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Jeanine Ziebarth Goldseelen - Jagd / Leseprobe

Date post: 29-Jul-2016
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Jeanine Ziebarth Goldseelen - Jagd Erscheinungstermin Winter 2016/17 Taschenbuch, ca. 270 Seiten Papierfresserchens MTM-Verlag
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Impressum:

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind

zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:www.papierfresserchen.de

© 2017 – Papierfresserchens MTM-Verlag GbROberer Schrannenplatz 2, D- 88131 Lindau

Telefon: 08382/[email protected] Rechte vorbehalten.

Erstauflage 2017

Lektorat: Melanie WittmannHerstellung: Redaktions- und Literaturbüro MTM

www.literaturredaktion.deTitelbild: Katharina Bouillon

unter Verwendung eines Fotos von © yellowj / lizensiert AdobeStockDruck: Bookpress / Polen

ISBN: 978-3-86196-694-4 – Taschenbuch

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Jeanine Ziebarth

GoldseelenJagd

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Fur Mama,du bist immer in meinem Herzen.

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1Meine Schritte hallen laut auf den kühlen Steinplatten, die sich ka-

chelförmig durch den Kerker ziehen. Das gedimmte Licht lässt meinen Blick zur Wand schnellen. Die Dunkelheit verschlingt jeden Schatten, aber nicht uns Goldwesen. Die Wände spiegeln funkelnd den Schein, der von meinem Nacken ausgeht, wider. Ich gebe dem Drang nach, meine Finger darübergleiten zu lassen. Dort glitzern wir alle. Im Na-cken, direkt an der Halswirbelsäule, befindet sich etwas, das aussieht wie Puder. Es kann von nichts und niemandem fortgewischt werden. Es sitzt tief in unserem Körper. An dieser kleinen Stelle wird unsere Haut transparent, es glänzt und leuchtet goldfarben, weil sie unser Blut durchscheinen lässt.

Unwillkürlich muss ich an meinen Vater denken. An ihn und das, was er getan hat ... an das Ereignis, welches bereits acht Jahre zurück-liegt. Doch in meinen Gedanken sind die Bilder so klar, als wäre es erst gestern gewesen.

„Jolene?“, fragte mein Vater. Ich trat hinter dem Türrahmen hervor. Mein Versteck war aufgeflogen. Mit großen Augen schaute ich ihn an. „Wie lange stehst du da schon?“, wollte er wissen.

„Was ist mit dem Mann da auf dem Boden?“, antwortete ich, statt seine Frage zu beantworten. Mein Finger zeigte auf einen Menschen mit brau-nen, gelockten Haaren und einem grimmigen Gesichtsausdruck. Ich sah das Elfenbeinschwert in der Hand meines Vaters und das Blut, das daran klebte.

„Deine Mutter ist sehr krank“, begann er und kam auf mich zu. Ich wich nicht zurück. Vor meinem Papa musste ich nie Angst haben. „Ich möchte ihr helfen. Weißt du noch, was ich dir über unsere Magie erzählt habe?“

Ich nickte eifrig mit dem Kopf. „Wenn ein Goldwesen Magie anwenden möchte, dann braucht es das

Blut eines Menschen dafür, weil uns das Mischen unseres goldenen Blutes mit dem roten für kurze Zeit die Magie wiederbringt.“ Mein Vater strich mir über die Wange. „Sieh her“, bat er und streckte mir sein Handgelenk entgegen. „Ich habe mich mit dem Messer hier geschnitten und dann dem Menschen mit dem Elfenbeinschwert eine kleine Wunde zugefügt.“

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Erschrocken weitete ich die Augen. „Aber, Papa, das hat doch wehgetan, oder?“

Er lächelte. „Für deine Mutter wäre mir kein Schmerz zu groß“, er-widerte er und fuhr dann unbeirrt fort. „Ich habe das Blut des Menschen auf meine Haut getröpfelt und es hat sich wie magisch angezogen zu der Wunde hinbewegt, die sich daraufhin schloss. Du siehst keine Verletzung mehr, richtig?“

Ich schaute genauer hin, ob ich nicht doch noch etwas sah, aber schließlich konnte ich nur den Kopf schütteln. Mein Vater lächelte erneut.

„Aber was ist denn jetzt mit dem Menschen, Papa?“ Er sagte kurz nichts und schaute mir in die Augen. „Ich habe ihn mit

meiner Magie geheilt. Sonst würde er sterben. Seine Wunde wird sich auch gleich schließen und dann lass ich ihn wieder gehen.“

Erleichtert lief ich zu dem Mann und setzte mich vor ihn. Ich wollte warten, bis er wieder aufwachte, und ihm dafür danken, dass er meinem Papa sein Blut gegeben hatte, damit er meine Mama wieder gesundmachen konnte. Doch mein Vater wollte, dass ich mit Tyler draußen spielen ging. So ließ ich Papa und den Fremden zurück.

Heute weiß ich, was mein Vater Schreckliches getan hat. Wir können keine Menschen heilen. Der Mann ist zu einem Goldjäger mutiert. Diese sind zwar immer noch Menschen, aber mit einem blutroten Licht im Nacken. Sie werden als seelenlos bezeichnet und sind einzig daran interessiert, die Goldwesen, die ihnen über den Weg laufen, zu töten. Sie empfinden weder Glück, Freude, Liebe, Trauer oder Angst. Goldjäger werden ausschließlich von Rachegedanken angetrieben. Bei der Verwandlung bleibt nur ein einziges Gefühl zurück: der Drang nach Vergeltung. Sollte man einmal in die Fänge eines Goldjägers ge-raten, ist man dem Tode geweiht. Nichts kann ihre steinharte Haut durchstoßen.

Mein Vater hat mit seiner Tat das Gesetz gebrochen. Ich erinnere mich daran, wie fremde Goldwesen mit schwarzen Umhängen unser Schloss in Tasia stürmten und ich mich unter der Treppe versteckte.

„König Brad Johnson. Es wurde entschieden, dass man Sie mit einem Elfenbeinschnitt bestraft.“

Mein Vater hielt sich die Hand vor den Mund und starrte entsetzt zur Decke hinauf, als würde er zu unserer Göttin Anastasia beten. Zitternd streckte er seinen Arm aus. Der fremde Mann holte sein Schwert hervor

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und schnitt meinem Vater in den Arm. Ich war völlig erstarrt und verstand nicht, was sie da taten.

„Sie dürfen jetzt gehen“, ertönte es ausdruckslos aus dem Mund des Man-nes, der meinen Vater verletzt hatte, woraufhin dieser mit bleichem Gesicht die Treppen hinaufging.

Die Goldwesen in den schwarzen Umhängen hatten ihn für seine Tat mit dem Tode bestraft. Der Elfenbeinschnitt heilt nämlich nicht ‒ niemals. Die Wunde bleibt. Schließlich leidet man unter ständigem Blutverlust und zunehmenden Wahnvorstellungen. Die schrecklichste Zeit ist die nach der Ausblutung. Goldwesen leben noch drei weitere Monate ohne ihr goldenes Blut.

Ich kümmerte mich um meinen Vater, und wenn er ab und zu mal bei klarem Verstand war, erzählte er mir eine Menge Geschichten über meine Mutter. Für den Zauber, der sie retten sollte, brachte er nicht mehr genug Kraft auf. Sie starb also kurz vor ihm.

Der Tod meines Vaters hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt, wie wenn man direkt in das Licht einer Glühbirne schaut und es dann löscht. Genau das ist passiert. Sein Lux, so nennen wir das goldfarbene Licht im Nacken, ist einfach erloschen ... vor meinen Augen.

Eine Hand an meinem Schlüsselbein stoppt mich und reißt mich aus meinen niederschmetternden Gedanken. Eine Wache schaut mit zu-sammengekniffenen Augen auf mich herab. „Wo willst du hin?“, fragt der Mann. Ich lege beide Hände an seine Schultern. Wenige Lidschläge später keucht er laut auf.

Ich besitze eine Fähigkeit, die es mir ermöglicht, in den Verstand von Goldwesen einzudringen. Jedoch habe ich nie menschliches Blut zu mir genommen, um diese Form der Magie anwenden zu können. Sie ist einfach seit jeher in mir. In meinen vagen Erinnerungen höre ich meinen Vater den Begriff Verstandesmagie benutzen.

Ich richte alles an Konzentration auf die Wache. Röchelnd greift er sich an die Kehle, ich rühre keinen Finger, aber durch den Eindruck, er würde ersticken, bleibt sein Herz beinahe stehen und er gleitet be-wusstlos zu Boden.

„Jolene“, höre ich Tyler zischen. Sofort lasse ich von der Wache ab und laufe benommen zu ihm

hinüber. Seine kastanienbraunen, halblangen, gewellten Haare um-rahmen sein Gesicht auf eine so unglaublich sexy Weise, dass mir die Knie weich werden.

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„Wie oft hat dir dein Vater gesagt, dass dies der falsche Weg ist? Kei-ne Magie gegen Unschuldige! Du setzt viel aufs Spiel. Wenn jemand erfährt, dass du Magie anwendest, und falsche Schlüsse zieht, dann ...“

Mit einer knappen Handbewegung bringe ich ihn zum Schweigen. „Irgendwas geht hier vor. Etwas von Grund auf Falsches. Also lass mich dich beschützen“, entgegne ich schnippisch.

Er holt tief Luft. „Das ist mein Part, Jolene“, sagt er mit Ernst in der Stimme und schaut mich dann eindringlich an.

„Wir haben keine Zeit mehr zu vergeuden“, dränge ich und schließe eilig die Zelle auf. Die eisernen Gitterstäbe knarren laut.

Plötzlich hören wir lauter werdende Schritte, die sich hastig auf uns zubewegen. Schlagartig halte ich inne und schaue bekümmert zu Tyler.

„Ich glaube, jetzt ist es zu Ende“, wispere ich. Mein Herzschlag rast so sehr, dass ich ihn in meinem ganzen Körper spüre. Mein Kopf pulsiert und meine Knie fühlen sich noch wackeliger an als zuvor. Unbewusst läuft mir eine Träne über die Wange.

Tyler tritt ganz nah an mich heran. „Wir werden rennen, wenn es nötig sein sollte“, bestimmt er.

Ich nicke. „Nimm dir seinen Umhang.“ Mein Finger zeigt auf die bewusstlose Wache am Boden.

Unverzüglich entkleidet Tyler den Mann und zieht dessen Gewand in einer geschmeidigen Bewegung selbst über. Ich setze ihm noch die Kapuze auf, bevor wir gemeinsam die Treppen hinauflaufen und uns zum Ausgang schleichen.

Die Straßen sind voll von Goldwesen. Vor dem Schloss findet heute ein Markt statt und wir tauchen in der Menge unter. Keiner scheint uns zu bemerken, doch sicherlich wäre es um einiges einfacher, wenn ich ebenfalls einen Umhang hätte. Aber Tyler braucht ihn dringender als ich ‒ das wissen wir beide. Wenn die Wachen sich nicht sicher sind, ob es sich wirklich um Tyler, der als Schwerverbrecher gilt, oder nicht doch bloß um einen normalen Zivilisten handelt, können sie nicht ein-fach darauflos schießen.

Zunächst bewegen wir uns in unauffälligem Tempo durch die Men-schenmenge, ehe wir uns in eine verlassene Gasse flüchten. An den Gehwegrändern wuchert wildes Unkraut und ab und zu sehe ich ein paar Rosenbüsche, die ihren lieblichen Duft verbreiten. Nach fünf Mi-nuten hören wir lauter werdende Rufe, die verkünden, dass Tyler aus dem Gefängnis entkommen ist.

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Ich greife ihn am Arm. „Sie werden mich erkennen und wissen, dass du unter dem verhüllenden Gewand steckst. Du weißt ja, wie schnell sich Gerüchte verbreiten. Jemand wird die Wachen verständigen, die dich dann wegzerren. Geradewegs in das Loch zurück, aus dem ich dich soeben befreit habe. Du musst versuchen, von hier zu entkommen. Ich werde nachkommen und dich finden“, presse ich mit gedämpfter Stimme hervor. Meine Stimme klingt gefasst, obwohl ich innerlich eine Angst verspüre, die bis ins Knochenmark reicht.

Er schüttelt den Kopf. „Ich habe versprochen, auf dich aufzupassen. Wie soll ich das machen, wenn ich nicht hier bin?“

Langsam werde ich ärgerlich. „In einer Zelle nützt du mir nichts. Du musst bitte einmal an dich denken. Bring dich in Sicherheit!“, verlange ich und höre das Zittern in meiner Stimme.

Er zögert. „Bleib hier in Sicherheit, Jolene. Versprich mir das“, for-dert er entschlossen.

„Das werde ich nicht“, widerspreche ich empört. Tyler schließt kurz die Augen. „Dort draußen wimmelt es nur so von

Goldjägern. Hier bist du sicher. Finde lieber raus, was ich getan habe, und bereinige das Missverständnis, damit ich zu dir zurückkehren kann“, versucht er es bittend.

Mein Herz krampft sich unnatürlich zusammen. „Was du auch tust, Ty“, beginne ich und stelle mich dicht vor ihn, sodass ich sein Gesicht, welches er unter der Kapuze verbirgt, sehen kann, „bleib am Leben.“

Um seinen Mund zuckt ein leichtes Lächeln. Er hebt seine Hand und lässt seine Finger zart über meine Wange streicheln. Fragend sieht er mich an. Nickend gebe ich ihm die Erlaubnis, in meine Seele zu schauen, meine Gedanken lesen zu dürfen. Er will sich vergewissern, wie ernst ich mein Versprechen meine. Also wandert seine Hand weiter in meinen Nacken. Sein Blick wird kurz glasig, ehe er sich wieder klärt und Tyler tief ausatmet.

„Eins noch“, meint er und sieht mich ernst an. „Wehe du lässt zu, dass dein Onkel dich mit diesem Ekelpaket namens Lennis verheiratet!“

Wie gerne würde ich ihm versprechen, dass das unter keinen Um-ständen passiert, aber da würde nur ein Wunder helfen. Es ist meine Pflicht, jeder Forderung des Königs nachzukommen. Dazu gehört eben auch eine Heirat. Bedauernd gibt mir Tyler einen Kuss auf die Stirn. Er verweilt einen Moment. Sein Atem streicht mir übers Gesicht. Seine Lippen bewegen sich wie in Zeitlupe auf meine zu, doch dann stockt er, sieht mir nur in die Augen. Meine Hand legt sich an seine bebende

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Brust. Ich sehe ihn schlucken, ehe er sich plötzlich zu den Mauern un-serer kleinen Stadt umdreht und verschwindet. Jenen Wällen, die uns von der Menschenwelt isolieren und uns gefangen halten, wie Tiere auf der Weide von einem unter Strom gesetzten Elektrozaun umgeben sind, den sie nicht zu überqueren wagen. Wehmütig schaue ich Tyler hinterher.

Ich schaffe es nicht, auch nur ein Auge zuzumachen. Meine Gedan-ken sind bei ihm – Tyler. Durchgeschwitzt und verheddert in meine Bettdecke liege ich mitten in der Nacht wach. Schließlich springe ich auf, ziehe die weiße Gardine zurück und schaue durch die Fensterschei-be in einen sternenklaren Himmel. Ohne recht darüber nachzudenken, ziehe ich mich an und verlasse auf leisen Sohlen mein Zimmer.

Wie konnte es nur so weit kommen? Weswegen haben sie Tyler weg-gesperrt? Gedankenverloren betrete ich einen großen, majestätischen Raum, der mit alten, wertvollen Möbelstücken ausgestattet ist. Es hän-gen weder Bilder an den Wänden, noch gibt es eine schöne Pflanze in diesem Raum.

Überrascht stelle ich fest, dass mein Onkel auf einem großen, gepols-terten Stuhl sitzt und angestrengt auf ein Buch starrt. Bevor er mich bemerkt, schleiche ich auf Zehenspitzen zurück in den Gang, aber zu spät.

„Jolene“, donnert es aus dem Thronsaal und leise seufzend stelle ich mich vor meinen Onkel, der nach dem Tod meines Vaters zum König der Goldwesen geworden war.

Respektvoll balle ich Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand zu-sammen, lege dann den Daumen darauf und lasse den Ring- und den kleinen Finger ausgestreckt. Er erwidert den Gruß.

„Setz dich“, befiehlt er mir und ich gehorche. „Wie konnte Tyler fliehen?“, fragt er direkt. Seine Miene zeigt für einen kurzen Augen-blick Neugierde, wird jedoch schlagartig wieder ausdruckslos.

„Ich weiß es nicht“, lüge ich. Er lacht. „Der Wachmann hat dich gesehen, wusste aber partout

nicht, was geschehen ist. Was hat Tyler gemacht?“, fragt er mit Nach-druck in der Stimme.

„Tyler? Wohl eher ich“, blitzt es in meinen Gedaken auf. „Ich weiß es nicht“, erwidere ich laut, während ich arglos den Kopf schüttele.

Meines Onkels Augen werden schmal. „Du verpflichtest dich zur Wahrheit, wenn du mit mir sprichst. Das weißt du.“ Ich blicke zu Bo-

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den, eine Reaktion, die mich auffliegen lässt. Mein Onkel donnert un-beherrscht mit der Faust auf den Tisch. „Wo ist der Junge?“, zischt er.

Ich kneife den Mund zu einem geraden Strich zusammen. „Warum ist Tyler so wichtig? Weshalb hast du ihn einsperren lassen?“, entgegne ich statt einer Antwort.

„Du bist nicht in der Position, mir solche Fragen zu stellen“, brüllt er. Ich zucke kaum merklich zusammen. „Wenn du mir jetzt nicht ver-rätst, wo Tyler ist, werde ich dich einsperren lassen.“

Hasserfüllt blicke ich auf und streiche mir das gewellte hellbraune Haar aus dem Gesicht. „Immer noch besser, als mich mit einem frem-den Mann zu verheiraten“, platzt es aus mir heraus.

„Was erlaubst du dir!“ Er hebt seine Hand und möchte zum Schlag ausholen.

„Isaac! Genug jetzt!“, ertönt mit einem Mal eine Frauenstimme hinter uns. Sie gehört meiner Tante Olivia. Ich blicke etwas ängstlich in ihre Richtung, während sie mir gegenüber Platz nimmt und mit-fühlend in meine braungrünen Augen blickt. „Jolene, bitte. Sag uns, wo er sich versteckt hält.“

Ich schlucke schwer. Keinesfalls werde ich verraten, dass Tyler die Grenze zur Menschenwelt überschritten hat. Die Chancen, die Wa-chen zu überlisten, sind so schon gering.

„Er wollte es mir nicht sagen, Tante Olivia. Er hat gewusst, dass ihr eine Antwort von mir verlangen werdet. Doch wenn ich nichts weiß, kann ich nichts verraten.“ Ich schaue so unschuldig drein, wie es mir nur irgend möglich ist.

Meine beiden Verwandten betrachten mich skeptisch, nicken jedoch schließlich.

Seufzend dreht sich Olivia daraufhin zu ihrem Bruder Isaac. „Wir stellen einen Suchtrupp zusammen“, bestimmt sie. Dann wendet sie sich wieder mir zu. „Und was dich betrifft, junge Dame, du wirst jetzt schlafen gehen. Es ist für uns alle schon sehr spät.“

Ich nicke missmutig und verlasse den Raum.

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2Außerhalb des Gebäudes und unbeobachtet sacke ich an einer Säule

zusammen. Ein paar Minuten verstreichen, in denen ich in den ster-nenklaren Himmel hinaufblicke und ein paarmal tief durchatme, bis mir von hinten eine Hand an die Schulter greift. Ich zucke heftig zu-sammen. Kieron, Tylers Vater, schaut mich mit wildem Blick an. „Wo ist er?“, fragt er mit brüchiger Stimme.

Ich stehe auf, sodass ich mit ihm auf Augenhöhe bin. „Tyler ist in Sicherheit“, verspreche ich. „Wenn man von den Goldjägern absieht“, füge ich in Gedanken hinzu.

„Er ist nirgendwo sicher. Du musst ihn zu mir schicken. Ich muss ihm erklären, was hier vor sich geht!“

Energisch schüttele ich den Kopf. „Man wird ihn bei dir vermuten“, widerspreche ich. Er packt mich an den Oberarmen und schaut mich eindringlich an. Ich betrachte sein Gesicht genauer. Seine Augen sind blutunterlaufen, sein blondes Haar ist wirr und er hat einen wahn-sinnigen Ausdruck im Blick.

„Jolene, verstehst du denn nicht?“ Ich runzele die Stirn. Plötzlich lässt er mich los. „Natürlich weißt du es nicht. Wie denn auch ...“, nuschelt er mehr zu sich selbst. Dann blickt er mich wieder an. „Tylers Mutter war ein ...“ Abrupt hört er zu sprechen auf, denn Onkel Isaac hält ihm den Mund zu. Schreck liegt in Kierons Augen und er sieht mich fle-hend an. Ich kann nichts tun, außer dazustehen und zuzuschauen, wie Tylers Vater abgeführt wird, ohne ein weiteres Wort sagen zu können. Ich weiß, was seine Augen versucht haben, mir zu sagen. Tyler muss etwas Bestimmtes erfahren und beinahe hätte ich gewusst, was es ist. Verdammt! Was mit seiner Mutter wohl ist?

„Wieso hast du ihn abführen lassen?“, frage ich Onkel Isaac empört. „Was hat dieser Mann getan?“

Er streift mich mit einem eisigen Blick. „Geh jetzt nach Hause“, blafft er mich an und sein bedrohlicher Tonfall lässt mich schweigen.

Betrübt und meinen Gedanken nachhängend, komme ich zu Hau-se an und lasse mich auf mein Bett sinken. Das Kissen ist weich wie Schafwolle und ich trage mein seidenes Schlafhemd. Ich bin so müde, dass ich nicht mehr nachdenken kann und sofort einschlafe.

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Schließlich weckt mich ein lauter Knall, der von unten kommt. Dann poltert jemand die Stufen herauf und reißt die Tür auf.

„Wir müssen von hier verschwinden. Sofort!“, zischt Kieron. Ich erschrecke heftig, als Tylers Vater mich aus dem Bett zerrt und mir warme Sachen aus meinem Schrank zuwirft. „Ich werde bewacht. Wir haben nicht viel Zeit, ehe sie merken, dass ich nicht zu Hause bin, wo ich eigentlich hingehöre.“

Ich verstehe nicht, was vor sich geht. „Was war Tylers Mutter?“, frage ich deshalb ohne Umschweife und nehme das Gespräch von vorhin wieder auf.

Seine Augen glänzen. „Ein Mensch“, haucht er. Jegliche Farbe, die ich im Gesicht habe, entweicht. „Das würde be-

deuten ... nein. Das kann nicht sein“, stottere ich und schaue Kieron ungläubig an. „Er weiß es nicht?“, frage ich dann. Tylers Vater schüttelt den Kopf. „Deswegen suchen sie ihn also“, murmele ich.

„Sie wollen die Schandtat, die ich begangen habe, geradebiegen“, merkt Kieron an und zieht mich zur Tür hinaus.

Geradebiegen heißt also, ihn zu töten. Langsam fügen sich die Fetzen zu einem großen Ganzen zusammen. Tylers Mutter ist ein Mensch. Kieron ein Goldwesen. Das macht dann ...

„Tyler ist tatsächlich ein Goldmensch?“, hauche ich nach Fassung ringend. Das bedeutet, er ist in der Lage, ohne Menschenblut Magie auszuüben, weil die Mischung aus rotem und goldenem Blut bereits durch seinen Körper strömt.

„Er hätte gar nicht erst auf die Welt kommen dürfen. Sie sagen, es brächte die Natur aus dem Gleichgewicht“, entschlüpft es Kieron.

„Warum ist es eine Schandtat, Magie in sich zu haben? Sie kann für gute Zwecke doch sehr nützlich sein“, wende ich ein.

Kierons Lippen zittern, als er die nächsten Worte ausspricht. „Tyler könnte seine Magie jedoch auch missbrauchen.“

„Aber so etwas würde er nicht tun“, flüstere ich überzeugt. „Auf keinen Fall wird dein Onkel dieses Risiko eingehen. Niemand

soll erfahren, dass Tyler ein Goldmensch ist. Jeder, der es weiß und damit etwas verraten könnte, wird getötet.“

Ich erschrecke. Natürlich hat Kieron recht. Mein Onkel ist macht-gierig und kontrollsüchtig. Tyler ist mit seiner Magie stärker als Isaac. Das wird er nie im Leben dulden.

In diesem Moment kommen zwei Wachen die Treppe zu meinem Zimmer hoch und versperren uns den Ausgang. Super! Verbittert

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schaue ich die Männer an. Sie richten Waffen mit Betäubungspfeilen auf uns und verlangen, dass wir ihnen folgen.

„Wir unterschreiben unser Todesurteil“, flüstere ich Kieron zu. Er nickt mir kurz zu, aber in seinem Blick liegt etwas, das mich am

Handeln hindert. „Geduld“, scheint er mir gedanklich zu verstehen zu geben. Ich muss den richtigen Zeitpunkt abpassen, um meine Ver-standesmagie anwenden zu können.

Man führt uns durch den weitläufig angelegten Schlossgarten zum Thronsaal. Trotz der späten Uhrzeit ziehen wir einige Blicke von nacht-schwärmenden Goldwesen auf uns, als wir in Begleitung von zwei Wachen über die steinernen Gehwege hetzen. Das riesige Anwesen ragt über uns auf ‒ majestätisch und anmutig. Und zum ersten Mal für mich auch beängstigend.

Die Dunkelheit macht uns Goldwesen nichts aus. Wir sehen gut im schwachen Licht, besonders deshalb, weil uns unser Nacken als Licht-quelle dient. Ich schaue zu Kieron. Plötzlich wirbelt er herum und schlägt einen der Wachmänner nieder. Sofort greife ich mir den zwei-ten, meine Hand lege ich auf seine Schulter und lasse ihn glauben, er würde ertrinken. Nach nur einer halben Minute sackt er bewusstlos zu Boden. „Wir haben keine Zeit zu vertrödeln“, dränge ich Tylers Vater. Von weit her hören wir bereits sich nähernde Schritte. „Folge mir.“ Da ich seit meiner Geburt in diesen Gemäuern lebe, weiß ich, wo wir einen unbewachten Ausgang finden werden. Die Säulen, die anmutig und herrschaftlich die Eingangshalle zieren, bieten eine gute Möglich-keit, um sich dahinter zu verstecken, bis die Luft rein ist.

Die ganze Zeit über spüre ich den Blick von Tylers Vater auf mir. Er schaut mich beinahe bewundernd an. Damit sollte er dringend auf-hören. Ich blende es aus und überlege, wie wir am besten in den Keller gelangen. Hastig überfliegen meine Augen die Halle. Es steht nur eine Wache in der Ecke direkt an der Treppe, die in die Schlafgemächer führt. Herrje, wie viele müssen wir noch verletzen?

Ich deute mit dem Kopf in Richtung des Wachmanns und sofort setzt Kieron sich in Bewegung. Eilig packt er den Mann und schleudert ihn hart und zielstrebig gegen die Wand. Ich zucke kaum merklich zu-sammen. Das muss wirklich wehgetan haben.

Danach führe ich Kieron in den hinteren Teil des Schlosses und stoße sofort die nächstbeste Tür zum Keller auf. Wieder einmal bin ich dankbar dafür, dass uns die Dunkelheit nichts ausmacht. Dieser Teil des Kellers an der Nordseite ist unbewacht. Doch wir müssen auf die

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Westseite und da lauern mehrere Wachposten. Wenn wir erst aus dem Schloss raus sind, können wir unbeobachtet durch ein Tor, welches nur durch diesen einen Kellerausgang erreichbar ist, in die Freiheit entschlüpfen. Allerdings könnte bis dahin viel schieflaufen. Deswegen halte ich abrupt an und drehe mich zu Kieron um.

„Du hast mir noch nicht alles erzählt“, stelle ich fest. Er verzieht den Mund und nickt. „Bald stürzt sich eine Armee Gold-

jäger auf uns.“ Obwohl es nur wenige von ihnen gibt, sind doch gerade sie unsere

schlimmsten Feinde. Manchmal rotten sie sich zusammen, um eine ganze Kommune von Goldwesen auszulöschen. Es erfüllt sie mit un-heimlicher Befriedigung, uns sterben zu sehen. Wir sind der Grund, warum sie überhaupt zu solch monströsen Bestien geworden sind – ohne Emotionen.

„In weniger als sechs Monaten werden sie einen Krieg gegen uns begonnen haben. Es sind Gerüchte im Umlauf, dass bereits einige Siedlungen angegriffen wurden.“ Kieron bestätigt meine Gedanken. „Jetzt wird es allerdings etwas verrückt.“ Sein Blick streift erst mich, schließlich schaut er ins Leere. „Ich möchte, dass ihr euch auf die Suche macht und die Goldseelen findet. Denn nur sie können die Goldjäger aufhalten. Und finden kann jene nur ein Goldmensch.“

In meinem Kopf dreht sich alles. „Was ist eine Goldseele?“, frage ich verwirrt.

Sein Blick ruht fest auf mir. „Ein Kind, das der Verbindung eines Goldmenschen mit einem Goldwesen entstammt.“

Mir klappt die Kinnlade herunter. „Das ist verboten! Außerdem gibt es keine Goldmenschen außer Tyler, nicht wahr?“ Ich bebe am ganzen Körper. All die Jahre hat man mich gelehrt, wie wichtig es sei, sich an die Gesetze zu halten. Und nun wird alles auf den Kopf gestellt.

„Die Bindung zwischen einem Menschen und einem Goldwesen ist äußerst selten und strengstens verboten. Jeder weiß, dass die Men-schenfrau bei der Geburt stirbt. Trotzdem gibt es mehr Goldmenschen, als du dir vorstellen kannst.“ Kierons Miene wird traurig. „Als Tylers Mutter erfuhr, dass sie schwanger ist, hat sie sich geweigert, ihn abtrei-ben zu lassen. Sie wollte lieber sterben.“ Er hält kurz inne, außerstande weiterzusprechen. Es ist, als würde er alles noch einmal durchleben, wenn er an damals denkt.

Ich nehme seine Hand und drücke sie. Schlagartig richtet er seine Aufmerksamkeit wieder auf mich. „Es gibt sie. Es gibt viele Goldseelen.

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Aber leider genauso viele Goldjäger, die uns töten wollen. Wir sind schwach, Jolene.“ Und das sind wir tatsächlich.

Ohne unsere Magie, die eingeschränkt ist, weil entweder Menschen dafür getötet oder verwandelt werden müssen, sind wir schwach. Die Überlegung, mehr Goldmenschen zu zeugen, die Magie wirken kön-nen, um die Goldjäger auszuschalten, bringt den gleichen Effekt her-vor. Die menschlichen Mütter würden bei der Geburt sterben.

Unsere verschärfte Sehkraft, unser empfindliches Gehör, das Licht im Nacken und die antrainierten Kampffähigkeiten sind das Einzige, was uns einigermaßen von den Menschen unterscheidet. Doch das nützt uns gegen die Goldjäger nichts, denn sie besitzen eine unglaubliche körperliche Kraft, die uns mit Leichtigkeit besiegen wird.

„Onkel Isaac weiß von diesen Vorgängen?“ Ich finde keine andere Beschreibung, um all das zusammenzufassen. „Und will trotzdem Goldmenschen töten, die die Goldseelen finden können?“, frage ich entsetzt.

Kieron seufzt. „Die Sache ist größer, als du denkst. Ich bin noch nicht vollständig dahintergekommen. Aber dein Onkel hat irgendetwas mit den Goldjägern am Hut.“

Ich lege die Stirn in Falten. „Wie konnte er überhaupt herausfinden, dass Tyler ein Goldmensch ist?“

„Er hat ein Gespräch zwischen einer guten Freundin der Familie und mir belauscht.“ Ohne Zweifel gibt Kieron sich die Schuld, dass alles so weit gekommen ist.

„Wie sollen wir die Goldseelen finden? Wo müssen wir suchen?“, be-eile ich mich zu fragen, als in einiger Entfernung Stimmen laut werden.

„Es gibt keinerlei Aufzeichnungen über Goldseelen. Vielleicht wissen andere Städte besser darüber Bescheid. Goldenes Blut wird euch zu ihnen führen.“ Kieron spricht wahrhaft in Rätseln.

Plötzlich hören wir Stimmen ganz in der Nähe. „Findet sie!“, ruft ein Mann.

Ich reiße die Augen auf. „Wir müssen zur Westseite“, flüstere ich. Sofort setzen wir uns in Bewegung. Nach ein paar Metern erreichen wir die nächste Tür. Sie führt tiefer hinab. „Hier lang“, rufe ich ihm zu. Doch zu spät.

Zwei bewaffnete Männer haben uns bereits gefunden. Ich erkenne den Typen wieder, der dachte, er würde ertrinken. Er sieht wütend aus. Und ich meine damit wirklich richtig wütend. Wir rennen. Unter größter Anstrengung versuche ich, mit Kieron mitzuhalten. Wir finden

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uns in einem Labyrinth wieder und ich versuche mich verzweifelt an den Weg zum Westausgang zu erinnern.

„Rechts, links, links, rechts“, wispere ich, dann hasten wir weiter. Früher haben mein Vater und ich hier Verstecken gespielt. Es war

eine unbeschwerte, glückliche Zeit. Meine Mutter hat immer mit uns geschimpft, weil dies ein unangebrachter Ort zum Spielen wäre, so predigte sie immer.

Plötzlich höre ich einen lauten Schuss und daraufhin Kierons Schrei. Ich wirbele in einer schnellen Bewegung herum und versuche, Tylers Vater zu retten. Das Blut sickert in Strömen durch meine Finger hin-durch. Ich reiße einen Stofffetzen aus meinem T-Shirt, aber binnen we-niger Augenblicke ist er durchtränkt. Das giftige Elfenbein wird ihn in das Reich der Toten ziehen – ohne eine Sterbefrist von drei Monaten.

„Verdammt“, rufe ich beinahe hysterisch. Die Waffe mit den tödli-chen Elfenbeinkugeln würde auch vor mir nicht haltmachen.

„Du musst jetzt gehen“, presst Kieron hervor und mit seinen Worten quillt auch Blut aus seinem Blut.

Ich verspreche Tylers sterbendem Vater: „Sie werden dafür bezahlen.“Kieron schüttelt kaum merklich den Kopf. „Eure Aufgabe ... du und

Tyler, ihr habt beide Magie in euch“, flüstert er. „Benutzt sie!“„Wie kann Tyler sie nutzen?“ Kierons Versuch, mit den Schultern zu zucken, lässt ihn wild husten.

Noch mehr Blut ergießt sich über den Boden. Mit seiner rechten Hand greift er zitternd in die Innentasche seiner Jacke und überreicht mir ein kleines, rundes Gerät. „Videobotschaft“, murmelt er – sein letztes Wort, bevor sein Körper erschlafft.

Ich schließe seine Augen und einige Sekunden später lasse ich seine Leiche auf dem Boden liegend zurück und renne los. Meine Gedanken überschlagen sich beinahe. Wenn ich Magie nutzen kann, bin ich dann nicht ebenfalls ein Goldmensch, so wie Tyler? Diese Frage stelle ich mir schon seit jeher. Doch es kann nicht sein. Meine Mutter hat noch lange nach meiner Geburt gelebt und Menschen sterben, wenn sie ei-nen Goldmenschen gebären. Und wie sage ich Tyler, dass die Wachen seinen Vater getötet haben? Wo sollen wir nur anfangen, die Gold-seelen zu suchen?

Seufzend erklimme ich die Treppen zum Westausgang. Immer zwei Stufen auf einmal. In dem Kellerlabyrinth habe ich die Wachen abge-hängt, sodass ich nun ohne weitere Zwischenfälle in die Freiheit ge-lange. Doch wie soll es nun weitergehen?

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3Das ändert alles. Tyler ist ein Goldmensch. Obwohl er die Macht

besitzt, Magie auszuüben, denn das Menschenblut ist bereits in ihm, so ist er doch kein Goldwesen und wird verstoßen. Onkel Isaac muss nicht mal aus persönlichen Gründen veranlassen, dass Tyler eingesperrt wird. Es geschieht zur Einhaltung der Gesetze, denn Goldmenschen könnten ihre Magie missbrauchen. Und mein ganzes Leben lang lehr-te man mich, dass niemand gegen Gesetze verstoßen dürfe. Dass das Leben nur im Gleichgewicht sein könne, wenn sich jeder an die Regeln halte. Aber nun muss ich sie tatsächlich infrage stellen, denn nie im Leben würde ich mich von Tyler abwenden.

Meine Füße tragen mich immer weiter durch den Wald. Immer wie-der bleibe ich vor Angst zitternd stehen und lausche, ob mir jemand von den Wachen folgt, doch außer dem Rauschen des Windes, der die Blätter der Bäume zum Tanzen bringt, höre ich nichts. Trotzdem schreite ich schnellen Schrittes weiter und überlege krampfhaft, wohin Tyler gegangen sein könnte.

Nachdem ich bereits stundenlang durch den Wald gestreift bin, lichten sich mit einem Mal die Bäume und ich erreiche eine kleine Lichtung. Hier will ich eine Pause einlegen. Gerade möchte ich mich auf dem Boden niederlassen, als ich Tyler direkt vor mir stehen sehe. Ich kneife mir ganz kurz in den Arm, um mich zu vergewissern, dass dies keine Halluzination ist.

„Ich habe dich wirklich gefunden“, rufe ich schließlich erleichtert aus und will ihn umarmen, doch er hält mich auf Abstand.

„Wieso bist du hier? Du hast mir doch versprochen, dass du in Tasia bleiben würdest“, wirft er mir an den Kopf.

Am liebsten würde ich ihn genauso ankeifen wie er mich, doch dann taucht die Leiche Kierons vor meinem inneren Auge auf und ich kann nicht anders, als leise zu weinen anzufangen. Sofort nimmt er mich in den Arm, doch ich ziehe mich ein Stück von ihm zurück und drücke ihm das kleine Gerät in die Hand.

„Es tut mir so leid“, flüstere ich. „Sie haben ihn mit einer Elfen-beinkugel getroffen. Er ist ... er ist ... es tut mir so leid“, stottere ich nach Luft ringend.

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Tyler begreift zunächst nicht, doch als er die Initialen auf dem Gerät liest, scheint es ihm den Atem zu verschlagen. Mit zitternden Händen öffnet er die Videobotschaft und das Gesicht seines Vaters erscheint vor uns in der Luft. Er erklärt Tyler, was ich zuvor schon erfahren habe, und versichert ihm, dass er ihn aus tiefstem Herzen liebe. Erschöpft sackt Tyler an einem alten Baum zusammen und lehnt seinen Kopf gegen den Stamm. So verweilt er, bis wir schließlich beide einschlafen.

„Ich werde nicht gehen!“, schreie ich außer mir und verschränke ab-lehnend die Arme vor der Brust. Tyler schaut mich an, ohne mit der Wimper zu zucken.

„Wenn du mir hilfst, kannst du nie wieder nach Tasia zurückkehren. Du wirst nie wieder nach Hause können. Nie wieder, verstehst du?“, betont er.

„Tyler, du bist mein Zuhause. Was soll ich an einem Ort, der mir nichts außer Einsamkeit zu bieten hat?“

Für einen Moment sieht es so aus, als würde er mich an sich ziehen wollen. Doch er bleibt standhaft. „Diese Welt ist gefährlich“, flüchtet er sich in eine vage Antwort.

„Wir sind nirgendwo sicher“, rufe ich laut. „Du hast es doch selbst gehört. Ein Krieg wird beginnen und er wird nicht vor Tasia haltma-chen. Was ist aus deinem Versprechen geworden, für mich da zu sein? Du kannst mich nur beschützen, wenn ich bei dir bin.“

Er seufzt und macht einen Schritt auf mich zu, ohne mich jedoch zu berühren. „Du läufst nicht nur Gefahr, von Goldjägern getötet zu werden, sondern verstößt auch noch gegen das Gesetz, wenn du mit einem Goldmenschen durch die Gegend streifst.“ Seine Stimme klingt gefasst, doch ich kann einen Anflug von unbeherrschter Verzweiflung darin erkennen.

Ich schüttele den Kopf. „Du willst es einfach nicht wahrhaben!“, stoße ich entrüstet hervor. „Zum Umkehren ist es bereits viel zu spät.“

„Ist es nicht. Ich werde die Goldseelen finden und den Krieg be-enden, bevor er in Tasia überhaupt Wurzeln schlagen kann. Dort bist du sicher.“ Er hält kurz inne. „Ich will dich nicht bei mir haben“, sagt er dann schroff.

Ich bin eher schockiert als verletzt. Wie kann man nur so stur sein? „Keinesfalls ist das dein Ernst“, erwidere ich spöttisch. Wenn es über-

haupt möglich ist, werden seine Haltung und sein Gesicht noch ab-weisender und in seinem Blick liegt so viel Härte, dass ich ihn beinahe

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ernst nehme. Ich starre ihn an, versuche, eine Regung zu erkennen, finde jedoch nichts. „Wieso willst du nur, dass ich zurückgehe? Mein Onkel wird mich wahrscheinlich in eine Zelle sperren“, stelle ich nüch-tern fest.

Ganz plötzlich dreht Tyler sich kopfschüttelnd um und geht davon. „Tu doch, was du nicht lassen kannst“, ruft er mir verärgert über seine Schulter hinweg zu.

Verdattert renne ich ihm hinterher, packe ihn an der Schulter, drehe ihn zu mir um und nehme seine Hände in meine. Er zieht sie nicht so-fort weg, doch er hat einen Moment zu lange gezögert und er weiß es.

„Du wirst mich nicht los. Schon gar nicht, wenn du vor mir davon-läufst.“

Er starrt mich an, bis er kurz darauf des Widerstandes müde zu sein scheint und stumm nickt.

Stunden vergehen, in denen wir schweigend hintereinanderher lau-fen. Die meiste Zeit rennen wir, um mögliche Verfolger abzuhängen. Doch nachdem wir genug Abstand zwischen uns und Tasia gebracht haben, rasten wir. Bis zur Menschenwelt sind es noch einige Kilometer. Wir haben weder Geld noch irgendwelche Dinge von zu Hause mit-nehmen können. Meine Jacke, die mir nach diesem Marsch fast schon zu warm erscheint, kann ich nicht ablegen, denn ich muss meinen Na-cken versteckt halten. Kein Mensch darf unser Licht sehen.

Und schlagartig kommen mir Kierons Worte in den Sinn. Kieron, der jetzt tot ist. „Goldenes Blut wird euch zu ihnen führen.“ Wie hat er das gemeint?

Ich möchte Tyler darauf ansprechen, doch mir bleibt die Frage im Halse stecken. Die ganze Zeit über hat er mich nicht eines Blickes ge-würdigt. Ein schmerzhafter Stich durchfährt meinen Körper. Wenn ich ihn anblicke, pocht mein Herz schneller. Mein Puls rast und in mei-nem Bauch fliegen Tausende Schmetterlinge herum. Wie gerne würde ich diese Gefühle einfach für eine Weile abschalten. Wie lange werde ich seinen Missmut ertragen müssen? Wann wird er sich mir öffnen?

Resigniert spähe ich zu ihm hinüber. Sein Blick richtet sich gedan-kenverloren zu Boden. Ich will ihm so viel sagen und doch kann ich nicht anders, als stumm zu bleiben. Ich weiß, welche Gefühle er durch-lebt. Wie schlimm es ist, wenn man seinen Vater verliert. Wie unwirk-lich es einem erscheint und wie lange man braucht, um es wirklich zu verstehen. Im Inneren rumort ständig ein Gefühl ‒ Hoffnung‒, das einen betäubt und denken lässt, dass alles nur ein schlechter Traum

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wäre. Dass nichts von all dem passiert ist, was einem solche Sorgen be-reitet und einen quält. Die Trauer, die jede einzelne Faser des Körpers durchdringt und die Glieder schmerzen lässt. Das Stechen in der Brust, wenn man an seinen Vater denkt, der nun nicht mehr da ist, um einen zu beschützen. Die Leere, die alles ersetzt. Liebe, Stärke, Mut, das alles verschwindet für eine Weile.

Unerwartet hebt Tyler den Blick und ich sehe es in seinen Augen. Jetzt weiß ich, dass ich ihm noch ein wenig Zeit geben muss. Zeit, die wir nicht haben, aber er braucht sie, so wie auch ich damals.

Wir waren noch klein, ich jünger als er, und obwohl er nicht ver-stand, was in mir vorging, war er es, der mich aus meiner Schockstarre wachrüttelte. Ich muss für ihn dasselbe tun und stark bleiben. Egal, was er mir mit seinen Worten antun wird. Keinesfalls gebe ich ihn auf. Ich bin sein Anker.

Traurig schaue ich erneut zu ihm. Er betrachtet mich ebenfalls. In seinem Blick liegt etwas Unergründliches. Vorsichtig nehme ich seine Hand und drücke sie leicht. Erst reagiert er nicht, doch dann huscht ihm ein schwaches Lächeln über die Lippen. Es ist nur ein halbes, denn wenn er mir ein ganzes Lächeln schenkt, wird mir warm ums Herz. Es ist gütig, liebevoll, zärtlich, irgendwie ... leicht. Langsam entzieht er mir seine Hand und wendet sein Gesicht ab. Er ringt um Fassung.

„Wir sollten weiter“, kommt es laut und plump aus seinem Mund. Ich nicke lediglich und folge ihm weiter durch das Unterholz, über

Hügel und an üppig bewachsenen Bäumen vorbei zur nächsten Stadt. Abrupt halte ich inne und lausche. Etwas bewegt sich rasend schnell auf uns zu.

„Sie verfolgen uns immer noch“, rufe ich Tyler zu, der ein paar Meter vor mir läuft. Meine Augen weiten sich, mein Herz rast und meine Beine sprinten instinktiv los.

Tyler zieht mich ungestüm mit sich. Er ist so viel schneller als ich. Meine Lungen sind kurz vorm Bersten. Immer wieder schnappe ich nach Luft, und ohne stehen zu bleiben, jagen wir durch den Wald. Sie sind auf Pferden unterwegs. Für Autos fehlen hier die Magnetbahnen, auf denen sie schweben, als hätten sie Flügel. Wir laufen so schnell, dass ich alles um mich herum nur noch verschwommen wahrnehme. Sträucher kratzen mir das Gesicht auf und beinahe wäre ich über eine Wurzel gestolpert. Pures Adrenalin schießt mir durch den Körper, als ich die Wachen hinter uns bemerke. Es sind die gleichen Männer, die uns auch im Keller verfolgt haben. Rachegelüste schleichen sich


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