommen kann – dasalles und noch viel mehr konnte man bei dieser Lesunglernen und spüren. Wunderbar locker und leicht wurdesie absolviert, stets klug gelenkt von der äußerst char-manten, auf die jeweilige Frage und Situation sensibeleingehenden Autorin. Die Schülerinnen waren faszi-niert, stellten durchwegs pointierte Fragen und nichtdie bei Autorenlesungen leider üblichen, bedauerten,dass so ein Ereignis in ihrer Schule viel zu selten statt-finde, und räumten in Sekundenschnelle den Tisch mit

den bereitgestellten Preisträger-Katalogen ab. DieAutorin war hoch zufrieden, die Schulleitung eben-falls, und die Bitte, bald wieder einmal für eine solcheSchulveranstaltung zu sorgen, war unüberhörbar.

Dante Andrea Franzetti schien es da schwerer zuhaben. Der aus Zürich angereiste Chamisso-Preisträgerdes Jahres 1994, der mit seinen gerade einmal fünfzigJahren schon auf ein beachtliches Werk zurückblickenkann, las im Münchner Literaturhaus einige mit Be-dacht ausgewählte Prosastücke und diskutierte da-rüber mit etwa fünfzehn Schülern aus berufsbildendenSchulen der Stadt. Und siehe da – auch hier fanden dierichtigen, nämlich die an Literatur im Allgemeinen undam eigenen Schreiben im Besonderen höchst interes-sierten Schüler den Weg zu einem Chamisso-Preisträ-ger, und auch hier mit erheblichem Gewinn für beideSeiten. Franzetti zeigte, immer im Dialog mit den eifrig(nach-)fragenden Teilnehmern, nicht nur die Unter-schiede zwischen Alltagssprache und literarischemSprechen, sondern entwickelte im Lauf des Gesprächsgar so etwas wie eine höchst aufschlussreiche Poetolo-gie seines Schreibens. Die, wie bei Zehra Çırak oderZsuzsanna Gahse auch, ganz wesentlich von aktiv ge-lebter Mehrsprachigkeit und von völlig selbstver-ständlich erfahrener kultureller Vielfalt samt dem ihrinnewohnenden Konfliktpotenzial geprägt ist. Das vonFranzetti spontan, aus dem Gruppengespräch herausEntwickelte hat mit Sicherheit dazu beigetragen, dassdie Teilnehmer seinen jüngsten Roman Mit den Frauenmit geschulteren Sinnen als zuvor wahrnahmen – amEnde des Workshops erhielten alle anwesenden Be-rufsschüler ein Exemplar dieses kleinen Meisterwerksgeschenkt, und das auch noch mit einer Widmung sei-nes Urhebers! Die Begeisterung war auch hier mit Hän-den zu greifen, und der Tenor lautete: Eine derartkreative, augenöffnende und produktive Abwechslungvom Schulalltag hat man nur allzu selten! Mehr davon!Was einmal mehr zeigt – der Erfolg der drei MünchnerVeranstaltungen bestätigt zahlreiche andere Erfahrun-gen –, dass die Robert Bosch Stiftung und die für denAdelbert-von-Chamisso-Preis Verantwortlichen mitsolchen Schulveranstaltungen auf dem richtigen Wegsind. Und das für den Erfolg letztlich Entscheidendehat sich in 25 Jahren beständig weiter angereichert:einfach wunderbare, wache, kluge, sensible und folg-lich für solche Veranstaltungen bestens geeigneteChamisso-Preisträger. ::

Fast hundert Schülerinnen des Schwabinger Sophie-Scholl-Gymnasiums verfolgten die Lesung von Zsuzsanna Gahse.

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18 :: Über Adelbert von Chamisso

In den Jahren 1815 bis 1818 unternahm Chamissoals Naturforscher auf dem russischen Expeditions-schiff »Rurik« eine Weltreise. Sie bildete die Grundlagefür seine wissenschaftliche Karriere als Naturforscher.Chamisso hat zahlreiche Pflanzen zuerst wissenschaft-lich beschrieben, auch seine landes- und völkerkund-lichen Berichte über die Marshall-Inseln und Alaskagelten bis heute als wichtige historische Quellen.Reiseaufzeichnungen, Pässe und die Diplome seinerMitgliedschaft in zahlreichen wissenschaftlichen Ge-sellschaften finden sich in Chamissos Nachlass in derBerliner Staatsbibliothek. Das Berliner Naturkunde-museum besitzt Mineralien und Tierpräparate, die erauf der Reise sammelte. Sein mehr als 10 000 Pflanzen-arten umfassendes Herbarium wurde nach ChamissosTod von der Russischen Akademie der Wissenschaftenin St. Petersburg angekauft, wo es bis heute verwahrtwird. Dubletten aus seinem Herbarium fanden den Wegunter anderem nach Brüssel, Kopenhagen, Londonund St. Louis.

Chamisso IslandAuf dem Foto der US-Naturschutzbehörde im

Internet ragt die Insel wie der runde Rücken einesWals aus der See. Um herauszufinden, wer dort wohnt,muss man mit dem Übersetzen anfangen. Denn dasamtliche Informationsblatt über die »Chamisso Wilder-ness« gibt es nur auf Englisch. Das Naturreservat an

der Westküste von Alaska ist demnach keine zwei Qua-dratkilometer groß. Bereits 1916 wurden die Chamisso-Insel und das benachbarte Puffin Island als Schutz-gebiet ausgewiesen. Auf den kargen Inseln am Polar-kreis nisten im kurzen Sommer seltene Seevögel. DasInfoblatt der US-Behörden nennt »black-legged kitty-hawkes«, »horned puffins« und »thick-billed murres«.Um das zu übersetzen, reichen übliche Wörterbüchernicht aus. Also muss man erst via Internet die zoologi-schen Namen herausfinden, vom Lateinischen geht esdann weiter ins Deutsche – zu den klangvollen Be-zeichnungen Dreizehenmöwe, Hornlund und Dick-schnabellumme. Ab und zu besuchen Robben undWalrosse die Seevögel, manchmal kommt winters einFuchs über das zugefrorene Meer vom Festland her-über. Auch die letzten Eskimos lassen es sich nichtnehmen, Vogeleier auf den Inseln zu sammeln, so wieihre Vorfahren zu Chamissos Zeiten.

Haifischhochzeit imChamisso-Kanal

Nicht allein ein bedeutender Literaturpreis ist nachAdelbert von Chamisso benannt, rund um den Globus tragen Orte, Tiereund Pflanzen den Namen des Dichters und Naturforschers

Von Michael Bienert

Chamisso-Island

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Im August 1816 ankerte das russische Forschungs-schiff »Rurik« vor der kleinen Chamisso-Insel. Sie liegtin der Einfahrt zu einer tiefen Bucht des Festlandes,der »Eschscholtz Bay«. Nach dem Kapitän der »Rurik«ist die vorgelagerte See benannt – der Kotzebuesund –,außerdem der Ort Kotzebue, in weitem Umkreis dienächste größere Siedlung mit Flugplatz.

Bei ihren Erkundungen um die Chamisso-Inselstieß die Besatzung der »Rurik« auf Mammutzähne, dieaus den Eisschichten des Permafrostboden stammenund von den eingeborenen Inuit als Brennmaterial ver-wendet werden. Einige Fossilien rettete Chamisso für

seine Sammlung. Er konnte nicht verhindern, dassGrabstellen der Inuit aus Treibholz und Grabbeigabenim Lagerfeuer der Russen verbrannten. So etwas istheutzutage in der »Chamisso Wilderness« natürlichstreng verboten. Es darf aber weiterhin im Naturschutz-gebiet gezeltet werden, sofern man sich rücksichtsvollgegen die Seevögel verhält.

Die Brigg »Rurik« (Zeichnung von Je. Wojschwillo)

»Bewohner des Kotzebue-Sunds« (Lithografie von L. Choris)

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Unalaschka, heute Unalaska, ist eine Insel in derMitte der Aleuten. Zum Zeitpunkt von ChamissosWeltreise befand sich dort eine russische Kolonie miteinem für das Militär und den Pelzhandel wichtigenHafen, den das Forschungsschiff »Rurik« dreimalanlief. In seinem Buch »Reise um die Welt« berichtetChamisso vom Elend der unterdrückten Urbevölke-rung und der Kolonisatoren an dem Ort, vor dem erund Eschscholtz zum Botanisieren in die Natur flohen.Auf ihrer Freundschaft gründen etliche botanischeund zoologische Benennungen: Papilio Chamissonianannte Eschscholtz einen bunten brasilianischenSchmetterling, Epulia Chamissonis eine Quallenartund Lupinus Chamissonis die kalifornische Lupine.

Carabus Chamissonisist der Name einer Laufkäferart, die der Zoologe

Johann Friedrich Eschscholtz zu Ehren seines Freun-des Chamisso benannte. Eschscholtz war Schiffsarztauf dem Expeditionsschiff »Rurik« und als Naturfor-scher ein äußerst kundiger und kooperativer Kollege.Über die Reise hinaus blieben beide Forscher infreundschaftlichem Kontakt. In einem Gedicht vonChamisso heißt es:

Wer gab mir jenen CarabusDen Unalaschka nähren muss?Der Doctor Eschholtz hats getan,Der Läus’ und Wanzen geben kann.Der gab mir jenen Carabus,Den Unalaschka nähren muss.

Schlafmützchen oder California Poppy oderKalifornischer Goldmohn oderEschscholtzia California Cham.

sind vier Namen für dieselbe Blume mit gelberBlüte, die Chamisso auf seiner Weltreise in Kalifornienentdeckte und als erster beschrieb. Deshalb findet sichhinter ihrem botanischen Namen der Zusatz »Cham.«Seit 1903 ist das Schlafmützchen offiziell die Staats-blume Kaliforniens, am 6. April jedes Jahr wird dortder »California Poppy Day« gefeiert. Die Samen derPflanze überstehen lange Trockenphasen und keimenauf nährstoffarmen Böden wie Unkraut. Ihre Anspruchs-losigkeit und Farbenpracht haben sie zu einer auch inEuropa beliebten Blume gemacht, die von Juni bisOktober in vielen deutschen Vorgärten blüht.

Der volkstümliche Name Schlafmützchen weist aufdie Heilkraft des Goldmohns hin, die schon die India-ner schätzten. Seine Inhaltsstoffe wirken beruhigendund schmerzstillend. Im Jahr 2000 hat ein deutscherPharmakonzern ein Patent für ein Medikament aus Gold-mohnextrakt angemeldet, das gegen Depressionenwirken soll.

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Über Adelbert von Chamisso :: 21

Chamise oder Chamisoheißen Dickichte aus niedrigen Sträuchern, die in

Kalifornien kilometerweit den Boden bedecken, vorallem aus dem Rosengewächs Adenostoma Fascicula-tum Chamissatas. Sie verhindern die Bodenerosionund sind typisch für die Landschaft, aber sehr anfälligfür Flächenbrände.

Camissoniaist die wissenschaftliche Bezeichnung für Nacht-

kerzengewächse. Alle 64 bekannten Arten verweisenin ihrem Namen auf Chamisso – auch wenn ein Buch-stabe verloren gegangen ist.

Arnica Chamissonisoder Wiesenarnika wird wie die verwandte Berg-

arnika (arnica montana) vielfach als äußerliches Heil-mittel bei Verletzungen und in der Homöpathie ange-wandt.

Chamisso Channelheißt eine schmale Durchfahrt zwischen zwei un-

bewohnten Inselchen im Pazifik, die zu New Irelandgehören, einer Inselregion östlich der Hauptinsel vonPapua Neuguinea. Die Benennung geht sicher nicht aufdie Besatzung der »Rurik« zurück, da die Route vonChamissos Weltumseglung sehr viel weiter nördlichnach Manila und durchs Südchinesische Meer führte.Der Chamisso Channel ist ein Taucherparadies.Spezialisierte Reiseunternehmen werben damit, dassman dort besonders gut Haie auf Beutesuche und beider Paarung beobachten kann. Auch leben dort Kopf-füssler, die den ausgestorbenen, aus Versteinerungenbekannten Ammoniten ähneln.

Berlin Chamissoplatzist der Titel eines Films, den Rudolf Thome 1980

drehte: Er hat den Platz über Berlin hinaus bekanntgemacht. Der Architekt Martin, gespielt von HannsZischler, bekommt den Auftrag, ein besetztes Haus zusanieren. Er verliebt sich jedoch in eine junge Studen-tin aus einer Bürgerinitiative, die für den Erhalt desWohngebietes am Chamissoplatz kämpft. Der vierecki-ge Schmuckplatz heißt so seit 1890, damals wurdenrund um ihn Mietskasernen gebaut. Das Viertel über-stand den Zweiten Weltkieg weitgehend unversehrt. Inden Siebzigern aber mussten sich die Anwohner gegendrohenden Kahlschlag, Vertreibung und Luxussanie-rung wehren. 1975 eröffnete der »Chamisso-Laden«,ein linker Stadtteiltreff, in dem die Nachbarschafts-zeitung Chamissoblatt erschien. Seit den 1990er Jahrenorganisiert die »Chamisso-Initiative« die jährlichenStraßenfeste und setzt sich für ein besseres Verständ-nis der Anwohner untereinander ein: Ungefähr einViertel ist nichtdeutscher Herkunft, darunter etlichetürkische Einwanderer der ersten Generation, derenKinder und Kindeskinder am Chamissoplatz aufwach-sen. Es ist ein Ort, der zu seinem Namensgeber passt. ::

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22 :: José F.A.Oliver

José F.A. Oliver hat 1997 den

Adelbert-von-Chamisso-Preis

der Robert Bosch Stiftung

erhalten.

Zuletzt erschienen von ihm der

Lyrik-Band unterschlupf (2006)

und die Essays Mein andalusi-

sches Schwarzwalddorf (2007).

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Hausacher LeseLenz :: 23

Im zwölften Jahr kann man durchaus von einerTradition sprechen, auch wenn sich ein Dutzend neben750 Jahren, die Hausach selbst laut urkundlicher Er-wähnung besteht, gering ausnimmt.

Auf jeden Fall ist der LeseLenz zu einer festenEinrichtung im Veranstaltungsreigen der kleinen, nurrund 5000 Einwohner zählenden Stadt im Kinzigtalgeworden – und hat sich neben den anderen literari-schen Festivals in Baden-Württemberg etabliert. DieKonkurrenz von Tübinger Bücherfest und Heidelber-ger Literaturtagen, Erzählzeit Singen und LesARTEsslingen, um nur einige zu nennen, ist groß, ganz zuschweigen von der »Husacher Fasent«, die dort imSchwarzwald für Kinder als wichtigstes Ereignis gleichnach Weihnachten kommt. Oder vielleicht sogardavor.

Was den LeseLenz zu einem bedeutenden und ori-ginellen Fest macht, ist die besondere Atmosphäre, die

sich aus zweierlei speist: aus der Persönlichkeit desKurators José Oliver und dem kollektiven Engagementder Bürger von Hausach. Denn der LeseLenz – so for-mulierte es Florian Höllerer in seiner Laudatio aufOliver zum Kulturpreis Baden-Württemberg 2007 –»schlägt eine ganze Stadt in den Bann der Literatur,bündelt ehrenamtliche Kräfte, mischt die Kalkulatio-nen, lässt Gastwirte, Buchhändler, Bürgermeister,Schüler, Bankdirektoren und jede Menge Freunde aneinem Strang ziehen, wartet mit legendären ›Literatur-f:ahnen‹ auf, mit Ausstellungen und Installationen, mitSchreibwerkstätten in Schulen und und und.« Und istdamit »alles andere als ein Regionalereignis, ein inter-nationales Festival, über das der Dichter Ranjit Hos-koté im Bombayer The Hindu schreibt, ein internatio-nales Festival allerdings mit, wie Selim Özdogan sagt,›familiärem Charakter‹, eines, das die Weltliteratursubtil in den Hausacher Literaturmikrokosmos ein-flicht und vor allem dadurch so modern ist, dass es sichtief in den Köpfen und in den Herzen der Besucher ein-nistet und dort widerhallt, mindestens ein Jahr.«

Begonnen hat die Erfolgsgeschichte auf Initiativedes 1961 in Hausach geborenen und bis heute dortlebenden Lyrikers José F.A. Oliver: Er hatte die Ideeund genügend Überzeugungskraft, Kontakte zuSchriftstellerkollegen und eine gute Portion Charme.Er ist kein Dichter, der für sich im stillen Kämmerleinarbeitet, sondern ein offener, an Menschen und Ge-sprächen interessierter Charakter, voller wacherAnteilnahme und Empathie; dazuhin hat er als KuratorVorschläge für jeweils andere thematische Schwer-punkte eingebracht, »Geh durch die Sprache«, »nach-

»Literatur sollteimmer auch unterhalten,vielleicht gar Spaßmachen und Lust aufSprache!«

Der Hausacher LeseLenz findet imJuni 2009 bereits zum 12. Mal statt

Von Irene Ferchl

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24 :: LeseLenz

barnah«, »w:ort & weltgestöber«, »stoffe und bücher«oder »an:sprachen« lauteten die Motti vergangenerLeseLenze, die meistens im Frühjahr, aber zweimalauch im Herbst stattfanden. Wegen des Stadtjubiläumsheißt es in diesem Jahr »Geschichte & Geschichten«und wird am 19. Juni mit Arnold Stadler in der Stadt-halle eröffnet.

Da eine großstädtisch angelegte kulturelle Infra-struktur fehlt, muss auch bei der Wahl der Veranstal-tungsorte Phantasie walten. Jedes Jahr werden unge-wöhnliche Schauplätze der Begegnung im und durchdas geschriebene Wort gefunden: Öffentliche Lesun-gen und Gespräche finden in Umgebungen und auf»Bühnen« statt, die im Hausacher Alltag in der Regelanderweitig genützt werden. Möglich sind Auftrittebeispielsweise in einem Autohaus, dem Gewächshauseiner Gärtnerei, im mittelständischen Handwerksbe-trieb oder in Gaststätten und Restaurants des Schwarz-waldstädtchens – auf der Bachterrasse des »Löwen«oder im Gasthaus »Zur Blume« oder im Garten des»Hechtsberg« –, wo die Gäste miteinander speisen unddie von weiter Anreisenden auch übernachten.

Es sind intensivere Begegnungen möglich, man hatausreichend Zeit zum Plaudern, denn die meisten derauftretenden Schriftsteller verweilen gerne länger indiesem angenehmen Ambiente und nicht wenige kom-men immer wieder.

Ein ständiger Gast ist zum Beispiel der Bestseller-Autor, Wanderer zwischen den Kulturen und Chamis-so-Preisträger von 2000, Ilija Trojanow, der 2008 dienigerianische Autorin Chimamanda Ngozi Adichie mit-brachte und in diesem Jahr Abdulrazak Gurnah ausSansibar vorstellt.

Zu der Sonntagsmatinee am 21. Juni ist ArturBecker, der Chamisso-Preisträger von 2009, eingela-den; daneben kommen international renommierteSchriftsteller wie Peter Kurzek, Klaus Merz, KatharinaHacker und Erica Pedretti sowie eher im Land bekann-te wie Norbert Hummelt oder Tina Stroheker.

Die Mischung aus Prominenten und Newcomernder baden-württembergischen und internationalen

Ungewöhnliche Veranstaltungsortemit angenehmem Ambiente sindtypisch für den LeseLenz

Charmant begrüßt Oliver die Gäste.

Literarische Sonntagsmatinee im Biergarten.

Lesung mit Michael Stavaric.

»Geschichte & Geschichten« vom 16. – 22. Juni 2009.

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José F.A.Oliver :: 25

Literaturszene ist José Oliver wichtig: Zu dem ihmdurch die Lektüre bereits vertrauten Werk seiner Gäste-autoren hat er sie in der Regel persönlich auf seinenReisen, bei gemeinsamen Lesungen oder auf Festivalskennengelernt: »So begegne ich den Gesichtszügeneines zukünftigen Programms«, sagte er einmal und so»stellt sich eine Art von veranstaltungskompositori-scher Phantasie ein, die dann in Hausach mündet undLiteraturtage werden lässt.« Es gibt aber auch Empfeh-lungen von Freunden und Anregungen von Kollegen,und auch Verlage schicken ihm Bücher.

Ein ganz besonderes Interesse von José Oliver undden Veranstaltern gilt den Schülerinnen und Schülern,weshalb der öffentliche Auftritt der Schriftstellerimmer gepaart ist mit der Möglichkeit, an den drei Hau-sacher Bildungseinrichtungen Schullesungen, Litera-tur- oder Schreibwerkstätten zu geben. Und so blieb esnicht aus, dass schon bald nach den beginnendenErfahrungen im Umgang mit diesem Konzept auch dieersten Veranstaltungen in den Kindergärten stattfan-den. Kurzum: der LeseLenz ist im Sinne des Wortes einLiteraturfestival für alle Bürger.

Ermöglicht wird die Realisierung durch das Enga-gement der Stadt, von Veranstaltern und Förderern vorOrt oder auswärts wie der Robert Bosch Stiftung unddem Friedrich-Bödecker-Kreis Baden-Württemberg.Durch die Kooperation mit der Neumayer Stiftung las-sen sich jetzt sogar jährlich zwei jeweils dreimonatigeArbeits- und Aufenthaltsstipendien einrichten: miteiner Wohnung in Hausach und einem Lebensunter-halt von 1500 Euro sind sie ordentlich dotiert. Die bei-den ersten Stipendiaten, Barbara Bongartz und Jürgenvon Bülow, werden bereits am Vorabend des LeseLenzmit einer Begrüßungsfeier inthronisiert.

Dass sich José Oliver für die Bewerbung um dasStipendium etwas Besonders ausgedacht hat, verwun-dert bei seiner Kreativität natürlich nicht, es galt,einen literarischen Fragebogen auszufüllen – denn»Literatur sollte immer auch unterhalten, vielleicht garSpaß machen und Lust auf Sprache«! ::

Informationen zum LeseLenz unter www.leselenz.de

Chimamanda Ngozi Adichie, Ilija Trojanow und José F.A. Oliver bei der Buchvorstellung.

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Schubladen sind eine praktische Einrichtung, manpackt hinein, um aufzuräumen, aber irgendwann ver-wandelt sich die Ordnung in ein immer unüberschau-bareres Chaos. Die Hoffnung, klare Strukturen geschaf-fen zu haben, wird schnell trügerisch. Was anfangs feinsäuberlich getrennt in der Schublade lag, vermischtsich und wird unübersichtlich. Aber zunächst befrie-digt das Gefühl, Klarheit geschaffen zu haben; manmacht die Schublade zu, darin ist alles wohlbehaltenverwahrt und am rechten Platz – bis dann eben mit derZeit ein Zustand der Verwirrung eintritt.

So ergeht es mir, wenn ich auf die fünfundzwanzigJahre des Adelbert-von-Chamisso-Preises zurückblicke,in dessen Statut festgehalten ist, dass er an »Autorennichtdeutscher Muttersprache« verliehen wird, »diemit ihrem geschriebenen Werk einen wichtigen Beitragzur deutschsprachigen Literatur leisten«. In den An-fängen konzentrierte sich der Preis auf einen Kreis vonmeistens Söhnen, selten Töchtern der ersten und zwei-ten Generation von Arbeitern, die nach Deutschlandgeholt wurden, um als »Gastarbeiter« zum Wohlstandder Republik beizutragen. Dass sie dabei emotionalmeist verarmten, fand in ihrer Literatur einen ankla-genden Niederschlag. Von diesem Hintergrund hat sichdie Vergabe des Preises, die in den Anfängen einewichtige Ermutigung erster literarischer Versuche vonGastarbeitern und deren Kindern war, längst befreit.Inzwischen hat sich eine große Vielfalt literarischenSchreibens der Preisgeehrten herausgebildet, die vieleHorizonte von den Anfängen entfernt ist. Alles, waseinst so akkurat in der Schublade versammelt war, hatsich aus der Enge befreit und sprengt die Grenzen derEtikettierung als Einwanderungsliteratur. Eine bewun-dernswerte Offenheit hat sich in der Prosa und Lyrikdieser Autoren entfaltet, die weit über den Globus derWelterfahrung gespannt, Lebenswirklichkeiten zumKlingen bringt, literarisch verfremdet und in Bezie-hung setzt zur hier erfahrenen Realität. Und nun, zum

25-jährigen Jubiläum des Chamisso-Preises, ist plötz-lich ein merkwürdiger Rückschlag zu beobachten.Kritiker, die sich in der Vergangenheit wenig oder garnicht mit dieser Literatur befassten, weil ihr der Ge-ruch des Exotischen und Dilettantischen anhing undman höchstens mit einem jovialen Mitleidsbonus dar-auf reagierte, machen nun eine Entdeckung: »Migran-tenliteratur« ist das neue Zauberwort, verfasst vonSchriftstellern eben mit »Migrationshintergrund«. Einlängst überwunden geglaubtes, trantütiges Sozial-arbeiter-Denken feiert fröhliche Urständ.

Die Feuilleton-Reaktionen auf das letztjährigeProgramm der Akademie für Sprache und Dichtung inDarmstadt zum Thema »Eingezogen in die Sprache, an-gekommen in der Literatur« belegen diesen Salto rück-wärts auf erschreckende Weise. Parallel zur politi-schen Diskussion um den viel und oft wohlfeil zitierten»Migrationshintergrund« deutscher und nichtdeut-scher Bürger finden sich nun auch die Schriftsteller indieser politisch sortierten Schublade wieder. Da kannman zum Beispiel in der Zeit die gönnerhaften Wortelesen: »Sogar die CDU, die lange zögerte, nennt Deutsch-land mittlerweile ein Einwanderungsland. Da kann esnicht schaden, wenn nun, nachdem die Dinge klarliegen, auch die Deutsche Akademie für Sprache undDichtung den Beitrag der Migranten zur deutschenKultur und Literatur zu ihrem Thema macht.« In derNeuen Zürcher Zeitung wird dem Leser mitgeteilt: »DasExotische bleibt – und damit das gewisse Etwas, dasden Begriff ›Migrantenliteratur‹ bei aller Grobschläch-tigkeit so schwer entbehrlich macht.« Die DeutschePresse Agentur gibt eine Meldung heraus: »Akademiewürdigt Einwandererliteratur«.

Schlussmit dem Schubladen-DenkenEine Unmutsäußerung

Von Lerke von Saalfeld

Schriftsteller in der politisch sortierten Schublade?

26 :: Essay

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Der Tenor der Presse auf die Darmstädter Tagungist einhellig, eine mehr oder weniger langweiligePflichtübung sei hier abgehalten worden, so als ob essich um eine gute Tat der political correctness gehan-delt habe. Mit Herablassung wird zur Kenntnis genom-men, da gibt es noch welche, die auch an den Brosamendeutscher Kultur mit naschen wollen.

Rafik Schami hat sich schon früh nach den erstenliterarischen Erfolgen seiner Erzählungen und Romane– »Damaskus im Herzen und Deutschland im Blick« –dagegen verwahrt, entweder »mit der Zange oder mitSamthandschuhen« angefasst zu werden. Andere Au-torinnen und Autoren wie Franco Biondi, Libuse Moní-ková, Terézia Mora, Adel Karasholi, Zsuzsanna Gahseoder Feridun Zaimoglu haben diese »Mülltrennung« –wie sich Zaimoglu respektlos ausgedrückt hat – weitvon sich gewiesen. Sie alle spürten, dass ihnen ein Eti-kett aufgeklebt werden sollte, das weniger ihre literari-sche Arbeit als vielmehr ihre kulturelle Herkunft zumKriterium der Wertschätzung im Sinn haben könnte.Sie fühlten sich in einer wohl geordneten Schubladeverstaut, die ihrem Anspruch und ihrer Wirkung nichtgenügte, sondern eher wie ein Makel in ihr Werk ein-gebrannt war. Sie sind eben doch die Anderen, dieFremden, kommen von außen und nicht von innen. Siesind nicht mehr Gastarbeiter, das hat sich historischüberholt; jetzt hat sich der Sprachgebrauch scheinbarverfeinert – auch in einem Teil der literarischen Öffent-lichkeit. Schriftsteller nichtdeutscher Muttersprachemutieren in jüngster Zeit zu Menschen mit »Migrations-hintergrund«, so als ob sie gerade den Sprachtest er-folgreich bestanden hätten. Die Befürchtungen einigerPreisträger des Chamisso-Preises sind seismographi-sche Reaktionen auf eine Stimmung auch in der deut-schen literarischen Szene, das Fremde als kulinarischeBeigabe zu akzeptieren, aber doch fein ab- und auszu-grenzen von dem, was autochthon deutsche Literaturist, mag sie noch so wüst und verwirrend sein wie zumBeispiel Arno Schmidt oder Reinhard Jirgl.

Der Weltenbummler Ilija Trojanow, Chamisso-Preisträger des Jahres 2000 und ein Meister des Zu-sammenspiels der Kulturen, hat geschrieben: »Das an-dere muss gegenwärtig sein, um wirkungsvoll zu sein,es muss wirkungsvoll sein, um zu verändern. Manmuss von Unterschieden umgeben sein; man muss sieleben essen atmen können. Dann ersetzt grundlegendeNeugierde und intellektuelle Toleranz jedes selbst-gefällige Dogma von inhärenter Differenz, dann wird

Interesse geweckt an dem, was anders, was verblüffend,was ungewohnt konditioniert ist … Und dazu brauchtes den Fremden.« Der im Jahr 2002 ausgezeichneteChamisso-Preisträger Francesco Micieli betont: »Fremdist für mich der Zustand der Moderne. Ich denke, dassMenschen immer mehr zu Fremden werden, sie sind essich noch nicht bewusst, deshalb gibt es auch so hefti-ge Reaktionen darauf. Aber ich denke, es sollte so sein,dass man merkt und fühlt, dass man ein Fremder ist,dass es wichtig ist, fremd zu sein.«

Bereits 1983, vor der Einrichtung des Adelbert-von-Chamisso-Preises also, hat einer seiner wichtigstenAnreger, der Romanist Harald Weinrich, eine wegwei-sende Rede gehalten: »Deutschland ist ein Land, ausSprache und Geschichte gemacht, und alle Personen,die von der deutschen Sprache einen solchen Gebrauchmachen, dass sie diese Geschichte weiterschreiben,sind unsere natürlichen Landsleute, sie mögen voninnen kommen oder von außen«, und – in Fortführungeiner klugen Bemerkung von Goethe, »die Gewalt einerSprache ist nicht, dass sie das Fremde abweist, son-dern dass sie es verschlingt«.

Nicht uninteressant ist in diesem Zusammenhang,dass, als es um den Titel des Preises ging, auch derNobelpreisträger Elias Canetti als Namensgeber imGespräch war. Der in Bulgarien geborene Schriftstellererlernte erst im Alter von acht Jahren als dritte Spra-che das Deutsche und bemerkte später: »Ich bin nurein Gast in der deutschen Sprache. Deutsch ist einespäte und unter wahrhaftigen Schmerzen eingepflanz-te Muttersprache. Sie ist deshalb die Sprache meinerliterarischen Prosa geworden, weil sie für immer voneiner Aura der Fremdheit umgeben geblieben ist, sodass in ihr die Worte mit einer besonderen Art vonLeidenschaft geladen sind.« Wichtige Literatur ist nochnie im Kuschelnest nationaler Wärme entstanden,Literatur braucht Distanz, benötigt den fremden Blick,um das, was die Welt zusammenhält oder auch ausein-andertreibt, neu, aufregend und verstörend zu be-leuchten.

Vielleicht, so mag man im Nachhinein denken, wärees klüger, weil aufklärerischer gewesen, Elias Canettials Namensgeber für den Preis zu wählen, damit die hart-näckigen Schubladen-Denker es nicht so leicht haben.Dennoch, Adelbert von Chamisso ist ein würdigerUrahn für Schriftsteller, die von außen kommen. Auchihm war das »Befremdende« des modernen Lebens-gefühls vertraut. ::

Lerke von Saalfeld :: 27

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28 :: Essay

Entgegen einer gängigen Vorstellung, man würdeausschließlich einer Sprache angehören, wird hierpostuliert, dass Zwei- beziehungsweise Mehrsprachig-keit zwei beziehungsweise mehrere Denk- und Fühl-strukturen in sich wohnen hat und daher mehrereinnere Sprachorte und Sprachzeiten. Sie entwickelnsich als verzweigte Struktur einer Person, in der Iden-titäten und Sprachen voneinander isoliert und mit-einander verbunden sind, je nach Situationen und Er-fahrungshintergründen.

Eine vollkommene Zwei- oder Vielsprachigkeitexistiert nur im Idealfall. In der Realität jedes Men-schen, der mehrsprachig aufgewachsen ist oder spätermehrsprachig wird, entstehen zwangsläufig unter-schiedliche Gewichtungen und Differenzen; sie korre-spondieren mit Erfahrungen und Erlebnissen, die inder jeweiligen Sprache gemacht werden. Deshalb giltes als unwahrscheinlich, dass ein Zeichen, das in dereinen Sprache mit Erfahrungen und Erlebnissen ver-knüpft wird, den gleichen Ort in der anderen Spracheeinnehmen kann. Wenn zum Beispiel ein Kind Mutterund Vater aus unterschiedlichen Sprachkreisen hatund beide mit ihm in ihrer Herkunftssprache sprechen,dann entwickelt es auch unterschiedliche Spracherfah-rungen; ihm wird das andere sprachlich verknüpfteErfahrungsfeld fehlen. Wenn ein Zweisprachiger Eltern-erfahrungen in einer (Minderheits-)Sprache und dieübrigen Sozialisationserfahrungen in der Mehrheits-sprache macht (in Kindergarten, Schule, Peergruppe),dann wird er dies in seinen entsprechenden Sprach-kompetenzen auch so vorfinden. Andererseits könnendie fehlenden Erfahrungen in einer Sprache kognitivherangeholt werden, so dass in diesem Bereich sprach-liche Erfahrungen mit emotionaler Distanz entstehen.

Ferner wird hier davon ausgegangen, dass Spracheund Literatur Kommunikationsmittel mit Selbstaus-

Von Franco Biondi

Über literarischeSprachwege

Franco Biondi, derChamisso-Preisträger von 1987,schrieb 1975 seine erstenGedichte auf Italienisch und hatseither zahlreiche Romane undLyrikbände auf Deutsch oder zweisprachig verfasst.

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Franco Biondi :: 29

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druck sind; sie teilen den anderen nicht nur etwas mit,sondern auch sich selbst Zwischenergebnisse innererProzesse. Ganz gleich zu welchem Genre oder Sujet –man teilt sich selbst und anderen innerhalb einer inne-ren und äußeren (wenn auch nur flüchtigen) Verortungmit. Darin fließen die Ebenen des Selbst- und Fremd-vertrauens grundsätzlich ein. Dies berücksichtigend,sollten Autoren aus den kulturellen Minderheiten ihrVerhältnis zur Sprache vor allem auf der Achse Ver-trauen-Misstrauen klären, insbesondere in Bezug aufdie Standardsprache, die weiträumig mit Allgemein-plätzen, Floskeln und Plattitüden gefüllt ist, lebensent-leerten Sprachhülsen also. Der Bedarf an Klärung istumso wichtiger, wenn der Autor in einer Spracheschreibt, der er nicht seit frühester Kindheit nah ist. Esist dabei notwendig, den Grad des Selbst- und Fremd-vertrauens selbstkritisch und konstruktiv zu betrach-ten und zur Sprache und deren Grenzen in Beziehungzu setzen.

Wenn fiktive Figuren nicht bewusst mit Worthülsenausgestattet werden, sondern ein Autor ein selbstkriti-sches, unschuldiges Ich vorschlägt, das mit einer un-kritischen und unschuldigen Sprache dargestellt ist, sozeigt sich darin ein naives Vertrauensverhältnis. Indiesem Fall reflektiert er weder die eigene Position imKontext der Sprache noch die Stelle dieser Sprache imgeschichtlichen Zusammenhang. Hierdurch macht ersich in der Sprache nicht anwesend, weder als Indivi-duum im Alltag und im historischen Fluss noch alsjemand, der einer kulturellen Minderheit entsprungenist – höchstenfalls als klischeehaftes und billigesRemake.

Die Verwendung einer in höchstem Masse standar-disierten Sprache dient dazu, in einer »Herde« unterzu-schlüpfen, in der man sich geschützter fühlt als außer-halb, und sich vom Anderen jenseits vom Standardabzusetzen. Je mehr eine Sprache sich standardisiert,desto restringierter und oberflächlicher wird sie auchund desto stärker schränkt sie die Individualität derSprechenden ein. Insofern liegt ein Zusammenhangzwischen Sprachoberflächlichkeit und Selbstwert be-ziehungsweise Identität eines Menschen nahe. Je ober-flächlicher sich jemand ausdrückt, desto niedriger ist

in der Regel sein Selbstwert, desto negativer die Polungder eigenen Identität, desto größer das Bedürfnis, der»Herde« anzugehören. Das ist summa summarum eineAutorensprache, die nach Assimilation strebt.

Auf der anderen Seite zeigt sich ein ausgeprägterVertrauensmangel gegenüber Sprache und Selbst, wennein Autor unzählige Redewendungen, Sprichwörteretc. aus der Herkunftssprache in die gewählte Schreib-sprache einführt. Es ist zwar denkbar, dass die Einfuhrvon Turkologismen oder Italianismen in die deutscheSprache ein Versuch ist, eine Sprachidentität in dieandere zu implantieren, also sie in die deutsche Litera-tur einzubürgern. Ebenso könnte diese Einfuhr unterdem Aspekt des Verkaufs dem Mehrheitsrezipientenjenen Hauch von Exotik liefern, den er braucht, umFremdkulturelles zur Kenntnis zu nehmen – womit erzum Kauf bewegt wird. Vorstellbar ist auch, dass dieSchreibsprache auf die Bewährungsprobe gestellt wird,inwieweit sie in der Lage ist, das verallgemeinerteHerkünftige aufzunehmen, zu tragen und zu transpor-tieren.

Auch wenn dies alles zuträfe und legitim wäre, isthier zu bedenken, dass kulturelle und sprachliche »Wur-zeln« so eingebracht werden, dass Autoren in ihremeigentümlichen Selbstausdruck kaum beziehungsweisenur peripher in Erscheinung treten. Ferner drückenjene stereotypisierten Signale nur historisch geworde-ne Denkmodelle aus, die im Herkünftigen möglicher-weise nur als formelhafte Sprachhülsen weiterlebenund für die Gegenwart kaum noch substantielle Bedeu-tung haben. Auch unterschiedliche Denkmodelle, dieder jeweiligen Sprache innewohnen, treten in ein mecha-nisches Miteinander; sie mögen für die unbedarftenLeser ungewohnt, metaphorisch kühn oder exotischwirken, mit Leben gefüllt werden können sie nicht.

Würde zum Beispiel eine italoherkünftige Autorindie wörtliche Übersetzung von »in bocca al lupo« über-nehmen: »In den Rachen des Wolfes«, was in etwa »Aufgut Glück« bedeutet, so würde sie nur das Formelhaftewiederspiegeln, und nicht einmal metaphorische Ele-ganz zu erreichen. Zunächst unverfänglicher und ele-ganter könnte dagegen erscheinen: »Der Nebel frisstden Schnee« – »la nebbia si mangia la neve«. Die inter-kulturelle Germanistik kann dabei erschließen, dassdies eine romagnolische Redewendung ist, die einstdarauf hinwies, dass ein Übel das andere vertreibt. Siekann auch erkennen, dass es sich um eine Metapheraus einer agrarisch bestimmten Gesellschaft handelt,die für die inzwischen vom Handwerk bestimmte und

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Erfahrung und Sprache geratenzueinander in Spannung

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industrialisierte Romagna kaum noch Relevanz hat.Natürlich könnten solche wörtlichen Übertragungendazu dienen, eine Distanz zwischen dem Selbst undder deutschen Sprache aufzubauen.

Zusammengefasst: Sowohl die bedenkenlose Ver-wendung der Standardsprache als auch die unkritischeVerpflanzung sprachlicher »Wurzeln« lassen die Ver-mutung aufkommen, dass der Autor mangelndes Ver-trauen in den eigenen literarischen Ausdruck hat und/oder den mündigen Leser nicht ernst nimmt. Wenn eraber den eigenen Erfahrungen vertraut – unabhängigvon welchem substantiellen Gehalt und welchen Grund-erfahrungen ausgegangen wird – und ein konstruktivesVertrauensverhältnis zur Sprache hat, dann wird erjene Momente in die Standardsprache einschleusen,die ihn als gesamtes Individuum ausmachen. Er wirdZugänge in die Sprache für Wahrnehmungen, Ideen,Gefühle finden, die bisher nicht vorgesehen waren undAusdruck der individuellen Erfahrungen sind. Da-durch wird er die Gegenwart und den eigenen Ort indieser Gegenwart auskundschaften.

Ersichtlich wird dies dort, wo Erfahrung und Spra-che zueinander in Spannung geraten und sich verbin-den können. Dies zeigt sich etwa bei einem Wort wie»Entstummung«. Da dieses Wort in keinem Wörterbuchzu finden ist, kann der Leser nur auf sein Sprachver-ständnis zurückgreifen. Assoziativ kann man hier an»Verstummung« anknüpfen und damit an den Vorgangder »Entstummung«, der den gegenläufigen Prozessdes Stummwerdens charakterisiert.

Häufig sind Neuschöpfungen nicht notwendig, umrigid gewordenen Sprachstrukturen neue Aspekte ab-zugewinnen. Nehmen wir etwa den Gedichtband GinoChiellinos mit dem Titel Sich die Fremde nehmen. In derStandardsprache wird »sich das Leben nehmen« zu-meist reduktionistisch angewendet und daher kaumpositiv konnotiert als »nach dem Leben greifen«. InGino Chiellinos Variante Sich die Fremde nehmen wirdeine positive Konnotation neu aufgegriffen.

Oft gelingt es nicht, Erfahrung und Sprache aufinterkultureller Weise zugänglich zu gestalten. Es bleibtmeist eine eigentümliche Spannung bestehen, durchdie der Grundkonflikt zwischen Sprache und Leben

sich nicht auflösenlässt. Hinzu kommt derDruck einer auf Homo-genität drängendenSprachgemeinschaft.Sprachen an sich sindnicht nur nicht neutral,sie haben – trotz despermanenten Drangsauf Vielfalt – auch aus-schließenden Charak-ter und nehmen nur dasan, was eine Sprachge-meinschaft akzeptiertund duldet. Dabei sindin der Regel Erfahrun-gen aus den kulturellenMinderheiten nicht vor-gesehen, schlimmsten-falls nicht erlaubt.Dringen Begriffe ausden kulturellen Min-derheiten doch ein, sowerden sie von derSprachgemeinschaft mit eigenen Inhalten besetzt –man kann hier an die »Interkulturalitäts-Debatte« zudenken, die zum Beispiel definitorisch mit mehrheits-konnotierten Begriffen wie »zwischen den Kulturen«eingezäunt wird, im Übrigen eine irreführende Ver-ortung, denn Literaten anderer Sprachherkunft lebennicht zwischen, sondern mit mindestens zwei Spra-chen und Kulturen.

Auch vor diesem Hintergrund erscheint es ange-bracht, der angenommenen Literatursprache ein kriti-sches, konstruktives Vertrauen entgegenzubringen.Allein durch den Entschluss, Texte in der neu hinzugewonnenen Sprache zu verfassen, spricht sich jederAutor anderer Sprachherkunft implizit für diese Spra-che aus. Mit diesem Grundvertrauen wird es möglich,Lebensgeschichten und damit die Verbindung zwi-schen Erfahrung und Sprache einzubringen, ohne mitder Literatursprache eins werden zu müssen. Deshalbist eine Verbindung zwischen kritischem Vertrauenund Radikalität naheliegend, denn Schreiben erfordertper se Radikalität und Radikalität erfordert Vertrauen.Daraus können sich unverwechselbare literarischeIdentitäten und Sujets entwickeln. ::

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Nicht nur gastarbeiterdeutsch. Gedichte.Klein Winternheim: Eigenverlag, 1979Abschied der zerschellten Jahre. Novelle.Kiel: Neuer Malik Verlag, 1984Von den Tränen zu den Bürgerrechten.Italienische Emigrantenliteratur in derBundesrepublik Deutschland. Frankfurt amMain: Hessischer Volkshochschulverband,1984Passavantis Rückkehr. Erzählungen.München: dtv, 1985Die Unversöhnlichen oder Im Labyrinthder Herkunft. Roman. Tübingen:Heliopolis-Verlag, 1991Ode an die Fremde. Gedichte 1973 –1993. Sankt Augustin: Avlos-Verlag, 1995In deutschen Küchen. Roman. Frankfurtam Main: Brandes & Apsel, 1997Der Stau. Roman. Frankfurt am Main:Brandes & Apsel, 2001Giri e rigiri, laufend. Gedichte/poesie,zweisprachig. Frankfurt am Main: Brandes & Apsel, 2005Karussellkinder. Roman. Frankfurt amMain: Brandes & Apsel, 2007

Schreiben erfordert Radikalität undRadikalität erfordert Vertrauen

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32 :: Adelbert-von-Chamisso-Preisverleihung 2009

seit du vertrieben worden bist von einer revolutionund in deutschland schutz gefunden hast, sind vielejahre vergangen. andere revolutionen, kriege, aufstän-de und bürgerkriege folgten und haben millionenmenschen vertrieben.viele sind nach deutschland geflüchtet, einige habenhier zuflucht gefunden.sie haben sich am öffentlichen leben beteiligt und sindein teil deutschlands geworden.doch auch ohne die flüchtlinge hat sich das land gewan-delt. das heutige deutschland ist das demokratischsteseit jeher.auch, wenn einige bürokraten sich mit ihrer dummheitdagegen wehren. diese haben den übergang zumneuen jahrhundert verschlafen – bei guten salären.ihr häuptling hat neulich den satz abgesondert:»ich wünsche, daß in den moscheen auf deutsch gepre-digt wird.«der postkoloniale duktus des herrn ministers müßtedich an das ancien regime denken lassen.aber mein freund, sei getröstet, deutschland ist vielweiter als seine beamten.

dieses land hat inzwischen 15 millionen fremde aufge-nommen – mit geringer reibungsfläche. die gesell-schaft hat eine grandiose arbeit geleistet. derweil diebeamtenschar sich noch immer an begriffen festhältwie »deutsche wertetugenden«.die subalternen geister haben noch nicht begriffen,daß wir in deutschland ein grundgesetz genießen, dasdie demokratischen werte für uns alle formuliert.und diese herren verwechseln noch immer die integra-tion mit der assimilation, die alte deutsche krankheit.als dann die fremdenfeindlichkeit tobte – nicht nur indeutschland –, schauten die politiker in die kamerasund bekundeten in einem reduzierten deutsch ihreentrüstung – die gesellschaft wehrte sich.schulen, gymnasien, akademien, gewerkschaften, kir-chen – diese wahrhaftig demokratischen institutionen –haben sich zu wort gemeldet mit demonstrationen,lichterketten, lesungen und publizistischen beiträgen – und sie verkörperten ein modernes deutschland.und darum, verehrter freund, haben wir heute grundgenug, stolz zu sein auf unser deutschland.

Vorabdruck aus: Lichterfeste, Schattenspiele. Chamisso-

Preisträger erzählen. Hg. von Péter Esterházy, erscheint im

Herbst 2009 im Deutschen Taschenbuch Verlag.

Ein Brief von SAID an Adelbertvon Chamisso zur Preisverleihungam 5. März in München

»verehrteradelbert von chamisso«

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1985Aras Ören Rafik Schami (Förderpreis)

1986Ota Filip

1987Franco Biondi Gino Chiellino

1988Elazar BenyoëtzZafer Senocak (Förderpreis)

1989Yüksel PazarkayaZehra Çırak (Förderpreis)

1990Cyrus Atabay †Alev Tekinay (Förderpreis)

1991Libuse Moníková †SAID (Förderpreis)

1992Adel KarasholiGalsan Tschinag

1993Rafik Schami Ismet Elçi (Förderpreis)

1994Dante Andrea FranzettiDragica Rajcic (Förderpreis)

1995György DalosLászló Csiba (Förderpreis)

1996Yoko TawadaMarian Nakitsch (Förderpreis)

1997Güney DalJosé F.A. OliverJirí Grusa (Ehrengabe)

1998Natascha WodinAbdellatif Belfellah (Förderpreis)

1999Emine Sevgi ÖzdamarSelim Özdogan (Förderpreis)

25 Jahre56 Autoren

Mehr über sämtliche Chamisso-Preisträger können Sie unter www.bosch-stiftung.de erfahren.

2000Ilija TrojanowTerézia Mora (Förderpreis)Aglaja Veteranyi (Förderpreis) †

2001Zehra Çırak Radek Knapp (Förderpreis)Vladimir Vertlib (Förderpreis)Imre Kertész (Ehrengabe)

2002SAIDCatalin Dorian Florescu(Förderpreis)Francesco Micieli (Förderpreis)Harald Weinrich (Ehrengabe)

2003Ilma RakusaHussain Al-Mozany (Förderpreis)Marica Bodrozic (Förderpreis)

2004Asfa-Wossen AsserateZsuzsa BánkYadé Kara (Förderpreis)

2005Feridun ZaimogluDimitré Dinev (Förderpreis)

2006Zsuzsanna GahseSudabeh Mohafez (Förderpreis)Eleonora Hummel (Förderpreis)

2007Magdalena SadlonLuo Lingyuan (Förderpreis)Que Du Luu (Förderpreis)

2008Sasa StanisicLéda Forgó (Förderpreis)Michael Stavaric (Förderpreis)

2009Artur BeckerTzveta Sofronieva (Förderpreis)María Cecilia Barbetta(Förderpreis)

Adelbert-von-Chamisso-Preisträgerinnen und Preisträger 1985 — 2009 :: 33

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34 :: Veranstaltungen

Di., 9. Juni, 20 UhrMarica BodrozicSasa StanisicLiteraturhaus Leipzigim Haus des BuchesGerichtsweg 28www.haus-des-buches-leipzig.de

Di., 9. Juni, 20 UhrArtur BeckerCatalin Dorian FlorescuLiteraturhaus HamburgSchwanenwik 38www.literaturhaus-hamburg.de

Mi., 10. Juni, 20 UhrMaría Cecilia BarbettaYoko TawadaLiteraturhaus HamburgSchwanenwik 38www.literaturhaus-hamburg.de

So., 21. Juni, 11 UhrArtur BeckerLeseLenz in HausachKorb Welzel, 77756 Hausachwww.leselenz.de

Mo., 29. Juni, 20 UhrLéda ForgóZsuzsa BánkLiteraturhaus Frankfurt a.M.Schöne Aussicht 2www.literaturhaus-frankfurt.de

Di., 30. Juni, 20 UhrMarica BodrozicIlma RakusaLiteraturhaus Frankfurt a.M.Schöne Aussicht 2www.literaturhaus-frankfurt.de

Marica BodrozicDas Deutsche war für sie als Kindim ehemaligen Dalmatien ein »Ge-wirk aus Bewegungen, Tönen, Ge-rüchen, Kopf- und Körperhaltun-gen, aus Augenblicken, Augenfar-ben, Mundregionen und Wangen-leuchten«. Sinnliche Eindrücke inSprache zu bringen, ist ein Anliegenihrer Erzählungen und Gedichte.

Chamisso-Preisträger unterwegs…

Sasa Stanisicwar 2008 mit gerade dreißig Jah-ren der jüngste Chamisso-Preis-träger und ist mit mehr als zweiDutzend Übersetzungen seinesersten, burlesken Romans übereinen bosnischen Jungen im Krieg– Wie der Soldat das Grammofonrepariert – auch internationaleiner der erfolgreichsten.

Artur BeckerDie magische Macht der Erinne-rung beherrscht in seinem neue-sten Roman Wodka und Messer.Lied vom Ertrinken die lebens-pralle Gegenwart – zudem bekräf-tigt er darin poetisch eindrucks-voll die enge Verbundenheit vonpolnischem und deutschemSprachraum.

Catalin Dorian FlorescuIn seinem neuen Roman erzähltder in Rumänien geborene, heutein Zürich lebende Schriftstellerund Therapeut Catalin DorianFlorescu die Geschichte von Zairaund einer Reise von Osteuropanach Amerika; er erzählt auchvon einer unmöglichen Liebe, dieJahrzehnte überdauert.

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Veranstaltungen :: 35

im »Literatursommer Deutschland«* Zu den gekennzeichneten Veranstaltungen finden Sie nähere Informationen unter www.literaturhaus-sh.de

Do., 2. Juli, 20 UhrJosé F.A. OliverLiteraturhaus MünchenSalvatorplatz 1www.literaturhaus-muenchen.de

Di., 21. Juli, 20 Uhr *Zafer SenocakMühle »Hoffnung«24960 Munkbarup

Mi., 22. Juli, 20 UhrZafer SenocakLiteraturhaus Schleswig-HolsteinSchwanenweg 13, 24105 Kielwww.literaturhaus-sh.de

Do., 23. Juli, 19 Uhr *Zafer SenocakWenzel-Hablik-MuseumReichenstraße 21, 25524 Itzehoe

Fr., 24.Juli, 19 Uhr *Zafer SenocakSommerakademie25849 Pellworm

So., 26. Juli, 19 Uhr *Catalin Dorian FlorescuKulturverein »Rundum«Süderbarup, Am Wald 124392 Boren

Di., 28. Juli, 20 UhrRezitationsprogramm zuAdelbert von Chamisso mitAnna HaentjensLiteraturhaus Schleswig-HolsteinSchwanenweg 13 /Alter Botani-scher Garten, 24105 Kielwww.literaturhaus-sh.de

María Cecilia BarbettaIhr erfolgreicher DebütromanÄnderungsschneiderei Los Mila-gros spielt formal originell mitden großen lateinamerikanischenTraditionen phantastischen Er-zählens und der Telenovela undführt die Leser in eine Wunder-kammer, die zu vielen Über-raschungen einlädt.

Yoko TawadaUndramatisch und unprätentiös,mit viel Witz und Beobachtungs-gabe entlarvt sie in ihren Roma-nen, Essays und Gedichten dieVerwirrungen der Sprachen, dieUnterschiede der Kulturen, öffnetdie Augen für die Unterschiededes Geschmacks und Geruchs vonÄpfeln oder das andere Licht.

Léda ForgóIn ihrem Debütroman Der Körpermeines Bruders erzählt sie sprach-sensibel von einer Familientragö-die im kommunistischen Ungarn.Nach dem gewaltsamen Tod ihresZwillingsbruders versucht dieverzweifelte Ich-Erzählerin, seineRolle einzunehmen, damit dieErinnerung an ihn nicht verblasst.

Zsuzsa BánkIhr als Kindheitsdrama von wun-derbar trauriger Poesie gelobterDebütroman Der Schwimmerspielt vor dem Hintergrund desfehlgeschlagenen Ungarnaufstands1956: ein Vater verkauft nach derFlucht der Mutter in den WestenHaus und Hof und zieht mit sei-nen Kindern durch das Land.

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36 :: Veranstaltungen

Di., 4. August, 19 Uhr *Selim ÖzdoganBuddenbrookhausMengstraße 4, 23552 Lübeck

Mi., 5. August, 19 Uhr *Selim ÖzdoganBuchhandlung WeilandFriedrichstraße 28, 25746 HeideVeranstalter: Kunstverein Heide

Do., 6. August, 19.30 Uhr *Selim ÖzdoganLandeskulturzentrum Salzau,(Herrenhaus), 24256 Salzau

Do., 6. August, 19.30 Uhr *Marica BodrozicDiakonisches Werk HusumTheodor-Storm-Straße 725813 HusumVeranstalter: Kunstverein Husum

Fr., 7. August, 19 Uhr *Marica BodrozicSelim ÖzdoganCatalin Dorian FlorescuLiteraturhaus Schleswig-HolsteinSchwanenweg 13, 24105 Kielwww.literaturhaus-sh.de

Sa., 8. August, 19.30 Uhr *Selim ÖzdoganStadtbibliothek FlensburgSüderhofenden 4024937 Flensburg

Do., 13.August, 20 Uhr *José F.A. OliverLiteraturhaus Schleswig-HolsteinSchwanenweg 13, 24105 Kielwww.literaturhaus-sh.de

Ilma RakusaAls intime Kennerin der russi-schen Literatur hat sie zahlreicheBücher übersetzt und herausge-geben. Der sensible Umgang mitden Werken der Kollegen prägtihr eigenes Schreiben nicht nur inEssays und Feuilletons, sondernauch in ihren Gedichten und Er-zählungen.

Chamisso-Preisträger unterwegs…

José F. A. Oliver Seine Gedichte und Essays ent-stehen sowohl aus zeit- und orts-enthobenen Erlebnissen alsauch aus Beobachtungen auf sei-nen Reisen oder seiner Umge-bung, sie spiegeln die Rätselhaf-tigkeit der Welterfahrung, ver-ändern den Blick und öffnen dieGedanken.

Zafer SenocakMit Leichtigkeit und sprachlicherPräzision schreibt der in Ankarageborene, seit 1989 in Berlinlebende Schriftsteller und Publi-zist Gedichte, Romane und Essays.Wichtig ist ihm besonders diekritische Auseinandersetzung mitder Kommunikation zwischenOrient und Okzident.

Selim ÖzdoganZwischen zwei Träumen lautetder Titel seines neuesten Romansund erzählt von einer nahen Zu-kunft, in der die gängigen Medienausgedient haben, weil kollekti-ves Träumen näher, unmittel-barer und packender ist alsFernsehen und Computerspiele.

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Veranstaltungen :: 37

im »Literatursommer Deutschland«* Zu den gekennzeichneten Veranstaltungen finden Sie nähere Informationen unter www.literaturhaus-sh.de

Fr., 14. August, 20 Uhr *José F.A. OliverBuchhandlung BuchstabeHochtorstraße 2, 23730 Neustadt

Sa., 15. August, 20 Uhr *José F.A. OliverEhemalige SynagogeAm Binnenhafen 1725840 Friedrichstadt

Di., 18. August, 19.30 Uhr *Artur BeckerCasa CulturaAuf der Freiheit24837 Schleswig

Mi., 19. August, 20 Uhr *Artur BeckerKreisbibliothekSchloßplatz 2, 23701 Eutin

Do., 20.August, 19.30 Uhr *Artur BeckerBuchhandlung Ton und TextKuhtorstraße 5–723758 Oldenburg i. H.

Fr., 21. August, 19 Uhr *Artur BeckerNordkollegAm Gerhardshain 4424768 Rendsburg

Sa., 22. August, 20 Uhr *Artur BeckerBrasserie und Restaurant VKlosterstraße 425704 MeldorfVeranstalter: Buchladen Peter Panter

Mi., 26. August, 19 UhrRezitationsprogramm zuAdelbert von Chamisso mitAnna HaentjensDeutsche ZentralbibliothekVestergade 30Aabenraa/Apenrade (DK)

Mi., 26. August, 19 UhrCatalin Dorian FlorescuBuchhandlung WeilandFriedrichstraße 28, 25746 HeideVeranstalter: Kunstverein Heide

Fr., 28.August, 19 UhrCatalin Dorian FlorescuGewächshaus Hof KönigswegFlensburger Straße 4924837 SchleswigVeranstalter: Werbegemeinschaftrund um den Schleikieker

Mi., 1. September, 19 UhrSasa StanisicMichael StavaricLiteraturhaus RostockErnst-Barlach-Straße 5www.literaturhaus-rostock.de

Fr., 4. September, 19 Uhr *Catalin Dorian FlorescuDoos’sches PalaisRathausstraße 4, 25554 WilsterVeranstalter: Stadtbibliothek/Verein »Leselust«

Mi., 9. September, 19 UhrTerézia MoraLiteraturhaus KölnSchönhauser Straße 8www.literaturhaus-koeln.de

Michael Stavaricstammt aus dem tschechischenBrünn und lebt seit seinem Studi-um der Bohemistik in Wien alsSchriftsteller und Übersetzer. Erschreibt Gedichte, Kinderbücherund Romane wie Terminifera undMagma, in denen es um Einzel-gänger in einer befremdlichenWelt geht.

Terézia MoraIn ihrem im August erscheinen-den, neuen Roman Der einzigeMann auf dem Kontinent geht esum das Leben des InformatikersDarius Kopp im globalisiertenNirgendwo, die vergebliche Ver-teidigung seines Lebensidyllsgegen den Verlust aller Sicher-heiten.

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38 :: Neuigkeiten, Auszeichnungen, Termine …

Neuerscheinungen von Chamisso-Preisträgern im 1. Halbjahr 2009

György Dalos, Der Vorhang gehtauf. Das Ende der Diktaturen inOsteuropa. München: C.H. BeckVerlag, 2009Zsuzsanna Gahse, Erzählinseln.Reden für Dresden. Dresden:Thelem Verlag, 2009Eleonora Hummel, Die Venus imFenster. Roman. Göttingen: SteidlVerlag, 2009Adel Karasholi, Der Würfelspielervon Mahmoud Darwish. Nachdich-tung. München: A 1 Verlag, 2009Selim Özdogan, Zwischen zweiTräumen. Roman. Bergisch-Gladbach: Edition Lübbe, 2009Michael Stavaric, Böse Spiele.Roman. München: C.H. BeckVerlag, 2009Vladimir Vertlib, Am Morgen deszwölften Tages. Roman. Wien:Zsolnay Verlag, 2009Natascha Wodin, Nachtgeschwister.Roman. München: KunstmannVerlag, 2009

Zum achten Mal wurde der Preisder im Netzwerk literaturhaus.netzusammengeschlossenen Literatur-häuser verliehen; diesmal an denChamisso-Preisträger des Jahres2000, Ilija Trojanow, dessen Werkaus Romanen, Anthologien, Essaysund Filmen auf einzigartige Weiseden Weg durch die Kulturen derWelt geht. Traditionellerweiseladen die elf Literaturhäuser denPreisträger zu Lesungen ein; dieletzte findet am 17. Juni im Litera-turhaus Frankfurt statt.

Werden diese Bezeichnungen demsich immer vielfältiger entwickeln-den Phänomen gerecht? Was istdas Besondere an dieser Literatur?Was unterscheidet sie von anderenStrömungen und Tendenzen derdeutschsprachigen Gegenwarts-literatur? Welche Themen, Stoffeund Motive, welche Strukturen,welche sprachlichen Formen, wel-che Kontexte machen sie unver-wechselbar? Und schließlich: Wo-hin könnte sich diese Literatur inZukunft bewegen? Diesen – undnatürlich anderen, mit dem Gegen-stand unabweisbar verknüpften –Fragen wird das Symposium nach-gehen. Zu Vorträgen sind eingeladen:Prof. Dr. Immacolata Amodeo (Bre-men), Dr. Karl Esselborn (München),Prof. Dr. Dieter Lamping (Mainz)und Prof. Dr. Moray McGowan(Dublin). Prof. Dr. Walter Schmitz(TU Dresden) wird das Handbuchzur Chamisso-Literatur vorstellen,Ilija Trojanow über »Migration alsHeimat. Von den literarischenFrüchten vermeintlicher Verluste«sprechen. Über die Frage »Chamisso – wohin?«diskutieren: Dr. Franco Biondi (Ha-nau), Dr. Florian Höllerer (Stuttgart),Prof. Dr. Dorothee Kimmich (Tübin-gen), Prof. Dr. Walter Schmitz(Dresden), Dr. Monika Stranáková(Nitra). Moderation: Dr. Olaf Hahn(Robert Bosch Stiftung). Anmeldungen bei Dr. Marcel Lepper:Deutsches Literaturarchiv,Schillerhöhe 8 –10, 71672 Marbacham Neckar, Tel. 07144 / 848-432,[email protected]

Chamisso – wohin?Über die deutschsprachige Lite-ratur von Autoren aus aller Welt

Symposium der Robert BoschStiftung (RBSG), Stuttgart, und desDeutschen Literaturarchivs (DLA),Marbach.

Ort: DLA, Marbach am NeckarZeit: 25.– 27. November 2009

Literarische Werke in deutscherSprache, geschrieben von Autorin-nen und Autoren, deren Mutter-sprache nicht die deutsche ist undderen Biografie nicht allein durchden deutschen Sprach- und Kultur-raum geprägt worden ist, haben injüngster Zeit mehr und mehr Aner-kennung gefunden und werdenheute als wesentlicher Bestandteilder deutschsprachigen Gegenwarts-literatur betrachtet. Sprachkünst-ler wie Emine Sevgi Özdamar, IlmaRakusa, Terézia Mora, FeridunZaimoglu, Ilija Trojanow, SAIDoder José F.A. Oliver sind aus demliterarischen Leben Deutschlands,Österreichs und der Schweiz nichtmehr wegzudenken. In den letztenJahren hat man die Werke solcherAutoren oft als »inter-« oder »trans-kulturelle Literatur« bezeichnet,auch als »Migrations-« oder »Migran-tenliteratur«. Ausgehend von derRobert Bosch Stiftung, die dieseLiteratur seit 25 Jahren durch diejährliche Vergabe des Adelbert-von-Chamisso-Preises fördert, hatsich zudem, auch und gerade in derGermanistik, der Name »Chamisso-Literatur« etabliert.

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Impressum

Herausgegeben von der Robert Bosch Stiftung GmbHRedaktionIrene Ferchl, Frank W.AlbersGestaltungröger & röttenbacher,Büro für Gestaltung, LeonbergFotosMarkus Kirchgessner (1, 2, 6, 7, 8, 9, 10,22, 28/29, 32)Yves Noir (5, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17)Matthias Veit (24, 25)© Staatliches Museum für NaturkundeStuttgart (20)Autorin des Gedichtes auf Seite 16:Elisabeth Müller

© 2009 bei den Autoren, Fotografen und dem Herausgeber

Alle Rechte vorbehaltenwww.bosch-stiftung.de

zehn Jahren Tätigkeit als »Gastarbei-ter« studierte er Psychologie undarbeitet seither als psychologischerPsychotherapeut, Romancier,Lyriker und Essayist. 1987 erhielter den Adelbert-von-Chamisso-Preis und 2005 ein Arbeitsstipen-dium der Robert Bosch Stiftung.Zuletzt erschien der Roman Karus-sellkinder, 2007.Irene Ferchl studierte Germanistik,Geschichte und Kommunikations-wissenschaft und arbeitet seitherin Stuttgart als Kulturjournalistinund Autorin literarischer Reisefüh-rer. 1993 gründete sie das Litera-turblatt Baden-Württemberg, des-sen Herausgeberin und Chefredak-teurin sie ist. Seit 1998 betreut siefür die Robert Bosch Stiftung diePublikationen zu den Chamisso-Preisträgern.Ulrike Frenkel, Jahrgang 1962, hatin Stuttgart, Barcelona und ParisRomanistik und Geschichte studiert,und war einige Zeit Redakteurinbei der Stuttgarter Zeitung. Seit derGeburt ihrer beiden Kinder Mitteder neunziger Jahre arbeitet sie alsfreie Journalistin für verschiedeneTageszeitungen und Kulturblätter.Sie lebt mit ihrer Familie in Ober-bayern.Klaus Hübner arbeitete nach sei-nem Germanistikstudium und derPromotion als Dozent an in- undausländischen Universitäten undfür Verlage. Er lebt in München alsAutor, Publizist und Literaturkri-tiker, ist Redakteur der ZeitschriftFachdienst Germanistik und Sekre-tär des Adelbert-von-Chamisso-Preises der Robert Bosch Stiftung.

Markus Kirchgessner, geboren1963 bei Heidelberg, studierte Ger-manistik, Philosophie und Psycho-logie in Freiburg, anschließendKommunikationdesign mit Schwer-punkt Fotografie in Darmstadt,1992 schloss er mit dem Diplom abund arbeitet seitdem als freierFotograf im In- und Ausland. Einerseiner Schwerpunkte sind Repor-tagen aus der Islamischen Welt.Yves Noir wurde 1967 in Frank-reich geboren. Er studierte Medien-design mit Schwerpunkt Fotografieund arbeitet als freier Fotograf undDozent für Fotografie im In- undAusland.Lerke von Saalfeld ist promovierteLiteraturwissenschaftlerin, sie lebtund arbeitet als Journalistin undLiteraturkritikerin in Stuttgart undBerlin. Für Rundfunk und Fernse-hen führt sie regelmäßig Interviewsmit Persönlichkeiten aus Kultur,Wissenschaft und Politik. Seit lan-gem liegt ein Schwerpunkt ihrerArbeit in der Beschäftigung mitSchriftstellern nichtdeutscher Mut-tersprache. Sie hat 1998 den BandIch habe eine fremde Sprache ge-wählt – ausländische Schriftstellerschreiben deutsch veröffentlicht.Stefan Schomann, Jahrgang 1962,lebt als freier Autor und Journalistin Berlin und zeitweise in Peking.Er schreibt vor allem für GEO, da-neben für den Stern, DIE ZEIT, dieFrankfurter Rundschau, Sonntagaktuell und einige andere. 2008erschien sein Buch Letzte ZufluchtSchanghai im Heyne Verlag.

Die Autoren dieser Chamisso-Ausgabe

Michael Bienert, Jahrgang 1964,lebt seit 1977 in Berlin. Seit demGermanistik- und Philosophiestu-dium arbeitet er als Autor undJournalist, unter anderem als Kul-turberichterstatter für die Stutt-garter Zeitung, konzipierte Ausstel-lungen und Stadtspaziergänge.Seine Bücher thematisieren dieBerliner Literatur- und Kulturge-schichte, zuletzt erschienen dasReiselesebuch Berlin und StilleWinkel in Potsdam.Franco Biondi, wurde 1947 in Forli/Italien geboren und emigrierte1965 in die Bundesrepublik. Nach

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