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Johannes Kunz Bauteilauslegung mit Augenmaß - … · Intuition und die schöpferische Kraft des...

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© Carl Hanser Verlag, München. 2013. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe dieses Sonderdrucks und der Übersetzung behält sich der Verlag vor. Johannes Kunz Bauteilauslegung mit Augenmaß Plädoyer gegen unreflektierte Zahlengläubigkeit »50 Werkzeuge – keine Änderungsschleife! Erfolgreich durch Virtual Molding. « Dr.-Ing. Marco Thornagel Prokurist/SIGMA Engineering Werkstoffe Verarbeitung Anwendung 12/2013 Organ deutscher Kunststoff-Fachverbände www.kunststoffe.de Spritzgießen Endlosfaserverstärkte Hohlkörper direkt aus dem Spritzgießwerkzeug 70 SPECIAL NACH DER K 2013 ab Seite 17 Spezialitäten Graphen, ein Multitalent für hochwertige, nach- haltige Anwendungen 105 Sonderdruck aus der Fachzeitschrift Kunststoffe 12/2013, Seite 56 - 60 Institut für Werkstofftechnik und Kunststoffverarbeitung (IWK) HSR Hochschule für Technik Rapperswil Oberseestrasse 10, Postfach 1475 CH-8640 Rapperswil T +41 (0)55 222 47 70 F +41 (0)55 222 47 69 [email protected] www.iwk.hsr.ch
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© Carl Hanser Verlag, München. 2013. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks, der photomechanischen

Wiedergabe dieses Sonderdrucks und der Übersetzung behält sich der Verlag vor.

Johannes Kunz

Bauteilauslegungmit AugenmaßPlädoyer gegen unreflektierte Zahlengläubigkeit

»50 Werkzeuge – keine Änderungsschleife!Erfolgreich durch Virtual Molding.«Dr.-Ing. Marco ThornagelProkurist/SIGMA Engineering

Werkstoffe � Verarbeitung � Anwendung

12/2013Organ deutscher Kunststoff-Fachverbände www.kunststoffe.de

SpritzgießenEndlosfaserverstärkte

Hohlkörper direkt aus demSpritzgießwerkzeug 70

SPECIALNACH DER K2013

ab Seite 17

SpezialitätenGraphen, ein Multitalent

für hochwertige, nach-haltige Anwendungen 105

Sonderdruck aus der Fachzeitschrift Kunststoffe 12/2013, Seite 56 - 60

Institut für Werkstofftechnik und Kunststoffverarbeitung (IWK)HSR Hochschule für Technik RapperswilOberseestrasse 10, Postfach 1475CH-8640 RapperswilT +41 (0)55 222 47 70F +41 (0)55 222 47 [email protected]

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2 © Carl Hanser Verlag, München Kunststoffe 12/2013

KONSTRUKT ION

JOHANNES KUNZ

Es ist wirklich beeindruckend,was dieIngenieurwissenschaft für die Bau-teilauslegung in den letzten zwei,

drei Jahrzehnten erforscht und an Toolsentwickelt hat: Instrumente für die Pro-zess- und Struktursimulation, mit denendie Bauteile am Rechner virtuell herge-stellt und auf ihr mechanisches, thermi-sches, akustisches und wie auch immerphysikalisches Verhalten hin beurteiltwerden können. Mit der ständig steigen-den Leistungsfähigkeit der Rechner wach-sen aber auch die Ansprüche an dieseMöglichkeiten. Als Vision schwebt vor,Prozesse und Produkteigenschaftendurchgängig mittels Rechner durchzu-denken und vorauszuberechnen [1].

Bei aller Nützlichkeit dieser Instru-mente darf nicht vergessen werden, dasses sich immer nur um Hilfsmittel han-delt, die dem konstruierenden Fachmannan die Hand gegeben werden (Bild 1). Erselbst ist nach wie vor unentbehrlich undmit den steigenden Möglichkeiten derHilfsmittel sogar zunehmend gefordert.Er muss diese Möglichkeiten kennen,aberauch die Grenzen, um situationsgerechtüber den sinnvollen Einsatz dieser Mittelentscheiden zu können. Denn in den we-nigsten Branchen kann man sich bei derBauteilauslegung, vor allem bei Berech-nungsprozeduren, für die einzusetzendenWerkstoffkennwerte und einzuhaltenden

Sicherheitsfaktoren auf verbindliche Vor-gaben aus Regelwerken und Richtlinienstützen. Und schließlich muss der Kons-trukteur aus den erarbeiteten Resultatendie richtigen Schlüsse ziehen können. Beider Bauteilauslegung sind also viele Über-legungen anzustellen, Einschätzungenvorzunehmen und Einzelentscheidungenzu treffen, die sich nicht an einen anony-men Algorithmus delegieren lassen. Fürdiese verantwortungsvolle Tätigkeit istnebst profunden Fachkenntnissen vor al-lem eines gefordert: Augenmaß!

Auslegung als Ingenieuraufgabe

Das Auslegen von Bauteilen ist eine viel-schichtige, komplexe Aufgabe. Sie bein-

haltet primär die Definition von Gestaltund Abmessungen der Produkte und dieFestlegung von Werkstoffen und Produk-tionsprozessen. Diese Arbeit ist durch-drungen von rationalen Denkvorgängen,zu einem großen Teil in Form von Berech-nungen, erfordert aber nebst Fach- undMethodenkompetenz auch Einfallsreich-tum und das Gespür des Konstrukteursfür die wesentlichen Zusammenhängezwischen Funktion, Gestalt, Werkstoff,Fertigung und Wirtschaftlichkeit. DieBauteilauslegung ist demnach keine Wis-senschaft, sondern eine mehr oder weni-ger kreative Tätigkeit, besonders bei derKonzipierung und der Formgestaltungder Produkte, unter Anwendung aner-kannter, so weit wie möglich auch wissen-

Bauteilauslegung mit AugenmaßPlädoyer gegen unreflektierte Zahlengläubigkeit. Bauteilauslegung ist weit

mehr als eine bloße Berechnungsaufgabe. Sie hat – je nach Problemstellung –

eine mehr oder weniger kreative Komponente und erfordert vielerlei Entschei-

dungen, die im Ermessen der Konstrukteure und Berechnungsingenieure liegen

und mit Augenmaß zu treffen sind. Dieser Beitrag will zum Nachdenken anregen,

indem er die inhärenten Unschärfen aufzeigt und damit der unreflektierten

Zahlengläubigkeit ent-

gegentritt.

ARTIKEL ALS PDF unter www.kunststoffe.deDokumenten-Nummer KU111556

Bild 1. Augenmaß bei der Bauteilauslegung – gerade auch beim Einsatz von Simulationsprogrammen (Bild: IWK)

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KONSTRUKT ION

schaftlich basierter Techniken und Me-thoden. Vom Konstrukteur verlangt sindnicht nur solide Kenntnisse in den Berei-chen Konstruktion,Werkstoffeigenschaf-ten und –verhalten sowie Festigkeitsleh-re, er muss auch die Möglichkeiten undGrenzen der verschiedenen Kunststoff-verarbeitungsverfahren kennen. Unver-zichtbar ist auch die Fähigkeit, die gängi-gen Instrumente und CAE-Tools für dieAnalyse der mechanischen Belastbarkeitund die Simulation der Fertigungsprozes-se sinnvoll einzusetzen.

Gemäß dem Wissenschaftlichen Ar-beitskreis Kunststofftechnik braucht es„neben Erkenntnissen der Naturwissen-schaften auch die Erfahrungssystematik,Intuition und die schöpferische Kraft desIngenieurs, um zu technisch neuen undwirtschaftlich interessanten Lösungen zukommen“ [2]. Dies sind entscheidendeFaktoren für das erfolgreiche Auslegenvon Produkten, denen damit letztlichauch die „Handschrift“ des Konstrukteursaufgeprägt wird. Auf dem Weg von derIdee zum Produkt liegt vieles im Ermes-sen des Konstrukteurs. Das hier geforder-te Augenmaß meint keinesfalls Daumen-

peilung, sondern eine seriöse Einschät-zung der realen Situation aufgrund fun-dierter Grundkenntnisse und reicher Er-fahrung, gepaart mit der Fähigkeit, sichauf Wesentliches konzentrieren und sinn-volle Gedankenmodelle bilden zu kön-nen.

Unschärfen bei Modellbildungund Auslegungsansatz

Entscheidend für das Ergebnis einer Aus-legung ist die Wahl bzw. die Modellie-rung des Auslegungsansatzes. Es handeltsich dabei um die Aufstellung einesDenkmodells, das diekomplexe Wirklichkeitmehr oder weniger realabbildet, also stets mitIdealisierungen und Vereinfachungenbehaftet ist. Hier ist die Fähigkeit des In-genieurs gefragt, die reale Situation zubeurteilen und mit dem Mut zur Verein-fachung so zu beschreiben, dass darausein handhabbares Modell entsteht. Er-messensspielraum gibt es aber nicht sel-ten auch schon bei der Definition derAnforderungen.

Als Grundsatz für die Modellbildunggilt: So einfach und unkompliziert wiemöglich, nicht genauer bzw. komplexerals nötig, um die wesentlichen Einflüsseund Zusammenhänge zu erfassen. DasErgebnis einer Berechnung hängt stetsvom gewählten Lösungsansatz ab, kannaber nie besser sein als dieser.Die Verwen-dung komplizierter Modelle kann leichteine Genauigkeit vortäuschen, die inWirklichkeit gar nicht existiert. Konkret:Häufig liefert eine linear-elastische Be-trachtung auch für viskoelastisches Ver-halten sehr gut verwendbare Ergebnisse,sofern die Werkstoffkennwerte für die re-levante Belastungsdauer eingesetzt wer-den.

Primäres Ziel der Bauteilauslegung istes, Bauteilgeometrie und Werkstoffeigen-schaften so auf die Betriebsanforderun-gen abzustimmen, dass das Produkt dieFunktion zuverlässig und sicher erfüllt.Angelpunkt dieser Aufgabe ist die mathe-matische Verknüpfung der maßgebendenParameter. Da sich bei Kunststoffen diedehnungsbezogene Berechnung alszweckmäßig erwiesen hat [3–5], erfolgtdiese Verknüpfung in der Verformungs-bedingung.

Darin wird der am Bauteil auftretendeDehnungs-Höchstwert εmax aus den dreiHauptdehnungen ε1, ε2, ε3 bestimmt undder als angemessen befundenen zulässi-gen Dehnung εzul gegenübergestellt. Diegrößte Dehnung hängt dabei nicht nurvon der Belastung F, dem Werkstoff-Ver-formungsgesetz E und der Bauteilgeome-trie A ab, sondern in erheblichem Maßauch vom gewählten Berechnungsmo-dell. Der einzusetzende Dehnungs-Grenzwert εG entspricht der zugrunde ge-legten Versagensart wie z.B. irreversibleVerformung durch Werkstoff-Schädi-gung (Bild 2) oder Erreichen der Streck-grenze. Die Größen C und S schließlichsind die dabei zu berücksichtigenden Ein-fluss- und Sicherheitsfaktoren.

Wird die Berechnung, wie bei metalli-schen Werkstoffen üblich, anhand derSpannungen durchgeführt, so ist analogzu (1) die Festigkeitsbedingung

(2)

zu erfüllen, und alles oben Ausgeführtegilt sinngemäß.

Die Wahl sämtlicher Größen in (1) und(2) ist mit mehr oder weniger großen Un-schärfen behaftet, und bei manchen be-

SCAEFf GzulV ⋅=≤= ),,(max

( )SCAEFf Gzul ⋅=≤== ),,(,,max 321max

t

ε

εF∞

εF (t)

0

reversibleVerformungen

TemperaturSpannungszustandUmgebungseinflüsse

irreversibleVerformungen

Bild 2. Dehngrenzenals Auslegungskrite-rien für statische undschwingende Belas-tungen: Einflüsse aufdie Grenze zwischenreversiblen und irre-versiblen Verformun-gen; εF : Fließdeh-nung, εF � : Fließ-grenzdehnung (Bild: IWK, nach Menges)

© Kunststoffe

Lagerung: Einspannungsbereich

100

%

80

70

60

50

40

30

20

10

0A B B+C

Verg

leic

hsw

ert

Auslenkkraftmax. positiveDehnungmax. Vergleichs-spannung

B

CA

C

F

Bild 3. Einfluss der Lagerung eines Schnapphakens auf Auslenkkraft, Dehnung und Vergleichs-spannung [12] (Bild: IWK)

© Kunststoffe

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steht viel Spielraum für Ermessensent-scheidungen. Mit welchen Problemenman sich dabei auseinanderzusetzen hat,zeigt eine nähere Betrachtung dieser Be-dingungen.

Die Bestimmung der Maximalwerte indiesen Bedingungen basiert auf einemBerechnungsmodell, das die geometri-sche und die physikalische Wirklichkeitnie vollkommen abbilden kann, sondernin jedem Fall mehr oder weniger starkabstrahiert. Belastungsseitig wirken sichselbstverständlich die Lastvorgaben oder-annahmen hinsichtlich Größe und zeit-lichen Verläufen entscheidend aus. Dastellen sich Fragen wie: Wie genau sinddie Belastungen bekannt? Wie gut kanndie bei viskoelastischem Verhalten maß-gebende Belastungsdauer angegeben wer-den? Oder: Wie weit ist es gerechtfertigt,eine schwingende Belastung durch einestatische Betrachtung zu erfassen? Auchdie Randbedingungen, vor allem hin-sichtlich Ort und Art der Lagerung, be-einflussen das Resultat stark. Dies machtdas Beispiel der Anbindung einesSchnapphakens an einem Gehäuse deut-lich (Bild 3) [6]: Wird das Gehäuse als starrbetrachtet oder federt es mit, und wennja, wie und wo wird dann das Gehäuse ge-lagert? Geometrisch kommt es ferner da-rauf an, wie genau die effektive Bauteil-gestalt erfasst werden kann. Dies gilt auchbei Einsatz der Finite Elemente Methode(FEM), bei der sich nicht nur Art undDichte der Vernetzung, sondern darüberhinaus auch der gewählte Elementtyp aufdas Ergebnis auswirken. Dass auch das zuwählende Materialmodell (linear/nicht-linear, elastisch/elastisch-plastisch, visko-elastisch usw.) die Lösung beeinflusst,liegt auf der Hand.

Die Anwendung der Festigkeitsbedin-gung (2) bei mehrachsigen Spannungs-zuständen erfordert für die Bestimmungder relevanten Vergleichsspannung σVmax

eine geeignete Festigkeitshypothese. Die-se Wahl hängt einerseits vom Werkstoff-verhalten und dem zu erwartenden Ver-sagensmechanismus ab, also vom Werk-stoff selbst, anderseits aber auch von derArt des Spannungszustands,von den Um-gebungsbedingungen, vor allem der Tem-peratur, sowie von der Belastungsge-schwindigkeit.Angesichts der Vielzahl annicht oder kaum quantifizierbaren Ein-flüssen und der fließenden Übergängezwischen den Eignungsbereichen (Bild 4)[7] ist an dieser Stelle ein Ermessensent-scheid zu treffen. Nicht außer Acht zu las-sen ist die Tatsache, dass die in den meis-ten FEM-Programmen defaultmäßig ver-fügbare Gestaltänderungsenergiehypo-

these (GEH, von Mises) je nach Situati-on völlig unsinnige Resultate liefern kannund deshalb nicht unreflektiert verwen-det werden sollte. Grundsätzlich könntein der Verformungsbedingung (1) anstel-le von εmax auch eine VergleichsdehnungεVmax eingesetzt werden,was aber die Aus-sagekraft des Rechenergebnisses nicht er-höht.

Besonders groß ist der Ermessensspiel-raum in der Regel auch bei der Wahl derSicherheitsfaktoren S, wobei vielerleiÜberlegungen zu Annahmen, Modellbil-dung,Beanspruchungsart,Überlastwahr-scheinlichkeit,Werkstoffverhalten,Versa-gensart, Schadensrisiko und Versagens-folgen usw. anzustellen sind. Grundsätz-lich gilt: Je unsicherer die Annahmen undje gravierender die Folgen eines allfälli-gen Bauteilversagens sein können, umsohöher sollte die zu wählende Sicherheitsein. Dabei ist aber auch der Zielkonflikt,zwischen der Gewährleistung der Sicher-heit und einer möglichst hohen Wirt-

schaftlichkeit zu bewältigen. Auch die inden Bedingungen (1) und (2) einzuset-zenden Werkstoffkennwerte sind Ursachevon Unschärfen, und zwar nicht nur imZusammenhang mit der Wahl der passen-den Kennwerte, sondern auch mit ihrerVerfügbarkeit und Trefflichkeit, wie un-ten noch näher ausgeführt wird.

Genauer dankRechnerunterstützung?

Verbreitet wird angenommen, dass derEinsatz von FEM-Programmen zu besse-ren, sprich: genaueren Resultaten führe.Ein Trugschluss, wie Fachleute wissen.Denn „bearbeitet eine Gruppe von Be-rechnungsingenieuren unabhängig von-einander dasselbe Projekt, werden die Er-gebnisse sehr wahrscheinlich eine nichtunerhebliche Streubreite aufweisen, dienichts mit möglichen Unzulänglichkeiten

der FEM an sich zu tun hat“ [8]. Dieseernüchternde Erkenntnis muss zu den-ken geben. Wo liegt z.B. der Gewinn anGenauigkeit bei der Verwendung nichtli-nearer statt linearer Materialmodelle,wenn die aus dem Ermessensspielraumdes Anwenders bei der Definition von Be-lastungen und Randbedingungen und beider Wahl von Netzstruktur und Element-typen eingebrachten Unschärfen domi-nieren? Die Verwendung anspruchsvol-ler, leistungsfähiger Simulationsprogram-me, so eindrücklich deren Möglichkeitenunbestreitbar auch sind, führt damit kei-neswegs automatisch auch zu treffliche-ren Ergebnissen.

Es muss wirklich nicht immer FEMsein! In vielen Fällen reichen auch analy-tische Rechnungen anhand von algebra-ischen Formeln aus. Diese haben zudemden großen Vorteil, dass sie die Zusam-menhänge zwischen den geometrischenund den physikalischen Parametern undden Werkstoffkennwerten,die die gesuch-

te Größe bestimmen, transparent ma-chen, und nicht einfach numerische Wer-te produzieren. Diese Berechnungsfor-meln basieren in der Regel auf einer wis-senschaftlichen Grundlage, idealisierenaber das komplexe Verhalten zu einemModell,das sich auf die Erfassung der ent-scheidenden Einflüsse beschränkt. Auchdaraus entwickelte Näherungsmethodenund -lösungen können oftmals, zumin-dest für Abschätzungen, sehr brauchbarsein und haben sich in der Auslegungs-praxis bewährt [9–11].

Gesunder Menschenverstand ist alsoauch bei der Wahl der Mittel und Metho-den gefordert. Der Fachmann kennt nichtnur deren Möglichkeiten und Stärken, erkann auch die Grenzen und Schwächensachgerecht einschätzen und weiß um dieGefahr, die Genauigkeit eines Berech-nungsresultats zu überschätzen. So para-dox es scheinen mag: Die Lösung einer

GEH

idealspröd

idealzäh

duktil

tief

hoch

mittel

statisch schwingend

Belastungsart

schlagartig

NSH

SSH

Wer

ksto

ffve

rhal

ten

Tem

pera

tur

Bild 4. Unscharfe Abgren-zungen: Werkstoffverhal-ten und Festigkeitshypo-thesen in Abhängigkeitvon Belastungsart undTemperatur (in Anlehnungan [17]); NSH: Normal-spannungshypothese(Coulomb), GEH: Gestalt-änderungsenergiehypo-these (von Mises), SSH:Schubspannungshypothe-se (Tresca, Mohr)

© Kunststoffe

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Näherungsrechnung muss nicht zwin-gend ungenauer sein als jene, die mit ei-nem komplexeren Ansatz bestimmt wird.

ProblemkreisWerkstoffkennwerte

Eine echte Herausforderung bei der Bau-teilauslegung stellt die Bestimmung dererforderlichen Werkstoffkennwerte dar,deren Verfügbarkeit und Akkuranz für dieGüte einer Auslegung entscheidend mit-bestimmend ist. Eine nüchterne Betrach-tung zeigt nun, dass es in beiderlei Hin-sicht nicht zum Besten bestellt ist. Die we-nigsten Anwender sind sich bewusst, wel-che Ungenauigkeiten von dieser Seite indie Berechnungsergebnisse einfließenkönnen.

Man darf sich auch nicht davon blen-den lassen, dass heute sehr leistungsfähi-ge und umfangreiche Datenbanken zurVerfügung stehen [12]. Ein erster kriti-scher Punkt betrifft allein schon die Ver-fügbarkeit, selbst beim renommiertenMaterial Data Center. Bei der Mehrzahlder insgesamt fast 40000 Werkstoffe feh-len wichtige Daten. Dies liegt nicht amBetreiber der Datenbank, sondern an denHerstellern und Vertreibern der Werk-stoffe. So elementare Kennwerte wie derZug-Modul oder die Zugfestigkeit bzw.Bruchspannung sind nicht einmal bei derHälfte der Werkstoffe angegeben (Tabel-le 1), obwohl sie zu den am häufigstenbenötigten Kennwerten gehören [13].Und Kennwerte oder Grafiken, die dasviskoelastische Verhalten der Kunststof-fe beschreiben, wie etwa der Kriechmo-dul in Funktion der Zeit oder dasisochrone Spannungs-Dehnungs-Dia-gramm, sind nicht mal bei 2 Prozent derWerkstoffe ausgewiesen! Dass anderewichtige Kennwerte wie etwa die Quer-kontraktionszahl oder die kritische Deh-nung bei Schädigungsbeginn, vor allem

auch solche für das Werkstoffverhaltenbei dynamischer Belastung, nicht imKennwerte-Katalog figurieren und damitnicht verfügbar sind, ist eine seit Langembekannte, leidige Tatsache.Wo aber wich-tige Kennwerte fehlen, muss zwangsläu-fig auf Abschätzungen ausgewichen wer-den, wie sie z.T. schon vor Jahrzehnten –mit ebenso viel Sachverstand wie Augen-maß – entwickelt worden sind und sichseither als sehr hilfreich erwiesen haben[9–11].

Ein zweiter wunder Punkt liegt in derBrauchbarkeit der angegebenen Kenn-werte für die jeweils vorliegende Aufga-benstellung. Die mechanischen Kenn-werte werden an Probekörpern mit ei-ner Dicke von 4 mm gemessen.Verarbei-tungs- und Prüfbedingungen sind in denNormen festgelegt. Nun liegen in derPraxis kaum diese Normbedingungenvor; Abweichungen davon schlagen sich

z.T. merklich in den gemessenen Kenn-werten nieder. Bei vielen Bauteilen liegtdie Wanddicke in der Größenordnungvon 2 mm oder sogar deutlich darunter.Neue Messungen zeigen, dass bei Halbie-rung der Probekörperdicke die Steifig-keit und die Festigkeit der Kunststoffezunehmen, so z.B. der Zug-Modul vonPC Makrolon 2805 gar um mehr als50 % (Bild 5) [14]. Unter dem Strich heißtdas, dass die Eigenschaften am konkre-ten Bauteil ganz andere Werte anneh-men, als sie den Datenbanken zu ent-nehmen sind. Vor diesem Hintergrundmutet es geradezu grotesk an, wenn ein-zelne Kunststoffhersteller gewisse Kenn-werte mit nicht weniger als sechs Ziffernangeben, so z.B. soll beim PP Thermo-comp MH0500A der Zug-Modul2613,11 MPa betragen.

Es ist leider so, dass bei der Bereitstel-lung von Werkstoffkennwerten für dieBauteilauslegung in den letzten zwei, dreiJahrzehnten kein wirklicher Fortschritterzielt worden ist. Praktiker sind nach wievor auf Behelfe und ihr eigenes Urteils-vermögen für die Trefflichkeit der Kenn-werte angewiesen. Das sollte – auch derWissenschaft – zu denken geben.

Fazit

Am Schluss dieser Betrachtungen bleibtdie Einsicht, dass die Auslegung einesBauteils mit mancherlei, z.T. erheblichenUnschärfen behaftet ist, die sich durch al-le Teilbereiche des Auslegungsprozessesdurchziehen, und von denen keine einzi-ge Größe in der Verformungs- bzw. Fes-

Eigenschaften Anzahl Werkstoffe Anteil in Prozent

Total Werkstoffe 39 551 100,0

Zug-E-Modul 18 188 46,0

Streckspannung 15 948 40,3

Bruchspannung 12 355 31,2

Zug-Kriechmodul 1 h 567 1,4

Zug-Kriechmodul 1000 h 651 1,6

Isochrones Spannungs-Dehnungs-Diagramm 502 1,3

Diagramm Kriechmodul-Zeit 446 1,1

Kriechkurven 454 1,1

Tabelle 1. Anteil von Werkstoffen mit Angabe auslegungsrelevanter Kennwerte im Material DataCenter (Stichtag 12.11.2013) (Quelle: Material Data Center)

4000

MPa

3000

2500

2000

1500

1000

500

0ABS PC POM PP

Elas

tizitä

tsm

odul

1 mm 2 mm 3 mm 4 mm Messung 4 mm Datenblatt

d

Bild 5. Abhängigkeit des Zug-Elastizitätsmoduls von der Probekörperdicke [14] (Bild: IWK)

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tigkeitsbedingung (1) bzw. (2) frei ist.Wichtigste Folgerung aus diesen Feststel-lungen ist, dass eine Genauigkeit von±10 % der wie auch immer berechnetenResultate im Normalfall ganz ansehnlichist. Georg Menges geht für die Mehrzahlder praktisch vorkommenden Fälle da-von aus, dass eine Genauigkeit von ±20 %genüge [8]. Bei höheren Ansprüchen, et-wa für die Automobiltechnik, die Luft-fahrtindustrie oder die Medizintechnik,sind aufwendige bauteilspezifische Kali-brierungen während des Auslegungspro-zesses unumgänglich. Auch der Einsatzvon hochentwickelten Simulationspro-grammen ist allein noch kein Garant fürdie Güte der Resultate. Es bringt wenig bisnichts, bei einer Teilaufgabe der Bauteil-auslegung oder einem einzelnen Parame-ter der Verformungs- bzw. Festigkeitsbe-dingung mit viel zusätzlichem Aufwandeine höhere Genauigkeit erarbeiten zuwollen, wenn andere Größen oder Teil-aufgaben mit deutlich größeren Unschär-fen behaftet bleiben.

Wenn diese Aussage den einen oder an-deren Leser vielleicht etwas verunsichernund seine bisherigen Vorstellungen inFrage stellen sollte, schadet das durchausnichts, im Gegenteil. In jedem Fall lohntes sich, über realistische Erwartungen andie Bauteilauslegung nachzudenken unddie richtigen Schlüsse zu ziehen. Natür-lich wird man sich bei den Auslegungs-rechnungen trotz aller immanenten Un-zulänglichkeiten um eine möglichst ho-he Aussagekraft der Resultate bemühen.Dies gelingt aber nur dank dem Augen-maß der Konstrukteure und Ingenieure,das auf einem tiefen Verständnis für diephysikalisch-technischen Zusammen-hänge sowie Kenntnis und Beherrschungder Methoden und Einsicht in die Gren-zen derselben gründet und das sie be-fähigt, Wichtiges von Unwichtigem zuunterscheiden, die Mittel sinnvoll einzu-

setzen und die Trefflichkeit von Lösungs-ansätzen, Modellen, Kennwerten und Er-gebnissen vernünftig einzuschätzen – kei-ne unwichtige Erkenntnis für Praxis,Wis-senschaft und Lehre.�

WIDMUNGDieser Artikel ist Prof. em. Dr.-Ing. Georg Mengeszum 90. Geburtstag gewidmet.

LITERATUR1 Michaeli, W.: Kunststoffgerecht konstruieren.

Konstruktion 53 (2001) 10, Editorial S. 3

2 N.N.: Zum Selbstverständnis der Kunststoff-technik. Präambel. WissenschaftlicherArbeitskreis Kunststofftechnik WAK. www.wak-kunststofftechnik.de

3 Menges, G.; Taprogge, R.: Denken in Verfor-mungen erleichtert das Dimensionieren vonKunststoffteilen. VDI-Z 112 (1970) 6, S. 341–346 und 112 (1970) 10, S. 627–629

4 Menges, G.: Erleichtertes Verständnis desWerkstoffverhaltens bei verformungsbezoge-ner Betrachtungweise. Fortschritts-BerichteVDI-Z Reihe 5, Nr. 12, VDI-Verlag Düsseldorf,1971

5 Kunz, J.: Ein Plädoyer für die dehnungsbezo-gene Auslegung. Kunststoffe 101 (2011) 4, S. 50–54

6 Peter, M.: Einfluss der Elemente auf das FE-Modell. Unveröffentlichte Studie. IWK Institutfür Werkstofftechnik und Kunststoffverarbei-tung Rapperswil, 2012

7 Wikipedia, Online-Datenbank, Stichwort –„Vergleichsspannung“

8 Stommel, M.; Stojek, M.; Korte, W.: FEM zurBerechnung von Kunststoff- und Elastomer-bauteilen. Carl Hanser Verlag München, 2011,S. 307

9 Menges, G.: Ingenieurmäflige Festigkeitsrech-nung für Spritzgussteile aus Thermoplasten.Kunststoffe 57 (1967) 1, S. 2-8

10 Menges, G.: Abschätzen der Tragfähigkeitmäflig beanspruchter Kunststoff-Formteile.Kunststoffe 57 (1967) 46, S. 476–484

11 Taprogge, R.: Konstruieren mit Kunststoffen.VDI-Taschenbücher T 21. VDI-Verlag Düssel-dorf, 1971

12 Material Data Center – Werkstoffdaten. M-Base Engineering+Software GmbH, Aachen

13 Berlich, R.; Gabriel, R.; Schmachtenberg, E.:Analyse der Datenbank Campus – Nutzungvon Kennwerten im Konstruktionsprozess.Kunststoffe 91 (2001) 10, S. 64–66

14 Vordermann, Y.; Ehrig, F.; Kunz, J.: Einflussder Probekörperdicke auf die mechanischenEigenschaften. Kunststoffe 103 (2013) 9,S. 170–174

DER AUTORPROF. DIPL.-ING. JOHANNES KUNZ, geb. 1940, ist

am Institut für Werkstofftechnik und Kunststoffverar-beitung (IWK) an der HSR Hochschule für TechnikRapperswil/Schweiz, tätig; [email protected]

SUMMARYGOOD JUDGMENT IN PART DESIGNA PLEA AGAINST A BLIND FAITH IN DATA. Designinga part is much more than just a matter of calculation.Depending on the problem, it has a more or less cre-ative component and entails many decisions by design-ers and engineers, which must be made with good judg-ment. This article provides food for thought by show-ing the inherent fuzziness of the design process, andthereby opposes a blind faith in data.

Read the complete article in our magazine Kunststoffe international and on www.kunststoffe-international.com


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