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Judentum

Date post: 03-Jan-2017
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Die älteste Religion der Welt, die nur einen Gott verehrt, folgt einem strengen Regelwerk. In der Tora ist es aufgezeichnet. Sie ist die Heilige Schrift der Juden. Von den Zehn Geboten bis zur Sabbat-Ruhe, von der Beschneidung bis zur koscheren Küche ist das spirituelle wie praktische Leben festgeschrieben. Gott, so sehen es die Juden, hat mit dem Volk Israel einen Bund geschlossen, der es von allen anderen Völkern unterscheidet JUDENTUM STERN-SERIE TEIL 2 Gottes auserwähltes Volk TEIL 1 Religion ohne Gott BUDDHISMUS TEIL 2 Gottes auserwähltes Volk JUDENTUM TEIL 3 Himmel der 1000 Götter HINDUISMUS TEIL 4 Die Verheißungen des Propheten ISLAM TEIL 5 Balance im Kosmos TAOISMUS/ KONFUZIANISMUS TEIL 6 Die Lehre der Liebe CHRISTENTUM DIE SECHS WELTRELIGIONEN ABENTEUER GLAUBEN 2 serie STERN 48/2004 1 ❁❖✺❁❖✺❁❖✺❁❖✺❁❖✺❁❖✺❁❖✺❁❖✺❁❖✺❁❖✺❁❖✺❁❖✺❁❖✺❁❖✺❁❖✺❁❖✺❁❖✺❁❖✺❁❖✺❁❖✺❁❖✺❁❖✺❁❖✺❁❖✺❁❖✺❁❖✺❁❖ ABENTEUER GLAUBEN die serie bei stern.de www.stern.de/Weltreligionen Die Texte der Serie gegen Gebühr FOTO: AKG Kunstvoll gearbeitete Schriftrolle mit dem hebräischen Text des Buches Ester, einer biblischen Geschichte über jüdische Klugheit
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Die älteste Religion der Welt, die nur einen Gott verehrt, folgt einem strengenRegelwerk. In der Tora ist es aufgezeichnet. Sie ist die Heilige Schrift der Juden.

Von den Zehn Geboten bis zur Sabbat-Ruhe, von der Beschneidung bis zur koscheren Küche ist das spirituelle wie praktische Leben festgeschrieben. Gott, so sehen es die Juden, hat mit dem Volk Israel einen Bund geschlossen,

der es von allen anderen Völkern unterscheidet

JUDENTUM

STERN-SERIE TEIL 2

Gottes auserwähltes Volk

TEIL 1 Religion

ohne GottBUDDHISMUS

TEIL 2 Gottes

auserwähltes VolkJUDENTUM

TEIL 3 Himmel der 1000 Götter

HINDUISMUS

TEIL 4 Die Verheißungen des Propheten

ISLAM

TEIL 5 Balance im Kosmos

TAOISMUS/KONFUZIANISMUS

TEIL 6 Die Lehre der

LiebeCHRISTENTUM

DIE SECHSWELTRELIGIONEN

ABENTEUER GLAUBEN

2 serie

S T E R N 4 8 / 2 0 0 4 1

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die serie bei stern.de www.stern.de/Weltreligionen Die Texte der Serie gegen Gebühr

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Kunstvoll gearbeitete Schriftrolle mit dem hebräischen Text des Buches Ester, einer biblischen Geschichte über jüdische Klugheit

Gläubige drängen am Laubhüttenfest zum Gebet an die Klagemauer in Jerusalem. Sie ist der letzte Rest des

Zweiten Tempels, erbaut nach der Babylonischen Gefangenschaft. Die Römer zerstörten ihn im Jahr

70 n. Chr., danach begann die fast zwei Jahrtausendewährende „Diaspora“, die Zerstreuung des jüdischen

Volkes in alle Welt

AM FUSS DES TEMPELBERGES

Eine Ruine ist die heiligste Stätte der Juden

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NEHEMIA 2,17

„Ihr seht das Unglück, in dem wir sind, dass Jerusalem wüst liegt und

seine Tore mit Feuer verbrannt sind“

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HOSEA 14,2

„Kehr um, Israel, zum Herrn, deinem Gott! Denn du bist zu Fall gekommen durch deine Schuld“

4 S T E R N 4 8 / 2 0 0 4

Auf einem Schimmel stürmt der spätere Kaiser Titus im Jahr 70 n. Chr. den Tempel in Jerusalem, um die

Juden zu strafen, die sich gegen das römische Imperiumerhoben hatten. Das Volk Israel wird aus Palästina

vertrieben. Der Maler Nicolas Poussin illustriert 1638das Gemetzel mit abgeschlagenen Köpfen

und anderen Gräueln

ZERSTÖRUNG DES ZWEITEN TEMPELS

Die Juden verlieren ihr Gelobtes Land

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Jüdische Siedler tragen die Torarolle in einem feierlichen Zug in einen neu gegründeten Kibbuz.

Der Ende des 19. Jahrhunderts begründete Zionismus hat Juden in aller Welt dazu bewogen, in ihr Heiliges Land zu emigrieren. Später suchen

hier Zehntausende vor der Verfolgung durch die Nazis Zuflucht

PALÄSTINA, 1938

Mit Gottvertrauen zurück ins Land der Väter

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JESAJA 49, 17

„Deine Erbauer eilen herbei, aber die dich zerbrochen und zerstört haben,

werden sich davonmachen“

Ein junger Mann, der auf einem Hocker steht, wird 1906 bei einer Bar-Mizwa-Feier in Polenmit den Segenssprüchen der Gemeinde in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen

Frauen und Kinder aus Ungarn auf der Rampe des Konzentrationslagers Auschwitz.Unter der Terrorherrschaft der Nazis müssen Juden den Davidstern tragen – eine Stigmatisierung, gefolgt von Entrechtung, Verschleppung und schließlich der Vernichtung von sechs Millionen Juden

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Orthodoxe Juden beobachten von einer Straße in Brooklyn aus die brennenden Türme des World Trade Centers. Nach den Terroranschlägen beschuldigen manche Verschwörungstheoretiker

„die Juden“ als Drahtzieher – wie schon so oft in derGeschichte. Im Mittelalter wurden sie für Pest und

Brunnenvergiftung verantwortlich gemacht

NEW YORK, 11. SEPTEMBER 2001

Eine Katastrophe weckt das antisemitische Klischee

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SIRACH 5,15

„Reden bringt Ehre, aber Reden bringt auch Schande;

und der Mensch kommt durchseine eigene Zunge zu Fall“

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TALMUD, JEBAMOT 62 B

„Wer keine Frau hat, lebt ohne Freude,ohne Glück, ohne Seligkeit“

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Unter einer Chupa, dem traditionellen Hochzeitsbaldachin, geben sich zwei junge New Yorker das

Jawort. Das prunkvolle Gebetshaus hatten osteuropäische Juden 1887 erbaut. Mit zwei Millionen

Juden hat New York die zweitgrößte jüdische Gemeinde der Welt, hinter Tel Aviv mit 2,6 Millionen

und weit vor Jerusalem mit 575 000

ELDRIDGE-STREET-SYNAGOGE, MANHATTAN

Braut und Bräutigam gelten als König und Königin

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RABBI GERSHOM SIZOMU, UGANDA

„Wir sind Afrikaner, wir haben uns zu Juden

erklärt und zu einem Teil des Volkes Israel“

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Ein Kind spielt am Eingang des Gebetshauses mitSchuhen, die andere Gläubige hier abgestreift haben.

Etwa 600 Menschen, die sich Abayudaya – Juden –nennen, leben im Osten Ugandas, weitab von der übrigen

jüdischen Welt. Auch sie sehen sich als Enkel vonAbraham. Ein einheimischer Elefantenjäger bekehrte

ihre Dörfer 1919 zur Lehre des Alten Testaments

NOMAHTUMBA-SYNAGOGE, UGANDA

Abrahams schwarze Enkel in Afrika

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n diesem Nachmittag wird im jüdischen Viertel vonAntwerpen der Glaube mit dem Nudelholz gelehrt.Ein Dutzend Mädchen in weißen Blusen walzt eineHand voll Teig zu dünnen Fladen. „Schnell, machtschnell“, ruft der Lehrer mit der Kochmütze. Ki-chernd eilen die Mädchen, die Ohren rot vor Eifer,zum Backofen, wo im Handumdrehen aus dem

weichen Stück Teig knusprige „Mazza“ wird, dastraditionelle jüdische Brot für das Pessachfest.

Der Lehrer ist zufrieden, die Unterrichtsstunde geglückt, derGlaube gefestigt. Die Zubereitung der Fladen blieb mit 15 Minu-ten Dauer klar unter dem vorgeschriebenen Limit. Denn vom An-rühren des Mehls bis zur fertigen Mazza dürfen nicht mehr als 18Minuten verstreichen. Ansonsten wäre ein göttliches Gebot ver-letzt. 18 Minuten dauert es, so haben Glaubensexperten herausge-funden, bis Mehl bei Zugabe von Wasser zu fermentieren beginnt.Zum Pessachfest im Frühjahr darf aber in einem jüdischen Haus-halt unter keinen Umständen irgendetwas vorhanden sein, ge-schweige denn auf den Tisch kommen, das auch nur im Gerings-ten gären, säuern, fermentieren könnte.

Also wird das Brot zum Fest aus purem Mehl mit klarstemWasser hergestellt, und das in Minutenfrist. Das Mehl wurdevorher unter der Aufsicht eines Rabbiners gemahlen, damit jakein Stäubchen Hefe, kein welkender Halm, kein Tröpfchen Flüs-sigkeit zur Unzeit seine jungfräuliche Reinheit gefährden kann.Das Wasser muss ebenfalls das sauberste vom sauberen sein. Vordem diesjährigen Pessachfest etwa protestierten orthodoxe Ge-meinden in Israel gegen die Absicht der Regierung, auch währendder sieben Festtage Trinkwasser aus dem See Genezareth in dieHaushalte zu leiten. Die strenggläubigen Juden befürchteten,muslimische Anrainer könnten achtlos Brotreste in den See ge-worfen haben. Spuren dieser Verunreinigung würden dann trotzzwischengeschalteter Filter die Haushalte Israels erreichen und soein Pessachgebot verletzen.

Auch im Bahnhofsdistrikt von Antwerpen, wo mit 25 000 Ju-den die größte ortho-doxe Gemeinde Euro-pas lebt, hält man sichgewissenhaft an dieReinheitsgebote. Umauch die winzigste Fer-mentierungsgefahr zubannen, wird am Tagvor dem Pessachfestdas Haus auf den Kopfgestellt, mit „Kerzeund Feder“ – so for-dert der Talmud –werden alle Ecken aus-geleuchtet und ausge-wischt. Kein Krümel-chen darf übersehenwerden. „Man solltealso nie eine neuePutzfrau nehmen vorPessach, die wird ver-

rückt“, sagt Heidi Moszkowitz-Czajkowski, deren Mann eine ko-schere Metzgerei gehört. Orthodoxe Hausfrauen räumen Kühl-schränke und Speisekammern leer und kaufen garantiert unge-säuerte Lebensmittel eigens für die sieben Tage ein. Strenggläubi-ge Juden ersetzen sogar die gewohnte Zahnpasta: Sie könnte Alko-hol aus Getreide enthalten.

WOZU DIESER WUST VON REGELN? Nach jüdischer Auffassungsind sie nicht bloßes Brauchtum, sondern die bindende Umset-zung göttlicher Gebote ins praktische Leben. So erinnern die Pes-sachrituale an den von Moses angeführten Auszug der Israelitenaus Ägypten, wo diese geknechtet und ausgebeutet worden waren.Dieser Aufbruch in ein neues, freies Leben erfolgte auf Gottes An-weisung über Nacht. Die Juden fanden gerade noch die Zeit, ausWasser und Mehl, doch ohne Sauerteig, ein bisschen Brot zusam-menzubacken.

Schon Moses, von Gott inspiriert, schrieb seinen Landsleutenvor, wie und warum sie in Zukunft dieses entscheidenden Datumszu gedenken hätten. Im 2. Buch (13,7–8) heißt es: „Du sollst sie-ben Tage ungesäuertes Brot essen, dass bei dir weder Sauerteignoch gesäuertes Brot gesehen werde an allen deinen Orten. Ihrsollt euren Söhnen sagen an demselben Tage: Das halten wir umdessentwillen, was uns der Herr getan hat, als wir aus Ägypten zogen.“

Da durch Moses Gott gesprochen hat, muss diese Vorschrift bisin die – aus Sicht von Nichtjuden – letzte Spitzfindigkeit befolgtwerden. Insgesamt gibt es 613 Ge- und Verbote für den Alltag. Siebeschäftigen sich mit so abgelegenen Themen wie den vier Heu-schreckenarten, die im Gegensatz zu allen sonstigen Würmernund Insekten laut Moses koscher sind – wären sie nicht inzwischenausgestorben. Zugleich regeln sie selbst intimste Aspekte: von derZeit, in der Frauen keinen Geschlechtsverkehr haben dürfen –während der Menstruation und der Woche danach –, bis zur Be-schneidung von neugeborenen Jungen als dem von Gott abgefor-derten Zeichen für den Bund zwischen ihm und dem Volk Israel.

Für Juden zeigtsich Jahwe, der ewigeund einzige Gott, vor allem in seinenOffenbarungen. DerWeg zu ihm führt daher über derenstrikte Befolgung.Schon Abraham, derStammvater Israels,wird laut Bibel vonJahwe auserwählt,„weil Abraham aufmeinen Ruf gehörtund weil er auf meineAnordnungen, Gebo-te, Satzungen undWeisungen geachtethat“.

„Die wahre Got-tesverehrung be-

Von TEJA FIEDLER und HARALD SCHMITT (Fotos)

DIE SECHS WELTRELIGIONEN

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➔Ein Lehrer zeigt Mädchen im Chabad-Gemeindezentrum von Antwerpen, wie mit

einem Nudelholz ein Teig aus Mehl und Wasser zu dünnen Fladen ausgerollt wird.Die Herstellung von Mazza, Brot zum Pessachfest, ist bis ins Detail geregelt

Die Vorbeter der jüdischen Gemeinde von Antwerpen entrollen zum Morgengebet die Tora.

Sie tragen dazu an Stirn und Armen die vorgeschriebenenGebetskapseln Tefillin und den Gebetsschal Tallit.

In der belgischen Stadt leben 25 000 Juden – die größte orthodoxe Gemeinde Europas

SHOMREI-HADASS-SYNAGOGE

Die Heilige Schrift ist Herzstück der Lehre

NEHEMIA, 8,1–8

„Und die Ohren des ganzen Volkes waren dem Gesetzbuch zugekehrt“

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steht im Halten der Gebote und nicht in müßiger Spekulationüber das Wesen des Höchsten“, so der ReligionswissenschaftlerThomas Schweer. Natürlich ist Gott auch für die älteste mono-theistische Religion der Welt der Fels in der Brandung des Lebens.Unverrückbar, unzerstörbar. Aber ohne Gesicht. Zu groß, als dassdie Menschen, seine Geschöpfe, sich von ihm ein Bild machenkönnten – was überdies in den Zehn Geboten von Gott ausdrück-lich verboten wird. Nicht einmal sein Name soll ausgesprochenoder „ausgeschrieben“ werden.

Jahwe ist der absolute Herr, der die Geschicke der Welt nachseinem Willen lenkt. Er ist streng und barmherzig zugleich. Wieein mathematisches Axiom, das einfach existiert, aber nicht bewie-sen werden kann, ruht Gottes Dasein in sich selbst: „Ich bin, derich bin.“ Die christliche Dreiteilung dieser obersten Gewalt in ei-nen Vater, einen Sohn – der dann auch noch Mensch wird und amKreuz stirbt – sowie einen Heiligen Geist ist für jüdisches Denkenunbegreiflich, Gotteslästerung.

Anders als Christen sprechen Juden auch ungern vom Glauben.Gott ist gegeben, man muss nicht an ihn glauben. Juden ziehenanstelle von Glaube den Begriff „Lehre“ oder „Tradition“ vor.

Was dieser unfassbare Gott den Menschen von sich preisge-ben wollte, hat er seinen Propheten in den Mund gelegt. Der be-deutendste unter ihnen ist Moses. Diesem historisch nicht be-legbaren Sprachrohr seines Wollens hat Jahwe die Zehn Geboteausgehändigt, und von Moses stammen angeblich auch die ers-ten fünf Bücher der Bibel, die das Fundament des jüdischenGlaubens sind.

Gott hat sich dabei nicht allen Menschen gleichermaßen offen-bart. Er schloss einen Bund nur mit einem Volk auf der Erde, denNachkommen Abrahams, den Israeliten. Salopp gesprochen tätig-te er mit diesem „auserwählten Volk“ ein Geschäft auf Gegensei-tigkeit: Israel erkennt ihn als einzigen Gott an und folgt allen sei-nen Geboten. Dafür gewährt er den Juden das Land, in dem

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ielen Juden ist ihre Religion zu rational. In Reaktion auf die Aus-legung der Tora mit ihren strengenGesetzen gab es häufig religiöseBewegungen, die einen direkterenWeg zu Gott suchten. Die jüdischenMystiker wollten „die Seele öffnenund die Knoten lösen, die sie gefan-gen halten“, und so dem orthodo-xen Glauben eine spirituellere Kom-ponente geben. Vor allem in Osteuropa, wo es im17. Jahrhundert zu entsetzlichenPogromen durch die Kosaken gekommen war, setzte sich als Reaktion auf diese Verfolgungen der Chassidismus durch – eine mys-tische Richtung, die das Heil derMenschen nicht nur in der buch-stabengetreuen Befolgung göttlicherRegeln erlangen will. Die Chassi-dim, Hebräisch für „die Frommen“,versuchen durch ekstatisches Ge-bet, durch Tanz und Gesang Nähe zu ihrem Gott zu erreichen.Gleichzeitig, oft Hand in Hand mitdieser jüdischen Mystik, blühte da-mals der Glauben an einen Messiasauf. Dieser Gesandte des Herrn,den Volksfrömmigkeit oft mit demPropheten Elias gleichsetzte, solltedem Elend der Juden in der Dias-pora ein Ende machen wie über-

haupt dem irdischen Jammertal.Der Erlöser sollte ein gerechtes undfriedliches Reich Gottes mit Jeru-salem als Hauptstadt verwirklichen. Immer wieder behaupteten religiöseErwecker, sie seien dieser Ersehnte.Der berühmteste „Messias“ war deraus Kleinasien stammende RabbiSabbatai Zwi (1626 – 1676). Aufdem Höhepunkt seiner Popularitätsetzte Sabbatai Zwi sogar den Tal-mud außer Kraft. Da das messiani-sche Zeitalter angebrochen sei,gebe es keine Sünde mehr, so seinekühne Begründung. Die Gesetze desTalmud seien daher genauso sinnloswie Trauer und Fasten. Der selbst ernannte Messias erklärte, er werdeden osmanischen Sultan – den da-maligen Herrscher im Heiligen Land– absetzen und an dessen Stelletreten. 1666 wurde dem Sultan das Trei-ben Sabbatai Zwis zu viel. Er stellteden Erlöser vor die Wahl, entwederMuslim oder hingerichtet zu werden.Sabbatai Zwi entschied sich fürsÜberleben und betete fortan fünf-mal täglich zu Allah. Seine treues-ten Anhänger störte dieser Verratnicht. Über den Tod ihres Messiashinaus glaubten sie an seine Wiederkehr.

JÜDISCHEMYSTIK

Ein Rabbiwill denSultanstürzenImmer wieder bringtdas Judentum frommeEiferer hervor, die sichGott spirituell nähernwollen – und zugleichdie weltliche Machtherausfordern

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Rabbi Sabbatai Zwi

nach einem altenStich

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Gleichberechtigung beim Gebet Am Jewish Theological Seminary of America in New Yorksammeln sich Frauen in traditioneller Männerkleidung zurMorgenandacht. Erst seit kurzem ist ihnen das erlaubt

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DER FALSCHE MESSIAS

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„Milch und Honig fließen“, und in der „kommenden Welt“ ewigeSeligkeit – in einem neuen Garten Eden. Die Gottlosen hingegenwerden an einen trostlosen Ort verdammt. Die Konturen dieser„Hölle“ und ihrer Schrecken bleiben aber, anders als im Christen-tum, sehr vage.

Vor dem Jüngsten Gericht wird nach jüdischer Lehre der Mes-sias erscheinen und ein Reich des Friedens und der Gerechtigkeiterrichten. Auf seine Ankunft warten die Juden noch. Jesus, derMessias des Christentums, ist für sie ein irregeleiteter Schwärmeroder religiöser Hochstapler und laut Talmud gar nicht existent.

Immer dann, wenn das auserwählte Volk seinem Herrn un-treu wurde, wenn es Götzen anbetete oder Schuld auf sich lud,wurde es nach der jüdischen Lehre von Jahwe bestraft. Dieschlimmste Strafe war „Galut“, die Verbannung aus dem Land, indas Moses es auf Gottes Geheiß geführt hatte. So geschehen 600Jahre vor unserer Zeitrechnung, als die Juden für 50 Jahre ins Exilnach Babylon deportiert wurden. Und, noch katastrophaler,nach den Siegen der Römer, als der spätere Kaiser Titus 70 nachChristus Jerusalem eroberte, den Tempel zerstörte und KaiserHadrian im Jahr 135 den letzten Widerstand brach. Jerusalemwurde römische Provinzstadt, die Juden zerstreuten sich in alleWinde.

Das Judentum wurde eine Diaspora-Religion. Die meisten jü-dischen Exilgemeinden bildeten sich in christlicher oder muslimi-scher Umgebung. Das Verhältnis der christlichen Welt zu den Ju-den war fast immer gespannt. Perioden oft nur widerwilliger Dul-dung wechselten über die Jahrhunderte mit Zeiten offener Diskri-minierung und brutaler Verfolgung.

DER ISLAM HINGEGEN TOLERIERTE die jüdische Religion meistals eine Vorstufe des Glaubens an Allah. Mohammed hatte denstrengen Monotheismus des Judentums weitgehend in den Koranübernommen. Der heutige Hass vieler Muslime auf die Juden istkein religiöses, sondern ein politisches Phänomen, ausgelöst erstdurch die zionistische Einwanderung und die Gründung des Staa-tes Israel 1948.

Unter gläubigen Juden gehen die Meinungen weit auseinan-der, ob die Rückkehr in den gegenwärtigen Staat Israel ein Schritt

hin zum Reich des Messias ist. Der Jerusalemer Rabbiner EliahuAvichail etwa bejaht dies: „Das grundlegende Element der Erlö-sung ist Austritt aus der Diaspora und Leben in Israel, keinerfremden Macht unterworfen. Die Erlösung wird nicht vollkom-men sein, bis das ganze Volk Israel in seinem Land leben wird …geführt von der Tora.“ Doch viele orthodoxe Juden sehen denStaat von Theodor Herzl und David Ben Gurion als laizistisches,gottfernes Gebilde an, in dem nichts auf die Ankunft des Messi-as verweist.

„Oh Herr unser Gott, du hast das Heilige vom Profanen ge-schieden, das Licht von der Dunkelheit, Israel von den anderenVölkern und den Sabbat von den sechs Arbeitstagen“, heißt es ineinem populären jüdischen Gebet. Diese privilegierte Stellung ei-nes Volks gegenüber Gott ist unter den großen Religionen einma-lig. Viele Glaubensgemeinschaften wollen ihre Wahrheit so weitwie möglich, am besten über die gesamte Menschheit verbreiten.Das Judentum dagegen hat keine missionarischen Züge.

Betrunken in Erinnerung an EsterZwei junge Männer hängen in einer Bank. Am Purimfesttrinken Juden auf die Rettung ihrer Ahnen durch die klugeEster vor rund 2500 Jahren am persischen Hof

DIE SECHS WELTRELIGIONEN

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zend Männer. Das Morgenge-bet ist ihre Sache, Frauen ha-ben dabei nichts zu suchen. Siesind wegen ihrer biblischenRolle als Hausfrau und Muttervon den vorgeschriebenen dreitäglichen Gebeten entbunden.

Eingehüllt in den traditio-nellen schwarzweißen Gebets-schal mit vier Fransen, dieschon Moses vorschrieb, ver-teilt ein Mann Flugblätter. Sierechtfertigen das Attentat undfordern die Antwerpener Be-hörden auf, einen muslimi-schen Protestmarsch zu ver-bieten. „Wir leben nicht mehrin den Zeiten Abrahams“, sagtein anderer Besucher der An-dacht, „Auge um Auge, Zahnum Zahn ist heute keine Lö-sung mehr.“ Auch er trägt denGebetsschal. Orthodoxes Ju-dentum ist politisch kein mo-nolithischer Block.

Dann stehen die beidenMänner einträchtig betend ne-beneinander. Über die Stirnspannt sich ein Riemen mit ei-nem schwarzen, viereckigenKästchen aus Leder. Mit ei-nem Riemen, der siebenmalum ihren Arm gewickelt ist,haben sie nahe dem Ellbogenein zweites Kästchen befestigt.Beide enthalten vier Bibelzita-te, auf Pergament geschrieben.In diesen heißt es, Symbole für

den Bund mit Gott „sollen ein Zeichen sein auf deinem Arm undeine Erinnerung zwischen deinen Augen“. In dem Kästchen aufder Stirn muss jedes der vier Zitate auf ein eigenes Stück Papier ge-schrieben sein. Im Behälter am Arm hingegen stehen alle vier aufeinem Blatt. Niemand weiß, warum.

Ebenso wenig gibt es eine schlüssige Erklärung für die Vor-schrift, unter allen Säugetieren nur das Fleisch von Wiederkäuernmit gespaltenem Huf zu essen. Also nicht das der Schweine (ge-spaltener Huf, doch kein Wiederkäuer), auch nicht das der Kame-le (Wiederkäuer, aber kein ganz durchgespaltener Huf).

NACH MEINUNG STRENGGLÄUBIGER JUDEN bedarf dies keinerBegründung. Gott müsse seine Gebote nicht erläutern. Hygieni-sche Argumente, etwa Trichinengefahr bei Schweinen, lehnen sieals Pseudoerklärungen ab. Der Religionswissenschaftler Alfred J.Kolatch: „Der Zweck der Speisegesetze besteht ausschließlich da-rin, dem jüdischen Volk seine Heiligkeit und seine Einheit zu be-wahren, nicht aber seine Gesundheit.“

Im Kern sind die Essensregeln wie alle anderen Vorschriften derjüdischen Religion in der Tora niedergelegt. Tora heißt aufDeutsch „Weisung“ oder „Gesetz“ und hat eine doppelte Be-

Menschen anderer Be-kenntnisse sollen sich am jüdi-schen Leben, das Gottes- undMenschenliebe als höchsteWerte ansieht, ein Beispielnehmen. Dann können sieauch ins Paradies eingehen,falls sie ein gutes, ein „gerech-tes“ Leben führten. In den en-gen Bund Israels mit Jahweaber will man sie nicht unbe-dingt einbeziehen. Zwar kannman zum jüdischen Glaubenkonvertieren, doch die Hür-den sind hoch, und aktive Bekehrungsversuche werdenvon der Religionsgemeinschaftnicht unternommen.

DER GOTTGEWOLLTE Unter-schied zum Rest der Welt warstets die große Stärke und zu-gleich die große Schwäche desJudentums: Das Bewusstsein,„auserwählt“ und damit an-ders zu sein, schweißte die jü-dischen Gemeinden zusam-men und sicherte ihr unver-fälschtes Fortbestehen durchdie Jahrhunderte. Umgekehrterschwerte die strikte Einhal-tung der Gebote die Assimilie-rung an die Andersgläubigen,unter denen sie lebten, grenztedie Juden in deren Augen ausund machte sie verdächtig.Kam wie in christlicher Umge-bung noch religiös motivierterHass dazu – laut Neuem Testament sind ja die Juden für die Kreu-zigung Christi verantwortlich –, war der Boden für Diskriminie-rung und Pogrome bereitet.

Morgengebet am Donnerstag in der Shomrei-Hadass-Synago-ge von Antwerpen. Massive Zahlenschlösser, Videokameras undein Wachposten sichern den Eingang. Am Tag zuvor haben die Is-raelis einen Hamas-Führer in Gaza getötet, jetzt befürchtet man inAntwerpen Reaktionen der muslimischen Minderheit in der Stadt.

Im „Schtibl“, dem kleineren Gebets-raum, sammeln sich zwei Dut-

Frauen bringen Licht in die WeltGemäß der Tradition zündet Heidi Moszkowitz-Czajkowski zum

Beginn des Sabbats am Freitagabend Kerzen an

Mittagessen im koscheren RestaurantRichtige Männer behalten die Hüte auf, wenn sie bei „Hoffy’s“ inAntwerpen einkehren. Die Kopfbedeckung zeigt Demut vor Gott

Ein Stern aus zwei DreieckenDer Davidstern, seit der Antike ein spirituelles Symbol, ist seit dem Mittelalter ein Wahrzeichendes Judentums. Ein Bezug

zu König David ist nicht nachzuweisen

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befolgt werden – eine Priester-kaste bilden sie allerdingsnicht. Geistliche Hierarchienwie im Katholizismus mitPapst, Kardinälen, Bischöfen,Priestern und Laien sind imJudentum unbekannt. JederGläubige steht Gott unmittel-bar gegenüber. Daher stört esauch niemanden, dass es jetztein Laie ist, der mit einemSprechgesang einen Abschnittaus der Tora rezitiert, währendder Oberrabbiner schweigendeRandfigur bleibt. Nach Endeseiner Lesung hält der Vorbe-ter die Rolle hoch über alleHäupter und sagt: „Dies ist dasGesetz, das Moses den Kin-dern Israels vorlegte.“ Dannwird sie wieder zusammenge-wickelt und feierlich verstaut.

Ob denn die gesamte jüdi-sche Bevölkerung von Antwer-pen, dem „Jerusalem des Nor-dens“, strengstens nach denGesetzen der Bibel lebe? 50Prozent, schätzt Jacques Wen-ger, Direktor im Diamanten-viertel. Die anderen schicktenzumindest ihre Kinder aufeine jüdische Schule. Diejeni-gen, die eher Religion lightpraktizierten, blieben ebenfallsSöhne Israels.

„WER ALS JUDE GEBORENist, bleibt Jude. Schwarz kann

nicht weiß werden.“ Natürlich, es gebe Grautöne: Ultraorthodo-xe, Orthodoxe, Konservative, Reformer. Aber die Tora sei der ge-meinsame Nenner. Dann zitiert er einen einprägsamen Vergleich:„Alle Juden stehen auf derselben Leiter, aber nicht auf derselbenSprosse.“

Metzgersgattin Heidi Moszkowitz-Czajkowski würde demnachauf einer Sprosse knapp über der Mitte stehen. Die quirlige Toch-ter polnischer Juden wurde 1951 in München geboren, sprach mitihrer Großmutter Jiddisch, mit den Eltern Polnisch, in der Schulebreites Bayerisch und lernte mit 23 Jahren auf einem Familienfestden Antwerpener Schlachtermeister Moszkowitz kennen: „DreiTage nach unserem ersten Treffen hat er mir einen Heiratsantraggemacht.“

Die Mutter von drei erwachsenen Söhnen hat Musik studiert– „bei dem Mädchennamen Czajkowski ja kein Wunder“ – undspäter für Luxemburg und Belgien Schlager zum Grand-Prix-Festival komponiert. Ihr Traum wäre es, sagt sie, ein ganzes Mu-sical auf Jiddisch zu schreiben. Komödien in dieser Sprache desosteuropäischen Judentums hat sie schon verfasst und in Ant-werpen aufgeführt. Im jüdischen Viertel der Stadt ist Jiddisch,das sich historisch aus einem mittelhochdeutschen Dialekt

deutung. Die Tora im engerenSinn sind die fünf Bücher Mo-sis, die den Zeitraum von derErschaffung der Welt bis zumTod des Moses umfassen (dener allerdings schwer selbst be-schrieben haben kann). Im er-weiterten Sinn gehören diespäter entstandenen Schriftender Propheten, die biblischenGeschichtsbücher wie die überDavid und Salomo, und diePsalmen dazu.

DARÜBER HINAUS GIBT ESnoch eine „mündliche Tora,die jene Offenbarungen Gottesan Moses enthält, die vomPropheten nicht niederge-schrieben wurden. Sie hat manüber Jahrhunderte von Mundzu Mund weitergegeben underst im 2. Jahrhundert n. Chr.aufgezeichnet. Zusammen mitgelehrten Auslegungen undErklärungen bilden sie späterden Talmud (Talmud = Lehre,Studium), die jüdische Richt-schnur für alle Lebenslagen.Weil der Talmud aber bereitsim 6. Jahrhundert schriftlichfixiert war, sind im Lauf derZeit um jedes seiner Kapitelaus der Feder gelehrter Rabbi-ner neue Kommentare unddann Kommentare der Kom-mentare entstanden. Die Sei-ten einer heutigen Talmudaus-gabe gleichen buchstäblich dem Querschnitt durch einen Baum-stamm: in der Mitte die Urschrift, das Mark, und außen herumwie Jahresringe die Kommentare.

Da in der klassischen Tora mit den fünf Büchern Mosis derspirituelle Kern des Judentums steckt, ist die Torarolle das Herz-stück jeder Synagoge. Als Träger von Gottes Wort müssen dieseRollen makellos sein. Ihr Text wird mit einem Federkiel in tief-schwarzer Tinte auf Pergament geschrieben, das von koscherenTieren stammen muss. Es darf nicht den kleinsten Riss aufwei-sen, dem Schreiber bei seiner monatelangen Arbeit kein Fehlerunterlaufen. Vertut er sich oder gerät ihm eine Zeile krumm, waralle Mühe umsonst.

Die Torarolle ist die meiste Zeit hinter einem Vorhang in einemreich verzierten Schrank an der Ostseite jedes Bethauses verbor-gen. Doch wie immer am Donnerstag – so wie jeden Sabbat undMontag – entnimmt auch heute der Vorbeter der Antwerpener Sy-nagoge mit Hilfe einiger Gemeindemitglieder die an zwei Stäbenaufgewickelte Pergamentrolle ihrem Futteral. Neben ihm steht derOberrabbiner der Stadt in stiller Andacht.

Rabbiner sind Schriftgelehrte mit Diplom, deren Talmudausle-gungen von den Gemeindemitgliedern geschätzt und meist auch

Werkzeug zum Vollzug des Bundes mit GottDieses holländische Beschneidungsbesteck diente Anfang des19. Jahrhunderts zum Entfernen der Vorhaut von Neugeborenen

Wein ist erlaubt – aber koscher muss er seinMoshe Feldman mit einer Magnumflasche „Rothschild“. Ob der

Haut-Médoc den Regeln genügt, wird im Weinberg geprüft

DIE SECHS WELTRELIGIONEN

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der Bibel steht das Verbot, einZicklein in der Milch seiner Mut-ter zu kochen. Daher dürfen lautTora Gerichte auf Milchbasis niemit Fleisch zusammenkommen.Nicht einmal im Magen: GläubigeJuden lassen sechs Stunden Ver-dauungsspielraum, bevor sie nacheinem Fleischgericht etwa eineQuarktasche essen, umgekehrtreicht eine Stunde Abstand. AlleNahrungsmittel müssen natürlichkoscher, zu Deutsch „rein, geeig-net“ sein.

DIE LEHRE VON DER REINHEIT isteine Wissenschaft für sich. Ko-scher sind alle Tiere mit Schuppenund Flossen, also die meisten Fi-sche, nicht koscher die übrigeMeeresfauna wie Hummer oderTintenfisch. Koscher sind die gän-

gigen Geflügelarten von der Taube bis zur Gans, bei den Säugetie-ren nur paarhufige Wiederkäuer. Selbst Wein benötigt für ortho-doxe Juden das Reinheitszertifikat.

Auch den Sabbat hält Familie Moszkowitz heilig. Arbeit ist amSabbat, den Gott nach sechs Schöpfungstagen zum Ruhetag mach-te, strikt verboten. In biblischen Zeiten stand auf Verletzung derSabbatruhe die Todesstrafe. Die gewissenhaften Exegeten der Torahaben im Lauf der Jahrhunderte 39 Kategorien von Tätigkeitenkatalogisiert, die an diesem Tag, der mit dem Freitagabend be-ginnt und am Samstagabend endet, untersagt sind. In den moder-nen Zeiten verästelte sich dieses Regelwerk ungemein. OrthodoxeJuden etwa stellen heute nicht einmal den Elektroherd an, dennFeuermachen ist verboten, und der elektrische Funke, der beimSchließen eines Stromkreises überspringt, gilt für sie als eine ArtFeuer. Aus dem gleichen Grund gibt es in großen Hotels nebendem normalen Lift einen eigenen Sabbat-Aufzug, der automatischauf jedem Stockwerk hält. So braucht der gläubige Gast keinenKnopf zu drücken.

Heidi Moszkowitz-Czajkowski sieht im jüdischen Sonntag je-doch weniger den Tag der Verbote als den Familientag, der durchseine Ruhe und Harmonie auf das verheißene messianische Zeit-alter verweist. „Wenn ich am Freitagabend die Kerzen anzünde,begrüße ich den Sabbat wie eine Königin.“ Das Kerzenanzündenals Auftakt zum Festtag ist Frauensache. Die Talmuderklärung istpoetisch, doch nicht schmeichelhaft. Da Eva sich im Paradies vonder Schlange in Versuchung führen ließ, hat sie durch ihre Sündedas Licht in der Welt verdunkelt. Mit dem Anzünden der Kerzenholt sie es wieder zurück.

Manchmal befolge sie die Gebote ihrer Religion eher instink-tiv, ohne genau den biblischen Hintergrund zu kennen, sagt FrauMoszkowitz-Czajkowski. Dann bekomme sie von ihrem jüngstenSohn, der in Jerusalem zurzeit Torastudien betreibt, tadelnd zuhören: „Aber Mama, das sind Grundwerte unseres Glaubens.“Hebräisch, die Sprache des Talmuds, beherrscht die Mutter nurhalbwegs. Was ihr gelebtes Judentum keineswegs einschränkt:„Wenn es mir dreckig geht, lese ich die Psalmen auf Jiddisch.Und gleich fühle ich mich viel besser.“

entwickelte, noch immer Um-gangssprache. Die meisten derheute in Antwerpen ansässigenJuden stammen von Immigrantenab, die hier im 19. Jahrhundert vorantisemitischen Ausschreitungenim zaristischen Russland Zufluchtsuchten. Die Hälfte der Gemeindewurde während der deutschenOkkupation vernichtet oder flohins Ausland. Aber die Antwerpe-ner Juden konnten sich auch unterder Verfolgung ihre Kultur undSprache bewahren.

Eines der Lustspiele von HeidiMoszkowitz-Czajkowski hat dasPurimfest zum Thema. Lachenüber einen religiösen Feiertag, wi-derspricht das nicht den strengenmosaischen Gesetzen? Steht dasnicht im Gegensatz zu dem erns-ten, fast düsteren Eindruck, dendie schwarzen Gehröcke und Hüte der orthodoxen jüdischenMänner und die gedeckten, dunklen Gewänder der Frauen auf derStraße machen? „Nein, nein“, schüttelt sie energisch den Kopf, „jü-discher Glaube kann sehr fröhlich sein.“

Ein Blick in den Talmud bestätigt das. Zum Purimfest im Früh-jahr, das auf das biblische Buch Ester zurückgeht, schreibt der Tal-mud vor, ein Mann sei verpflichtet, so viel Wein zu trinken, bis erdie Aussagen in diesem Buch durcheinander bringe. Leichtlebig-keit wird hier biblisch gerechtfertigt: Der Legende nach hat dieschöne Ester am persischen Hof eine tödliche Intrige abgewehrtund einen erbitterten Feind der Juden während eines Weingelagesausgeschaltet.

„UND DANN DAS HOHELIED SALOMOS“, sagt Heidi Moszkowitz-Czajkowski, „das ist ein ganz sinnlicher, fast ekstatischer Hymnusauf die Freuden der Liebe.“ Sexualität hat für die jüdische Religi-on außer bei wenigen ultraorthodoxen Randgruppen nicht dasunterschwellig negative Vorzeichen, mit dem das Christentum sieseit den Tagen des Apostels Paulus bewertet. Diese Sinnlichkeitmuss allerdings in einer festen Verbindung, sprich der Ehe, ausge-lebt werden. „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei, ich willihm eine Gehilfin machen“, sprach der Herr (1. Moses, 2,18). DerTalmud kleidete dieses Leitwort dann mit Gefühlen aus: „Wer kei-ne Frau hat, lebt ohne Freude, ohne Glück, ohne Seligkeit.“

Mit den vielen Regeln und Tabus ihrer Religion kann HeidiMoszkowitz-Czajkowski leben. „Sie halten die jüdische Identitätzusammen.“ Manche ignoriert sie einfach. So trägt sie kein Kopf-tuch, obwohl sie als verheiratete Frau ihr Haupt eigentlich bede-cken sollte. Über die untergeordnete Stellung der Frau, die imSchöpfungsbericht „Gehilfin“ des Mannes heißt, sieht sie achsel-zuckend hinweg. „Im Morgengebet bedanken sich unsere Männerbeim Herrn, dass sie keine Frauen sind. Aber das ist mir wurscht.“Sie würde auch nicht unbedingt hungern, falls auf Reisen kosche-res Essen nicht verfügbar wäre. „Die Juden in den Konzentrations-lagern wurden sicher auch nicht koscher ernährt.“

Doch zu Hause folgt sie den peniblen jüdischen Speisevor-schriften. Sie hat eine „milchige“ und eine „fleischige“ Küche. In S

Lesen Sie weiter auf Seite 132

DIE SECHS WELTRELIGIONEN

Gottes Wort, in Stein gemeißeltEine fromme Illustration aus dem 19. Jahrhundert

zeigt, wie Moses direkt aus der Hand Jahwes die Tafelnmit den Zehn Geboten empfängt

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Wer zum Judentum übertreten will, muss jüdisches Wissen erwerben, sich einem dreiköpfigen rabbinischen Gericht,dem Bejt Din, zur Prüfung vorstellen und nach erfolgreichem Abschluss in der Mikwe, dem rituellen Bad, dreimal unter-tauchen. Männer müssen sich zudem beschneiden lassen.Soweit die Theorie. In der Praxis werden Bewerber zunächst meist abgewiesen. Das Judentum missioniert nicht – im Unterschied zu Christen-tum und Islam, die ihre Religion universal verbreiten wollen. WerJude werden will, muss beweisen, dass es ihm mit dem Übertritternst ist. „Ich will Jude werden, um dereinst in den Himmel zukommen“, wird keinen Rabbiner überzeugen. Der Aspirant mussHebräisch lernen, um die Tora einigermaßen zu verstehen. Er sollte zwei bis drei Jahre lang durch praktische Teilnahme indie Lebensregeln der jüdischen Welt hineinwachsen, muss insbesondere mit den Essvorschriften und der Gestaltung derFeiertage genau vertraut sein. Orthodoxe und liberale jüdische Gemeinden betrachten die Aufnahmepraxis des jeweils anderen Lagers misstrauisch. Dashat einen handfesten Grund: Der Staat Israel garantiert allen Juden das Recht auf Einwanderung. Vor kurzem haben orthodo-xe Rabbiner vor dem obersten israelischen Gerichtshof – erfolg-los – gegen die Einbürgerung eines Mannes geklagt, der nach zu liberalen Regeln in den USA konvertiert sein soll.

FRANK BARTH, KANTOR

AUFNAHMEREGELN–THEORIE UND PRAXIS

Um 1250 v. Chr.Auszug aus Ägypten unter derFührung von Moses

Um 1000–928 v. Chr.Glanzzeit des jüdischen Reichesunter den Königen David und Sa-lomo: David vereinigt die König-

reiche Juda und Israel und machtJerusalem zur Hauptstadt, Salo-mo lässt dort Jahwe einen präch-tigen Tempel bauen

587 v. Chr.Zerstörung des Ersten Tempels,50-jähriges Babylonisches Exil

515 v. Chr.Nach der Rückkehr aus der Baby-lonischen Gefangenschaft Ein-weihung des Zweiten Tempels inJerusalem

63 v. Chr.Palästina wird römische Provinz

70 nach Chr.Nach einem jüdischen Aufstandgegen Rom nimmt Titus Jerusa-lem ein und zerstört den Tempel.Das Judentum wird „Diaspora“-Religion (griechisch: Zerstreu-ung). Juden leben als Minderheitin Ländern mit anderer Religion

STATIONEN DES JUDENTUMS

HoheHürdenAndere Religionenmissionieren, freuensich über jeden neuenGläubigen. Im Juden-tum ist das etwasanders

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Urkunde einer GöttinMit ihrer Unter-

schrift wurde Marilyn Monroe

1956 Jüdin

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infografik: Maria Steffen

638Araber erobern Palästina1066Erstes Judenpogrom in Spanien,dem im Mittelalter zahlreicheVerfolgungswellen folgen, etwawährend der Pestepidemien des14. Jahrhunderts in Zentraleuro-

pa sowie jene, die 1492 zur Ver-treibung der Juden aus SpanienführenAb 1870Aufkommen des so genanntenmodernen Antisemitismus 1933–1945Verfolgung und Völkermord an

Juden im deutschen Machtbe-reich. Die Nazis ermorden sechsMillionen Juden, das ensprichtzwei Dritteln der jüdischen Bevölkerung Europas vor demKrieg1948Ausrufung des Staates Israel

DIE SECHSWELTRELIGIONEN

Himmel der 1000 GötterEroberer Indiens brachten vor

3500 Jahren ihre eigenen Götter ins Land, ließen aber die alten

Gottheiten dort in Amt und Würden.So entstand die pluralistischste

Religion der Erde

HINDUISMUS❁❖✺❁❖✺❁❖✺❁❖✺❁❖✺❁❖✺❁

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Im nächsten stern: Teil 3

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