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Jetzt hört mal zu! — Worüber reden Pflegende?

Date post: 23-Dec-2016
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24 Heilberufe / Das Pflegemagazin 2013; 65 (9) PflegePraxis Kommunikation © Creatas/Thinkstock DOI: 10.1007/s00058-013-0965-8 Es gilt als Zeichen pflegerischer Kompetenz, zahlreiche Fakten schnell „abzuspulen“. H alten wir uns vor Augen: Überga- ben sind Situationen, in denen Entscheidungen delegiert oder auf Basis unsicherer Umstände getroffen werden. Aus diesem Grund wurden sie in einem klinischen Forschungsprojekt untersucht (Lauterbach A. Dienstüber- gaben in der Pflege. Qualitative Analyse serieller Reproduktionen, 2005–08) und mit den korrespondierenden schriftli- chen Aufzeichnungen aus Pflegedoku- mentationen, Handzetteln, Notizen und Stationshandbüchern verglichen. Exem- plarisch werden hier Praxisbefunde an- hand der untersuchten Übergaben dar- gestellt, um den Umgang mit patienten- relevanten Informationen auf den ver- schiedenen Ebenen der täglichen pflege- rischen Arbeit zu thematisieren. Übergaben orientieren sich zeitlich und strukturell an arbeitszeitlichen Vorgaben der gehenden und kommenden Schicht – nicht aber an den Notwendigkeiten des Stationsablaufs. Häufig wird gleich zu Beginn einer Übergabe signalisiert, dass die Faktenorientierung notwendig ist („jetzt hört mal zu, was heute alles los war“). Prozess- oder systemorientierte Gesprächssituationen sind in der Minder- zahl. Es gilt als Zeichen pflegerischer Kompetenz, zahlreiche Fakten schnell „abzuspulen“. Unterbrechungen kommen eher von erfahreneren (oder älteren) Kollegen wäh- rend Studierende und Schüler sich sel- tender trauen, korrigierend einzugreifen. Zudem gibt es deutliche Hinweise darauf, dass sich Schüler überfordert fühlen, Dienstübergaben durchzuführen. Patientennah – patientenfern Üblicherweise werden Übergaben da- durch abgeschlossen, dass das Gespräch von „patientennahen“ auf „patientenfer- ne“ Themen überblendet wird. In dieser Phase werden vor allem organisatorische Dinge oder Themen, die die Institution betreffen, besprochen. Zudem sind sie geprägt von allgemeinen Gesprächen bei- spielsweise über die Arbeitsbelastung auf Station, strukturellen und berufspoli- tischen Defiziten oder Schwierigkeiten mit anderen Berufsgruppen – besonders den Ärzten. Interessanterweise konnte bislang kein Zusammenhang zwischen der Anzahl der Patienten, deren Pflegebedürftigkeit und der Dauer der Übergabe festgestellt wer- den. Übergaben dauern im Allgemeinen immer gleich lang – egal, ob es sich um kleine oder große Stationen handelt. Pro- blematische Patienten nehmen übermäßig viel Raum ein, während Routinefälle zu kurz kommen. Die „verbliebene“ Zeit wird allenfalls mit Problemen gefüllt, die oh- nehin nicht für die PatientInnen, sondern Dienstübergaben im Fokus Jetzt hört mal zu! – Worüber reden Pflegende? Obwohl Dienstübergaben zu den augenscheinlichsten Tätigkeiten der Pflege gehören und wie nur wenige Tätigkeiten das Bild der Pflege in der Öffentlichkeit prägen, sind diese bislang vergleichsweise wenig untersucht worden. Zentrale Fragen sind offen: Welchen Nutzen ziehen Pflegende aus Übergaben? Welchen Stellenwert messen sie diesen bei? Welche Qualität haben die transportierten Informationen? Und: Warum brauchen professionell Pflegende eine Übergabe?
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24 Heilberufe / Das P�egemagazin 2013; 65 (9)

PflegePraxis Kommunikation

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Es gilt als Zeichen pflegerischer Kompetenz, zahlreiche Fakten schnell „abzuspulen“.

Halten wir uns vor Augen: Überga-ben sind Situationen, in denen Entscheidungen delegiert oder auf

Basis unsicherer Umstände getroffen werden. Aus diesem Grund wurden sie in einem klinischen Forschungsprojekt untersucht (Lauterbach A. Dienstüber-gaben in der Pflege. Qualitative Analyse

serieller Reproduktionen, 2005–08) und mit den korrespondierenden schriftli-chen Aufzeichnungen aus Pflegedoku-mentationen, Handzetteln, Notizen und Stationshandbüchern verglichen. Exem-plarisch werden hier Praxisbefunde an-hand der untersuchten Übergaben dar-gestellt, um den Umgang mit patienten-relevanten Informationen auf den ver-schiedenen Ebenen der täglichen pflege-rischen Arbeit zu thematisieren.

Übergaben orientieren sich zeitlich und strukturell an arbeitszeitlichen Vorgaben der gehenden und kommenden Schicht – nicht aber an den Notwendigkeiten des Stationsablaufs. Häufig wird gleich zu Beginn einer Übergabe signalisiert, dass die Fakten orientierung notwendig ist („jetzt hört mal zu, was heute alles los war“). Prozess- oder systemorientierte

Gesprächssituationen sind in der Minder-zahl. Es gilt als Zeichen pflegerischer Kompetenz, zahlreiche Fakten schnell „abzuspulen“.

Unterbrechungen kommen eher von erfahreneren (oder älteren) Kollegen wäh-rend Studierende und Schüler sich sel-tender trauen, korrigierend einzugreifen.

Zudem gibt es deutliche Hinweise darauf, dass sich Schüler überfordert fühlen, Dienstübergaben durchzuführen.

Patientennah – patientenfernÜblicherweise werden Übergaben da-durch abgeschlossen, dass das Gespräch von „patientennahen“ auf „patientenfer-ne“ Themen überblendet wird. In dieser Phase werden vor allem organisatorische Dinge oder Themen, die die Institution betreffen, besprochen. Zudem sind sie geprägt von allgemeinen Gesprächen bei-spielsweise über die Arbeitsbelastung auf Station, strukturellen und berufspoli-tischen Defiziten oder Schwierigkeiten mit anderen Berufsgruppen – besonders den Ärzten.

Interessanterweise konnte bislang kein Zusammenhang zwischen der Anzahl der

Patienten, deren Pflegebedürftigkeit und der Dauer der Übergabe festgestellt wer-den. Übergaben dauern im Allgemeinen immer gleich lang – egal, ob es sich um kleine oder große Stationen handelt. Pro-blematische Patienten nehmen übermäßig viel Raum ein, während Routinefälle zu kurz kommen. Die „verbliebene“ Zeit wird allenfalls mit Problemen gefüllt, die oh-nehin nicht für die PatientInnen, sondern

Dienstübergaben im Fokus

Jetzt hört mal zu! – Worüber reden Pflegende?Obwohl Dienstübergaben zu den augenscheinlichsten Tätigkeiten der Pflege gehören und wie nur wenige Tätigkeiten das Bild der Pflege in der Öffentlichkeit prägen, sind diese bislang vergleichsweise wenig untersucht worden. Zentrale Fragen sind offen: Welchen Nutzen ziehen Pflegende aus Übergaben? Welchen Stellenwert messen sie diesen bei? Welche Qualität haben die transportierten Informationen? Und: Warum brauchen professionell Pflegende eine Übergabe?

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PflegePraxis Kommunikation

Neuaufnahme – Übergabe des Frühdienst an Spätdienst

Pascale: So, weiter! Dann haben wir in der 212 aufgenommen eine Patientin aus ei-nem P�egeheim bei Wetzlar. Ein Ovarial-karzinom. Also, die Patientin hat ein Ovarial-CA, soll hier eine Total-E kriegen. Sie ist Zustand nach mehreren Apoplex.

Olga: Schön! (...)

Pascale: Da ist halt die Frage nach Abführ-maßnahmen. Tomie am Mittwoch. Da muss man dann über die PEG halt Oralav geben. Einlauf kann sie nicht halten und anders kriegst du das nicht. Nur dann kannst du der ein geblocktes Darmrohr hinten rein stopfen und ho�en, es �ießt ab.

Uta: Naja, ein Darmrohr mit Blockung musst du erst mal...

Pascale: Habe ich noch irgendwas hinge-

schrieben?

Uta: Das soll er mal mitbringen. Ich geh es am besten gleich holen.

Pascale: Also, mit dem rechten Zeh Au-ßenknöchel, das ist ...

Olga: Was?

Pascale: Also, mit dem rechten Zeh Au-ßenknöchel, das ist ... das habe ich hinge-schrieben, aber das stimmt nicht.

Uta: Es ist am besten, wenn wir das o�en lassen und weiter beobachten. Das ist nur eine große Stelle. Es sieht aus, als ob das vom Liegen wäre.

Olga: Wie alt ist denn die?

Pascale: 78. das ist kein Alter, aber guck dir mal die Patientin an, wie die ist und da muss man nicht noch mal eine Tomie

machen. Weil irgendwann ist es auch mal vorbei.

Korrespondierende Dokumentation der gehenden SchichtVerlegung aus Pflegeheim Bad Endbach:

▶ Komplette Übernahme der Körperpfle-ge, Bettgitter!

▶ Pat. ist Urin-/Stuhlinkontinent, Pam-pers!

▶ Pilz: Leisten+ re. Hüfte

▶ Re. Zeh + Außenknöchel eitrig entzündet

▶ DK gelegt, Pat. weint sehr viel

▶ Pat. keine ATS angezogen, wegen Fraktur, morgen Hebe-Schwenkeinlauf. Morgen 6 EKs kreuzen lassen

(Fall 1, Doku Tag 3, SDND, 6)

B E ISPI E L 1

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PflegePraxis Kommunikation

Prof. Dr. Andreas LauterbachAn den Hafergärten 9 35410 [email protected] Literatur unter

www.pflege-wissenschaft.info/litlist.rtf

P�egeübergabe versus Dokumentation

Marga: Frau Ritter, die hat die Sr. Uta gestern gemacht, die hat das Fragmin vergessen. Genau.

Pascale: Echt? Oh, Scheiße. Schlag´ mich! Hat es die Frau Ritter gemerkt?

Marga: Ja, ich bin halt hin und sie hat gesagt, sie hat die Spritze nicht ge-kriegt.

Uta: Uups, das war wie bei Frau (…). Ich denk von einem Mal wird es ja nicht so …

Alle: Ja, na gut so, ok.(Fall 1, Tag 1, NDFD, 65-70)

Dokumentation

Fragmin P gespritzt (Fall 1, Doku Tag 0, SDND, 6)

B E ISPI E L 2

nur für die Pflegenden existieren. Und: Die Lösung dieser Probleme kommt den Patienten auch nicht zu Gute.

Die wichtigste Übergabe ist die des Frühdienstes an den Spätdienst (sie macht gut zwei Drittel der Übergabezeit aus), während Übergaben an den Nachtdienst und an den Frühdienst eine weniger wich-tige Rolle spielen. Daraus erwachsen in der Praxis Probleme hinsichtlich der Qua-lität der weitergegebenen Informationen (Stille-Post-Effekte). Zudem zeigte sich im Forschungsprojekt, dass Dokumenta-tionsmaterialien und -software nicht auf-einander abgestimmt sind oder am Point-of-Care nicht zur Verfügung stehen.

Inhaltsschwer – inhaltsleerWorüber sprechen Pflegende bei der Übergabe und mit welchen Worten? Ei-nige Beispiele.

Fehler in (medizinischen) Fakten: Das be-liebte Aufzählen medizinischer Fakten führt zu Widersprüchen und Fehlern: In nur 39% der untersuchten Fälle waren diese Faktenaufzählungen mit den schrift-lichen Unterlagen deckungsgleich (Bei-spiel 2).

Jargonhafte Formulierungen und unge-naue Angaben: Jargon kommt besonders

Im Forschungsprojekt zeigte sich, dass folgende Aspekte hohe Relevanz für die Informations- und Versorgungsqualität aufweisen:

▶ Regelmäßige Untersuchung und Evalu-ation des Übergabeprozesses, z.B. durch externe Moderatoren, damit einherge-hend schriftliche Leitlinien für die Art der Durchführung, zum Beispiel durch evaluierte Übergabeprotokolle

▶ Interdisziplinäre Übergabesettings un-ter Beteiligung der an Pflege und The-rapie beteiligten Berufsgruppen, Auf-hebung der berufssektoralen Visiten

▶ Schulungen zum Wissensmanagement und zur Sicherstellung von Informati-onskontinuität, Evaluation der Überga-bematerialien und Dokumentations-software

▶ Dienstplankompatible Übergabemodel-le und Übergabekompatible Dienst-planmodelle

Übergaben sind Situationen, in denen Entscheidungen delegiert oder auf Basis unsicherer Umstände getroffen werden. Doch die Untersuchung konnte erstaun-liche Schwachpunkte hinsichtlich des Informations- und Wissensmanagements aufzeigen. Vor dem Hintergrund der en-ormen Anstrengungen, die hinsichtlich elektronischer Patientenakten und IT-basierter Dokumentation unternommen werden (und eines der grundlegenden Anliegen dieser Maßnahmen ist die Si-cherstellung von Informationskontinui-tät) erscheint es befremdlich, dass der Thematik Übergabe vergleichsweise we-nig Aufmerksamkeit zukommt. Aber auch die Defizite der Pflegenden hinsichtlich Gesprächsführung und Moderation spie-len hier eine große Rolle: Insofern ist dringender Handlungsbedarf hinsichtlich zu überarbeitender Module und Curricu-la zum Thema Übergabegespräche gebo-ten.

in den Kernbereichen pflegerischen Wir-kens vor: Es konnte in der Untersuchung keine einzige Situation identifiziert wer-den, in der die Pflegenden eine adäquate Formulierung für den Zustand der Wun-de gefunden hätten. Die Beschreibung des Wundzustands erfolgt ausschließlich über Phantasieverben (z.B. „durchgesabbelt“, „gesutschelt“ oder „matschepampe Wild-wuchsgedöns“). So ist der Begriff „sut-schen“ häufig als Ausdruck einer massiven Wundexsudation zu finden. Das Verb ist ein reiner Phantasiebegriff.

Stille Post: Wiederholte mündliche Infor-mationsweitergaben weisen regelmäßig nachweisbare Effekte auf. Im Zentrum stehen dabei

▶ Informationsverlust, ▶ Veränderung von Information und ▶ Hinzufügen neuer (fehlerhafter) Infor-mationen.

Alle drei Effekte sind in Dienstübergaben beobachtbar: Es ist keine Kontinuität des Informationsflusses erkennbar. Es sind sogar deutliche Brüche in der Kontinuität vorhanden (z.B. „Darf aber an den Füßen fixiert werden. Ist Stuhl- und Urininkon-tinent. Ist gepampert.“ wird nach drei Übergaben „Das ist eine Patientin mit weiß grad nicht – die ist bettlägerig (…)“).

Insgesamt zeigt sich, dass die von Sei-ten der Literatur attribuierten Übergabe-ziele (z.B. Sicherstellung der Kontinuität der Pflege, Planung individueller Pflege) häufig nicht erreicht werden – weder im Setting Übergabe noch in der Pflegevisite. Dies ist vor allem dann besonders proble-matisch, wenn auf der Basis dieser Infor-mationslage wichtige Entscheidungen gefällt werden.

Analysieren – evaluierenFehler in der Teamkommunikation stehen mittlerweile auf Platz 3 der kritischen Er-eignisse (Critical incidents). Um die Qua-lität der Dienstübergaben zu verbessern, sind eine Reihe von Maßnahmen nötig (z.B. www.health.vic.gov.au/qualitycoun-cil). Viele dieser Maßnahmen sind in an-deren beruflichen Settings seit Jahr-zehnten völlig üblich. Beispielhaft sei hier die Flugsicherung genannt, in der genau-estens analysiert und evaluiert wird, wel-che fehlerbehafteten Situationen zur Ge-fährdung von Menschen führen könnten.


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