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Institut für Jüdische Geschichte | Home - editorialon, Beracha, Segen, und Kavod, Ehre, und...

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1 editorial und den dadurch gegebenen Fluchtmöglichkeiten aus- einander. Die Autorin zeigt auf, dass die Existenz dieser Organisation zahlreichen Jugendlichen ein kleines Maß an »Normalität«, an Geborgenheit und glücklichen Erinnerungen in Österreich und schlussendlich eine Überlebensmöglichkeit geboten hat. Gleichzeitig wird aber auch hier der Schnitt in der Biographie, der Ver- lust des vorgezeichneten Lebenswegs mehr als deutlich. Marta Ansilewska gibt einen Überblick über das jü- dische Bildungswesen in der Zweiten Polnischen Repu- blik (1918–1939) und zeigt das Gegenüber und Mitei- nander traditionell jüdischer, fortschrittlicher und staatlicher Bildungsvorstellungen und die damit ver- bundenen Auswirkungen auf jüdische Familien und die Identität der Kinder auf. Hätte man jüdischen Kindern und Jugendlichen unmit- telbar nach Ende des Zweiten Weltkrieges die Wahl gelas- sen, wo sie aufwachsen wollen, so hätten wohl die wenigs- ten von ihnen Deutschland als ihr Heimatland gewählt. Mit diesem Statement beginnt Meron Mendel seine Ausführungen über die Identitätskonflikte der »zweiten Generation«, also jener Kinder und Jugendlichen, die sich – oft auch noch einen großen Teil ihres erwachse- nen Lebens – anders als ihre nichtjüdischen Altersge- nossen mit der Frage des »Wo gehöre ich hin?« ausei- nandersetzen mussten. Die Ergebnisse der bisherigen Forschungen zur Ge- schichte der Wirtschaftsuniversität Wien während der nationalsozialistischen Herrschaft stellt Johannes Koll in seinem Artikel vor und führt aus, dass die erst spät begonnene Aufarbeitung dieses Kapi- tels der ehemaligen »Hochschule für Welthandel« die Fragwürdigkeit der Opferthese deutlich werden lässt. Sabine Hödl D ie ersten Jahre eines Menschen prägen seine Iden- titätskonstruktion für sein gesamtes weiteres Le- ben. Wird die Kindheit durch traumatische Erlebnisse plötzlich unterbrochen, zeitigt das weitreichende Konse- quenzen für emotionale, soziale und gesellschaftliche Zu- gehörigkeitsgefühle. Philipp Mettauer zeigt am Beginn des vorliegenden Hefts in seinem Beitrag zu den Kind- heitserinnerungen österreichischer Emigranten einen wesentlichen Aspekt jüdischer Kindheit und Jugend ab 1900 auf: Die glückliche, »normale« Kindheit wurde jäh beendet. Von den Kindern und Jugendlichen wurde mit einem Mal ein großes Maß an Selbständigkeit und Eigenverantwortung verlangt, wie dies Christine Hartig in ihrem Beitrag ausführt. Die Betroffenen hatten mit der Trennung von den Eltern, Verlustängsten und den neuen Lebensbedingungen im Land der Emigration zu kämpfen: Und ich fühl, daß ich Kinder brauch als Gesell- schaft, sonst verpass ich einen sehr schönen Teil der Puber- tät, Mitte und Ende; ich hab genug vom Erwachsen sein, meinte Hertha Bergmann in einem Brief an ihre noch in Wien verbliebene Mutter. Trennung und Ängste, die Veränderung des Alltags und das Verschwinden der Normalität werden im Arti- kel von Anne D. Peiter thematisiert. In der Tat: Es ist notwendig, sich vor Augen zu halten, dass die Kinder, die wir auf den Fotos vor uns sehen, mit Zügen in den Tod ge- schickt wurden, vollkommen wehrlos, vollkommen sinnlos. Sie stellt im Zusammenhang mit Fotos von Kindern aus Frankreich die Frage nach einer »Veralltäglichung der Shoah«, nach dem Verschwinden der Normalität und den Versuchen, in der Abfolge des Schreckens trotzdem so etwas wie Alltag zu leben. Dann wieder hab ich ein starkes Verantwortungsgefühl in mir, das mir sagt: Du musst! Denn sobald ein Kind an alles allein denken muss, ist es kein Kind mehr! Ich hab so schreckliche Angst um die Eltern und […] alle anderen Lieben, die noch in Deutschland sind. Mit diesem Zitat von Daisy Koeb beginnt Merethe Aagaard Jensen ihre Ausführungen zu Kindertransporten österreichischer Kinder nach Skandinavien. Darin zeigt sie bisher noch kaum bekannte Aspekte der Rettung jüdischer Kinder und Jugendlicher vor der Vernichtung, thematisiert die schwierige Organisation und stellt deren unterschied- liche Lebensbedingungen dar. Victoria Kumar setzt sich in ihrem Beitrag mit der Jugend-Alijah in Österreich editorial
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editorial

und den dadurch gegebenen Fluchtmöglichkeiten aus­einan der. Die Autorin zeigt auf, dass die Existenz dieser Or ganisation zahlreichen Ju gendlichen ein kleines Maß an »Normalität«, an Geborgenheit und glücklichen Erinnerungen in Österreich und schlussendlich eine Überlebensmöglichkeit geboten hat. Gleichzeitig wird aber auch hier der Schnitt in der Biographie, der Ver­lust des vorgezeichneten Lebenswegs mehr als deutlich.

Marta Ansilewska gibt einen Überblick über das jü ­dische Bildungswesen in der Zweiten Polnischen Repu­blik (1918–1939) und zeigt das Gegenüber und Mitei­nander traditionell jüdischer, fortschrittlicher und staatlicher Bildungsvorstellungen und die damit ver­bundenen Auswirkungen auf jüdische Familien und die Identität der Kinder auf.

Hätte man jüdischen Kindern und Jugendlichen un mit ­tel bar nach Ende des Zweiten Weltkrieges die Wahl ge las­sen, wo sie aufwachsen wollen, so hätten wohl die wenigs­ten von ihnen Deutschland als ihr Heimatland gewählt. Mit diesem Statement beginnt Meron Mendel seine Ausführungen über die Identitätskonflikte der »zweiten Generation«, also jener Kinder und Jugendlichen, die sich – oft auch noch einen großen Teil ihres erwachse­nen Le bens – anders als ihre nichtjüdischen Altersge­nossen mit der Frage des »Wo gehöre ich hin?« ausei­nandersetzen mussten.

Die Ergebnisse der bisherigen Forschungen zur Ge­schichte der Wirtschaftsuniversität Wien während der nationalsozialistischen Herrschaft stellt Johannes Koll in seinem Artikel vor und führt aus, dass die erst spät begonnene Aufarbeitung dieses Kapi­tels der ehemaligen »Hochschule für Welthandel« die Fragwürdigkeit der Opferthese deutlich werden lässt.

Sabine Hödl

Die ersten Jahre eines Menschen prägen seine Iden­titätskonstruktion für sein gesamtes weiteres Le­

ben. Wird die Kindheit durch traumatische Erlebnisse plötzlich unterbrochen, zeitigt das weitreichende Konse­quen zen für emotionale, soziale und gesellschaftliche Zu­gehörigkeitsgefühle. Philipp Mettauer zeigt am Beginn des vorliegenden Hefts in seinem Beitrag zu den Kind­heitserinnerungen österreichischer Emigranten einen wesentlichen Aspekt jüdischer Kindheit und Jugend ab 1900 auf: Die glückliche, »normale« Kindheit wurde jäh beendet. Von den Kindern und Jugendlichen wurde mit einem Mal ein großes Maß an Selbständigkeit und Eigenverantwortung verlangt, wie dies Christine Hartig in ihrem Beitrag ausführt. Die Betroffenen hatten mit der Trennung von den Eltern, Verlustängsten und den neuen Lebensbedingungen im Land der Emigration zu kämpfen: Und ich fühl, daß ich Kinder brauch als Gesell­schaft, sonst verpass ich einen sehr schönen Teil der Puber­tät, Mitte und Ende; ich hab genug vom Erwachsen sein, meinte Hertha Bergmann in einem Brief an ihre noch in Wien verbliebene Mutter.

Trennung und Ängste, die Veränderung des Alltags und das Verschwinden der Normalität werden im Arti­kel von Anne D. Peiter thematisiert. In der Tat: Es ist not wen dig, sich vor Augen zu halten, dass die Kinder, die wir auf den Fotos vor uns sehen, mit Zügen in den Tod ge­schickt wurden, vollkommen wehrlos, vollkommen sinnlos. Sie stellt im Zusammenhang mit Fotos von Kindern aus Frankreich die Frage nach einer »Veralltäglichung der Shoah«, nach dem Verschwinden der Normalität und den Versuchen, in der Abfolge des Schreckens trotzdem so etwas wie Alltag zu leben.

Dann wieder hab ich ein starkes Verantwortungsgefühl in mir, das mir sagt: Du musst! Denn sobald ein Kind an alles allein denken muss, ist es kein Kind mehr! Ich hab so schreckliche Angst um die Eltern und […] alle anderen Lieben, die noch in Deutschland sind. Mit diesem Zitat von Daisy Koeb beginnt Merethe Aagaard Jensen ihre Ausfüh rungen zu Kindertransporten österreichischer Kinder nach Skandinavien. Darin zeigt sie bisher noch kaum bekannte Aspekte der Rettung jüdischer Kinder und Jugendlicher vor der Vernichtung, thematisiert die schwierige Organisation und stellt deren unterschied­liche Le bens bedingungen dar. Victoria Kumar setzt sich in ihrem Beitrag mit der Jugend­Alijah in Österreich

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G ott und Kaiser in St. Pölten: Wunderbare und be rüh­rende Ausstellung, sehr gute Gestaltung. Danke!«,

schrieb eine Besucherin in das Gästebuch des Stadt­museums. Die Ausstellung »Gott und Kaiser. 100 Jahre Ehemalige Synagoge St. Pölten« war vom 13. November 2013 bis 30. April 2014 im Stadtmuseum St. Pölten zu sehen und fand große Aufmerksamkeit und Anerken­nung. Gemeinsam mit der Künstlerin und Grafikerin Renate Stockreiter (Wien) erarbeitete ich ein Konzept, das die besondere Geschichte dieses prächti gen Got­teshauses vermitteln sollte: Eine aufstrebende jüdische Gemeinde errichtete ein sichtbares Zeichen der Hoff­nung auf dauerhafte Präsenz, eine »Zierde der Stadt«, die am Vorabend des 83. Geburtstags von Kaiser Franz Josef, am 17. August 1913 eingeweiht wurde. Nur ein Vierteljahrhundert überlebte das Gebäude in seiner ursprünglichen Funktion: Am 9./10. November 1938 schwer beschädigt, seiner Gemeinde beraubt, stand es in beklagenswertem Zustand leer, bis 1980–84 in einer gemeinsamen Bemühung von Bundesdenkmalamt, Land Niederösterreich, Stadt St. Pölten und der Israeli­tischen Kultusgemeinde (IKG) Wien eine umfassende Renovierung durchgeführt wurde. Seit dem Einzug un­seres Instituts im »Bedenkjahr« 1988 wird die Ehemalige Synagoge zunehmend als Lern­ und Gedächtnisort ge­nutzt. Zwar ist sie nun eine bloße Hülle ohne Gemeinde

und Gebet, aber sie lädt mit unterschiedlichen Angebo­ten ein, sich mit ihrer Geschichte und Gegenwart aus­einanderzusetzen.

Ausstellung ohne Objekte?

Als Kuratorinnen waren wir mit einer paradoxen Frage konfrontiert: Auf welche Weise kann eine Ausstellung Leere und Verlust präsentieren? Von den mehr als 800 Mitgliedern der IKG St. Pölten wurden 371 in der Shoah ermordet, bis auf wenige Versteckte oder durch »Mischehe« Geschützte waren alle vertrieben und nur wenige heimgekehrt. Heute leben gerade zwei jüdische Menschen in der Stadt, die Cousins Hans Kohn und Dr. Hans Morgenstern. Angesichts der Tatsache, dass kein einziges Ritualobjekt aus der Synagoge den Krieg über­lebt hat, entschloss ich mich, die Ausstellung nicht be­schönigend mit Leihgaben zu bestücken. Zeigen konn­

100 Jahre ehemalige Ausstellung, Erkenntnisse, Zukunftsperspektiven

Martha Keil

»

Öffnungszeiten der Synagoge:

Juni bis 28. September 2014 jeden Sonntag von 14–20 Uhr | Einführung jeweils um 18 Uhr! Eingang: Dr. Karl Renner­Pro menade 22 | Weitere Informationen unter: www.injoest.ac.at

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Bet und Kaf, Segen und Ehre

Um die ursprüngliche Funktion als Gotteshaus zu sym­bolisieren, wählten wir als Leitmotiv zwei Buchstaben aus dem hebräischen Alphabet, die als Abkürzung für die hebräische Bezeichnung für Synagoge, »Bet Knes­set«, Haus der Versammlung, stehen. Sie repräsentieren die heilige Sprache des Gottesdienstes, stehen aber auch für zwei bedeutende Aspekte der jüdischen Religi­on, Beracha, Segen, und Kavod, Ehre, und grundlegend für Bria, Schöpfung, und Klala, Zerstörung.

ten wir ein Fensterfragment, eine Spendenbüchse und das ursprünglich für die Synagoge angefertigte Kaiser­bild sowie die Gebets­ und Gemeindebücher, die 1938 von der SS beschlagnahmt und ab 1941 im Stadtarchiv aufbewahrt wurden. Ein großer Glücksfall ist der Nach­lass der St. Pöltner Druckerei Sommer, die für die IKG seit deren Gründung von Geburtsanzeigen bis zu Parten sämtliche Drucksorten hergestellt hatte. In dieser Armut an Objekten waren die Gegenstände, die uns Hans Mor­genstern in großzügiger Weise aus seinem Privatbesitz lieh, umso kostbarer. Sie alle hatten 1939 die Reise von St. Pölten nach Palästina und 1947 wieder zurück mit­gemacht und sind daher ungeachtet ihres materiellen Werts von großer ideeller Bedeutung. Als kostbarste Leih gabe von allen überließ er uns sein Album, in dem er seit den 1980er Jahren Fotos von vertriebenen und ermordeten jüdischen St. Pöltner/innen gesammelt hat­te, als Memorbuch seiner vernichteten Gemeinde.

Synagoge St. Pölten 1913–2013

Bild links und rechts: Impressionen der Ausstellung und Fensterbanner im Stadtmuseum St. Pölten. © Foto links: Manuel Tauber-Romieri, Foto rechts: Josef Vorlaufer Mitte: Titelsujet aus »Gott und Kaiser. 100 Jahre ehemali-ge Synagoge St. Pölten«, Katalog zur Ausstellung. Hrsg. von Martha Keil im Auftrag des Stadtmuseums St. Pölten. St. Pölten: kompakt, Band 2, St. Pölten 2013. Zu bestellen um Euro 9,90 (zzgl. Porto) bei [email protected]!

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Renate Stockreiter gestaltete mit diesen beiden Buch­staben große Fensterbanner, die in leuchtenden Farben, aufgenommen aus den ursprünglichen Synagogenfens­tern, den Inhalt des jeweiligen Raums unterstrichen. Ihr farbiges Licht gab der aufgrund des Objektemangels eher kargen Ausstellung ihre besondere emotionale und spirituelle Anmutung. Im sechsten Raum setzte sich die Künstlerin in großformatigen Bildern mit den Aspekten von Renovierung auseinander, die, wie auch die Syna­goge beweist, von Zerstörung, Verfälschung, Rettung bis Wiederherstellung reichen können. Ein kurzer Film zur Ausstellung mit einem eigens für die Synagoge kom­ponierten Musikstück von Ronald Bergmayr ist auf un­serer Website www.juden­in­st­poelten.at zu sehen.

Überraschende Erkenntnisse

Aus den bisherigen Forschungen konnten nur wenige Informationen zum religiösen Leben der Gemeinde gewonnen werden. Die Ausstellung und vor allem die Erstellung der Katalogbeiträge waren eine gute Gelegen­heit, neue Quellen zu erschließen. Die Statuten und die im Novemberpogrom schwer beschädigten Gemeinde­bücher, insbesondere die Spendenverzeichnisse und das Kassabuch, belegen, dass die IKG St. Pölten die religi­ösen Vorschriften einhielt und die Traditionen pflegte, aber auch für die Ideen der Reform aufgeschlossen war. Die Statuten verraten uns etwa, dass für Hochzeiten aus­nahmsweise ein Harmonium in die Synagoge gebracht werden durfte, obwohl eine Orgel traditionell verboten war. Das Kassabuch verzeichnet, dass »Fräulein Gelb« für das Nähen der traditionellen weißen Leichenkleider einen Lohn von 5 Kronen erhielt. Eine Spendenliste enthüllt, dass die Gemeinde mehrere Toravorhänge, darunter einen weißen Parochet für die Hohen Feiertage zwischen Neujahr und Versöhnungstag, besaß – wie er­wähnt, ist kein einziger erhalten.

Symbolischer Toravorhang – Der 9. Tag

Inspiriert durch diesen weißen Parochet ersuchte ich im April 2013 die Abteilung »Kunst im öffentlichen Raum« des Landes Niederösterreich, einen künstlerischen Wett ­bewerb zur Gestaltung eines symbolischen Toravor­hangs auszuschreiben. Als Symbol für den Vorhang vor dem Allerheiligsten im Jerusalemer Tempel (zerstört 70 n. Chr.) und oft zum Andenken an in der Shoah er­mordete Familienmitglieder gespendet, ist der Parochet auch in seiner ursprünglichen Verwendung ein Gedenk­objekt. Simon Wachsmuths Installation »Der Neunte Tag« überzeugte die Jury, in der auch der Generalsekre­tär der IKG Wien, Mag. Raimund Fastenbauer, und ich vertreten waren, einstimmig: Der Berliner Künstler benannte seinen Vorhang nach dem 9. Tag des Monats Aw (Tisch’a beAw), dem Trauer­ und Fasttag zur Zerstö­rung des Tempels, und nach dem 9. November 1938. Der dun kelblaue Stoff mit der hell schimmernden Ap­plikation wird das ganze Jahr über durch eine Windma­schine leicht bewegt. An diesen beiden Tagen wird sie jedoch abgestellt, der Wind oder auch der Geist Gottes erlischt – das hebräische Wort Ruach bedeutet beides.

Die Installation wurde am 4. Mai 2014 der Öffent­lich keit vorgestellt und trägt gemeinsam mit der Dau­er ausstellung zur zerstörten Gemeinde und der Licht­skulptur »Emet–Met« (Wahrheit–Tod) von Peter Daniel (Wien) zur Identität der Ehemaligen Synagoge als Lern­ und Gedächtnisort bei. Die Eröffnung bot einen stimmigen Anlass, über die Zukunft nachzudenken. Bei gutem Willen von Bund, Land und Stadt, wie er schon einmal vor 30 Jahren bei der Renovierung bewiesen wur de, könnte die Synagoge ein Jüdisches Museum Nie­derösterreich werden, das Forschung, Vermittlung, Aus­stellung und Gedenken in einmaliger Weise verbindet. Ein kleiner Schritt zur Realisierung dieser Vision ist ihre Öffnung an den Sonntagen der Sommermonate.

Memorbuch Juden in St. Pölten

Das Institut für jüdische Geschichte Österreichs würdigt in diesem virtuellen Gedenkbuch die im Nationalsozia­lismus vernichtete jüdische Gemeinde St. Pölten.

www.juden-in-st-poelten.at

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20202014� Forschungs Technologie Innovations–Initiative

Niederösterreich ist dynamisch, vielseitig und zukunftsorientiert. Damit dies auch in Zukunft so bleibt bedarf es klarer Strategien, denn nur dann führt ein klarer und somit erfolgreicher Weg in die Zukunft.

… die niederösterreichischen Wissen-schafterInnen und ForscherInnen

wesentlich dazu beitragen, dass die Lebensqualität der Bewohner des

Landes erhalten werden kann?

… durch Wissenschaft und Forschung das hohe Bildungsniveau in Niederösterreich

erhalten und hochwertige Arbeitsplätze gescha� en werden?

… Wissenschaft und Forschung Lösungen für Probleme der Zeit und Antworten

auf Fragen der Zukunft liefert?

All diese Erkenntnisse werden in der Erstellung einer Forschungs-, Techno-logie- und Innovationsstrategie des Landes Nieder österreich berücksichtigt. In über 30 Workshops arbeiten rund 240 Expert Innen aus Wissenschaft, Gesellschaft und Wirtschaft an dieser Zukunftsstrategie für Niederösterreich.

VISION NIEDERÖSTERREICH 2020�

Wussten Sie, dass …

Niederösterreich steht für Zukunft. Niederösterreich steht für Wissenschaft.steht für Wissenschaft.

WISSENSCHAFT AM IST AUSTRIA KLOSTERNEUBURG

„Grundlagenforschung, wie sie am IST Austria betrieben wird, sichert ebenso langfristig wie nachhaltig die Zukunfts- fähigkeit der Wirtschaft.“ Prof. Thomas Henzinger, IST Austria

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jüdische kindheit vor dem »anschluss«

Bei einem weiteren Interviewpartner, Erich Spinadel, am 6. Mai 1929 in Wien geboren, hat es zunächst den Anschein, als würde das alles verändernde Märzdatum in seiner Erzählung gar mit seinen ersten Lebensjahren verschmelzen. Auf die Frage, ob er noch Kindheitserin­nerungen an Wien habe, antwortet er: Ja natürlich. Ich bin am 6. Mai wie gesagt geboren und kurz vorher sind die Deutschen ja in Österreich einmarschiert. Kurz vor meinem neunten Geburtstag. Und als neunjähriger Bub erinnert man sich selbstverständlich an seine Schulkollegen. […]

Als Grundlage für den vorliegenden Artikel dienen Oral History­Interviews mit österreichisch­jü di­

schen Emigrantinnen und Emigranten, die vor der natio nalsozialistischen Verfolgung nach Argentinien fliehen konnten.1 In lebensgeschichtlichen Interviews gehört die Frage: »Erzählen Sie mir bitte von Ihrer Kindheit!« zum Standardrepertoire, die meist den Einstieg in die Erzählung bildet. Obwohl die überwie­gende Mehrzahl der über 80 Interviewten zwischen 1910 bis 1930 geboren wurde und die Kindheit vor dem »Anschluss« in Wien durchlebte, ist zunächst erstaunlich wenig über diesen prägenden Lebensab­schnitt zu erfahren.

Angesichts der kommenden Katastrophe scheint die Vorgeschichte entweder nicht erzählenswert oder die Erinnerungen der vertriebenen Kinder sind massiv von den traumatischen Ereignissen der Ausgrenzung, Verfolgung und Flucht überlagert. Mit der national­sozialistischen »Machtergreifung« zerbrach die bis dahin meist als heil erinnerte Kinderwelt schlagartig, die Er zählungen setzen meist bei diesem Bruch ein. Als Beispiel kann folgende Interviewsequenz mit Paul Simko dienen: Also, die Kindheit ist ohne große Probleme vorbeigegangen, also ohne dass ich,… [Pause] Wie der Umsturz kam, also der Anschluss, an den ich mich natür­lich ganz genau erinnern kann, speziell kann ich mich er­innern, wie ich aus dem Gymnasium herausgeflogen bin, herausgejagt, praktisch.

Jorge Hacker, der ebenfalls mit seinen Eltern aus der »Ostmark« flüchten musste, antwortet nach seinen Kindheitserinnerungen befragt: Ja, ich habe sie, aber sie sind durch die Ereignisse sehr benebelt. Ich glaube, ich will mich nicht richtig erinnern. [hustet] 1938 ist eigent­lich das Jahr, wo ich die meisten Erinnerungen hab’. Da war ich sieben. Den Einmarsch von Hitler in Wien haben wir am Ring erfahren.

Jüdische Kindheit vor demErinnerungen in

Philipp Mettauer

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jüdische kindheit vor dem »anschluss«

Die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen machen demnach ihr »Ende der Kindheit« sehr präzise an den Daten zwischen »Anschluss« und der endgültigen Flucht aus dem »Drit­ten Reich« fest. Der österreichisch­israelische Journalist Ari Rath sagte beispielsweise in einem Zeitungs­Inter­view: Das war meinem drei Jahre älteren Bruder und mir sofort klar, als wir am Samstag, 12. März, auf die Gasse gingen: […] da die gesamte Wiener Polizei schon Samstag früh mit Haken kreuzarmbinden ausgestattet war, war uns klar, dass unsere schöne Kindheit zu Ende ist.2

Ich erinnere mich an den Schreber garten meiner Tante natürlich, meine Volksschule, Schlitt schuh fahren, Som­meraufenthalt irgendwo. Das ist natürlich eine Mischung von Sachen, an die ich mich selber erinnere und Sachen, die mir von meinen Eltern erzählt wurden. Aber Erinne­rungen sind da.

lebensgeschichtlichen Interviews

»Anschluss«

Lisa Leist, Brief an den Osterhasen, 1. Klasse Volksschule (1935/36) © Lisa Leist de Seiden, Buenos Aires

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jüdische kindheit vor dem »anschluss«

selbst als sogenannte »Drei­Tages­Juden« und wollen damit ausdrücken, dass sie lediglich zu den zwei hohen Feiertagen von Rosch ha­Schana (Neujahr) und zum Jom Kippur (Versöhnungstag) die Synagoge besuchten.

Lisa Leist erzählt von ihrer Schulzeit: Obwohl uns meine Eltern zum Hebräisch­Unterricht geschickt haben, […] und obwohl sie scheinbar auch irgendwie doch jüdisch geheiratet haben, und mein Bruder war doch Bar­Mitzwah, waren wir unter den Wienern. Wir haben gefeiert und ich erinner’ mich nicht, jemals in einem Tempel oder einer Kir­che gewesen zu sein. Wir waren sehr stark assimiliert. Ich weiß, wir haben Ostereier gesucht. Und Osterhasen. […] Ob ich jetzt, oder vor dieser Zeit, anders oder jüdisch bin? Ich hab‘ mich nicht anders oder jüdisch gefühlt. Ich hab’ dieselben Sachen gemacht wie die anderen Kinder. Wir sind im Winter nach der Schule in der Nähe zusammen Schlitt­schuh oder Schilaufen gegangen.

Ostern wurde demnach im familiären Kreis genauso gefeiert wie Weihnachten, wenn auch im populären und nicht im religiösen Sinne. Jüdische Feiertage wur­den nicht streng eingehalten und scheinbar problemlos mit den christlichen kombiniert. Hans Harry Abelis lie­fert dafür ein besonderes Beispiel. Einerseits bezeichnet er seinen Vater als Zionisten, während dieser anderer­seits seinen Kindern, unter dem Eindruck der katholi­schen Schulkollegen, auch das Weihnachtsfest bieten wollte.

Aber was erfahren wir von dieser unbeschwerten Kind­heit vor ihrem Ende in den lebensgeschichtlichen In­terviews? Neben sehr schwachen Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg – da vor allem an die Fronturlaube der Väter in ihren Uniformen, die großen Eindruck auf die Kinder gemacht zu haben scheinen – sowie die folgende Lebensmittelknappheit sind es hauptsächlich sportliche und Freizeitaktivitäten, von denen erzählt wird, mit den Sehnsuchtsorten Wiener Wald und (Alte) Donau, Sommerfrischen im Salzkammergut oder Schifahren am Semmering. Zu diesem Zweck waren die Kinder in zahlreichen Vereinen organisiert, wie beispielsweise bei den überkonfessionellen Pfadfindern, den Roten Falken oder dem zionistischen Betar. Die politische und welt­anschauliche Sozialisation funktionierte parallel zur Freizeitgestaltung wie von selbst. Neben dem familiären Umfeld prägen vor allem Berichte von der Schulsitua­tion die Erzählungen über die Kindheit. Hier tritt das antagonistische Spannungsfeld zwischen Assimilation und Antisemitismus klar zu Tage.

Religiöses

Die jüdische Religion spielte im alltäglichen Leben die­ser Kinder eine sekundäre Rolle, sie kamen meist nicht im Elternhaus, sondern erst im Schulunterricht mit ihr in Kontakt. Die Interviewten bezeichnen sich daher oft

Lisa Leist (2. von rechts) im Kindergarten © Lisa Leist de Seiden, Buenos Aires

Lisa Leist mit ihrem Vater Friedrich 1932 im Schafbergbad © Lisa Leist de Seiden, Buenos Aires

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Aber es sollte doch jüdisch sein, also hat er sich in der Tischlerei eine Menora, den Armleuchter, machen lassen und an den wurden dann Tannenzweige gebunden, Christ­baumschmuck gehängt und unter dem bekamen wir dann unsere Geschenke. Das war ungefähr das Niveau meiner Beziehung zum Religiösen oder zum Judentum überhaupt.

»Kleine Bosheiten« – Antisemitismus vor 1938

Jüdische Schülerinnen und Schüler hatten trotz dieses religiösen Amalgams schon lange vor dem »Anschluss« antisemitische Schmähungen ihrer »arischen« bezie­hungsweise katholischen Kolleginnen und Kollegen über sich ergehen lassen müssen. Der Zeitraum der Dis kriminierungen konnte sich dabei generations über­greifend erstrecken, wie Hans Georg Sagel über die Schulzeit seines Vaters berichtet:

Nicht alle Österreicher und nicht alle Deutsche waren Antisemiten, das ist ja klar. Aber sie sollen bitte nicht die Unschuldigen spielen. Mein Vater, der 1904 geboren wurde, als er in die Schule in Innsbruck gegangen ist, hat er schon seinerzeit in der Judenbank sitzen müssen. Alleine in der Klasse, als letzter in einer Ecke. Das wurde die Judenbank genannt. Also so neu ist der Antisemitismus in Österreich nicht.

Lisa Leist mit ihrem Krämerladen auf dem Balkon des Elternhauses in der Eckpergasse, 18. Wiener Ge-meindebezirk © Lisa Leist de Seiden, Buenos Aires

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und die Klasse wurde in drei Teile geteilt. Die Katholiken, die Protestanten und die Mosaischen. Und seit dem Tag waren wir nicht mehr eine Gruppe von Freunden in der Schule, sondern drei feindliche Gruppen. Ich weiß gar nicht, ob auch Protestanten waren, i glaub’, es worn gor keine, waren nur Juden und Katholiken. Irgendwie, es waren zwei Feindeslager, die einen haben den anderen das Haxl gestellt, die einen haben gesagt: »Ihr habts den Jesus umgebracht!« Es war nicht mehr dasselbe.

Das christlich­soziale Regime setzte antisemitische Ressentiments gezielt als politische Waffe ein, die tra­ditionelle kirchliche Judenfeindschaft hielt im katho­lisch geprägten Land verstärkt Eingang in die Politik.3 Schrittweise wurde das zwischenmenschliche Klima rauer, wo bei nicht nur über religiöse Fragen gestritten wurde. Hans Abelis, Mitglied im jüdischen Sportver­ein, erzählt von seinem Turnunterricht in den frühen 1930er Jahren folgendes:

Das austrofaschistische System machte die laizisti­sche Reformpädagogik der Zwischenkriegszeit sowie die Wie ner Schulreform unter Otto Glöckel wieder rückgängig. Der christlich­soziale Unterrichtsminister Rintelen führte 1933 den verpflichtenden Religions­unterricht wie der ein, Schule und Erziehung sollten fortan einem sittlich­religiösen, vaterländisch­österrei­chischen, volks treuen Charakter folgen. Konfessionell gemischte Schulklassen wurden für den Religionsunter­richt getrennt, wobei in der Folge die jüdischen Kinder den ka tholischen Antisemitismus ihrer Mitschüler zu spüren bekamen, wie Paul Simko im Interview an­schaulich berichtet:

Ich bin ab ’33 in die Schule gegangen, das muss un­gefähr in der dritten Volksschulklasse gewesen sein. Die ersten drei Jahre waren wir alle Buben zusammen, waren in derselben Gruppe und so weiter. Irgendeinem Trottel ist eingefallen, dass wir Religionsunterricht haben müssen,

Pass von Hans Harry Abelis 1939. Fotos und Dokumente nach dem »Anschluss« bis zur erfolgten Emigration stammen aus Täterhand oder wurden für diese angefer-tigt. © Hans Harry Abelis, Buenos Aires/Philipp Mettauer

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Nein, nein, nein. Erst dann wie der Hitler gekommen ist, dann schon. Da wurden wir dann systematisch ver prügelt auf der Straße, ausgeraubt, ausg’sackelt, wie das so schön hieß damals.

Kinderfotos aus Familienalben

Mit den Fotos aus den Familienalben verhält es sich ge radezu indirekt proportional zu den nur punktuell le bens geschichtlichen Erinnerungen der Kindheit vor 1938 in den Interviews. Die in die Emigration mit ge ­nom menen Fotoalben hatten für die Vertriebenen eine be son dere Bedeutung. Sie hielten einerseits eine illustrier te Verbindung zu einer verlorenen Welt auf­recht, in der sie aufgewachsen und aus der sie vertrie­ben worden waren. Andererseits wirkten sie durch ihre visuelle Gedächtnisstütze an das frühere Leben, an Orte und Aktivitäten, der erzwungenen Entfremdung entge­

Geturnt hab’ ich im Maccabi und in der Volksschule hat­te ich einen Lehrer, der war ein Nazi und mit dem hat mich eine gewisse Hass­Liebe verbunden. Der hat auf der einen Seite sehr geschätzt, dass ich ein sehr guter und ein ziemlich disziplinierter Schüler war, aber andererseits, na­türlich, a Saujud is a Saujud, da beisst ka Ratz an Faden ab. Und zwar hat er mir in der Turnstunde, nachdem er gewusst hat, dass ich im Maccabi turne, z. B. beim Bock­springen immer ein Bein gestellt, dass ich gepurzelt bin. Aber nachdem ich ein guter Turner war, und bei allem mehr oder minder meinen Mann gestellt hab, ist es über diese kleinen Bosheiten nicht hinausgegangen. Und sonst hatte ich meine Spezis, meine Schulfreunde, die sich daraus ergeben haben, dass wir den gleichen Schulweg hatten. Mit denen gab’s keine Schwierigkeiten, außer den berühmten Raufereien unter Lausbuben.

[Frage des Interviewers:] Ist es bei diesen Raufereien auch mal so Juden gegen Nicht­Juden gegangen?

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jüdische kindheit vor dem »anschluss«

Visa und andere Emigrationspapiere. Studioaufnahmen wurden zu teuer, Fotoapparate konfisziert und der Zu­gang zu Filmmaterial und Entwicklungsmöglichkeiten für Jüdinnen und Juden eingeschränkt.

Als Beispiel mag wiederum die Familie Abelis dienen, mit den Kindern Hans, 1928 geboren, und seiner Schwe­ster Eva, Jahrgang 1925, die in Oed bei Linz auf wuchsen, wo der Vater eine Textilfabrik besaß. Die frühe Kindheit wird von dem Geschwisterpaar als äußerst harmonisch beschrieben, mit größten Freiheiten in Wäldern, Wiesen und Auen.

Schon die Übersiedlung nach Wien 1933, wo sich die Bürozentrale des väterlichen Unternehmens befand, stellte eine erste Zäsur des glücklich erinnerten Land­lebens dar, der im Vergleich zum Bruch von 1938 aber vollkommen überschattet wird. Der Kontrast wird im In­terview mit Hans Abelis drastisch verdeutlicht:

Na ja, mein Vater hatte den Betrieb, er war sozusagen Unternehmer, und eines Tages hat ihm der Buchhalter die Schlüssel abverlangt. Und dann hatte er eben nichts. Und nachdem er auch keine Mittel hatte, […] war das eine Situa­

gen. Sie belegten einen Abschnitt der Familiengeschichte und waren Dokumente, die nicht nur in der Gegenwart, sondern auch in der Zukunft betrachtet werden sollten. Sie waren nicht nur für die damalige, sondern auch für alle noch kommenden Generationen bestimmt.4

Die zahlreichen Kinderfotos aus den privaten Alben stammen aus der Zeit vor dem »Anschluss«. Danach fin­det sich – zumindest in den Beispielen, die nach Argen­tinien gerettet werden konnten und die mir zugänglich waren – bis zur gelungenen Flucht kein fotografischer Niederschlag. Das mag mit wichtigeren Prioritäten, die sich in den Vordergrund schoben, zusammenhängen. Fotos von Kindern, die nach dem März 1938 gemacht wurden, dienten behördlichen Zwecken, für Reisepässe,

Die Kindheit wurde verpackt und in Kisten und Koffern mit auf die Reise genommen: Umzugsgutsverzeich-nisse von Stella Leist mit dem Kauf mannsladen ihrer Tochter Lisa und diversem Spielzeug sowie von Mar-garethe Lenk mit zwei Märchenbüchern und Puppen ihrer Tochter Johanna © Lisa Leist de Seiden / Juana Lenk, Buenos Aires

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jüdische kindheit vor dem »anschluss«

mir die Punschkrapfen, weil die gibt’s hier nicht. Auf den Wienreisen, die meist als eine Art Zeitreise in die »Alte Welt« wahrgenommen werden, leben die traumatischen Erinnerungen der Verfolgung und Ver­treibung wieder auf, insbesondere, wenn die Besucher das Gefühl beschleicht, dass sich im Stadtbild und bei den Bewohnerinnen und Bewohnern nicht viel geän­dert hat, wie Robert Wang weiter berichtet:

1970 so ungefähr, hab’ ich die Orte meiner Jugend, mei ner Kindheit, in Wien besucht. Und zu meinem Ent­setzen hab’ ich gemerkt, dass alles beim Alten geblieben ist! Das hat mich sehr beeindruckt. Die Straßen, die Stra­ßenbahnen, die Geschäfte, die Haustüren, alles war so, wie ich in Erinnerungen gehabt hatte. Das ist man hier nicht gewohnt! Hier wird alles abgerissen, neu aufgebaut, neu gestaltet.

Eine Reise nach Wien ist für die österreichischen Emi grantinnen und Emigranten eine Rückkehr in eine alte, bekannte Stadt, in der sie sich auf Anhieb und ohne Mühe sofort zurecht finden, wobei es erstaunlich ist, wie sehr sich der Wiener Stadtplan in ihr Gedächt­nis gebrannt hat. Selbst diejenigen, die lediglich ihre

tion, wo wir in einer Wohnung mit Perserteppichen saßen, ohne was zu fressen zu haben.

Durch die Enteignungen, antijüdische Sondersteu­ern und die Kosten für die geplante Ausreise schlitterte die Familie in bittere Armut:

Ich kann mich zum Beispiel erinnern, wie ich als Kind in einem eiskalten Winter in der Schlange gestanden bin mit einem Aluminiumhäferl in der Hand, meine Schwester und ich je mit einem Häferl, damit wir bei der Ausspeise etwas warme Suppe bekommen, weil meine Eltern haben sich nicht auf die Straße getraut. Und dann wurde es noch schlimmer.

Die Kindheit war damit schnell beendet, die Verfol­gungssituation konnte zu einem generationalen Rollen­tausch führen: die Kinder kümmerten sich um ihre als hilflos erlebten Eltern. Edith Wang de Neustadt drückte das im Interview folgendermaßen aus: Ja, mit dem Gan­zen war man schneller größer, nicht wahr, weil es war kei­ne Zeit, um kindisch zu sein.

Eine Reise nach Österreich. Eine Reise in die Kindheit

Nur wenige Emigrantinnen und Emigranten in Argen­tinien entschlossen sich nach 1945 zu einer permanen­ten Rückkehr nach Österreich. Dennoch sind bis auf wenige Ausnahmen fast alle, manche auch mehrmals und regel mäßig, in ihre »ehemalige Heimat« gereist. Bei die sen Besuchen drängten sich lang vergessene bzw. verdrängte Kindheitserinnerungen wieder ins Bewusst­sein. Robert Wang erzählte von seiner Sommerfrische in den Alpen:

Das letzte Mal in Österreich, vor zwei Jahren, bin ich nach Salzburg gefahren. Auch nach Altaussee, wo wir als Kind immer hingefahren sind, um die Kindheitserinnerun­gen wieder aufzufrischen. Da sind wir auf die Berge gestie­gen, haben gebadet, sind spazieren gegangen, da hab’ ich mich ziemlich gut erinnert, es war so wie früher. Die Leute sind auch so wie früher. Das ist das Schlimme. Die sind im Prinzip noch wie damals und die haben sich gewun­dert, was ich dort mach’. […] Es ist immer ein Keim gegen Ausländer, oder die, die nicht so sind wie sie. Angeblich sind sie gemütlich, aber man merkt, dass sie im Inneren denken:»Der gehört nicht zu uns!« Das ist die Sache. Und Weanarisch versteh’ ich noch immer nicht. Die haben mich rausgeschmissen, so ist die Sache und so ist es ge­blieben. Ja, ist schön Österreich, ist gemütlich und so ist es geblieben. Ich geh’ gern dort spazieren, auf der Mariahilfer Straße, auf der Kärntner Straße, ich ess’ gern die Mehlspei­sen, geh’ immer in die Konditorei in der Wollzeile und kauf

SAMSTAGZEITGESCHICHTE

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jüdische kindheit vor dem »anschluss«

Tür 35, Telefon: R41109B.« Und das ist mir mein ganzes Leben geblieben und deswegen weiß ich meine Telefon­nummer in­ und auswendig.

Diese szenische Schilderung stammt aus der Kind­heit vor dem »Anschluss«, als ein jüdischer Bub noch vertrauensvoll zu einem Wachmann gehen und um Hil fe fragen konnte, wie man am Sichersten nach Hau se gelangt. Möglicherweise handelt es sich aber auch um eine Deckerinnerung aus der NS­Zeit: Wer sich bei einer Kontrolle nicht ausweisen konnte – oder wie im Falle des minderjährigen Paul, selbst noch kei­ne Kennkarte besaß – musste wenigstens überzeugend seine Adresse nennen können, um nicht in Gefahr zu laufen, verhaftet zu werden.

Die ersten Jahre eines Menschen prägen seine Iden­titätskonstruktion für sein gesamtes weiteres Leben. Wird die Kindheit durch traumatische Erlebnisse plötz lich un terbrochen, zeitigt das weitreichende Kon sequenzen für emotionale, soziale und gesell­schaftliche Zugehörig keitsgefühle. Hans Hacker, 1925 in Wien geboren, drückt das im Interview folgender­maßen aus:

Was ist Heimat? Heimat ist etwas, wo man die Kind­heit verbracht hat, womöglich glücklich und zufrieden war und ein friedliches Leben geführt hat. Wenn man sich dann daran erinnert, sind solche Erlebnisse schwer mit dem Wort Heimat zu verbinden. Denn was ist Hei­mat? Dort wo man verbunden ist, deren Sprache man spricht, wo man sich wohl fühlt, wo man Perspektiven für’s Leben sieht. Ich meine, das ist ein ganzer Bruch, der vorgeht, der natürlich unvergesslich ist. Ganz besonders, wenn man dann weg is’. Ich mein’, die die weg konnten, zählten ja noch zu den Glücklichen, denn die dort geblie­ben sind,...

Manche Interviewpartner bezeichnen die Ankunft in der »Neuen Welt« als eine Art Wiedergeburt, in der, wenn die Umstände günstig waren, eine »zweite Kind­heit« weitergelebt werden konnte. Die ursprüngliche Entwurzelung aber blieb bestehen und überschattet jegli che Erinnerungen an eine glückliche Kindheit.

Anmerkungen

1 Philipp Mettauer, Erzwungene Emigration nach Argentinien. Öster reichisch-jüdische Lebensgeschichten. Münster 2010.

2 Oberösterreichische Nachrichten, 7. März 2013.3 Herbert Dachs, »Austrofaschismus« und Schule. Ein Instrumenta li-

sie rungsversuch. In: Emmerich Tálos, Wolfgang Neugebauer (Hrsg.), Austrofaschismus. Politik– Ökonomie – Kultur. 1933–1938. Wien 2005, S. 282–298.

4 Leo Spitzer, Hotel Bolivia. Auf den Spuren der Erinnerung an eine Zuflucht vor dem Nationalsozialismus. Wien 2003, S. 31f.

frühe Kindheit in dieser Stadt verbracht haben, erin­nern sich noch genau an ihre alte Wohnadresse, den Namen ihrer Schule oder an die Straßenbahnlinien, die sie für die tägliche Fahrt dorthin benützten. Paul Simko, 1927 geboren, beschreibt, 65 Jahre nach seiner Emigration, sein Umfeld äußerst detailliert:

Wir haben in der Leopoldstadt gewohnt, im Zweiten Bezirk, und wir haben eine Wohnung gehabt, Große Stadt­gutgasse 7, dritter Stock, Tür 35, Telefon: R41109B. Wa­rum ich das so genau weiß? Das ist ganz einfach: Meine Mutter hat Angst gehabt, dass ich verlo ren geh’, und hat mir einge paukt, dass, wenn ich mal verloren geh’, auto­matisch zum ersten Wachmann geh’ und ihm sag’: »Pau li Simko, Wien Zwei, Große Stadtgutgasse 7, dritter Stock,

Jüdische Weihnachten der Familie Abelis, ca. 1936/37: Bezeichnenderweise – oder ist es Zufall? – bekamen die Kinder neben vielen anderen Geschenken einen Koffer und »Die Fahrt ins Blaue«, ein »Gesellschaftsspiel für Groß und Klein«. © Eva Abelis de Hacker, Wien

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Fotos: LPD, Rauchdobler, Winkler

Kultureinrichtungen_2013_11092013_Layout 1 13.09.2013 07:20 Seite 1

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veränderte erwartungen an kinder

Autonomie und Selbständigkeit

Im Deutschen Reich, in Österreich, aber auch in Böh­men hatten sich nach dem Ersten Weltkrieg gerade im Judentum viele Eltern für die Ideen der Reformpäda­go gik und der Individualpsychologie begeistert. Beide An sätze zielten auf gesellschaftliche Veränderungen. So wurde der in der Arbeiterklasse herrschende Zwang zur frühen ökonomischen Selbständigkeit von Kindern oder ihre für die Familienökonomie notwendige Hilfe im Haushalt beklagt. Weiterhin sollten die Abhängigkeit von Wohltaten und erzwungene Dankbarkeit vermie­den werden. Die Anleitung zur Selbständigkeit war das große und neuartige Ziel der Erziehungskonzepte der Weimarer Republik, die nun nicht mehr in dem Korsett bürgerlicher Sekundärtugenden eingeschnürt bleiben sollten. Diese Erziehungsideale galten auch für das Ehe­paar Emil und Grete Cohn aus Berlin (*1881 bzw. *1892) mit ihren beiden Töchtern Mirjam (*1920) und Hanna (*1914) sowie den Sohn Bernhard (*1923), das Ehepaar Robert und Martha Bergmann aus Wien (*1894 bzw. *1896) und ihre Tochter Hertha (*1923) sowie für Hugo und Thea Theiner aus Prag (*1889 bzw. *1897) und ihre beiden Töchter Ruth (*1923) und Esther (*1929).

»…darum sorge selbst dafür« – Neue Erwartungen

Die ab 1933 sinkenden beruflichen Möglichkeiten für jü dische Frauen und Männer hatten auch Auswir kun­gen auf die Ausbildungsmöglichkeiten der jüdischen Ju gend. Bereits zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft wurden Mädchen unabhängig von ihrer

Bereits zu Beginn der nationalsozialistischen Herr­schaft veränderten staatliche Verfolgung und anti­

semitische Aktionen der »Volksgemeinschaft« familiäre Dynamiken. Die Briefe der Familien Cohn aus Berlin, Bergmann aus Wien und Theiner aus Prag geben darü­ber Auskunft wie diese Familien versuchten, dennoch ihr Leben zu bewältigen. Dazu gehörte bereits früh die zunächst als vorübergehend gedachte Trennung von den Kindern und Bemühungen der Eltern um deren Verselbständigung. Den Familien in Berlin, Wien und Prag blieb unterschiedlich viel Zeit zum Handeln. An­fangs waren im »Dritten Reich« für kurze Zeit Flucht­möglichkeiten in die Nachbarländer gegeben, wenn­gleich die geringen Arbeitsmöglichkeiten viele Juden dazu bewegten, nach Deutschland zurückzukehren. In den folgenden Jahren schlossen immer mehr Länder ihre Grenzen. Die jüdische Bevölkerung in Österreich geriet im März 1938 mit dem »Anschluss« ebenso unter nationalsozialistische Herrschaft wie die Juden in Prag nach dem deutschen Einmarsch im Folgejahr. Für diese Menschen waren die Auswanderungsmöglichkeiten ungleich schwieriger. Der Kriegsbeginn im September 1939 und die reichsweiten Deportationen ab Oktober 1941 reduzierten die Rettungsversuche der Familie Berg­mann aus Wien und Theiner aus Prag daher auf einen Zeitraum von wenigen Monaten. Diese je nach Wohn­ort zeitlich versetzte und sich zuspitzende Begren zung von Entscheidungsmöglichkeiten verstärkte auch die erzwungene Aufgabe bisheriger Erziehungsvorstellun­gen und ­ideale. Beispielhaft kann dieser Prozess durch eine Annährung an das zeitgenössische Verständnis der Begriffe »Selbständigkeit« und »Anpassung« nachvoll­zogen werden.

Darum sorge selbst dafür, gesund zu bleiben und energisch mit Dir selbst zu sein«.

»

Christine Hartig

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veränderte erwartungen an kinder

An Esther und Ruth Theiner wurden ebenfalls neue Auf gaben herangetragen. Sie konnten mit knapp zehn und fünfzehn Jahren durch einen sogenannten Kinder­transport zusammen mit ca. 10.000 Kindern aus dem nationalsozialistischen Herrschaftsgebiet nach Großbri­tannien fliehen und wurden dort in einer Pflegefamilie untergebracht. In den Briefen der Eltern fand sich das

Herkunft dazu aufgerufen, hauswirtschaftliche Tätig­keiten zu erlernen. Auch Emil Cohn lobte 1939 zum wiederhol ten Mal die Haushaltskenntnisse seiner jün­geren Tochter Mirjam. Die nunmehr Neunzehnjährige half zu diesem Zeitpunkt im Haushalt ihrer nach Eng­land emigrierten Verwandten, während die Eltern na­hezu ohne Einkommen im Amsterdamer Exil lebten:

Ich freue mich sehr, dass Du so tapfer mithilfst über die se Spanne Zeit uns hinwegzubringen. Sogar Fenster putzt Du? Recht so, Kind, eine gute Vorbereitung für Ame­rica und Du lebst es schon dort bevor Du es hier erlebst. Ich muss Dich loben und bin richtig stolz, eine Tochter zu haben, die so die Zeit versteht.1

Veränderte Erwartungen an Kinder angesichts der nationalsozialistischen Verfolgung

Ruth Bratu (1924–2000), geborene Theiner, mit ihrem Mann Artur E. Bratu bei einem Empfang der Stadt Darmstadt am 31.3. 1990, gemeinsam mit ihrem Enkel. © Darmstädter Echo, Foto: Günther Jockel

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veränderte erwartungen an kinder

licht und frische Luft, durch planmäßige Übung aller Or gane zu gesunden und leistungsfähigen Menschen zu entwickeln.3

Nach der Emigration ihrer Töchter verknüpfte Thea Theiner die Mahnungen zur Selbstdisziplinierung mit der Forderung des Verzichts. Verzichten lernen so Thea Theiner in dem oben zitierten Brief weiter, ist sehr wich tig, wenn auch manchmal schwer, was glaubt ihr, auf was wir alle hier verzichten müssen und lassen uns doch nicht runterkriegen, bleiben glücklich und zufrieden dabei – auch in dem Bewusstsein, dass es Euch gut geht! 4

»Man wächst, wenn man’s nicht ändern kann«

Die Antworten der Kinder auf die veränderten An for­de rungen zeigen ein facettenreiches Bild. Exemplarisch kann Hertha Bergmanns Schilderung eines verfrühten und schmerzhaften Prozesses des Erwachsenwerdens gelten. Sie benennt darin die Diskrepanz zwischen den Bedürfnissen der Kinder und den an sie gerichteten An forderungen. Der Vater war 1938 nach dem Novem­berpogrom aus Wien in die Schweiz geflüchtet und un terlag dort einem Beschäftigungsverbot. Die Fünf­zehnjährige, die von ihren Eltern zunächst auf einem

Lob über selbstgeputzte Schuhe, Ordentlichkeit und Wäschewaschen. Solche Arbeiten hatten diese Kinder aufgrund der Beschäftigung von Hauspersonal bisher nur in Ausnahmefällen übernommen. Gerahmt waren die elterlichen Fragen von Mahnungen zur Selbstdiszi­pli nierung wie dem Wunsch an die jüngere Tochter Esther:

[…] sehr gern’ (zu) hören […], dass Du richtig trocken bist, auch wenn Du von selbst wach wirst und von alleine aufstehst, anstatt Dich wecken zu lassen (…). Du bist ja ein vernünftiges, grosses Mädel und kein Baby, das nicht weiss, dass es nicht gut ist für die Gesundheit eines Men­schen, wenn er aus festem Schlaf aufgeweckt wird. Darum sorge selbst dafür, gesund zu bleiben und energisch mit Dir selbst zu sein. Du weisst ja, dass Du dann selbst viel fro her und zufriedener bist. 2

Diese Appelle knüpfen an Erziehungsideale der tsche choslowakischen Kinderfreunde, der Elternorga­nisation der »Falken« an, in denen sich die Familie Theiner engagiert hatte:

Im Gegensatz zur bürgerlichen Fürsorge, die gewöhn­lich erst dann notdürftige Hilfe bringt, wenn das Übel unleidlich geworden ist, ist es das Ziel unserer Fürsorge­arbeit, die uns anvertrauten Kinder vor Schädigungen zu bewahren, sie durch gesunde Lebensweise, durch Sonnen­

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veränderte erwartungen an kinder

englischen Internat in Maryport angemeldet worden war, antwortete ihnen auf den Wunsch, sich selbst um die Finanzierung ihrer Schulausbildung zu kümmern: Verstehen tu ich Dich vollkommen, sei beruhigt. Na ja, man wächst, wenn man’s nicht ändern kann.5 Zugleich vermisste Hertha Bergmann die auch seitens der Ju­gendbewegung in ihrer Bedeutung hervorgehobene Gemeinschaft mit anderen Kindern:

In Maryport bin ich wieder nur – zwar mit sehr jun­gen und ausgesprochen idealen aber doch Erwachsenen zusammen. Und ich fühl, daß ich Kinder brauch als Ge­sellschaft, sonst verpass ich einen sehr schönen Teil der Pubertät, Mitte und Ende; ich hab genug vom Erwachsen sein.6

Die Diskrepanz von übertragenen Aufgaben und Le­bensalter wurde zeitgenössisch auch von Mirjam Cohn empfunden, die ihrem Vater nach dessen Flucht nach Amsterdam gefolgt war. Ex post erinnert sie sich im Vergleich zur Situation im nationalsozialistischen Ber­

Fotos aus der Bergmann Family Collection im Leo Baeck Institute, New York. Da die Fotos nicht beschriftet sind, kann man nur annehmen, dass es sich bei der jungen Frau (linke Seite, rechtes Bild) um Hertha Bergmann handelt. Oben möglicherweise: Herthas Eltern Martha und Robert © Leo Baeck Institute, New York (LBI): AR 6386, Bergmann Family Collection 7/9

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veränderte erwartungen an kinder

Kopfsprung und Tauchen auch weiter kommt als mit Brust­schwimmen ohne Startsprung.8

Die Eltern betonten gerade bei jüngeren Kindern die trotz der Trennung und Emigration existierenden äußerlichen Kontinuitäten wie beispielsweise den Schulbesuch. Die oft bürgerlichen Flüchtlingskinder teilten mit der Übernahme neuer Aufgaben und dem Wunsch nach früher finanzieller Selbständigkeit aber viel stärker die biographischen Erwartungen an Arbei­terkinder. Die nach der Emigration unterschiedlichen Erfahrungswelten der Kinder und Eltern zeigten sich in den immer stärker auseinanderfallenden gegenseitigen Erwartungen.

Das Drängen der Eltern auf Verselbständigung ziel­te nicht allein auf finanzielle Unabhängigkeit und Ent scheidungsfähigkeit der Kinder, sondern, mit dem Wunsch nach »positiven Berichten«, auch auf ein Be­herrschen der Gefühle. Die Eltern bezeichneten in ihren Briefen den Schmerz der Kinder über die Trennung als »Heimweh« und damit als »normale« kindliche Reak­tion auf die Abwesenheit der Eltern. Diese Zuschreibung wurde von den Kindern zurückgewiesen und auf die An gemessenheit ihrer Gefühle angesichts der Trennung insistiert. Beispielhaft ist die Antwort Hertha Berg­manns, die kurz nach ihrer Ankunft in London an die Eltern schrieb, Heimweh nur abends im Bett, da aber sehr arg,9 gehabt zu haben. Zwei Tage später korrigierte sie diese Zuschreibung:

lin an die positiven Aspekte des gemeinsamen Lebens mit dem Vater in Amsterdam:

Mein Vater und ich hatten eine Wohnung und ich hab Haushalt gemacht. Also für mich war ich er wachsen. Ich war erst 17, aber das hieß gar nichts. Ich hatte mein eige­nes Haus, ich hatte mein eigenes Geld um den Haushalt zu führen. Was noch was war: Mein Vater war öfters ein­geladen. Da er keine Frau dabei hatte, wurde ich eingela­den. Aber die Kinder meines Alters, die in der Fa milie da waren, waren wahrscheinlich nicht erlaubt rein zu kom­men. Das war einfach das... […] Das war für mich eine wunderbare Zeit.7

Im Fall der alleinigen Emigration der Kinder wur­den hingegen deren Verlusterfahrungen angesichts der ge ringen elterlichen Handlungsmöglichkeiten kaum the matisiert, so dass die Kinder auf die Hilfe und Un­terstützung anderer angewiesen waren. Martha Berg­mann, die schließlich ebenfalls aus Wien fliehen konn­te, in ter pretierte rückblickend die aus Sicht der Tochter un freiwillige Trennung als Prozess des Reifens und Er wachsenwerdens, der ihr auch als Vorteil gegenüber be hü teter aufgewachsenen Kindern dienen könne:

Je weniger man in ihrem Alter an den Haaren vom Welt geschehen emporgerissen wurde, desto weniger ist man gewachsen. Du kannst dies an Deinem eigenen Still­stand in der Maryporter Zeit sehen. Vorher die Monate haben einen fürs Alter ungeheuren Sprung an Reifeniveau gezeigt und jetzt kommst Du ja auch drauf, dass man mit

Die Eltern von Ruth und Esther Theiner wurden 1943 im KZ Au schwitz ermordet. Digitalisiert vom Terezín Al bum Project © National Archives in Prague: Fond Policejní reditelství, mani-pu lacní období 1941–1950, signa tura T 505/2 (Hugo Theiner)

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veränderte erwartungen an kinder

dass der Begriff der Anpassung als positives Ergebnis einer erfolgreichen Emigration in der deutschen For­schung lange nicht hinterfragt wurde.

Viele Eltern insistierten nach dem Beginn der natio­nalsozialistischen Verfolgung stärker als zuvor auf die Anpassungsfähigkeit ihrer Kinder und wiesen sie darauf hin, dass sie mehr und Schöneres14 zu berichten haben als die Eltern. Erneut blieb damit aus Sicht der Kinder ihr schmerzhaftes Erleben der Trennung unberücksich­tigt. Die Eltern hofften hingegen darauf, dass die Kin­der, »die Zeit begriffen« und ihre sozialen, kulturellen und ökonomischen Ansprüche reduzierten. Diese An­forderungen waren für die Kinder mitunter mit hohem Leid verbunden.

Die Psychologen Dan Bar­On und Julia Chaitin, die beide intensiv zum Holocaust geforscht haben, zeigen, wie der Zwang zum Wohlverhalten bei einem Mädchen das Gefühl ausgelöst hatte, that she never had the op­por tunity to be a »normal child« since she always had to be on best behavior in order to avoid being turned out by the families who were keeping her.15 Sich von der besten

Ich habe kein Heimweh, oder wenn, nur ein bissl. […] Mam hat mir gesagt, daß ich eine große Erleichterung spüren werde, es ist aber nicht wahr; im Gegenteil, ich bin traurig und verzweifelt wie noch nie. Ich habe Angst­träume, hörs Mami weinen und seh Vati am Boden liegen wie in dieser schönen Nacht und heul in der Nacht Stun­den.10

Einen Monat später rang Hertha Bergmann erneut um ihre Sichtweise: Heimweh, nein nicht Heimweh, Sehn sucht nach Euch hab ich jetzt entsetzlich. Ich fürchte, die Trennung ist eine große Dummheit. […] Wie komm ich dazu, allein in der großen fremden Welt herumzu­laufen?11 Die Bemühungen der Eltern, ihren Kindern durch Briefe Trost zu spenden und den Zusammenhalt der Fa milie aufrecht zu erhalten, konnten die Ängste und Sorgen der Kinder nur zu einem Teil beruhigen.

»To behave himself in every milieu«

Im Vergleich zu dem Begriff der Selbständigkeit in den reformpädagogischen Bewertungen des frühen 20. Jahr hunderts wurde die Erwünschtheit kindlicher An passungsfähigkeit unterschiedlich bewertet. Die Mon tessoripädagogik zielte beispielsweise, so der Päda­goge Franz­Michael Konrad, auf Selbstkontrolle, die In­terventionen der Erzieher so weit wie möglich un nötig machen sollte. Selbständigkeit und Anpassung an ein Umfeld, das, beispielsweise mit der Verwendung von leicht zerbrechlichem Geschirr, der Welt der Erwach­senen nachempfunden war, gingen so eine enge Ver­bindung ein. Nelly Wolffheim, die den ersten psycho­analytisch orientierten Kindergarten in Deutschland gegründet hatte, betonte hingegen, dass ein »braves« Kind zwar den Wünschen ungeschulter Erzieher ent­gegenkäme, die »Bravheit« aber eine ungesunde und für die spätere Charakterentwicklung des Menschen wenig günstige Erschei nung ist.12 Sie sei, so Wolffheim weiter, nur durch Furcht vor oder Liebe zu dem Erzieher zu erreichen und bedinge daher die Unterdrückung kind­licher Triebe und Wünsche.

Nach der Emigration lastete ein enormer Anpas­sungsdruck auf den Kindern to behave […] in every milieu.13 Die nun hervorgehobene vermeintlich bessere Anpassungsfähigkeit von Kindern legitimierte erst ihre Trennung von den Eltern. Nur langsam setzte sich mit der in den 1990er Jahren beginnenden wissenschaftli­chen Untersuchung der Kindertransporte die Erkennt­nis durch, dass ein solches Verständnis nicht die Le­benswirklichkeit der Kinder und Jugendlichen traf. Diese späte Revision ist auch darauf zurückzuführen,

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veränderte erwartungen an kinder

Sie reagierte mit Bettnässen, Wutanfällen und Lügen. Schon in Prag hatte sie ein ähnliches Verhalten bei für sie problematischen Ereignissen gezeigt. Dort suchten die Eltern Hilfe bei der Psychoanalytikerin Lilo Flei­scher­Gerö und schufen mit der Anmeldung der Kinder bei der sozialdemokratischen Jugendorganisation der Prager »Falken« ein Gegengewicht zu den Angst auslö­senden Erfahrungen durch antisemitische Bemerkun gen in der Schule. Nach der Emigration der Kinder riet Thea Theiner ihnen, sich mit der ebenfalls nach London emi grierten Lilo Fleischer­Gerö in Verbindung zu set­zen. Zusätzlich hoben die Eltern, die nun nur geringen Einfluss auf die Unterbringung ihrer Kinder hatten, die Eigenverantwortung von Esther hervor. Damit wurden ihre negativen Erfahrungen individualisiert und auch in anderen Fällen konnten die Eltern den emotionalen Problemen der Kinder nicht mehr in gleicher Weise wie zuvor begegnen.

Seite zu zeigen und dankbar zu sein, dazu wurden auch Hertha Bergmann und die Geschwister Theiner in meh­reren Briefen aufgefordert:

Wenn Dir die Leute helfen, ein Dasein zu be gründen, das Dich […] letzten Endes doch befriedigen wird, dann darfst Du eines nie tun, ohne ein für alle mal alle Chan­cen aufzugeben: schwanken. In unserer Situation heißt’s, Puppi, konsequent glücklich zu sein. Auch gute Menschen, die nie in unserer Lage waren, können Deine Beschwerden nicht verstehen und würden sie als Launen verstimmt von sich weisen und daraus die Folgen ziehen.16

Für Kinder vergrößerten Aufforderungen der El­tern, sich dort dankbar zeigen zu müssen, wo sie sich ausgenutzt oder ungerecht behandelt fühlten, den auf sie ausgeübten Druck. Die Umgangsweise der bei ihrer Ausreise knapp zehnjährigen Esther Theiner steht bei­spielhaft für viele andere Kinder, die in Großbritannien erheblich unter der Trennung von den Eltern litten.

»In Maryport bin ich wieder nur – zwar mit sehr jungen und ausgesprochen idea-len aber doch Erwachsenen zusammen. Und ich fühl, daß ich Kinder brauch als Gesellschaft, sonst verpass ich einen sehr schönen Teil der Puber tät, Mitte und Ende; ich hab genug vom Erwachsen sein.« Ausschnitt aus einem Brief von Hertha Bergmann an ihre Mutter Martha in Wien © Leo Baeck In stitute, New York (LBI): AR 6386, Bergmann Family Col lection 5/2, Hornsea, 17.1. 1939

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veränderte erwartungen an kinder

erkläre ich es Dir im nächsten Brief, es be deutet dasselbe wie: »Wie man in den Wald ruft, so schallt es wieder zu­rück« und ich hoffe sehr, von Euch beiden zu hören, dass Du von jetzt an »gut rufen« wirst.17

Der Historiker Michael Geyer hat die Erkenntnisse der Psychoanalytikerin Anna Freud aus den 1940er Jah ren über die Bedeutung der Trennung von Kindern von ihren Familien für ihr weiteres Leben als Perspek ti­ven wechsel in der Entwicklungspsychologie hervor ge­hoben, der erst das Leid der Kinder in den Blick nahm. Die Individualpsychologie hatte in dem sozialen Um ­ feld der Kinder aber bereits in den 1920er Jahren einen wichtigen Einflussfaktor auf ihre (emotionale) Entfal­tung gesehen. Diese Diskurse über die Bedeutung des konkreten sozialen Umfelds der Kinder waren vor dem Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft im Bürgertum weit verbreitet sowie insbesondere durch die enge Verbindung der Individualpsychologie zur Jugend­ und Arbeiterbewegung in Österreich auch darüber hi naus bekannt gewesen. Diese Erziehungs­prämissen konnten aber angesichts der Verfolgung nicht mehr aufrechterhalten werden.

Für Hugo und Thea Theiner hatte sich die Lebenssi­tuation in Prag drastisch verschlechtert. Schon vor dem Einmarsch der Wehrmacht im März 1939 hatten sie Konkurs für ihr Lebensmittelgeschäft anmelden müssen. Nach der Ausreise der Kinder verfügte das Ehe paar zunächst über kein eigenes Einkommen und lebte vermutlich von der Unterstützung der jüdischen Gemeinde, bevor Hugo durch Straßenhandel und Thea mit Sprachunterricht die Situation etwas verbes­sern konnten. Anfang August 1939, rund einen Monat nach der Ausreise der Kinder, waren in Prag eine Reihe antijüdischer Bestimmungen in Kraft getreten. Vor diesem Hintergrund schrieb Thea Theiner an Esther, dass Du mal wieder ganz verkehrt denkst. Du hast mal wieder vergessen: Wenn Du lieb und vernünftig bist, ist jeder, auch Ruth, die Dich besonders lieb hat, gut zu Dir. Bist Du schlimm und »verrückt«, wie Du von anderen schreibst und es selbst bist, wenn Du anderen die Schuld gibst, musst Du Dich nicht wundern, dass man und Ruth nicht nett zu Dir ist. Ich weiss nicht, ob Du das verstehst, was ich Dir jetzt sage, aber ich glaube schon: »Wie man sich bettet, so liegt man.« Wenn Du es nicht verstehst, so

Verantwortung hat einen Namen

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dem Ersten Weltkrieg war durch die steigende Populari­tät (entwicklungs­)psychologischer Ansätze eine breite Debatte über Gefühle initiiert worden, die während der nationalsozialistischen Herrschaft nicht fortgeführt wer­den konnte. Reddy spricht vom »Navigieren« zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Erwartungen und in­dividuellen Zielen. Die Interpretation der Gefühle ihrer Kinder als individuelle, in der Persönlichkeit der Kinder liegende Probleme, war für die Eltern eine Möglichkeit, die Trennung von ihnen zu akzeptieren. Ihnen waren durch die nationalsozialistische Verfolgung bisherige Möglichkeiten genommen worden, im positiven Sinn verändernd auf die Umgebung der Kinder einzuwirken. Die sich verringernden Fluchtchancen bedingten für die Familien lange Phasen der Trennung. Im Fall von Hugo und Thea Theiner aus Prag, die 1943 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet worden sind, war es eine Trennung für immer. Für die Kinder manifestierten sich diese Veränderungen in den Handlungsmöglichkeiten der Eltern in neuen, für sie kaum zu bewältigenden An­forderungen.

Schlussbemerkung

Die nationalsozialistische Verfolgung erzwang seitens der Eltern eine Revision ihrer bisherigen Erziehungs­vorstellungen zugunsten einer stärkeren Erwartung der ökonomischen, sozialen und emotionalen Verselb­ständigung sowie einer raschen Anpassung an neue Verhältnisse. Diese »Neujustierungen« der elterlichen Erziehungsprämissen waren auch seitens der Eltern nicht ohne Leid. Die Briefe von Thea und Hugo Thei­ner zeigen die Scham, dass, so die Sichtweise der Eltern, ausgerechnet ihre Tochter den Anforderungen nicht genüge:

Schau, warum hat Ruth es gut bei Mrs. Phelps, weil sie vernünftig ist, hilft, und vor allem nicht lügt und folgt, was man ihr sagt auch tut und so mit allen andern Kindern geht’s gut. Und nur Du – ich bin sehr, sehr, traurig, dass Du uns solche Schande machst und allen schadest.18

Der Historiker William Reddy geht davon aus, dass die gesellschaftlichen Gegebenheiten die Möglichkeiten beeinflussen, Gefühle zu formulieren. In der Zeit nach

Emil und Margarete Cohn, um 1930 © Deborah Horner

Emil Bernhard Cohn (1881–1948), Rab-biner und Schriftsteller. Verlag Hentrich & Hentrich © Deborah Horner

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veränderte erwartungen an kinder

13 Archiv der IKG-Wien, Bestand Jerusalem, A/W (Fürsorge- und Wohl-fahrtswesen) [Vermerk zu E. B., Wien, 7.7. 1938].

14 AdsD, NL Bratu, Box 6 [Thea und Hugo Theiner an Ruth und Esther Theiner, (Prag), 24.7. (1939)].

15 Dan Bar-On, Julia Chaitin, Parenthood and the Holocaust. Paper des Shoa Resource Center. The International School for Holocaust Studies, Yad Vashem. (Search and Research. Lectures and Papers 1). Jerusalem 2001, S. 49.

16 LBI, New York, AR 6386 (Bergmann Family Collection), 5/8 [Martha Bergmann an Hertha Bergmann, o. O. (Wien), 26.11. 1938].

17 AdsD, NL Bratu, Box 1 [Hugo und Thea Theiner an Esther Theiner, 22. (vermutl. August) 1939].

18 Ebd., [Thea und Hugo Theiner an Esther Theiner, August 1939].

Literatur

Almuth Bruder-Bezzel, Geschichte der Individualpsychologie. Göttingen 1999.Michael Geyer, Virtue in Despair: A Family History from the Days of the

Kinder transports. In: History & Memory 17/1–2 (2005), S. 323–361.Franz-Michael Konrad, Kindergarten oder Kinderhaus? Montessori-Rezeption

und pädagogischer Diskurs in Deutschland bis 1939. Freiburg i. Br. 1997.Rebekka Göpfert, Der jüdische Kindertransport von Deutschland nach Eng-

land 1938/39. Frankfurt am Main-New York 1997.William M. Reddy, The Navigation of Feeling. A Framework for the History

of Emotions. Cambridge 2001.

Anmerkungen

1 Archiv der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum (CJA), Berlin: 6.12 (Nachlass Emil Cohn CJA), Nr. 22 [Emil Cohn an Mirjam Cohn, 21.9. 1939].

2 Archiv der sozialen Demokratie (AdsD) der Friedrich-Ebert-Stiftung Bonn: Nachlass Bratu, Box 1 [Thea und Hugo Theiner an Esther Theiner, ca. 24.1. 1940].

3 Zitiert nach: Weg. Leistung. Schicksal. Geschichte der sudetendeutschen Arbeiterbewegung in Wort und Bild. Stuttgart 1972, S. 333.

4 AdsD, NL Bratu, Box 1 [Thea und Hugo Theiner an Esther Theiner, ca. 24.1. 1940].

5 Leo Baeck Institute, New York (LBI): AR 6386 (Bergmann Family Col lection), 5/5 [Hertha Bergmann an Martha Bergmann, Hornsea, 30.11. 1938].

6 Ebd., 5/2 [Hertha Bergmann an Martha Bergmann, Hornsea, 17.1. 1939].

7 Interview mit Mirjam Rochlin, geb. Cohn, Los Angeles, 24.3. 2007. 8 LBI, New York, AR 6386 (Bergmann Family Collection), 1/10 [Martha

und Robert Bergmann an Hertha Bergmann, o. O. [Portsmouth], 19.10. 1940].

9 Ebd., 5/2 [Hertha Bergmann an Robert und Martha Bergmann, London, 24.10. 1938].

10 Ebd., 5/2 [Hertha Bergmann an Martha und Robert Bergmann, London 26.10. 1938].

11 Ebd., 5/5 [Hertha Bergmann an Robert und Martha Bergmann, Horn-sea, 27.11. 1938].

12 Nelly Wolffheim, Psychoanalyse und Kindergarten. Wien 1930, S. 8.

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verweisen darauf, dass hier – vermutlich im Auftrag der Eltern – ebenso bedachtsam wie unter Einsatz be­kannter, d.h. traditioneller visueller Elemente an der Darstellung eines Kindes gearbeitet wurde.

Ein Element dieses Fotos aber ist noch nicht er­wähnt worden. In gewisser Weise handelt es sich bei dem Bild nicht um die Aufnahme eines einzelnen Mädchens, son dern um ein Doppelporträt. Auf seinen Knien hält das Kind nämlich eine Puppe – seine Pup­pe. Diese ver rät die gleiche Sorgfalt, von der auch die Kleidung des Kindes zeugt. Die Puppe trägt ein weißes Spitzenhäubchen. Auch sie ist sommerlich gekleidet. Auch ihre Schuhe sind weiß. Ihre Wangen hingegen leuchten rot. Ebenso ihr Mund. Die Augen können sich schließen. Es ist eine schöne, große Puppe, und das kleine Mädchen hält sie, als sei sie sich ihrer Mut­terrolle voll bewusst: Der linke Arm des Kindes stützt

Ein Kinderfoto: Zu sehen ist ein kleines, sommerlich gekleidetes Mädchen, das mit übereinandergelegten

Beinen auf einer Bank sitzt. Sein Kleid ist weiß. Auch seine Schuhe sind weiß. Über ihren Rand sind ober­halb der Knöchel auf ordentliche Weise die Strümpfe geschlagen worden, die ebenfalls weiß sind. Weiß sind auch die Blumen und weiß die damenhaften, da spitzen artig durchbrochenen Handschuhe, die offen­sichtlich nicht dazu dienen, die Hände warmzuhalten: Es ist Sommer. Die Handschuhe sind Ausdruck der Sorg­falt, mit der die Aufnahme dieses Fotos vorbereitet wur­de. Es handelt sich offenbar um ein Bild, das nicht von der Familie, sondern im Studio eines professionellen Foto grafen angefertigt wurde. Die große Vase mit Blu­men, die neben dem Kind aufgestellt ist, der Vorhang, der einen rechten Winkel zur Bank bildet, und nicht zuletzt die gekonnte Ausleuchtung dieses Kinderporträts

Überlegungen zu Fotos von

Anne D. Peiter

Auszug aus der Deportationsliste vom 6. No vember 1942: In dieser Liste scheint Sylvia Jacobowitsch als eines der deportier ten Kinder auf.

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die Puppe vom Rücken her, die rechte liegt auf ihrem Bauch, als wolle sie die Gefahr eines Sturzes ein für alle Mal abwehren. Anders als die Hände des Mädchens sind die der Puppe nackt. So ist genau zu erkennen, wie fein artikuliert die linke ist, die nach unten weist.

Insgesamt ist festzuhalten, dass der aufmerksam­erns te, direkt in die Kamera gerichtete Blick des klei­nen Mädchens seine Präsenz bis ins Heute verbürgt. Man will meinen, es sei »da«, hier und jetzt. Roland Barthes’ »ça a été« – »das ist gewesen« –, die Verbür­gung vergan gener, im Foto gebannter Realität, scheint bestätigt.1 Zu gleich ist die gesamte Rahmung jedoch konventionell, sodass, im Kontrast zu dieser Präsenz, der Eindruck einer historischen Distanz entsteht. Die Aufnahme ist ein histori sches Kinderfoto, eines »aus anderen Zeiten«: »Das ist ge wesen« als Ausdruck von Entfernung zum Heute.

Veralltäglichung der Shoahjüdischen Kindern aus Frankreich

Sylvia Jacobowitsch, geboren am 18. Mai 1936 in Paris, deportiert am 6. Novem ber 1942. © Alle Bilder sind dem Buch »Mémorial des enfants juifs déportés de France« von Serge Klarsfeld, Verlag Fayard, Paris 2001, entnommen.

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veralltäglichung der shoah

in Klarsfelds Buch den Fotos vorausgeht: Durch eine langjährige, überaus schwierige Sammlungs­ und Ver­gleichsarbeit in den unterschiedlichsten Archiven ist es dem Historiker gelungen, die Namen, Geburtsdaten, Adressen und Lager, von denen aus die Deportation der jeweiligen Kinder erfolgte, zu rekonstruieren – Kind für Kind, Zug für Zug. Die Namenslisten umfassen nahezu vierhundert Seiten. Etwa 11.000 Kinder konnten durch Klarsfelds Recherchen wenigstens mit diesen wenigen Daten eine Präsenz in einem Gedenkbuch zurückgewin­nen, das in der Tradition der jüdischen Memorbücher steht.

Doch mit dem Hinweis auf die Massenhaftigkeit der Tötung jüdischer Kinder sind wir paradoxerweise wieder beim Begriff »Alltag«. Dieser Begriff scheint unangemes­sen angesichts des Ungeheuerlichen, das den jüdischen

Kindern geschah. Wie möchte ich den Titel meines Bei trags rechtfertigen? Ist es nicht gerade wichtig, das Singuläre, Einzigartige, ganz und gar nicht Alltägliche hervorzuheben? In der Tat: Es ist notwendig, sich vor Augen zu halten, dass die Kinder, die wir auf den Fotos vor uns sehen, mit Zügen in den Tod geschickt wurden, vollkommen wehrlos, vollkommen sinnlos. Dan Diner ar gumentiert daher, der Holocaust stehe als eine bloße Vernichtung jenseits von Krieg, Konflikt und Gegnerschaft. Weder gilt es durch Gewalt einen Willen zu brechen noch etwas zu erzwingen. Der Vernichtungstod ist im Kern grundloser Tod.4 Hinzu kommt, dass viele Kinder aus Frankreich – darunter selbst die Jüngsten – zuvor be­wusst von ihren Müttern getrennt wurden, d.h. allein reisten, unter Bedingungen, die so furchtbar waren, dass sie nicht näher geschildert werden müssen. Es gibt Be­richte von Erwachsenen, die versuchten, sich während

Ausschnitte einer Wirklichkeit

In der Tat entstammt die Fotografie einer großen Sammlung, die 2001 in Serge Klarsfelds Buch »Mé­morial des enfants juifs déportés de France« veröffent­licht wurde.2 Es ist also kein beliebiges, wiederholbares Fo to, keines, auf das andere folgen würden, sondern vielmehr ein letztes: das Bild eines Kindes, Opfer der Deportationen, in Auschwitz ermordet. Bei dem Kind handelt es sich um Sylvia Jacobowitsch, geboren am 18. Mai 1936 in Paris.3 Sie wohnte in Tuffé und wurde am 6. November 1942 deportiert. Ihr Bild ist »nur« eines – Klarsfelds Buch enthält insgesamt über 1.800 Fotos von aus Frankreich deportierten Kindern. Sie wurden von überlebenden Familienangehörigen und Freunden für die Publikation zur Verfügung gestellt

und erlauben es, den Opfern – die im Moment ihrer Deportation im Alter zwischen dem ersten und dem achtzehnten Lebensjahr standen – ein Gesicht zu ge­ben. Rückblickend wirken die Bilder wie Ausschnitte aus einer Wirklichkeit, die noch ganz der »Normalität« verhaftet war oder vielleicht auch: zu sein versuchte – und dies, obwohl – oder vielleicht auch: weil? – Ver­haftung und Deportation in vielen Fällen unmittelbar bevorstanden.

Das Furchtbare an dem Foto Sylvia Jacobowitschs besteht also nicht allein darin, dass es das letzte ist, sondern auch darin, dass es, bei all seiner Schön­heit, so »alltäglich« ist. Alltäglich aber ist nicht, was

Rechte Seite: Francine Beirach, viereinhalb Jahre, geboren in Paris, wahrscheinlich alleine deportiert, ihre Eltern wurden am 5. August 1942 deportiert, Francine scheint auf dieser Liste nicht auf.

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der Tage oder gar Wochen, die zwischen der Trennung von den Eltern und der Deportation lagen, um sie zu kümmern. Die Versuche, die schlimmste Not zu lin­dern, wurden also noch in den französischen Lagern selbst unternommen. Doch die Anzahl der Kin der war so groß, ihr physischer und nicht zuletzt psychischer Zustand so schlecht, dass Krankheiten um sich griffen und manche noch in Frankreich selbst verstarben. Odette Daltroff­Baticle hat im Jahre 1943 das, was sie im Kontakt mit den Kindern erlebt hat, notiert. 1977 bekam Klarsfeld diese Notizen. Sie sind in dem erwähn­ten Buch enthalten:

Niemals werden wir die Gesichter dieser Kinder ver ges­sen: unaufhörlich ziehen sie an meinen Augen vorbei. Sie sind voller Ernst, Tiefe und in diese kleinen Gesichtchen – darin besteht das Außergewöhnliche – hat sich das Furcht­

bare dieser Tage, durch das die Kinder hindurchgehen, ein gezeichnet. Sie haben alles verstanden, wie die Großen. Einige haben kleine Brüder oder Schwestern und kümmern sich auf bewundernswerte Weise um sie. Sie haben die Verantwortung, die sie ha ben, verstanden. Sie zeigen uns das Kostbarste, das sie besitzen: das Foto ihres Vaters oder ihrer Mama, das ihnen diese im Moment der Trennung gegeben hat.5

Und doch

Kann man nach diesen Zeilen noch von Alltag spre­chen? Mir scheint, dass zwischen Klarsfelds Fotos und dem, was kurze Zeit später geschah, etwas liegt, was Dan Diners Blick auf die Shoah bestätigt:

(A)ngesichts des seines Menschseins beraubten Men­schen wird eine durch nichts zu versöhnende Verletzung al ler tradierten Gewissheiten diagnostiziert – die grund ­

veralltäglichung der shoah

lose wie fundamentale Verletzung all dessen, was Men­schen antlitz trägt.6

Elie Wiesel, ein weiterer Überlebender, aus Rumänien stammend, benutzt in seiner Autobiographie immer wie der die Wendung »Und doch«. Hier ist sie am Platz. Ja, es handelt sich um eine fundamentale Verletzung all dessen, was Menschenantlitz trägt. Und doch, und doch ist der Begriff Alltag aus dem Nachdenken über die Ver­folgung nicht wegzudenken. Nicht wegzudenken, und zwar aufgrund dieser Verletzung.

Imre Kertész, der seinerseits als Jugendlicher von Bu­dapest nach Auschwitz deportiert wurde, betont, dass die Katastrophe nicht mit einem Mal über die Opfer he­reingebrochen sei, sondern dass diese sich schrittweise, also nach und nach auf den Vernichtungsapparat zube­wegten.

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Wenn man die eine Stufe hinter sich gebracht hat, sie hin­ter sich weiß, kommt bereits die nächste. Wenn man dann alles weiß, hat man auch alles begriffen. Und indes man alles begreift, bleibt man ja nicht untätig: schon erledigt man die neuen Dinge, man lebt, man handelt, man be­wegt sich, erfüllt die immer neuen Forderungen einer je den neuen Stufe. Gäbe es jedoch diese Abfolge in der Zeit nicht und würde sich das ganze Wissen gleich dort auf der Stelle über uns ergießen, so hielte es unser Kopf vielleicht gar nicht aus.7

So aber hätten die Jüdinnen und Juden eben immer wieder versucht, sich anzupassen, auf diese Weise ge­wissermaßen »Alltag« bewahrend. Auch der Historiker Raul Hilberg, der im Moment der Machtüberlassung an Hitler noch ein Kind war, dem aber rechtzeitig die Flucht aus Österreich in Richtung Vereinigte Staaten

von Amerika gelang, insistiert darauf, dass die For­schung eine Abkehr von einer bestimmten Perspektive wagen müsse. Wichtig ist nicht allein, zu untersuchen, wie das ganz und gar Unalltägliche, Außer­Gewöhn­liche in den Alltag von Menschen einbrach, wie es ihn aushebelte, zerstörte – sondern ebenso wichtig ist die Frage, inwieweit Menschen (und zwar Opfer wie Täter wie Zuschauer), die schon mitten im Außer­Gewöhn­lichen steckten, immer wieder versuchten, wenigstens Momente von Alltag im Kontext des Unalltäglichen herzustellen. Als die Schrecken der ersten großen Kata­strophe des zerfurchten Zwanzigsten Jahrhunderts (Dan Diner) keinem mehr verborgen bleiben konnten, als, mit anderen Worten, der Erste Weltkrieg weit über die eigentlichen militärischen Ereignisse hinaus auf die »Heimatfront« einwirkte, schrieb Sigmund Freud mit ernüchterndem Sarkasmus:

Der einzelne Volksangehörige kann in diesem Kriege mit Schrecken feststellen, was sich ihm gelegentlich schon in Friedenszeiten aufdrängen wollte, dass der Staat dem Einzelnen den Gebrauch des Unrechts untersagt hat, nicht weil er es abschaffen, sondern weil er es monopolisieren will wie Salz und Tabak.8

Dieser Satz bringt die erste mögliche Perspektive, die bei der Untersuchung von Gewalt eingenommen werden kann, zum Ausdruck: die für das Außer­Ge­wöhn li che, die sich für Gewalt und Schrecken als Zer störer von Alltag interessiert. Die entgegengesetzte und zugleich doch auch komplementäre Perspektive geht von der Einsicht aus, dass Menschen ein gewisses Maß an »Normalität« brauchen, um psychisch stabil und somit handlungsfähig zu bleiben. Im Kontext der seit Mai 1940 einsetzenden Verfolgung der jüdischen

Bevölkerung in Frankreich frappiert, so hatten wir ge­sehen, mit welcher Selbstverständlichkeit bestimmte Accessoires und Bildelemente in die Aufnahme Sylvia Jacobowitschs – als ein Beispiel unter vielen anderen – Eingang gefunden haben. Oder anders gesagt: Man »sieht« dem Foto so gar nichts »an«. Man sieht das Er gebnis eines geradezu festlich­schönen, ernsthaft bedeutungsvollen Moments beim Fotografen als Aus­druck eines Alltags, der offenbar noch nicht vollstän­dig durchdrungen war von der immanenten Gefahr, die die ganze Familie umgab. Das Mädchen sah in die Kamera, behandschuht und mit weißen Strümpfen, die Puppe im Arm, als wäre ihr Alltag von niemandem bedroht. Doch das Kind? Dieses und andere? Empfan­den sie die gleiche Selbstverständlichkeit, als sie vor der Kamera posierten?

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zu sehen und zu verstehen, was »normal« ist und was nicht. Sie sind also möglicherweise offener als die Er­wachsenen für das Gefühl, etwas stimme nicht, etwas sei in ihren Alltag nicht integrierbar oder genauer: dürfe in ihren Alltag nicht integriert werden. Es ist möglicher­weise so, dass nicht allein die Fähigkeit, die Übersicht über politische Entwicklungen zu behalten, eine realis­tische Einschätzung von Gefahren ermöglichte. Zu be­denken ist auch, dass von Kindern Erlebnisse, die aus ihrem Alltag »herausfielen«, besser und realistischer auf die Ereignisse im Großen übertragen wurden. Kinder sind, mit anderen Worten, als bewusst wahrnehmende Subjekte von Geschichte (und nicht nur als passiv Erlei­dende) anzusprechen. Das erscheint auch wichtig für das »Danach« der wenigen Kinder, denen es gelang, der Vernichtung zu entkommen.

Kindern, die Pogromen und anderen Katastrophen entkom­men sind, hat man oft untersagt, diese Erfahrungen zu ver arbeiten, und sie dazu angehalten, sich wie »normale« Kinder zu benehmen. Man tut das zum Besten der Kinder, die nicht über »diese Dinge« sprechen sollen. Die verarbei­ten ihre Traumata oft in erfundenen Spielen, die sie vor den Erwachsenen geheimhalten.11

Die Schwierigkeit von Kindern, im Kontakt zu ihren Eltern zur Kommunikation zu finden, betrifft, so die The se, sowohl die Zeit der Verfolgung selbst als auch das »Weiter leben« (so der Titel von Klügers Autobio­gra phie). Der so gar nicht alltägliche »Alltag« von jüdi­schen Kindern erweist sich im Rückblick als Produkt eines »Weltvertrauens« (Jean Améry), von dem, Klüger zufolge, vor allen Dingen die Erwachsenen – aber auch Kinder, die nur um weniges älter waren als sie selbst12 – nicht rechtzeitig Abstand zu nehmen vermochten.

Wahrnehmung von Alltag

Ruth Klüger, die in Wien aufwuchs und beim »An­schluss« Österreichs sieben Jahre alt war, stellt die These auf, dass viele Erwachsene das Bedürfnis hätten, das Erlebnisvermögen der Kinder in Frage zu stellen.9 In Wirk­lichkeit sei es aber so gewesen, dass Kinder oft besser verstanden, was um sie herum vorging, als die Erwach­senen selbst. Nachdem sie beim Besuch eines Kinos von »arischen« Nachbarkindern erkannt und bedroht worden sei, habe ihre Mutter sie zu beruhigen versucht. Das sei noch nicht das Ärgste gewesen. Ruth Klüger aber besteht darauf, dass sie, während auf der Leinwand »Schneewittchen« lief, Todesangst empfunden habe. Nur habe sie die Erkenntnis, die ihr die Zeit im Kino ermöglicht habe und die sich kurze Zeit später als voll­

kommen berechtigt erweisen sollte, den Erwachsenen nicht vermitteln können: Dass meine Erwachsenen selbst nicht ein noch aus wussten und dass ich schneller lernte als sie, begriff ich natürlich nicht, oder war erst im Begriff, es zu begreifen.10

Wenn man von dieser These ausgeht, – Kinder lernen schneller als Erwachsene und zwar auch in Bezug auf das »Verschwinden« von Alltag im Kontext der sich an­bahnenden nationalsozialistischen Gewalt – stellt sich die Frage nach der Wahrnehmung von Alltag insgesamt neu. Ist es nicht möglich, dass Kinder das Problem leich­ter zu erkennen vermochten? Das Problem nämlich, dass mit dem mühsamen Versuch, der Katastrophe »Alltag« abzuringen, »Normalität« aufrechtzuerhalten um jeden Preis, Gefahren verkannt wurden? Kinder sind (mit Un­terschieden, die von ihrem jeweiligen Alter abhängen) stets noch dabei, sich die Welt be­greiflich zu machen,

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rosa Plüschbären mit einem Seidenband um den Hals. »Guck«, sagte Madeleine zu mir, »guck! Ein Bär! Ein klei­ner Kinderbär!« Und ihre Stimme wurde brüchig. Ich be­trachtete den Plüschbären. Es war furchtbar.14

Die Leserschaft weiß, worin das Furchtbare besteht: Das Geschenk als Geste, die »Alltag« herzustellen ver­sucht, setzt voraus, dass das ganz und gar Nicht­Alltäg­liche, das der Gabe vorausging, ausgeblendet bleibt: Es muss ein Kind gegeben haben, dem dieser Bär zuvor ge­hörte. Doch diese versuchte Ausblendung funktioniert nicht. Erinnerungen setzen ein.

Eines Morgens, als wir auf dem Weg zu den Feldern in der Nähe des Bahnhofs vorbeikamen, wurde unsere Kolonne von der Ankunft eines Zugs mit Juden aufgehalten. Die Menschen stiegen aus den Viehwaggons, stellten sich auf dem Bahnsteig auf, so wie es die schreienden Befehle der SS verlangten. In der ersten Reihe stand ein kleines Mäd­chen. Sie hatte ihre Puppe behalten, die sie an sich drückte. Auf diese Weise also kam eine Puppe, auf diese Weise kam ein Plüschbär nach Auschwitz. In den Armen eines kleinen Mädchens, das sein Spielzeug, zusammen mit der ordentlich gefaltenen Kleidung, neben dem Eingang zu den Duschen lassen würde. Ein Häftling des Himmelfahrtskom­mandos, wie man diejenigen nannte, die in den Kremato­rien arbeiteten, hatte es in den Kleiderhaufen im Vorraum der Dusche gefunden und gegen Zwiebeln getauscht.15

Dieser Text bedarf keines weiteren Kommentars. Aber er führt uns zurück zu Klarsfeld Fotosammlung. Zu sehen ist ein kleines Mädchen namens Francine Bei­rach, die in Paris geboren wurde. Auch sie hat einen Bä­ren auf dem Arm, offenbar einen handgemachten. Wie Sylvia Jacobowitsch hält sie diesen behutsam im Arm.

Und noch eine weitere Entwicklung ist wichtig: Das, was man die »Veralltäglichung« einer Verfolgung nennen könnte, die sich als tödlich erweisen sollte, betrifft nicht nur die Zeit vor der Deportation, sondern auf schwer zu beschreibende Weise auch das Leben in den Lagern selbst. Kinder hatten, wie bekannt, praktisch keine Chance, in Auschwitz überhaupt ins Lager zu kommen: Sie wurden schon an der Rampe »selektiert« und gleich darauf vergast.13 Das bedeutet, dass es vor allen Dingen Zeugnisse von Jugendlichen und Erwachsenen über das gibt, was in Auschwitz »Alltag« und »Normalität« sein konnte.

Alltag und Normalität

Charlotte Delbo, eine Nicht­Jüdin, kam nach ihrer Ver­haftung – sie war Mitglied der französischen Résistance – nach Auschwitz. In ihrer autobiographisch angelegten und zugleich doch zu einem kollektiven, multiperspek­tivischen Zeugnis verdichtenden Trilogie »Auschwitz et après« entwirft sie das Bild eines privilegierten Kom­mandos von katholischen (meist polnischen) Frauen, die alles daran setzten, um »normal« Weihnachten zu feiern. Die Vorbereitungen, die getroffen wurden, wer­den im Detail geschildert, ebenso das Festmahl. Doch dann erfolgt der Einbruch des »Außer­Gewöhnlichen«. Zur »Normalität« gehören Geschenke. Doch gerade der Umstand, dass Geschenke unabdingbar sind, lassen die Fröhlichkeit, die zunächst als Ausdruck des Willens zur Selbstbehauptung gewertet werden konnte, in ihr Ge­genteil zurückfallen. Eines der Geschenke zieht die Auf­merksamkeit der Erzählinstanz immer stärker auf sich:Am anderen Ende des Tisches streichelte ein junges Mäd­chen einen kleinen Bären, den sie bekommen hatte. Einen

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qu’ils traversent est stigmatisée en eux. Ils ont tout compris, comme des grands. Certains ont des petits frères et sœurs et s’en occupent ad-mi rablement, ils ont compris leurs responsabilités. Ils nous montrent ce qu’ils ont de plus précieux: la photo de leur père et de leur maman que celle-ci leur a donnée au moment de la séparation.« Übersetzung ins Deutsche von A.P.

6 Diner, Gedächtnisse, S. 17. 7 Imre Kertész, Roman eines Schicksallosen. Reinbeck bei Hamburg 2002,

S. 272–273. 8 Sigmund Freud, Zeitgemässes über Krieg und Tod. In: Ders., Studienaus-

gabe, Bd. IX (Fragen der Gesellschaft; Ursprünge der Religion). Frankfurt/Main 1916/2000, S. 33–60 und S. 39.

9 Ruth Klüger, weiter leben. Eine Jugend. Göttingen 1994, S. 74. 10 Ebd., S. 49. 11 Ebd., S. 73. 12 »Alle, die nur ein paar Jahre älter waren, haben ein anderes Wien erlebt

als ich, die schon mit sieben auf keiner Parkbank sitzen und sich dafür zum auserwählten Volk zählen durfte. Wien ist die Stadt, aus der mir die

Flucht nicht gelang. Dieses Wien, aus dem mir die Flucht nicht geglückt ist, war ein Gefängnis, mein erstes, in dem ewig von Flucht, das heißt vom Auswandern, die Rede war. Ich sah uns sozusagen immer auf dem Sprung und im Begriff abzureisen, mit gepackten Koffern eher als für die nächsten Jahre gemütlich eingerichtet.« Ebd., S. 19.

13 Viele Überlebende haben Zeugnis abgelegt, wie sie, weil sie noch Kinder waren, nur durch die Angabe eines höheren Alters bei den Selektionen an der Rampe von Auschwitz den Gaskammern entgingen. Als Beispiele seien genannt: Elie Wiesel, La nuit. Paris 2007 , S. 74–75; Imre Kertész, Roman eines Schicksallosen. Berlin 2002, S. 90 und S. 98. Ruth Klüger wurde zwar ohne vorhergehende Selektion ins Lager aufgenommen, ent kam diesem aber wiederum nur, weil sie ihr Alter bei der Suche nach Häftlingen, die in ein anderes Lager verlegt werden sollten, hinaufsetzte. Klüger, weiter leben, S. 133–134.

14 »Au bout de la table, une jeune fille caressait un petit ours qu’elle avait reçu. Un ours de peluche rose avec une faveur au cou. ›Regarde, me dit Madeleine, regarde ! C’est un nounours ! Un nounours d’enfant.‹ Et sa voix s’altéra. Je regardai l’ours de peluche. C’était terrible.« Charlotte Delbo, Auschwitz et après, Bd. 2 (Une connaissance inutile). Paris 1970, S. 86. Übersetzung ins Deutsche von A.P.

15 Der französische Originaltext lautet: »Un matin que nous passions près de la gare pour aller aux champs, notre colonne avait été arrêtée par l’arrivée d’un convoi de juifs. Les gens descendaient des wagons à besti-aux, se rangeaient sur le quai aux ordres que hurlaient les SS. Au premier rang, donnant la main à sa mère, une petite fille. Elle avait gardé sa poupée qu’elle serrait contre elle. Voilà comment une poupée, comment un ours en peluche arrivaient à Auschwitz. Dans les bras d’une petite fille qui laisserait son jouet avec ses vêtements bien pliés, à l’entrée de la douche. Un prisonnier du commando du ciel, comme on nommait ceux qui travaillent aux crématoires, l’avait trouvé parmi les vêtements en-tassés dans l’antichambre de la douche et échangé contre des oignons.« Delbo, Connaissance, S. 87. Übersetzung ins Deutsche von A.P.

Francine wurde zusammen mit ihren Eltern im Zuge der »rafle du Vel‘ d’Hiv«, der »Razzia des Wintervelodroms«, verhaftet. Die Eltern wurden am 5. August 1942 depor­tiert. Von Francine selbst fehlt auf den Listen jede Spur. Es ist möglich, dass sie zu den Kindern gehört hat, die zu jung waren, um ihren Namen angeben zu können. Sie ist also vermutlich allein deportiert worden, ohne dass sich ihre Spur rekonstruieren ließe. Was bleibt, ist allein das Foto von ihr und ihrem Bären.

Anmerkungen

1 Roland Barthes, La chambre claire. In: Ders., Œuvres complètes, Bd. V (1977–1980). Paris 2002, S. 785–894, Zitat S. 880.

2 Das Buch erschien in Paris im Verlag Fayard. Ich möchte Serge und Beate Klarsfeld für die Genehmigung, die Fotos und die Liste abdrucken zu dürfen, herzlich danken.

3 Das Mädchen scheint – so legt ihr Nachname nahe – zu den jüdischen Familien aus Osteuropa gehört zu haben. Ihr Anteil – besonders von Jü dinnen und Juden aus Polen – war in Frankreich sehr hoch. Zu Beginn des Jahrhunderts gab es in Frankreich 90.000 Juden; 1935 hatte ihre Zahl 260.000 erreicht. Am Vorabend des Krieges war die jüdische Bevölke-rung auf etwa 300.000 angewachsen, davon zwei Drittel in Paris. Die detailliertesten Judenzählungen wurden später von der Vichy-Regierung und von den Deutschen in den besetzten Gebieten durchgeführt, na türl ich in Übereinstimmung mit ihrer eigenen Definition dessen, wer Ju de war. Dennoch liefern die Ergebnisse ein mehr oder weniger präzises Bild der Situation unmittelbar vor dem Kriege. Mitte 1939 war von der jüdischen Bevölkerung in Paris etwa die Hälfte Franzosen und die Hälfte Ausländer. Doch selbst von den französischen Juden war nur die Hälfte in Frank-reich geboren. In der Region Paris waren 80 Prozent der ausländi schen Juden osteuropäischer Herkunft, die Hälfte davon kam aus Polen. Saul Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden. München 1998, S. 240. Diese Angaben bestätigen sich beim Blick auf die Geburtsorte und Namen vieler Kinder, deren Fotos in Klarsfeld Buch Eingang gefunden haben.

4 Dan Diner, Gegenläufige Gedächtnisse. Über Geltung und Wirkung des Holocaust. Göttingen 2002, S. 81.

5 Zeugnis von Odette Daltroff-Baticle in: Klarsfeld, Mémorial, S. 64. Der fran-zösische Originaltext lautet: »Jamais nous n’oublierons les visages de ces enfants: sans cesse, ils défilent devant mes yeux. Ils sont graves, profonds et, ceci est extraordinaire, dans ces petites figures, l’horreur des jours

Seite 24–28: Vollständi ge De por tationsliste des Transports Nr. 42 vom 6. No vember 1942.

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und pulsierendes Kulturzentrum zugleich. Anregend und bewegungsfreudig.

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Drei Generationen. Shoah und Nationalsozialismus im Familiengedächtnis. Hrsg. von Philipp Mettauer Schriftenreihe des Instituts für jüdische Geschichte Österreichs 2 | Studienverlag, Innsbruck­Wien­Bozen 2015 | ISBN 978­3­7065­5414­5 | Erscheint im Früh­jahr 2015 | 29,90 Euro; auch als E­Book erhältlich

Publikationen

»Ostjuden« Geschichte

und Mythos

Drei Generationen Shoah und Nationalsozialismus im Familiengedächtnis

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Jüdisches Museum, Hohenems © Foto: Dietmar Walser/Jüdi-sches Museum Hohenems

Linke Seite: Bregenzerwald, Blick auf Gropper und Kammern © Foto: Popp & Hackner/Vor arlberg Tourismus

Tora-Krone/Keter, Wien um 1855 © Sammlung Ariel Muzicant, Wien

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rettung jüdischer kinder: skandinavien

einzuschätzen als ihre Eltern, die mit ihren Erfahrun­gen am Ende waren und sich an das vertraute Leben in Öster reich klammerten. Meine Dissertation an der Universität Wien widmet sich den minderjährigen jü­dischen Flüchtlingen aus Österreich in Skandinavien. Dies ist auch Thema des wissenschaftlichen Teils des Sparkling Science Projekts »Das Ende (m)einer Kind­heit? Kindertransporte zur Rettung jüdischer Kinder und Jugendlicher aus Österreich 1938–1941« des In­stituts für jüdische Geschichte Österreichs. Aus den bisherigen Forschungsergebnissen über die An zahl der Kinder und deren Verteilung nach Aufnah­meländern geht Folgendes hervor: • 20 Kinder zwischen sieben und neun Jahren kamen mit Hilfe der IKG Wien im Sommer 1938 nach Nor we­gen. Im Herbst 1939 gelang es der »Nansen­Hilfe«, 37 jüdische oder getaufte Kinder jüdischer Herkunft aus Prag und Bratislava – einige davon stammten aus Öster­reich – einen vorübergehenden Aufenthalt in Norwegen zu ermöglichen. • 80 ältere Kinder zwischen 13 und 16 Jahren kamen vom Sommer 1939 bis März 1940 über die Jugendalijah nach Dänemark. • Rund 90 Kinder zwischen einem und 16 Jahren ka­men mit Hilfe der IKG und über 40 durch die Jugend­alijah im Verlauf des Jahres 1939 nach Schweden. 1939 gelangten zudem rund 100 Jungen und Mädchen, die achtzehn Jahre oder jünger waren, mit Hilfe der »Schwedischen Israelmission« in dieses Land. Sie alle gehörten zu einer Gruppe von rund 1000 jü­di schen Kindern, die ohne Eltern in Skandinavien für eine kürzere oder längere Zeit den nationalsozialisti­schen Verfolgungen entkommen konnten bzw. sie über­lebten.

Es ist furchtbar für ein zwölfjähriges Kind, an alles selbst denken zu müssen: Wie lange reichen die Mar­

ken? Neue kann ich nicht kaufen! Wann muss ich wieder Wäsche waschen? Usw. Manchmal muss ich denken: Es geht nicht mehr, ich bin ja nur ein Kind. Dann wieder hab ich ein starkes Verantwortungsgefühl in mir, das mir sagt: Du musst! Denn sobald ein Kind an alles allein denken muss, ist es kein Kind mehr! Ich hab so schreckliche Angst um die Eltern und auch um Omi und Adelchen und Berterl und alle anderen Lieben, die noch in Deutschland sind.1

Dies schrieb Daisy Koeb am 15. Mai 1939 in einem Brief an einen Verwandten. Kurz zuvor war sie

von Wien mit einem von der Israelitischen Kultusge­mein de Wien organisierten Kindertransport nach Schwe den gekommen, wo sie in Göteborg in einem Kinder­Flüchtlingsheim für Mädchen wohnte. Die Heim leiterin, Marianne Hönig, war selbst ein Flücht ­ling aus Wien.

Kinder, viel zu früh erwachsen

Das abrupte Ende der Kindheit, das in diesem Zitat be schrieben wird, hatte für jüdische Kinder schon in Österreich ihren Anfang genommen. Ab März 1938 wurden sie aus den Schulen verwiesen, sie verloren von einem Tag auf den anderen ihre nicht­jüdischen Freunde und sie waren, wie die Erwachsenen, in der Öffentlichkeit sowohl mit physischer als auch psychi­scher Gewalt konfrontiert. Außerdem erlebten sie, dass die Eltern sie über Nacht nur mehr begrenzt schützen und ihnen helfen konnten. Die älteren Kinder und die Jugendlichen waren in vielen Fällen imstande, die neue Situation und die Notwendigkeit einer Flucht besser

Die Rettung jüdischer Kinder

Merethe Aagaard Jensen

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rettung jüdischer kinder: skandinavien

Hilfsorganisationen und Privatpersonen durchgeführt, die für die Kinder bürgten sowie für ihren Lebensunter­halt sorgten. Dies waren vor allem die jüdischen Ge­meinden, die Jugendalijah, die »Women’s Internatio nal League for Peace and Freedom«, die »Nansen­Hilfe« sowie die »Schwedische Israelmission«.

Nur auf Sommerfrische

Bereits im April 1938 schickte der norwegische Rechts­anwalt Leo Hersson, Mitglied des neu gegründeten »Ko­mitees der Wienerkinder«, einen Vorschlag nach Wien, in welchem er einer kleinen Gruppe von notleidenden, aber körperlich gesunden jüdischen Kindern aus Öster­reich einen Sommeraufenthalt in Norwegen anbot. Das Angebot wurde von der IKG angenommen, und am

»Kinder ohne Eltern sind viel schlimmer als Kinder und Eltern«

Dies sagte der norwegische Justizminister Trygve Lie bei einer Sitzung mit Beamten und Repräsentanten einer Hilfsorganisation wenige Tage nach dem November­pogrom 1938. Aus einem Referat einer Konferenz über die Flüchtlingsprobleme in Skandinavien geht hervor, dass hinter dieser Sichtweise der Entscheidungsträger die Befürchtung stand, die Flüchtlingskinder nicht wie­der loszuwerden.2 Deswegen wurden die sogenannten »Transit­Emigranten«, die beabsichtigten in absehbarer Zeit weiter zu emigrieren, bevorzugt. Eine zusätzliche Voraussetzung war, dass die Flüchtlinge den Staaten nicht zur Last fallen sollten. Deshalb wurde die Rettung jüdischer Kinder aus Österreich in Skandinavien von

aus Österreich nach Skandinavien 1938–1940

Auf der Rückseite dieses Bildes aus dem Jahr 1940 steht: »Die Wienergruppe in der Schule«. Die ältere Frau rechts ist »Tante Anna«, die lokale Be treuerin in der Stadt Nyborg. In ih rem Haus fand der Unterricht dieser Gruppe von Kin-dern statt. © Nyborg Lokalgeschicht-liches Archiv, Dänemark

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rettung jüdischer kinder: skandinavien

»Nansen-Hilfe für Staatrechtslose«4

Die »Nansen­Hilfe« wurde 1937 auf Initiative des Ger­manistik­Professors Fredrik Paasche gegründet, der dem Sohn des Polarforschers und Humanisten Fridtjof Nan­sen die Gründung einer Hilfsorganisation vorgeschla­gen hatte. Die finanziellen Mittel der Einrichtung wur­den durch Gelder des norwegischen Parlaments, den Verkauf von Nansen­Briefmarken, Kunstauktionen und Kulturveranstaltungen aufgebracht. Bis zum März 1938 wurden die Mittel der »Nansen­Hilfe« vor allem für Le­bensmittel, Kleidung und finanzielle Hilfe für jüdische Flüchtlinge in Wien verwendet, später für Flüchtlinge in Prag und schließlich für die Hilfsarbeit in Norwe­gen. Im Herbst 1939 gelang es der »Nansen­Hilfe«, 37 mehrheitlich jüdischen Kindern und Jugendlichen aus Prag und Bratislava, ein Teil von ihnen stammte ur­sprünglich aus Österreich, einen vorübergehenden Auf­enthalt in Norwegen zu ermöglichen, wo sie bei nicht­jüdischen Familien im Süden des Landes untergebracht wurden. Nach der deutschen Besetzung Norwegens im Frühling 1940 reiste ein Teil dieser Kinder auf Wunsch der Eltern zurück in das »Protektorat Böhmen und Mäh­ren« bzw. in die Slowakei.5

Die »Schwedische Israelmission« – eine paradoxe Rettungsaktion

1943, als die Ermordung der europäischen Juden in vol­lem Gange war, erschien ein Buch mit dem Titel »Kann das Judenvolk gerettet werden?« mit Beiträgen von lei­tenden Vertretern der »Schwedischen Israelmission«. In diesem wurde ein für diese Zeit typisches Weltbild voller Stereotypen und Vorurteile gegenüber Juden ge­zeichnet, die selbst für die Verfolgungen verantwortlich gemacht wurden. Als Lösung des sogenannten »Juden­problems« wurde der Übertritt zum Christentum propa­giert. Es ist daher ein gewisses Paradoxon, dass es diese Organisation war, die die meisten jüdischen Kinder und Jugendlichen aus Österreich nach Skandinavien retten konnte. Diese waren zu einem beträchtlichen Teil evan­gelisch getauft oder stammten aus konfessionslosen Fa­milien, wurden jedoch gemäß den »Nürnberger Rasse­gesetzen« als Juden definiert. Nur in den Dokumenten weniger Kinder wurde »mosaisch« als Religionszugehö­rigkeit angeführt.

Göte Hedenquist, zwischen 1938–1940 Leiter der Mission in Wien, verhandelte persönlich mit Adolf Eich mann, zu diesem Zeitpunkt Leiter der »Zentralstelle

Abend des 13. Juni 1938 reisten 20 Kinder mit der Bahn nach Norwegen. Die ersten Monate verbrachten sie in einem Ferienheim der Jüdischen Jugendvereinigung im Osloer Vorort Bærum. Ursprünglich war der Aufenthalt, der durch Spenden finanziert wurde, nur bis Anfang Sep tember 1938 geplant. Die Bemühungen, den Aufent­halt zu verlängern, scheiterten beinahe, da erst am Tag vor der geplanten Rückreise eine Verlängerung der Päs­se sowie des Aufenthalts in Norwegen erwirkt werden konnte.

Auf Wunsch der Eltern kehrten vier dieser Kinder im selben Jahr nach Wien zurück. Zweien von ihnen gelang es später nicht, mit ihren Eltern zu emigrieren. Sie wurden Opfer des Holocaust. Die Eltern der ver­bliebenen Kinder erlaubten, dass ihr Kind noch einige Zeit in Norwegen verbleibt, wie es in den Einverständ­niserklärungen hieß. Als Übergangslösung wurden sie bei jüdischen Pflegefamilien in Oslo und Umgebung untergebracht. Drei der Kinder gelang die Emigration nach Australien und in die USA, eines blieb bei seiner Pflegefamilie. Die übrigen wurden Ende des Jahres 1938 in einem jüdischen Kinderheim in Oslo untergebracht.3

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rettung jüdischer kinder: skandinavien

für jüdische Auswanderung«, die Ausreise der Betroffe­nen. In Zusammenarbeit mit anderen christlichen Hilf­sorganisationen ermöglichte die »Schwedische Israel­mission« etwa 1.500 Verfolgten die Flucht.6

Die jüdischen Kinder bei schwedischen Pflegefamilien

Die Mehrheit der Kinder und Jugendlichen, die entwe­der durch die »Israelmission« oder mit Hilfe der IKG Wien nach Schweden kamen, war bei Pflegefamilien untergebracht. Jüdische Familien, die Flüchtlingskin­der aufnahmen, wohnten in den großen Städten des Landes – Stockholm, Göteborg und Malmö – und viele sprachen Deutsch. Die Kinder, die aus religiös prakti­zierenden Familien stammten, waren mit den Traditi­onen und Bräuchen vertraut, wodurch die Umstellung für sie weniger gravierend war als für diejenigen, die bei Nicht­Juden untergebracht waren. Diese wohnten oft in einem ländlichen Umfeld, das den vorwiegend aus Wien stammenden Kindern fremd war. Zusätzlich waren die Kinder mit einer völlig neuen Sprache und fremden Gewohnheiten konfrontiert. Gleichgültig ob sie bei jüdischen oder nicht­jüdischen Pflegefamilien wohnten, funktionierte das Zusammenleben aufgrund der verschiedenen Erwartungen nicht immer problem­

Oskar Bern bei der Arbeit in einem Rübenfeld 1940 © Privatbesitz

Linke Seite: Göte Hedenquist, zwischen 1938–1940 Leiter der Mission in Wien © Archiv der Schwedi schen Kirche, Uppsala/Svenska, Israel-mission

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los, sodass viele ihre Pflegefamilien wechseln mussten. Einem Teil der 12­ bis 16­Jährigen wurde der Schul­besuch verwehrt, weil sie Arbeit im Haushalt, am Hof oder im Geschäft verrichten mussten. Vor allem am Land war es üblich, dass die Kinder nach der Pflicht­schule zu arbeiten anfingen. Die Flüchtlingskinder, die in vielen Fällen aus der Mittelschicht kamen, in der Wert auf Bildung gelegt wurde, litten darunter sehr.7

Die Jugendalijah in Dänemark und Schweden

Der zionistische Gedanke, jüdische Jugendliche ohne ihre Eltern nach Palästina zu schicken und sie dort in kollektiven Siedlungen einer landwirtschaftlichen Aus­bildung zu unterziehen, geht auf die deutsche Jüdin Recha Freier zurück. Die Jugendalijah, die seit Mai 1938 in Österreich aktiv war, bemühte sich um eine vorüber­gehende Unterbringung von Kindern aus den Gebieten des Deutschen Reichs in Großbritannien, Dänemark und Schweden.

Oben: Hans Reiss mit der Tochter seiner Pflegeeltern Rachel Feinberg © centropa.org

Margit Goldfinger und Walter Som-merstein kamen mit der Jugendalijah von Wien nach Dänemark, wo sie sich verliebten. Als im Herbst 1943 die »Judenaktion« stattfand, flohen sie gemeinsam mit Hilfe der dänischen Wider standsbewegung nach Schwe-den. Das Bild stammt aus dem Jahr 1942. © Injoest

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rettung jüdischer kinder: skandinavien

Der Großteil der 771 zum Jahreswechsel 1942/43 von Nor wegen nach Auschwitz­Birkenau deportierten Juden und Jüdinnen wurde unmittelbar nach der Ankunft in den Gaskammern ermordet. Darunter befand sich der 13­jährige Hans Reiss aus Wien. Im Gegensatz zu den anderen im Sommer 1938 nach Norwegen eingereisten österreichischen Kindern, die im Heim untergebracht waren und von dort gerettet wurden, blieb er bei seiner jüdischen Pflegefamilie, mit der er verhaftet und depor­tiert wurde.8

Im Gegensatz zur norwegischen beschloss die dä­ni sche Regierung am 9. April 1940, die so genannte »Frie densbesatzung« zu akzeptieren. Als Gegenleistung versprach Deutschland, Dänemarks Souveränität zu res­pek tieren und sich nicht in seine inneren Angelegen hei­ten einzumischen. Durch den zunehmenden Wi der stand der dänischen Bevölkerung gegen die Kolla boration mit der Besatzungsmacht endete dieses Arrangement jedoch im August 1943. Danach bestand für die Besatzer kein Grund mehr, die jüdische Minderheit von rund 7.500 Personen zu schonen. Im Oktober wurde eine »Aktion« gestartet, um Dänemark »judenfrei« zu machen. Rund

Von Seiten der dänischen Behörden wurde die Be din ­gung gestellt, dass die Kinder einzeln untergebracht wer­den mussten, weil man dadurch antisemi tische Pro teste vermeiden zu können glaubte. Um auf eine Siedlungstä­tigkeit in Palästina vorbereitet zu werden, wohnten und arbeiteten die Jugendalijah­Teilnehmer/in nen vor allem bei Bauern. Die Behörden verlangten außerdem, dass sie ohne Lohn in der von Arbeitskräfte mangel betroffenen Landwirtschaft tätig waren. Sobald klar wurde, dass die meisten von ihnen während des Krieges nicht nach Pa­lästina weiterreisen konnten, durf ten sie dennoch keine bezahlte Tätigkeit annehmen oder eine Ausbildung an­treten.

Für die Auswahl der Pflegefamilien sowie die laufen­de Betreuung sorgten hauptsächlich leitende Mitglieder der »Women’s International League for Peace and Free­dom«, die von den Kindern »Tanten« genannt wurden. Die jüdischen Flüchtlinge aus Österreich hatten einen starken Zusammenhalt, trafen sich laufend, erhielten Unterricht u. a. in Hebräisch und wurden von Mitglie­dern der Hechaluz­Bewegung zionistisch geschult.

In Schweden war ein Teil der Jugendalijah­Schüler in Heimen untergebracht. Diese waren vor allem Jungen, weil es schwieriger war für sie Pflegefamilien zu finden. Oskar Bern, der im Jänner 1939 mit einer Gruppe von über 20 Jugendalijah­Teilnehmern aus Österreich nach Schweden kam und von Februar bis Juli 1940 Tagebuch führte, gibt Einblick in das Leben der 15­ bis 16­Jährigen in einem Heim in Tjörnarp, Skåne. Untertags arbeitete er bei den Bauern in der Umgebung, wo er schwere kör­perliche Tätigkeiten verrichtete, wie Holz­, Stall­ und Feldarbeit, Abbau von Torf und Schneeschaufeln. In sei­ner Freizeit spielte er gemeinsam mit den anderen Bur­schen aus dem Heim Fußball und Theater, sang Lieder und hörte Vorträge über jüdische bzw. zionistische The men. Für die Betreuung waren erwachsene jüdische Flüchtlinge des zionistischen Lagers zuständig.

Wieder von der Verfolgung eingeholt

Als Norwegen am 9. April 1940 von der Wehrmacht be setzt wurde, wohnten dort rund 2.100 Juden und Jüdinnen. Ab Januar 1942 waren sie einer verstärkten an tisemitischen Politik ausgesetzt, die im Oktober des­selben Jahres in einer »Judenaktion« gipfelte. Einem Teil gelang jedoch die Flucht ins neutrale Schweden. Darun­ter be fanden sich die österreichischen Kinder aus dem jüdi schen Heim in Oslo sowie die Mehrzahl derer, die mit der »Nansen­Hilfe« nach Norwegen gebracht wor­den waren und noch im Land lebten.

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rettung jüdischer kinder: skandinavien

[…] Auch bedrückt mich die Tatsache, dass ich noch nichts bin und nichts besitze und Dir zuerst nur zur Last fallen werde. Hoffentlich enttäusche ich Dich nicht – ich habe ja keine Ahnung, welches Bild Du Dir von mir gemacht hast! Aber wir werden uns schon zusammen durchschlagen, nicht wahr, Muttile? 11

Die nationalsozialistische Verfolgung zerstörte nicht nur die Kindheit der jüdischen Flüchtlingskinder son­dern häufig auch die Beziehung zu deren überlebenden Eltern, die aufgrund der jahrelangen Trennung nach 1945 meist nur mühsam wieder aufgebaut werden konn­te. Ein Teil entschied sich nach dem Ende des Krie ges wie Daisy Koeb, ihr Leben außerhalb Skandina viens neu anzufangen, zumeist in Israel und in den USA. Nur weni ge von ihnen kehrten nach Österreich zurück.

Anmerkungen

1 Daisy Koeb, Liebste Mama. Die Geschichte einer Familie. Berlin 2011, S. 89. 2 Staatsarchiv Norwegen, RA/S-2220/O/Ob/L0233 und RA/S-2220/O/Ob/

L0235. 3 Archiv der IKG Wien, A/W 1993; Hatikwok. Månedsblad for jøder i Norge

(Hatikwok. Das Monatsblatt für Juden in Norwegen), Nr. 8–9 (1938), S. 10 und Nr. 11–12 (1938), S. 18; Stadtarchiv Oslo, D-0017.

4 So übersetzte die Einrichtung ihren Namen ins Deutsche. 5 Staatsarchiv Norwegen, RA/S-2220/O/Ob/L0233; Morgenbladet (Das

Morgenblatt), (23.06.1938), S. 9; Bergens Arbeiderblad (Bergens Arbei-terblatt), (27.10.1939), S. 5.

6 Birger Pernow, Torsten Ysander, Kan Judafolket räddas? (Kann das Ju-den volk gerettet werden?), Stockholm 1943, S. 9ff, 29ff ; Archiv der Schwedischen Kirche, SvKA/SIM/F Ia; Göte Hedenquist, Undan förintel-sen. Svensk hjälpverksamhet i Wien under Hitlertiden (Der Vernichtung entronnen. Die schwedische Hilfsleistung in Wien während der Hitlerzeit). Kristianstad 1983, S. 37ff.

7 Staatsarchiv Schweden, Judiska församlingen i Stockholm, Barnhjälpen (div. Handlingar 1938–1945), D 1 b: 1 und D 1 b: 2; Archiv der Schwedischen Kirche, SvKA/SIM/F Ia.

8 Der Sohn seiner Pflegeeltern Kai Feinberg berichtet in seinem Erinnerungs-buch »Fange Nr. 79108 vender tilbake« (Häftling Nr. 79108 kehrt zurück). Oslo 1995, über die Deportation und Ermordung seiner Familie.

9 Im Buch »Hachsharah i Danmark 50 år efter« (Hachschara in Dänemark 50 Jahre danach) finden sich weitere Informationen über die einzelnen Jugendalijah-Schüler in Dänemark und deren Schicksal.

10 Stadtsarchiv Oslo, S. Y-0001. 11 Koeb, Liebste Mama, S. 173f.

Literatur

Ingrid Lomfors, Förlorad barndom – återvunnet liv. De judiska flyktingbar snen från Nazityskland (Verlorene Kindheit – wiedergewonnenes Leben. Die jüdischen Flüchtlingskinder von Nazi-Deutschland). Göteborg 1996.

Einhart Lorenz, Exil in Norwegen. Lebensbedingungen und Arbeit deutsch-sprachiger Flüchtlinge 1933–1943. Baden-Baden 1992.

Irene Nawrocka (Hrsg.), Im Exil in Schweden. Österreichische Erfahrungen und Perspektiven in den 1930er und 1940er Jahren. Wien 2013.

Lone Rünitz, Diskret ophold. Jødiske flygtningebørn under besættelsen. En indvandrerhistorie (Diskreter Aufenthalt. Jüdische Flüchtlingskinder während der Besatzung. Eine Einwanderergeschichte). Odense 2010.

Elisabeth Åsbrink, Und im Wienerwald stehen noch immer die Bäume. Ein jüdisches Schicksal in Schweden. Zürich-Hamburg 2014.

7.000 Juden und Jüdinnen gelang es, sich in kleinen Booten nach Schweden zu retten, darunter auch den meisten der Flüchtlingskinder aus Österreich.

Neun wurden jedoch verhaftet und mit weiteren in Dänemark verhafteten Juden nach Theresienstadt de­portiert, wo sie aufgrund einer Vereinbarung zwischen Adolf Eichmann und Werner Best, Reichsbevollmäch­tigter in Dänemark, interniert blieben. Im April 1945, noch vor Kriegsende, wurden sie gemeinsam mit den übrigen jüdischen Überlebenden vom schwedischen Roten Kreuz mit den sogenannten »Weißen Bussen« nach Schweden gebracht.9

Der Krieg ist vorbei – aber was jetzt?

Nach dem Ende des Krieges sahen sich die jungen Flüchtlinge, von denen viele in der Zwischenzeit selb­ständige Erwachsene geworden waren, mit neuen He­rausforderungen konfrontiert: der Bürokratie im Land der Emigration, der Aufbau einer Existenz und der Tat sache, dass viele Mitglieder ihrer leiblichen Familie ermordet worden waren.

In Dänemark vertraten die Behörden die Meinung, dass die 1945 aus Schweden zurückgekehrten ehema ­ligen Flüchtlingskinder sich entweder in ihre ursprüng­li che Heimat begeben oder in ein anderes Land auswan dern sollten. Eine Aufenthalts­ und Arbeitsge­nehmigung sowie Zugang zum Bildungssystem zu er ­halten erwies sich als schwierig. Erst die Verleihung der Staatsbürgerschaft in den Fünfzigerjahren löste diese Probleme. Im Sommer 1946 durften die ehema li­gen Flüchtlingskinder schließlich in das Osloer Heim zurückkehren. Aus einem Bericht desselben aus dem Jahr 1947 geht hervor, dass dort noch zehn Jugendli­che zwischen 14 und 17 Jahren wohnten und sich alle in einer schulischen oder handwerklichen Ausbildung befanden. Davor hatte mit den norwegischen Behörden ein mühseliger Kampf über die Rückkehr stattgefunden, den Nina Hasvold, die die Kinder sowohl in Norwegen als auch in Schweden betreute, geführt hatte.10

1946 wurde die in Göteborg lebende Daisy Koeb 19 Jahre alt. Am 15. März dieses Jahres schrieb sie an ihre Mutter, der es gelungen war, von Österreich in das damalige Palästina zu flüchten, folgende Zeilen: Jetzt ist es so weit! Ich habe ein Zertifikat bekommen und fahre wahrscheinlich Anfang April ab. Ich freue mich un­beschreiblich, doch bitte ich Dich um eines: Sei auch Du überzeugt davon, dass mein Kommen die einzig richtige Lösung unseres Problems ist! Kränk Dich nicht, wenn ich mich auch anfangs nach Schweden zurücksehnen werde!

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„Bis wann habe ich mit meiner Arbeitnehmer-veranlagung Zeit?”

„Welch

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für Ar

beitne

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steuer

frei?”

„Wie lange erhält

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Jugend-Alijah – Retrospektiven

Zahlreiche biographische Aufzeichnungen von Teil­nehmerinnen und Teilnehmern der Jugend­Alijah2

schildern die Zeit im Ausbildungs­ und Fluchtprogramm trotz widrigster Umstände als bedeutende Phase, die von Hoffnung, Idealen und Gemeinschaft geprägt war.3 Nachdem zahlreiche andere Zielländer eine immer restriktivere Aufnahmepolitik gegenüber jüdischen Flüchtlingen verfolgten, wurde »Erez Israel«4 auch von Jüdinnen und Juden, die dem Zionismus bisher fern ge standen waren, als Fluchtoption in Betracht gezogen und die Vorbereitung zur Auswanderung zu einem sig­

Wir durchleben schwerstes, allerschwerstes Men­schenschicksal, Demütigungen schlimmster Art,

Aushebun gen, Zwangsevakuierungen, Selbstmorde, Tren­nung von liebsten Angehörigen, Todesnachrichten, ohne beistehen zu können, ohne zu ahnen, wie alles geschah. Trotz all dieser Schrecknisse, die besonders die Seele und die Empfindsamkeit der jüdischen Jugend traf und vernich ten sollte, lernte sie das Glück eines Ideals, eines Zieles ken nen, für das zu kämpfen sich lohnt, sie lernten Glauben, Hoff nung und Vertrauen zur na tionalen Sache unseres Volkes kennen.1

Das Ausbildungs- und

Victoria Kumar

Aron Menczer mit den Madrichim der JUAL, um 1940. Stehend von links: Hansl Stiassny, Lilly Szuran, Martin Vogel, Mimi Reich, Hans »Kiki« Neumann, Miri Neumann, Miklos »Goklos« Goldmann. Vorne sitzend: Aron Menczer. Entnommen aus: Israelititsche Kultusgemeinde Wien (Hrsg.), Trotz allem… Aron Menczer 1917–1943. Böhlau Verlag, Wien-Köln-Weimar 1993, S. 30 © Privatbesitz Martin Vogel

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Jugend-Alijah – Retrospektiven

nifikanten Erlebnis. Gleichermaßen zeugen die Erin­ne rungen aber auch von negativen Wahrnehmungen, wel chen traumatische Ausgrenzungs­, Verfol gungs­ und Trennungserfahrungen vorausgegangen waren.

Eingebettet in die Geschichte der Jugend­Alijah sol­len im Folgenden anhand autobiographischer Erinne­rungsberichte sowohl positive als auch negative Erleb­nisse, die junge österreichische Jüdinnen und Juden nach 1938 im Rahmen des Programms gemacht haben, sowie deren Retrospektive auf die Lebensphase der Kind heit und Jugend dargestellt werden.

Die retrospektiven Betrachtungen der einzelnen Teil­neh merinnen und Teilnehmer der Jugend­Alijah wur­den viele Jahre bzw. Jahrzehnte nach der Flucht aus Österreich verfasst. Im Abstand eines geglückten Lebens sind manche Erlebnisse durch die Tatsache, im Un ter­schied zu Angehörigen und Freunden den natio nal so­zialistischen Verbrechen entkommen zu sein, ebenso gefärbt wie durch eine selektive Erinnerung. Der Erin­nerungsvorgang ist als Konstruktionsprozess, das Dar­gebotene als »Erfahrungssynthese« aufzufassen, die sich zum einen durch eine zeitliche Aufschichtung und zum

Fluchtprogramm derJugend-Alijah – Retrospektiven

Jugendliche bei Spielen. Die JUAL führte auf dem großen Areal der ehemaligen Rothschildvilla auf der Hohen Warte regelmä-ßig Umschulungskurse durch. Entnommen aus: Israelititsche Kultusgemeinde Wien (Hrsg.), Trotz allem… Aron Menczer 1917–1943. Böhlau Verlag, Wien-Köln-Weimar 1993, S. 27 © Privatbesitz Martin Vogel

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Jugend-Alijah – Retrospektiven

einerseits darauf ab, jüdische Jugendliche im Alter von 15 bis 17 Jahren, die in Deutschland im Erwerbsleben zunehmend diskriminiert wurden, auszubilden und ihnen zu einer beruflichen Zukunft zu verhelfen. Ande­rerseits bezweckte das Programm, junge Jüdinnen und Juden mit zionistischen Inhalten und Palästina vertraut zu machen und dem Land qualifizierte Arbeitskräfte zuzuführen, die für den Aufbau dringend benötigt wur­den. Vorgesehen war eine einjährige, vorrangig land­wirtschaftliche Schulung in Hachscharah6­Lagern, an die nach der Einwanderung in Palästina eine zweijäh­rige Arbeit zumeist in einem Kibbuz anschloss. Freiers Ideen stießen zunächst auf Skepsis und Widerstand und wurden sowohl von Seiten der Zionisten als auch der

anderen durch die Gegenwartsperspektive des Erzählenden konstituiert.5 Die Erzählungen der Betroffenen dienen dennoch als wichtige Quellen der Geschichtsforschung, aber auch als allgemeines Gedächtnisgut, dessen Ver­fügbarkeit vor allem angesichts der immer geringer wer­denden Zahl an Zeitzeuginnen und Zeitzeugen speziell für die nachfolgenden Generationen von Bedeutung ist.

Entstehung und Hintergrund der Jugend-Alijah

Die Jugend­Alijah wurde 1932 von Recha Freier (1892–1984), der Frau des von 1926 bis 1939 in Berlin tätigen Rabbiners Moritz Freier, ins Leben gerufen. Sie zielte

Blick von der Sterngasse auf das Haus der JUAL in der Marc Aurel-Straße 5. Von links: Norbert Geller, Martin Vogel, Jehuda Becher, Dan Blum, 1940. Geller, Becher und Blum wurden 1942 nach Polen deportiert und starben in einem KZ. Entnommen aus: Israelititsche Kultusgemeinde Wien (Hrsg.), Trotz allem… Aron Menczer 1917–1943. Böhlau Verlag, Wien-Köln-Weimar 1993, S. 42 © Privatbesitz Martin Vogel

Kurt »Kuki« Schneider in seiner bevorzugten Kleidung, Wien 1939/40. In diesem Aufzug war man weniger in Gefahr auf-gehalten und attackiert zu werden. Entnommen aus: Israe li ti- sche Kultusgemeinde Wien (Hrsg.), Trotz allem… Aron Men - czer 1917–1943. Böhlau Verlag, Wien-Köln-Wei mar 1993, S. 54 © Privatbesitz Martin Vogel

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Jugend-Alijah – Retrospektiven

sollte zu einem »neuen Menschen« verwandelt werden, in dem die Bereitschaft wachgerufen werden sollte, sich einer Gemeinschaft einzuordnen, in diesem Sinne zu den­ken und zu handeln. Die Ausbildung erfolgte zunächst in provisorischen Kursen und danach in der Jugend­Alijah­Schule (JUAL­Schule) in Wien. Bedingt durch den Ausschluss jüdischer Kinder aus den öffentlichen und die Schließung des Großteils der jüdischen Schulen übernahm die in den Räumlichkeiten des Palästina­Amtes untergebrachte JUAL­Schule neben dem Chajes­Gymnasium zunehmend die Funktion einer »norma­len« Pflichtschule. Der Schwerpunkt des Unter richts lag nichtsdestoweniger auf der zionistischen Erziehung und der Vorbereitung auf die Auswanderung. Die Monate in der JUAL­Schule bezeichnete der Wiener Ernest Schind­ler retrospektiv als »die glücklichste Zeit«: Die JUAL tat alles Erdenkliche, um den Jugendlichen das Rüstzeug für ein späteres Leben in Freiheit zu geben. Sie unterhielt Vorbereitungskurse für die Auswanderung, Jual­Schule ge­nannt, dort wurde Hebräisch, jüdische Literatur, jüdi sche und zionistische Geschichte, Musikgeschichte, Pa lä sti na­kunde, Erste Hilfe, Gesundheitslehre, Mathematik und

Eltern der Jugendlichen als utopisch, die Lebensbedin­gungen in den Ausbildungsstätten als zu »primitiv« ab­getan. Die nationalsozialistische »Machtergreifung« in Deutschland gab 1933 den Ausschlag, das Konzept der Jugend­Alijah auszubauen und auf einer breiteren Basis umzusetzen. Als Generalsekretär in Jerusalem fungierte der Deutsche Hans Beyth (1901–1947); Henrietta Szold (1860–1945), Erzieherin und Gründerin der amerika­nisch­zionistischen Frauenorganisation »Hadassah«, wurde mit der Leitung in Palästina betraut, Recha Freier mit jener in Deutschland. In den ersten beiden Jahren gelangten bereits knapp 1.000 junge deutsche Jüdinnen und Juden mit der Jugend­Alijah nach Palästina, wo sie überwiegend in landwirtschaftlichen Siedlungen oder in Kinderheimen untergebracht wurden. In den Folgejahren verzeichnete das Programm einen rasanten Anstieg an Bewerber­ und Auswandererzahlen, ebenfalls vergrößerte sich das Gebiet, aus dem die Jugendlichen ihre Alijah antraten, und letztlich veränderte sich auch der Charakter der Jugend­Alijah: Ideologische und päda­gogische Ziele wichen hinter den rein pragmatischen Zweck, den jüdischen Kindern zur Flucht zu verhelfen, zurück.

Die österreichische Jugend-Alijah

Bestrebungen, die Jugend­Alijah auf Österreich auszu­weiten, kamen bereits im März 1938 auf, konnten al­ler dings erst nach der Wiedereröffnung der mit dem »Anschluss« geschlossenen jüdischen Institutionen sowie nach Verhandlungen mit Großbritannien um­gesetzt werden. Zur Organisation und Durchführung wurde im Juni im Rahmen des Palästina­Amtes die »Be ratungsstelle der Jugend­Alijah« eingerichtet, die anfangs von Georg Überall (1917–1980) geleitet wurde. Obwohl ein krasses Missverhältnis zwischen benötigten und verfügbaren Zertifikaten bestand, gestaltete sich die Situation für junge Bewerberinnen und Bewerber für Pa­lästina weitaus günstiger, wurde doch der Rettung von Kindern und Jugendlichen sowohl von den zuständigen jüdischen bzw. zionistischen Stellen in Österreich und Palästina als auch von der britischen Mandatsregierung oberste Priorität zugemessen. Neben der Auswahl der Kandidatinnen und Kandidaten und der Verteilung der Zertifikate war die »Beratungsstelle der Jugend­Alijah« für die verpflichtende Ausbildung und Vorbereitung der Jugendlichen zuständig. Unter der Leitung von Jugend­führern (»Madrichim«) und Lehrkräften sollten »arbeits­freudige und einsatzfähige Menschen« herangebildet werden. Die oder der »Nur­Auswanderungswillige«

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Die Sonne schien zwar gar nicht der jüdischen Jugend in Wien im Winter 1939/40, aber im Palästinaamt in der Marc­Aurel­Straße strahlte eine eigene Wärme, ohne die jene Jahre zur bitteren Qual geworden wären. In diesem Heim – a Home away from Home – für uns alle, die schon längst kein Heim mehr hatten, deren Familien aus ihren Wohnungen verdrängt in Gemeinschaftswohnungen ge­pfercht waren, konnten wir für wenige Stunden wieder froh und unbeschwert miteinander sein, stolz darauf, da wir jüdische Jugend im besten Sinn des Wortes präsentierten, dass wir dem Hanoar Hazioni, der Gordonia, dem Blau­Weiß oder dem Schomer Hazair angehörten. In der Marc­Aurel­Straße gab es eine selbstbewusste, einheitliche Koa­lition der jüdischen Jugend Wiens selbst in jener schreck­lichen Zeit. Trotz der ideologischen Unterschiede der ein­zelnen Verbände vereinten uns der Wille und die Sehnsucht des zionistischen Ideals. Obwohl jede Gruppe ihr eigenes Zimmer hatte, waren wir eine unteilbare Gemeinschaft, zwar belagert von draußen her und im Ausnahmezustand, aber bewusst unserer Werte, Besonderheit und Zusammen­gehörigkeit. […]

Wir fanden ineinander Sicherheit und gemeinsame Hoffnung auf bessere Zeiten, auf Alijah nach Palästina und auf ein gutes, gesundes und normales Leben. Dies al­les, obwohl die meisten von uns sich im Unterbewusstsein ja im Klaren waren, dass unsere Aussichten, solche Ziele zu erlangen, gar nicht der Wirklichkeit entsprachen und eigentlich nur im Reiche der Phantasie existierten.8

Nach positiver Absolvierung der Schulung war der Eintritt in eines der Vorbereitungslager möglich, die seit Anfang 1939 in Form von gepachteten Grundstücken bestanden und wo die Bewerberinnen und Bewerber einige Wochen für den betreffenden Besitzer oder Land­wirt arbeiten mussten. Als letzte »Hürde« mussten sie sich einer ärztlichen Untersuchung unterziehen, in

anderes mehr halbtags unterrichtet. An Samstagen und Sonntagen standen die Unterrichtsräume der JUAL­Schule für Heimaktivitäten zur Verfügung, wo diskutiert, gespielt und getanzt werden konnte. Auch Theaterauf führungen und musikalische Darbietungen wurden ver an stal tet. Abends war ein Heimbetrieb wegen der bestehen den Aus­gangssperre nicht möglich. In der zweiten Tageshälfte gab es praktische Kurse, in der warmen Jahreszeit für Gärt­nerei, in der kalten Jahreszeit konnte man die Grundla­gen der Elektrotechnik und Elektroinstallationen, der Schlosserei, der Spenglerei, des Schmiedens, der Tischle rei usw. erlernen und für Mädchen gab es u.a. auch Kur se für Schneiderei und für Babypflege. […]

Besonders wichtig war, dass die Kinder und Jugendli­chen durch die Aktivitäten der JUAL den ganzen Tag über beschäftigt waren und vor dem Nichtstun und Herumlun­gern verschont wurden. […] In alle diese Aktivitäten war auch ich voll integriert. Dort fand ich viele Freunde, und dort verbrachte ich die glücklichsten Zeiten in dieser so schrecklichen Zeit.7

Prägend konnte die Phase der Jugend­Alijah, in Zei ten der permanenten Bedrohung und Verfolgung, vor allem wegen ihrer Sozialisierungs­ und Schutz­funktion sein. Wärme, Gemeinschaft und Sicherheit erlebte auch Zvi Schneider in der Jugend­Aljiah, die dadurch – wie er schildert – trotz massiver national­sozialistischer Verfolgungsmaßnahmen ein Kindsein im Wien der Jahre 1939 und 1940 ermöglichte.

Die Heimabende oder eher Nachmittage und sogar hin und wieder Ausflüge in den Wienerwald in den Jah­ren 1939 und 1940 ermöglichten so manchem, nicht ganz seine Kindheit zu verlieren in einer Stadt, die das jüdische Kind verneinte, im besten Falle, und im ärgsten später vernichtete. […]

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Dem Schriftwechsel ist zu entnehmen, dass die aus Ös ter reich stammenden Jugendlichen öfter durch »dis ziplinäres Fehlverhalten« aufgefallen wären, etwa indem sie trotz striktem Verbot die Ausbildungsplätze verlassen hätten, um bei den Behörden Einwanderungs­genehmigungen für Familienmitglieder zu erwirken. Abgesehen davon, dass das Vorhaben aufgrund der Im­migrationsbestimmungen (das Zertifikat war vom betref­fenden Palästina­Amt im Herkunftsland auszustellen) aussichtslos war, war ein Entfernen von den Siedlungen und Einrichtungen strikt verboten.9 Große Einsamkeit veranlasste den gemeinsam mit seinem Bruder Ari im November 1938 eingewanderten Meshulam Rath dazu, von seinem Kibbuz fortzulaufen:

Meshulam und ich mussten uns trennen. Da er schon siebzehn Jahre alt war, hatten die Leiter der Jugend­Alijah ihn dem Kibbuz Gvat zugeteilt. Dort, zwanzig Kilometer östlich von Haifa, lebte bereits eine Gruppe von gleichal tri­gen Jungen und Mädchen aus Wien. Der Abschied fiel uns sehr schwer. Während unserer Kindheit und Jugend in Wien hatten wir oft gestritten, doch das gemeinsame Schicksal und die Schiffsreise hatten uns einander näher gebracht.

der die körperliche, geistige und seelische Verfassung aufs Genaueste überprüft wurde. Mit der Begründung, erbliche Krankheiten ausschließen zu wollen, wurden auch die Familienverhältnisse jeder Kandidatin und jedes Kandidaten analysiert.

Der Versuch, ein möglichst zutreffendes Gesamtbild zu erstellen, sollte gewährleisten, dass sich die jungen zukünftigen Immigrantinnen und Immigranten in jeder Hinsicht für das Leben in Palästina eignen würden. Sie sollten in der Lage sein mit all den damit verbundenen Veränderungen (Trennung von den Eltern und der ge­wohnten Umgebung, Leben im Kibbuz, klimatische und kulturelle Unterschiede etc.) umzugehen. Die penibel durchgeführten Untersuchungen, die ständige Beobach­tung während der Ausbildung und das als strenge »Se­lektion« zu bezeichnende Auswahlverfahren verhin­derten nicht, dass zahlreiche Jugendliche der Situation als Neueinwanderinnen und Neueinwanderer nicht gewachsen waren. Wie aus der Korrespondenz zwischen den Jugend­Alijah­Stellen in Wien und Jerusalem her­vorgeht, waren es offenbar besonders häufig Kinder österreichischer Herkunft, die sich nicht einzuordnen vermochten und den harten Anforderungen nicht ge­recht wurden. Regelmäßige Beschwerden erreichten die »Beratungsstelle« über den aus Unterernährung re­sultierenden schlechten körperlichen Zustand der jun­gen Flüchtlinge. Hinzu kamen Fälle von psychischen Störungen, die als Folge einer Verlusterfahrung oder anderer traumatischer Erlebnisse aufgetreten waren. In einem Schreiben vom 25. April 1939 kritisierte der Generalsekretär der Jugend­Alijah Hans Beyth, dass von den Verantwortlichen in Wien Fälle bestätigt wurden, von denen bereits bei der Ankunft oder noch auf dem Schiff klar war, dass sie untragbar für die Jugendalijah und für das Land sind.

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Zwar hatten wir bereits bei der Abreise gewusst, dass wir in Palästina in verschiedenen Orten leben würden, doch nun schien uns diese Trennung unerträglich.

Meshulam war in Gvat sehr unglücklich. Er kannte niemanden, und die körperliche Arbeit fiel ihm schwer. Im Dezember 1938 unternahm er zu Chanukka einen ersten Ausbruchsversuch. Er schlug sich bis Haifa durch, und wir verbrachten gemeinsam bei entfernten Verwandten einige Tage zusammen. Die Leitung der Jugend­Alijah in Jerusa­lem und sein Madrich, eine Art Erzieher, in Gvat, Lolik, konnten jedoch in Erfahrung bringen, wo er sich aufhielt. Im persönlichen Gespräch gelang es ihnen, meinen Bruder zu überzeugen, in den Kibbuz zurückzukehren. Bald aber lief er erneut davon und versuchte in einem Studentenheim in Kirjat Motzkin aufgenommen zu werden. Dort wohnte sein bester Freund aus Wien, Erich/Eli Preminger, der im Technion von Haifa studierte. Zudem war es von Kirjat Motzkin nicht weit zu meinem neuen Zuhause in Kirjat Bialik, sodass wir uns öfters hätten sehen können. In sei­ner Einsamkeit sehnte er sich danach, mit mir zusammen zu sein. Als er sich im Studentenheim anmelden wollte, wussten die Beamten sofort, wer er war. Meshulam musste wieder nach Gvat zurückkehren und lernen, dort zu leben.10

In seinen Erinnerungen thematisiert Ari Rath au­ßer dem den Konflikt zwischen österreichischen und deutschen Teilnehmerinnen und Teilnehmern: Für die Jugendgruppen und Lehrer aus Deutschland war die Aufnahme von 51 Kindern aus Österreich schwierig, aus sprachlichen, aber auch aus sozialen Gründen: Niemand verstand, was wir wollten, als wir nach einer »Jause« ver­langten, und erst nach einigen Tagen bekamen wir nach­mittags um vier Uhr eine kärgliche Brotzeit. Abschätzig blickten die deutschen Jugendlichen auf uns österreichische

Kibbuz Chamadiya in den vierziger Jahren, in welchem Ari Rath einige Zeit lebte. © Ari Rath

Die Brüder Meshulam (links) und Ari, 1929 © Ari Rath

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In der Jugendorganisation war alles sehr, sehr idealistisch. In Otterthal war ich vier Wochen auf Hachschara. Das war ein großes Vergnügen, obwohl wir ausgerechnet an Hitlers Geburtstag, am 20. April, dort waren. Man hat Angst gehabt, dass irgendwelche Angriffe sein werden, so haben wir Wache geschoben. Aber wir waren so unerfahren und so kindisch noch, dass das für uns ein großer Spaß war. Wir haben dort Landwirtschaft gelernt, von der wir davor keine Ahnung hatten. Als wir nach Israel gekommen sind, haben wir alle die Realität des Landes erlebt, und die war eigentlich sehr wenig idealistisch damals. Etwa im Kibbuz: Die Kibbuznikim haben kaum ein Wort mit uns gesprochen. Wir waren eine vollkommen geschlossene Gruppe innerhalb vom Kibbuz, die fremd war. Die Kibbuz­nikim haben sich überhaupt nicht um uns gekümmert, oder sagen wir, so etwas wie Psychologie betrieben, das war ein Wort, das man damals nicht gekannt hat. Denn immer hin waren wir 15­ bis 16­jährige Jugendliche, die total aus ihrem Leben herausgerissen wurden […]. Wir waren vollkommen auf uns selbst gestellt und fremd. Ich glaube, wenn man uns nach China geschickt hätte, wäre es genau dasselbe gewesen.14

Juden herab, denn die Mehrheit der Wiener Juden stammte ursprünglich aus dem armen Osteuropa, aus Galizien und aus der Bukowina, aus Lemberg, Krakau und Czernowitz. Die Lehrer schritten zwar immer wieder gegen diese Vorur­teile ein, bei den Kindern saßen sie aber zum Teil sehr tief. Rückblickend ist das wenig erstaunlich, denn freiwillig war ja kaum ein Kind nach Palästina ausgewandert: Für viele bedeutete die Alijah die einzige Rettungsmöglichkeit, und nur im Einzelfall hatten die Eltern ihre Kinder zionistisch erzogen.11

Das Verhalten und die Verfasstheit der österreichi­schen Immigrantinnen und Immigranten standen oft eng in Zusammenhang mit den Umständen der Flucht, die im Vergleich zu jenen deutscher Teilnehmerinnen und Teilnehmer noch ungünstiger waren: Erstere flüch­teten zumeist Hals über Kopf, nachdem sie und ihre An­gehörigen massiver nationalsozialistischer Verfolgung ausgesetzt gewesen waren. Häufig mussten sie Familien­mitglieder zurücklassen. Folgen dieser traumatischen Ereignisse konnten schwere psychische und physische Probleme sein. Die zuständigen Stellen in Palästina hat ten wenig Einblick in diese Gegebenheiten und nah­men deshalb auch wenig Rücksicht darauf. Die strenge Auswahl der Kandidatinnen und Kandidaten kann zum Teil mit dem Erfolgsdruck gegenüber der für die Ein­wan derung verantwortlichen britischen Mandatsregie­rung erklärt werden. Die Intention der Organisatoren war allerdings gewiss auch eine beinharte Anpassung der Jugendlichen an die an das Programm geknüpften zionistischen Ideale.12 Auch ist ein hohes Maß an Ein­fühlungsvermögen der für die Untersuchungen und Befragungen herangezogenen »Vertrauensärzte« und Pädagoginnen und Pädagogen anzuzweifeln.

Ingesamt fiel es vermutlich jenen Jugendlichen leichter, in Palästina »anzukommen« und sich zu in­tegrieren, die im Herkunftsland einem zionistischen Jugendverband angehört hatten, da im Zuge der Vorbe­reitungskurse Vorstellungen über die Lebensverhältnisse und auch gewisse Hebräischkenntnisse vermittelt wor­den waren. Trotzdem konnten alltägliche Dinge, wie das ungewohnte Klima und Essen, vielen Neueinwande­rinnen und Neueinwanderern gleich welcher Herkunft Schwierigkeiten bereiten. Auch machte sich für viele eine sich vertiefende Kluft zwischen den großen Idealen […], die an die Wand gemalt wurden, und den Realitäten des Lebens, der harten Arbeit in einer Landwirtschaft, die damals noch nicht motorisiert war, fest.13 Die mit einer Gruppe von Wiener Jugendlichen im November 1939 nach Palästina geflohene Eva Levy beschrieb die erste Zeit im Kibbuz Kiriat Anavim wie folgt:

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in die Emigration nach Palästina zu folgen, blieb er bis zuletzt in Wien, um möglichst vielen Jugendlichen zur Flucht zu verhelfen. 1942 wurde Menczer nach There­sienstadt verschleppt und danach mit hunderten Kin­dern, deren er sich angenommen hatte, nach Auschwitz deportiert, wo er 1943 ermordet wurde.

Tausende junge Jüdinnen und Juden konnten aus dem nationalsozialistischen Österreich mithilfe des Ret­tungsprogramms der Jugend­Alijah nach Palästina oder in andere Länder fliehen. Laut einer Aufstellung der IKG Wien waren von den 15.738 Zehn­ bis Achtzehnjäh ri gen bis Ende Juli 1940 13.598 ausgewandert, davon nicht wenige im Rahmen der Jugend­Alijah.16

Anmerkungen

1 Martin Vogel, zit.: In Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hrsg.), Trotz allem… Festschrift Aron Menczer 1917–1943. Wien 1993, S. 59.

2 Alijah/Alijoth (hebräisch): wörtlich Aufstieg; jüdische Einwanderung nach Palästina/Israel; man unterscheidet mehrere Immigrationsperioden (Alijoth).

3 Der vorliegende Text fußt auf der 2012 fertiggestellten, bislang unveröf-fentlichten Dissertation der Verfasserin an der Universität Graz: »Aus-wanderung und Flucht steirischer Jüdinnen und Juden nach Palästina im Kontext der gesamtösterreichischen Alijah bis 1945«.

4 Erez Israel (hebräisch): Land Israel. 5 Ulrike Jureit, Erinnerungsmuster. Zur Methodik lebensgeschichtlicher In-

ter views mit Überlebenden der Konzentrations- und Vernichtungslager (Forum Zeitgeschichte Bd. 8). Hamburg 1999, S. 27. Siehe auch Eleonore Lappin, Albert Lichtblau (Hrsg.), Die »Wahrheit« der Erinnerung. Jüdische Lebensgeschichten. Innsbruck-Wien-Bozen 2008.

6 Hachscharah (hebräisch): wörtlich Vorbereitung; geistige, körperliche und berufliche Vorbereitung junger Jüdinnen und Juden auf ein Leben in Erez Israel.

7 IKG Wien, Trotz allem…, S. 53. 8 Ebd., S. 55f. 9 Henrietta Szold an Hilde David und Juda Weissbrod, 10.12. 1938. CZA,

S75/1141, S. 113f. Vgl. Gabriele Anderl, Emigration und Vertreibung. In: Erika Weinzierl, Otto D. Kulka (Hrsg.), Vertreibung und Neubeginn. Israelische Bürger österreichischer Herkunft. Wien-Köln-Weimar 1992, S. 167–337, hier S. 233.

10 Ari Rath, Ari heißt Löwe. Erinnerungen. Wien 2012, S. 45f. 11 Ebd., S. 48. 12 Anderl, Emigration, S. 231.

Andere Erinnerungen belegen den positiven Beitrag, den die Kibbuz­Bewegung in Zusammenarbeit mit der Jugend­Alijah bei der Integration der Jugendlichen in Palästina leistete. Das dichte Programm von Unter­richt, Arbeit und sozialem Gruppenleben konnte die Trennung von der Familie und die Entwurzelung er­leichtern, ließ aber gleichzeitig wenig Raum zur persön­lichen Entfaltung und individuellen Lebensgestaltung.15 An die mangelnde Privatsphäre und den strengen Ver­haltenskodex im Kibbuz (harte körperliche Arbeit, kein Privateigentum etc.) konnten sich viele junge Neuein­wanderinnen und Neueinwanderer ebenfalls schwer gewöhnen.

Kriegsbedingte Veränderungen und das Ende der Jugend-Alijah

Der Kriegsausbruch im September 1939 veränderte die Rahmenbedingungen der Auswanderung aus den von der Wehrmacht besetzten Gebieten und auch die der Jugend­Alijah grundlegend. Verstärkt wurde versucht, Bewerberinnen und Bewerber in so genannten »Um­schichtungslagern« im Ausland unterzubringen. Mehre­re »Kindertransporte« gingen nach Schweden, Holland, Belgien, Frankreich, Australien und die Schweiz.

Bis zur behördlichen Auflösung im Mai 1941 setzte die Jugend­Alijah ihre Arbeit fort und legte ihr Haupt­augenmerk auf die Organisation der Weiterwanderung von Kindern in Transitländer. Dass zwischen Septem­ber 1939 und Oktober 1940 noch über 400 Kinder aus Öster reich fliehen konnten, war vor allem auf das uner­müdliche Engagement des charismatischen Jugend­Ali­jah­Leiters Aron Menczer (1917–1943) zurückzuführen. Obwohl er mehrmals die Chance hatte, seiner Familie

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13 Walter Laqueur, Geboren in Deutschland. Der Exodus der jüdischen Jugend nach 1933. Berlin-München 2000, S. 213.

14 Zit. in Angelika Hagen, Joanna Nittenberg (Hrsg.), Flucht in die Freiheit. Österreichische Juden in Palästina und Israel. Wien 2006, S. 491f.

15 Vgl. Ludwig Liegle, Familie und Kollektiv im Kibbutz. Eine Studie über die Funktion der Familie in einem kollektiven Erziehungssystem. Weinheim-Basel 1973, S. 108.

16 Central Archives for the History of the Jewish People (Jerusalem), A/W 2508.

Literatur

Johanna Josephu, Jüdische Jugendorganisationen vor 1938 und nach 1945. Ein soziologischer Vergleich. Unveröff. Diss. Wien 2000.

Andreas Paetz, Karin Weiss, (Hrsg.), »Hachschara«. Die Vorbereitung junger Juden auf die Auswanderung nach Palästina. Potsdam 1999.

Klaus Voigt (Hrsg.), Joskos Kinder. Flucht und Alija durch Europa, 1940–1943. Josef Indigs Bericht. Berlin 2006.

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Jugendliche bei Spielen (siehe auch Ab - bil dungen Seite 48–49). Aus: Israe li ti-sche Kultusgemeinde Wien (Hrsg.), Trotz allem… Aron Menczer 1917–1943. Böhlau Verlag, Wien-Köln-Weimar 1993, S. 26–27 © Privatbesitz Martin Vogel

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Schule gelernt habe – schon in den 1930er Jahren nicht nur von christlichen »Marias« sondern auch von jüdi­schen »Miriams« gesungen.

Im folgenden Beitrag möchte ich diverse Bildungs­möglichkeiten darstellen, die jüdischen Kindern im Po­len der Zwischenkriegszeit zur Verfügung standen, und die Rolle dieser Institutionen als Träger der kulturellen Identität2 diskutieren. Der Artikel soll außerdem die Frage beantworten, ob der Schulbesuch eine so große Begeisterung bei jüdischen Kindern und ihren Eltern hervorrief, wie dieses Lied nahelegt.

Um das breite Spektrum der Bildungsangebote in der Zweiten Polnischen Republik (1918–1939) wiederzu­ge ben, bediene ich mich neben der Sekundärliteratur

Die Spatzen zwitschern seit dem frühen Morgen: »Wo gehst du hin, liebe Maria?« Maria antwortet, mit einem Lächeln im Gesicht: »Das neue Schuljahr hat angefangen, daher gehe ich in die Schule!«

Mit einer gewissen Verwunderung hörte ich die­ses Lied beim Interview mit Krystyna N., einer

Shoah­Überlebenden, die ich 2010 im Rahmen meines Dissertationsprojekts über die religiös­nationale Iden ti ­tät polnischer Holocaustkinder befragte. Mit »Holocaust­kindern« sind Personen jüdischer Herkunft ge meint, die als Kinder den Zweiten Weltkrieg im besetzten Euro­pa überlebt haben.1 Anscheinend wurde dieses – noch heut zutage recht bekannte Lied, das ich ebenfalls in der

Cheder Das jüdische Bildungswesen in der Zweiten

Marta Ansilewska

Avot uVanim (Väter und Söhne) I. Jerusalem 2006 © Benyamin Reich

Die Bilder zu diesem Artikel ent stam -men den Photoserien »Boyhood« und »Ortho dox Youth« des Künstlers Benyamin Reich (www.benyaminreich.com). In ihnen kehrt er photographisch in die ultra-ortho doxe Welt des Torah-studiums zurück, in die er geboren wurde. Wir danken Benyamin Reich für die Über lassung des Bildmaterials.

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Ferner ist zu beachten, dass es sich, wie immer bei Oral History­Projekten, um rekonstruierte Erinnerungen han delt, die nach vielen Jahren wieder in das Bewusst­sein geholt worden sind.4

Die Bedeutung des Lernens

Schon seit der Zerstörung des Zweiten Tempels spielt das Lernen für die in der Diaspora lebenden Juden eine außerordentliche Rolle. Es ermöglicht, die religiöse und kulturelle Identität zu bewahren und zu entwickeln und hat neben dem rein pädagogischen und kollektiv­sozia­len Zweck auch einen endzeitlichen, messianischen Aspekt. Neben Gebet und Wohltätigkeit ersetzt auch das

einer zeitgenössischen Quelle, der Monographie von Regina Liliental, die 1927 unter dem Titel »Dziecko zydowskie« (»Das jüdische Kind«) in Krakau veröf fent­licht wurde.3 Liliental (1877–1924) war eine ak kul tur­ier te jü di sche Lehrerin und Ethnologin. Sie betrieb ethnographische Pionierforschung und widmete sich der Do ku mentation jüdischer Folklore, dem sogenann­ten Volksglauben sowie Bräuchen. Außerdem soll die Wahrnehmung der Schule und ihre Rolle bei der Iden­titätsbildung jüdischer Schüler/innen anhand von In­terviews untersucht werden, die von mir in den Jahren 2010–2014 durchgeführt wurden. Somit beruht das hier dargestellte Bild der Schulzeit größtenteils auf dem subjektiven Erleben meiner Gesprächspartner/innen.

oder staatliche Grundschule? Polnischen Republik

Avot uVanim II. Jerusalem 2006 © Benyamin Reich

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lischen Gebot, von den Eltern finanziert wurde. Kinder aus armen Familien und Waisen erhielten im Vorkriegs­polen an Talmud­Tora­Schulen eine kostenlose religiöse Grundausbildung. Im Unterschied zum Melamed wur­den deren Lehrer von der Gemeinde oder aus Mitteln wohltätiger jüdischer Organisationen bezahlt. Trotz der großen Bedeutung des Lernens der Kinder genossen die Melamdim üblicherweise wenig Prestige oder Anerken­nung – weder von Eltern noch von Schülern; im Ge­genteil – meine Gesprächspartner bezeichneten sie oft als streng und langweilig. Entsprechend ihrem Sozial­prestige war auch ihre Bezahlung schlecht – schon im Mittelalter gehörten die Lehrer zur selben Steuerklasse wie die Dienstboten. Angesichts einer oft großen Zahl vor allem junger Schüler wurden sie von sogenann­ten »Belfern« (jiddisch: Helfer) unterstützt. Zu deren Aufgaben gehörte unter anderem das Abholen und Zu­rückbringen der Kinder von der Schule nach Hause, das Tragen der Kleinen bei schlechtem Zustand des Weges oder bei Schnee und die Beaufsichtigung der Schüler während der Pausen.

Die Ausbildung im Cheder begann mit dem dritten Lebensjahr und endete mit der Bar­Mizwa im Alter von 13 Jahren. Sie zielte auf die Vorbereitung der Schüler auf diese Zeremonie ab, bei der diese im Rahmen eines Got­tesdienstes vor der Gemeinde den aktuellen Wochen­

lebenslange Lernen den Opferdienst im Tempel. Vor allem das Lernen der Kinder bringt, wie es im Talmud heißt, das Kommen des Messias näher.5

Die hebräische Bibel spricht im Zusammenhang mit dem Auftrag zum Lernen nur von den Söhnen, etwa in Psalm 78, 5–6: Er stellte sein Zeugnis auf in Jakob, setzte ein Gesetz [Tora] in Israel und gebot unseren Vätern, es ihren Söhnen zu verkünden, damit es die Nachkommen wissen, die Söhne, die noch geboren werden. Sie sollen aufstehen und es ihren Söhnen erzählen. In traditionell lebenden Familien legte und legt man daher vor allem auf die Bildung des männlichen Nachwuchses großen Wert. Deshalb wurde er in die religiösen Elementar­schulen, die sogenannten »Chadarim«, geschickt. Diese Form der Erziehung war in der Regel nur Jungen zu­gänglich. Mädchen, auf denen nicht die Erwartung der traditionellen religiösen Bildung ruhte, lernten das um­fangreiche Wissen der koscheren Haushaltsführung, der Festgestaltung und der Gebote für die weibliche Rein­heit informell bei den Müttern und anderen Frauen im Haushalt.

Der Name »Cheder« (auf Hebräisch »Zimmer« bzw. »Stube«) lässt sich darauf zurückführen, dass der Unter­richt üblicherweise im Privathaus der Lehrer, der soge­nannten »Melamdim«, stattfand. Der Melamed war ein Privatlehrer, der in der Regel, entsprechend dem bib­

Ohne Titel. Jerusalem 2004 © Benyamin Reich

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die Knaben in den »höheren Cheder« über, wo der Ba­bylonische Talmud und Kommentare zur Bibel und zur rabbinischen Literatur auf dem Lehrplan standen.

Die Schule fing unmittelbar nach dem Morgengebet kurz nach Sonnenaufgang an. Zwischen 10 und 12 Uhr hielt man eine Pause, gegen 14 Uhr gingen die Schüler nach Hause, um dort eine kleine Mahlzeit zu essen. Da­nach kehrten sie in den Cheder zurück, wo sie bis zum Abendgebet blieben, das gewöhnlich zusammen mit dem Melamed in der Synagoge verrichtet wurde. Erst danach durften die Kinder nach Hause gehen. Dieses zeitaufwändige Studium war umso intensiver, als es keine Schulferien gab. Freitags blieben die Schüler nur vormittags in der Schule, am Samstag und an jüdischen Feiertagen fand kein Unterricht statt. Sehr beliebt unter den Jungen war vor allem das »Lag ba­Omer«­Fest, an dem sie in Erinnerung an Rabbi Akiba und seine Schüler im Bar Kochba­Aufstand (132–135) »Krieg« spielten oder Ausflüge ins Grüne unternahmen.

Gegenseitiges Vorlesen, Übersetzen und Auswendig­lernen waren die vorherrschenden Lernformen. Diese »archaische« Didaktik hatte zur Folge, dass die meisten

abschnitt der Tora vorlasen. Das weitere Studium, zum Beispiel zum Rabbiner oder »Sofer« (Schreiber), erfolgte danach in »Jeschiwot«, an Talmud­Hochschulen.

Curriculum und Unterricht

In den ersten zwei Jahren, im sogenannten »niedrigen Cheder«, erlernten die Buben das hebräische Alphabet und anhand von Gebeten und Bibeltexten die hebrä i ­sche Sprache. Bis zum Zweiten Weltkrieg war das Jid di­sche die Umgangssprache der osteuropäischen Juden, das Hebräische war als die »heilige Sprache« dem Got­tesdienst und Studium vorbehalten. Zum ersten Un­terricht wurden die Buben mit Süßigkeiten beschenkt, die ihnen angeblich die Engel vom Himmel brachten. Als symbolische Nahrung erhielten sie mit Honig be­strichene hebräische Buchstaben, sodass sie »den süßen Geschmack der heiligen Sprache« verspürten. Dieses Übergangsritual des »ersten Lernens« wurde, angerei­chert mit magischen Elementen, bereits im Mittelalter praktiziert.6 Mit dem 3. Buch Mose, dem Buch Leviticus, begann das Torastudium. Mit etwa acht Jahren traten

»Die Befürchtungen der ÖVP haben sich leider bewahrhei-tet. Wien hatte 2013 nicht nur die höchste Arbeitslosenrate in der Zweiten Republik, sondern mit 10,2% auch erstmals eine Quote im zweistelligen Bereich. Es gibt durchaus ein ›Wiener Phänomen‹, aber leider anders als von der SPÖ stets dargestellt. Tiefgreifende Reformen werden schlicht-weg nicht angegangen«, so Stadtrat Manfred Juraczka. »Wir brauchen keinen Retro-Klassenkampf, der den Men-schen mit neuen Steuern und Belastungen das Leben er-schwert. Stattdessen braucht es vernünftige Rezepte, um den Wiener Wirtschafts- und Beschäftigungsstandort neue Dynamik zu verleihen. Wir brauchen mehr Spielraum für Zukunftsinvestitionen in dieser Stadt. Laut unabhängigen Wirtschaftsforschern sind Potenziale in Höhe von 1,1 Mrd. Euro im Stadtbudget vorhanden, wenn man die Kosten lediglich auf den Durchschnitt (!) aller österreichischen Bundesländer absenkt. Und wer effizient wirtschaftet, der schafft auch Arbeitsplätze«, so Klubobmann Fritz Aichinger.

Rekordarbeitslosigkeit in Wien – Konsolidierungspotentiale endlich heben

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gierung beanstandeten die Ausbildung im Cheder vor allem deswegen, weil dieser ihrer Meinung nach durch seine sprachliche und räumliche Abschottung von der christlichen Umwelt die Integration und Emanzipation der Juden behinderte. Zudem beklagten sie die entsetz­lichen hygienischen Bedingungen, die in den engen, stickigen, dunklen 7 Chadarim herrschten. Sie sprachen sich für zusätzlichen Unterricht in der Landessprache aus und forderten die Einbeziehung weltlicher und berufspraktischer Inhalte. Nach der Einführung der all­gemeinen Schulpflicht 1919 agitierte selbst die konser­vative Partei »Agudas Jisrael« für eine schrittweise Mo­dernisierung der Chadarim. Sie sollten, ähnlich wie die immer beliebteren weltlichen jüdischen Schulen, vom

polnischen Staat nicht mehr nur als Abendschulen an­erkannt werden. Als Bedingung für die Anerkennung sollten die Chadarim mindestens zwölf Stunden in der Woche säkulare Fächer in polnischer Sprache unter­richten. Allerdings unterlag eine große Anzahl kleiner Chadarim nach wie vor keiner staatlichen Kontrolle. Erst 1936 wurden sie, wie die Talmud­Tora­ Schulen, of­fiziell als »jüdische religiöse Grundschulen« anerkannt.

Angesichts der fortschreitenden Emanzipation und Säkularisierung waren jüdische Jugendliche mit einer rein religiösen Bildung den täglichen Anforderungen

Knaben sehr ungern in die Schule gingen. Für falsche Antworten oder bei schlechtem Benehmen gab es häu­fig Prügel, was die Begeisterung der Schüler für den Cheder zusätzlich sinken ließ. Neben anderen üblichen Strafen, wie das in der Ecke Stehen mit einem Besen in der Hand, gab es auch raffiniertere: Oft wurden die Schüler bestraft, indem ihnen der Melamed einen Topf oder Korb auf den Kopf setzte (jiddisch »a rondl ojfn kop«) oder ihnen befahl, in der Ecke stehend ein Bündel auf dem Rücken zu tragen (jiddisch »a pekl«). Diese Strafe war allerdings auch in polnischen Schulen üblich, woher wahrscheinlich der Spitzname »tłumok« (polnisch für Bündel) kommt, was einen Dummkopf bezeichnet.

Kritik und Innovation

Bereits im 19. Jahrhundert kritisierten sowohl die Or­thodoxie als auch akkulturierte jüdische Kreise das Cheder­System. Die traditionellen Juden beklagten an erster Stelle die mangelhafte Qualifikation der Lehrer und ihr fehlendes Engagement für den Unterricht. Tatsächlich gingen aufgrund der schlechten Bezahlung vor allem in kleinen Dörfern die meisten Melamdim anderen beruflichen Nebentätigkeiten nach. Befürwor­ter der jüdischen Aufklärung sowie die polnische Re­

Talmud. Mea Shea-rim, Jerusalem 2003 © Benyamin Reich

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ihrer Aufsicht. 1934 vereinte »Chorew« insgesamt fast 500 Schulen mit 81.676 Schülern in ihrer Organisati­on.8 Laut dem jüdischen Schriftsteller und Pädagogen Chaim Salomon Kazdan (1883–1979) gab es in Polen im Schuljahr 1934/35 rund 40.000 Schüler in 1.500 Chadarim. 83 Prozent von ihnen hatten lediglich 15–20 Schüler und einen Lehrer, nur die größeren Gemeinde­Chadarim zählten bis zu 60 Schüler.9

Mit der Ratifizierung des Minderheitenabkom­mens während der Verhandlungen in Versailles 1919 garantierte der polnische Staat allen nationalen Min derheiten Schulen und andere Bildungs­ sowie Kulturinstitutionen in den eigenen Sprachen, für die diese jedoch selbst aufkommen sollten. Im Falle der

jüdischen Minderheit verpflichtete sich der Staat je­doch dazu, öffentliche Schulen mit jiddischer oder hebräischer Unterrichtssprache zu finanzieren. So ent stand eine Reihe von säkularen jüdischen Schulen neuen Typs, die eine Alternative zum Cheder boten, unter ihnen die sogenannten »Szabasówki«. Ihr Name kommt daher, dass sie an Samstagen und anderen jü­dischen Feiertagen geschlossen blieben. An Sonntagen und christlichen Feiertagen konnte dort Unterricht abgehalten werden, allerdings nur, wenn das lokale Pfarramt zustimmte.

kaum mehr gewachsen. Aus diesem Grund besuchten immer mehr Jungen neben oder anstelle der Chadarim reguläre weltliche Schulen, zumal die Eltern, insbeson­dere jene aus den akkulturierten Kreisen, immer weni­ger Interesse an der religiösen Bildung ihrer Nachkom­men zeigten. In die Chadarim wurden die Knaben vor allem aus Rücksichtnahme auf die Großeltern ge schickt, die noch großen Wert auf eine traditionelle jüdische Bildung legten. Deswegen waren es auch meistens die Großeltern, die finanziell für die Chadarim aufka­men. Deren Unterricht wurde übrigens zunehmend häufiger in den Nachmittagsstunden erteilt, um nicht mit dem Unterricht an den säkularen Schulen zu kol­lidieren. Zwar bestand die Ausbildung im Cheder im

traditionellen osteuropäischen Judentum vielerorts bis zum Holocaust, aber der gesellschaftliche Wandel trug wesentlich zur schrittweisen Auflösung des Cheder­Systems bei. Um dieser entgegenzuwirken wurde auf In­itiative der »Agudas Jisrael«, die wegen der wachsenden Popularität weltlicher jüdischer Schulen besorgt war, 1929 die zentrale Bildungsorganisation »Chorew« (Berg im Sinai, auf dem Moses die Gebote empfing) ins Leben gerufen, eine Art Dachverband für stark religiös ge­prägte Knabenschulen. Außer den Chadarim befanden sich auch Talmud­Tora­Schulen sowie Jeschiwot unter

Chavruta. Mea Shea-rim, Jeru salem 2003 © Ben yamin Reich

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den 1930er Jahren gab es in Polen bereits über 110 dieser Schulen mit knapp 31.000 Schülerinnen.10 Nach Sarah Schenirer sind vor allem in den USA zahlreiche jüdische Bildungseinrichtungen benannt.

Die Mehrheit meiner Interviewpartner/innen be­suchte öffentliche Schulen mit polnischer Unterrichts­sprache, die allen Kindern in der Zweiten Polnischen Republik, ungeachtet ihrer Nationalität oder des re­ligiösen Bekenntnisses, zur Verfügung standen. Ihre Beliebtheit bei jüdischen Eltern lässt sich hauptsächlich damit begründen, dass sie kostenlos waren. Der Unter­richt fand dort aber auch samstags statt und verletzte somit einen der wichtigsten Grundsätze des jüdischen

Glaubens, das Feiern des Schabbat, was insbesondere für die Kinder aus religiösen Familien ein großes Hindernis darstellte.

Polnische Bildungs­ und Erziehungseinrichtungen übten einen bedeutenden Einfluss auf die Identitätsbil­dungsprozesse der von mir interviewten Personen aus. Unter meinen Gesprächspartner/innen befanden sich Männer und Frauen, die, sei es auf Grund ihres gerin­gen Alters oder auf Grund der fortgeschrittenen Assimi­lation ihrer Eltern, bis zum Zeitpunkt ihrer Einschulung über ihre jüdische Herkunft nicht Bescheid wussten.

Jüdische Kinder an staatlichen Schulen

Da in der Zweiten Polnischen Republik die allgemeine Schulpflicht galt, waren jene Eltern, die sich keine Pri­vatschule leisten konnten oder auf dem Land lebten, in der Regel dazu gezwungen, ihre Kinder an die nächst­gelegene, in den meisten Fällen polnische Schule zu schicken. Dies führte dazu, dass sogar die Kinder aus sehr traditionellen jüdischen Familien dem Prozess der Akkulturierung ausgesetzt waren: Sie besuchten Einrich­tungen, in denen Polnisch die Unterrichtssprache war und die von Patriotismus und der katholischen Religion förmlich »durchtränkt« waren. Dies galt insbesondere

für die Töchter, die ihrer allgemeinen Schulpflicht mei­stens ohnehin an polnischen Schulen nachkamen. Nur ein kleiner Teil der Mädchen aus wohlhabenden Fami­lien besuchte die privaten religiösen Schulen »Bet Jaa­kow« (Haus Jakobs), die – ähnlich wie Chadarim – trotz didak tischer und organisatorischer Auflagen eine weit­reichende Autonomie in Lehre und Erziehung genossen und säkulare Lehrpläne mit religiösem Unterricht kom­binierten. Die erste Bet Jaakow wurde 1918 in Krakau von der Rabbinerstochter Sarah Schenirer (1883–1935) mit Unterstützung der »Agudas Jisrael« gegründet. In

Stella Kochawa Tzur, eine Holocaust-Überlebende. Sie hält einen Prospekt in der Hand, auf dem steht: »Zurück in die Schule.« © Marta Ansilewska

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machten, verdeutlicht Barbara G. mit ihrer Aussage: Als der Krieg ausbrach, war ich sehr zufrieden darüber, dass ich nicht mehr zur Schule gehen musste.11

Ferner bemerkten die Befragten, dass sie aufgrund ihrer jüdischen Herkunft nur schwer Bekanntschaften mit Polen machten. Diese Umstände wirkten sich ne­gativ auf ihre soziale Identität aus, da den nicht mehr in einem jüdischen Milieu lebenden Schüler/innen eine Gruppe von Altersgenossen fehlte, in der sie sich hätten akzeptiert fühlen, ja mit der sie sich hätten identifizieren können. Daher fügte sich ein Teil meiner Gesprächspartner/innen in die Assimilation, da sie hofften, dadurch das Wohlwollen ihrer katholischen Freunde zu gewinnen. Um dem Gefühl der Ausgren­zung entgegenzuwirken, erklärten sich einige Eltern sogar mit der Teilnahme ihrer Kinder am katholischen Religionsunterricht einverstanden. Wenn die Kinder dann immer noch von Seiten der polnischen Schulka­meraden oder Lehrer Spott und Ausgrenzung erfuhren, wechselten sie die Einrichtung.

Sie berichteten, dass es die Schule war, die sie zum er­sten Mal in ihrem Leben dazu aufforderte, über ihre nationale und religiöse Identität nachzudenken. Auch den Kindern, die sich ihrer jüdischen Herkunft bewusst waren, oder denen, die sich durchwegs als Polen fühl­ten und sich noch nie mit ihrer Identität beschäftigt hatten, vermittelte der Schulbesuch, dass sie »anders« wären. Sichtbar wurde die Differenzierung schon bei der Anmeldung, bei der Kinder mit jüdischem Glauben gesondert registriert wurden. Darüber hinaus nahmen sie weder an den für die Katholiken obligatorischen Gebeten und Schulmessen teil, noch besuchten sie den Religionsunterricht.

Viele Zeitzeugen erwähnten, dass sie in der Schule schikaniert wurden und sich deswegen sehr unbehag­lich fühlten. Meistens handelte es sich um antisemi­tische Bemerkungen seitens der polnischen Schüler oder Lehrer, die sie schmähten und verspotteten. Hand­greiflichkeiten oder Kämpfe blieben hingegen Einzelfäl­le. Wie sehr den Kindern diese Sticheleien zu schaffen

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wohl bei Jungen aus orthodoxen Familien, die einen Cheder besuchten, als auch bei den Kindern assimi­lierter Eltern zu, die in polnische Schulen gingen. Der Cheder mit seinen »rückständigen« Lehrmethoden und langen Schulzeiten war ebenso unbeliebt wie staatliche polnische Schulen, wo meine Gesprächspart­ner/innen immer wieder mit Antisemitismus konfron­tiert waren. Aus diesem Grund standen viele, vor allem ärmere Eltern vor der schweren Aufgabe, eine passende Schule zu finden, in der sich ihre Kinder wohl fühlen konnten. Zwar gab es vor 1939 eine Reihe ideologisch gefärbter Schulen diverser politischer Richtungen, aber diese waren in den ländlichen Regionen relativ selten vorhanden. Daher hatten die Eltern angesichts der all­gemeinen Schulpflicht keine andere Wahl, als ihre Kin­der in die staatlichen polnischen Schulen zu schicken. Und dort lernten auch die jüdischen Schüler/innen das am Anfang zitierte Lied von »Maria«, die mit einem Lächeln im Gesicht in die Schule geht.

Anmerkungen

1 Titel der Dissertation: Durch Taufe befreit? Die religiös-nationale Identität der polnischen Holocaustkinder nach 1945.

2 Vgl. Engin Günay, Kultur im Wandel. Mehrkulturelle Identität bei Migra-tionsfolgegenerationen. Bern 2001, S. 10; Paul Ricœur, Das Selbst als ein Anderer. München 1996, S. 151; Heiner Keupp u. a. (Hrsg.), Identi-tätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne. Reinbeck 2008, S. 180; Michel Wieviorka, Kulturelle Differenzen und kollektive Identitäten. Hamburg 2003, S. 168.

3 Regina Lilientalowa, Dziecko zydowskie. Warszawa 2007 (zuerst Kraków 1927).

4 Vgl. beispielsweise Marta Ansilewska, Christopher Spatz, Gemeinsam einsam? Ein Vergleich »polnischer Holocaustkinder« und »ostpreußi-scher Wolfskinder«. In: BIOS 2 (2012), S. 279–296; Christof Dejung, Oral His tory und kollektives Gedächtnis. Für eine sozialhistorische Erweiterung der Erinnerungsgeschichte. In: Geschichte und Gesellschaft 34 (2008), S. 96–115.

5 Siehe Günter Stemberger, Kinder lernen Tora. Rabbinische Perspektiven. In: Gottes Kinder. Jahrbuch für Biblische Theologie 17 (2002), S. 121–137.

6 Vgl. Lilientalowa, S. 86; Martha Keil, »Setzt Kinderlehrer ein in jeder Stadt«. Kinderunterricht im mittelalterlichen Aschkenas. In: Jahrbuch für historische Bildungsforschung 12 (2006), S. 117–146.

7 Vgl. Lilientalowa, S. 89. 8 Vgl. Zofia Borzyminska, Rafał Zebrowski (Hrsg.), Polski słownik judais-

tyczny. Warszawa 2003, S. 291. 9 Ebd., S. 283. 10 Ebd., S. 161. Siehe auch Shaul Stampfer, «Gender Differentiation and

Education of the Jewish Woman in Nineteenth Century Eastern Europe«. In: Polin 7 (1992), S. 63–87; Deborah Weissman, »Bais Ya’akov as an Innovation in Jewish Women‘s Education: A Contribution to the Study of Education and Social Change«. In: Studies in Jewish Education 7 (1995), S. 278–299; http://www.yivoencyclopedia.org/article.aspx/Schenirer_Sarah (Zugriff: 10.3.2014).

11 Interview mit Barbara G. (6.6. 2012).

Vielfältiges Bildungssystem

Die jüdischen Kinder waren dem Assimilierungsdruck an den polnischen Schulen jedoch keineswegs »ausgelie­fert«, da das Schulwesen in der Zwischenkriegszeit nicht ausschließlich in staatlichen, sondern auch in den Hän­den diverser politischer Parteien und jüdi scher Institu­tionen lag. Diese Vereinigungen boten unterschiedliche, oft miteinander konkurrierende Erziehungsmodelle an, die die Ausbildung sowie Aufrechterhaltung eines nationalen und/oder religiösen Bewusstseins unter den jüdischen Jugendlichen zum Ziel hatten. Außer der be­reits erwähnten Organisation »Chorew«, die eng mit der orthodoxen Partei »Agudas Jisrael« zusammenarbeitete, waren dies etwa die vom Kultur­ und Bildungsverein »Tarbut« (hebräisch: Kultur) betriebenen Schulen, die großen Wert auf die Erziehung im zionistischen Geist legten, oder die Einrichtungen des »Zentralen Jüdischen Schulverbandes« (CISZO). Die Institute des Schul­ und Kulturverbandes »Schul­Kults« standen den in der jüdi­schen »Folkspartei« organisier ten »Folkisten«, die für eine soziale und kulturelle Au tonomie der Juden eintra­ten, und den im sozialistischen »Allgemeinen jüdischen Arbeiterbund« organisierten »Bundisten« nahe.

Krystyna N., die den jüdischen Kindergarten und die Schule des »Bunds« mit polnischer und jiddischer Un­terrichtssprache besuchte, begründet die Entscheidung ihrer Mutter für diese Schule, wie folgt: Meine Mutter wollte einfach, dass ich diese [jüdische] Identität ausbilde. Vielleicht sorgte sich Krystynas Mutter aber auch wegen einer zu starken Anpassung ihrer Tochter, was für Kin­der aus assimilierten Familien charakteristisch gewesen wäre. Im Zuge der Annahme des polnischen Lebensstils war nämlich ein gleichzeitiger sukzessiver Verlust des jüdischen Erbes zu beobachten. Die Übernahme der pol­nischen »Hochkultur« ging häufig mit dem Niedergang des Wissens um die jüdische Geschichte, Religion und Tradition einher. Insbesondere die Unkenntnis der jid­dischen Sprache zog weitere Konsequenzen für die Iden­titätsbildungsprozesse meiner Gesprächspartner/in nen nach sich, da sie ihnen den Kontakt zur eigenen Familie und zur traditionellen jüdischen Gesellschaft erschwerte. Noch zum Zeitpunkt der Interviews empfanden viele Be­fragte eine innere Leerstelle, die sie mit der mangelnden Kenntnis der eigenen Wurzeln erklärten und für die sie ihre Eltern verantwortlich machten.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass trotz der breit differenzierten Schullandschaft in der Zweiten Pol­nischen Republik die Erinnerung der jüdischen Kinder an ihre Schulzeit eher negativ besetzt ist. Dies traf so­

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jüdische kindheit im nachkriegsdeutschland

Säuglinge die Ghettos und Lager überlebten. Ein weite­rer Teil sind Kinder von deutschen Juden, die vornehm­lich mit ihren Eltern aus der Emigration zurück kamen oder vor der Verfolgung versteckt worden waren.

Bereits in den 1950er Jahren stellte man fest, dass sich die jüdischen Kinder und Jugendlichen in Deutsch­land in einer besonderen Situation befanden, die mög­licherweise eine Wirkung auf ihre Sozialisation haben könnte. Der Soziologe und Pädagoge Walter W. Jacob Oppenheimer warf schon damals die Frage auf, ob für diese Gruppe ein jüdisches Leben in Deutschland ohne erhebliche Opfer an psychischer Gesundheit und freiem Menschentum überhaupt möglich sei.1 Zwischen den Jah ren 1956 und 1962 untersuchte Oppenheimer die

Hätte man jüdischen Kindern und Jugendlichen unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkrieges

die Wahl gelassen, wo sie aufwachsen wollen, so hät­ten wohl die wenigsten von ihnen Deutschland als ihr Heimatland gewählt. 1963 lebten dennoch ca. 4.000 jüdische Kinder und Jugendliche in der Bundesrepublik. In der historischen Forschung werden diese zwischen 1940 und 1960 Geborenen als »zweite Generation« bezeichnet. Der Großteil sind Kinder osteuropäischer Shoah­Überlebender, die sich nach dem Krieg in DP­Camps in den westlichen Besatzungszonen aufhielten und in Deutschland »hängen blieben«. Die Mitglieder dieser Gruppe wurden – mit wenigen Ausnahmen – nach 1945 geboren, da nur wenige Kleinkinder und

Jüdische Kindheit und JugendAutobiographische Berichte der

Meron Mendel

Moshe Zuckermann, 1949 geboren, kam mit seinen Eltern 1960 nach Deutsch-land zurück. Er entschied sich nach dem Schulabschluss für die Auswanderung nach Israel und lebt heute in Tel Aviv. © http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Moshe_Zuckermann.jpg, Foto: Arne List, April 2009

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jüdische kindheit im nachkriegsdeutschland

Kindheit zwischen zwei Welten

Fast fünf Jahrzehnte nachdem Oppenheimer seine Ana­ly se vorlegte, können wir auf die bereits zurückgelegten Lebenswege der Mitglieder der von ihm erforschten Grup pe zurückblicken und der Frage nachgehen, wie ihre Entwicklung unter den herrschenden Umständen fortschritt. Wie betrachten die Angehörigen der »zwei­ten Generation« selbst rückblickend ihre eigene Biogra­phie, welche Stationen und Institutionen waren für ihre Sozialisation bedeutend?

In den letzten Jahrzehnten wurden einige Autobio­graphien und Erinnerungssammlungen von Angehö­rigen der »zweiten Generation« publiziert, die einen

»sozialpsychologische Situation der jüdischen Jugend in Deutschland« und kam zu dem Ergebnis, dass die Entwicklung einer »gesunden« jüdischen Identität in Deutschland nicht möglich sei: Es entsteht ein perma­nenter seelischer Konflikt, der – je nach der Vitalität der jüdischen Leit­ und Vorbilder – mehr oder weniger kom­plexhaften Charakter hat und sich unter anderem in Ver­haltens­, Lern­ und psychosomatischen Störungen äußert. Für Oppenheimer kamen deshalb nur zwei Lösungen in Frage: entweder entschieden sich die Eltern bewusst, ihre Kinder jeder jüdischen Erziehung zu entziehen und die vollständige Assimilation an das Deutschtum anzu­streben oder sie müssten sich von ihren Kindern tren­nen und sie mit jungen Jahren ins Ausland schicken.2

im Nachkriegsdeutschland»zweiten Generation«

Micha Brumlik, 1947 geboren, hat den Großteil seines Lebens in Deutschland verbracht. © http://de.wikipedia.org/wiki/Micha_Brumlik, Foto: Stephan Röhl, Februar 2012

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jüdischen Schicksal. Deutsche und Nazi waren damals für mich austauschbare Begriffe.3 Nachdem der Großteil der DPs Deutschland verlassen hatte, wurde das Lager Föhrenwald 1957 aufgelöst. Die Wenigen, die aufgrund ihres physischen oder psychischen Zustands die Bun­desrepublik nicht verlassen wollten oder konnten, übersiedelten vor allem nach München oder Frankfurt am Main. Auch in den Städten vermieden die Über­lebenden jeglichen gesellschaftlichen Umgang mit ihren nichtjüdischen Nachbarn und begrenzten ihre Berührungspunkte mit der »Tätergesellschaft« auf die notwendigsten Geschäftskontakte. Die Traumata der Kriegsjahre sowie die kulturelle Entfremdung von der deutschen Umgebung und der Vorbehalt gegenüber der deutschen Sprache prägten ihren Alltag: In zwei Wohnblocks wohnten fortan die Juden aus Föhrenwald, man blieb unter sich. Ein kleines Getto in Frankfurt. Juden haben vor Juden keine Angst, man weiß, der andere wird einem nichts tun, man kann sagen, was man will. Man kann streiten, man macht Geschäfte untereinander, man bleibt sich Geld schuldig, man söhnt sich aus, ohne dass es in irgendeiner Form weitergemeldet wird. 4

Zwischen dem »virtuellen« Ghetto und der Außen­welt hatten die Kinder eine doppelte Aufgabe: Zum einen mussten sie als Vermittler zwischen den Welten fungieren, da die Eltern in der Regel der deutschen

erfahrungsgeschichtlichen Einblick in diese Thematik er möglichen. Diesem Beitrag liegen fünf Monogra­phien zugrunde. Gewiss handelt es sich bei diesen auto biographischen Skizzen »lediglich« um Einzelfälle, so dass in diesem Rahmen keine generalisierbare Aus­sage über das Schicksal der »zweiten Generation« als solcher getroffen werden kann. Vielmehr wird hier der Versuch unternommen, nach Bedeutung und Kontext zu fragen und gleichsam vom Punktuellen zum Allge­meineren, vom Detail zum Ganzen, von innen nach außen, vom Individuum zur sozialen Gruppe vorzuge­hen.

Dies ist nicht mein Land. Diese Feststellung machte Lea Fleischmann zum Titel ihres autobiographischen Buches, das bereits 1980 erschien. Der Untertitel »Eine Jüdin verlässt die Bundesrepublik« ergab sich nicht nur als eine logische Konsequenz aus dieser Erkennt­nis, sondern war zugleich eine Lebensentscheidung. 1947 im Displaced Persons­Lager Föhrenwald in Ober­bayern geboren und bis zu ihrem zehnten Lebensjahr dort mit Holocaustüberlebenden aufgewachsen, war die Abneigung gegenüber den Deutschen fester Be­standteil ihrer Sozialisation: In meiner frühen Kindheit bestand die Welt aus zwei Sorten von Menschen. Aus Juden und Nazis. Die Juden kannte ich, die Nazis kannte ich auch. Aus Hunderten von Erzählungen, aus jedem

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Sprache nicht mächtig waren und unter massiven Hemmungen im Umgang mit den deutschen Behör­den litten. Zum anderen wurde von ihnen Solidarität mit dem Leiden der Eltern und eine Teilhabe an der Ablehnung alles »Deutschen« verlangt. Während die Elterngeneration ihre eigene Lebensrealität von der restlichen Gesellschaft abschotten konnte, mussten die Kinder zwischen den Milieus pendeln. Ich ging in eine öffentliche Schule, erinnert sich Lea Fleischmann, und meine Kontakte mit Deutschen beschränkten sich aus­schließlich auf die Schule. Ich kannte die Klassenkame­raden, war aber nie bei ihnen eingeladen, ebenso wie sie nie zu mir nach Hause kamen. Niemals habe ich das Ge­fühl entwickelt, ein Teil der Klassengemeinschaft zu sein.5

Wie Fleischmann wuchs auch der Historiker Moshe Zuckermann in Frankfurt am Main auf. Seine Eltern hielten sich zunächst in einem DP­Lager auf und wanderten dann nach Palästina aus. 1960 kehrte die Familie nach Deutschland zurück. In seinem autobio­graphischen Buch »Israel – Deutschland – Israel: Re­flexionen eines Heimatlosen« beschreibt Zuckermann seine Kindheit in Tel Aviv und Frankfurt sowie seine Entscheidung, nach dem Abitur nach Israel zurückzu­kehren. Aus der Sicht eines Betroffenen macht er auf das »Doppelleben« jüdischer Jugendlicher in den ersten Jahrzehnten der alten Bundesrepublik aufmerksam:

Hin­ und hergerissen zwischen der Mentalität des Auf­den­Koffern­Sitzens der Eltern und dem nichtjüdischen Schulsystem, das von ihnen eine schnelle Integration verlangte, lebten sie ihren Alltag. Das Hauptproblem, reflektiert Zuckermann, lag letztlich in der »zweiten Generation« selbst, die das Tabu eines zu engen Kon­takts mit »den Deutschen« in solchen Maßen interna­lisierte, dass sie sich die Möglichkeit eines Ausbruchs aus dem, wie Zuckermann ihren Zustand nannte, »gol­denen Käfig« mental selbst versperrte.6

Das Selbstverständnis deutschsprachiger Juden, die in den 1930er Jahren aus NS­Deutschland auswan der­ten und nach dem Krieg heimkehrten, unterschied sich von den DPs deutlich. Begründet durch die Schwierig­keiten bei dem Versuch, in ihrem Emigrationsland Fuß zu fassen und durch die Sehnsucht nach der deut schen Kultur, der Sprache oder dem Klima, häufig motiviert durch die Hoffnung, in der BRD ihre alten Lebens­entwürfe fortsetzen zu können, die sie wegen des Na­tionalsozialismus abrupt hatten abbrechen müssen, fanden sie ihren Weg zurück. Auch die Wiedergutma­chungsabkommen und das Wirtschaftswunder haben vielen von ihnen die Entscheidung nahe gebracht, diesen einzuschlagen. Insgesamt remigrierten jedoch bis zum Beginn der sechziger Jahre lediglich zwei bis drei Prozent der Juden, die nach 1933 aus dem »Dritten

»In Jerusalem habe ich meinen persönlichen Frie-den mit Deutschland geschlossen. In Jerusalem fügten sich die Brüche in meinem Leben zu einer Einheit zusammen.« Lea Fleischmann im Buch »Meine Sprache wohnt woanders. Gedanken zu Deutschland und Israel von Lea Fleischmann und Chaim Noll © Scherz Verlag/S. Fischer Verlag

»…und ermunterten mich, so unbeschwert und frei wie eben möglich mein Leben in Deutschland zu beginnen.« Daniel Cil Brecher in seinem Buch »Fremd in Zion«. München 2005 © Deutsche Verlagsanstalt

»Es schämten sich überlebende oder zurückge-kehrte deutsche Juden«. Micha Brumlik in seinem Buch »Kein Weg als Deutscher und Jude«. Mün-chen 1996 © Luchterhand Literaturverlag

»Zeitweilig teilte ich das Zimmer mit dem Sohn des Hitler-Stellvertreters Rudolf Heß.« Julius H. Schoeps, 1942 im schwedischen Exil geboren, 1948 nach Deutschland übersiedelt, in seinem Buch »Mein Weg als deutscher Jude«. Zürich 2003 © Pendo Verlag

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land lebenden Juden ein Gefühl, das die Erziehung der »zweiten Generation« prägte – ein Gefühl der Scham: Es schämten sich überlebende oder zurückgekehrte deutsche Juden, schreibt Micha Brumlik in seiner Autobiographie. Es schämten sich unter den polnischen Juden diejenigen, die einer vermeintlich ehrbaren Beschäftigung nachgingen, der vermeintlich unehrlichen Geschäftemacher, es schämten sich alle, die Angehörige verloren hatten, des Um stands, dass sie überhaupt überlebt hatten, und dessen, dass sie von dem Geschenk ihres Lebens nirgendwo anders Ge­brauch machten als ausgerechnet im Lande der Mörder, auf dem verfluchten Boden Deutschlands.8

Für die Kinder, die mit ihren Eltern aus Israel nach Deutschland kamen, waren die Schamgefühle am stärks­ten. Da die Rückwanderung in den fünfziger Jahren be­sonders in Israel als ein Akt von Verrat gewertet und mit entsprechender Verachtung gestraft wurde, behaupteten die Eltern oft, dass die Rückkehr lediglich ein Besuch sei. Charakteristisch ist die Erinnerung von Moshe Zucker mann an seine Mutter, die die Auswanderung nach Deutschland geheim hielt und den Nachbarn von einer Reise »für einige Jahre« in die Schweiz erzählte.

Ohne dass ich damals hätte genau begreifen können, was die Schweiz damit zu tun haben sollte, drängte sich mir von da an die verschwommene, erst nach und nach sich klärende Ahnung davon auf, dass unsere Reise ins

Reich« geflüchtet waren. Aufgrund ihrer Sozialisation konnten sich die Rückwanderer besser als die DPs in der Nachkriegsgesellschaft orientieren. Sie verlangten von ihren Kindern keineswegs, den gesellschaftlichen Kon­takt mit der nichtjüdischen Umgebung zu vermeiden, sondern forderten vielmehr von ihnen, zwischen den ehemaligen Nationalsozialisten bzw. Mitläufern und den »Anti­Nazis« zu differenzieren. Ein freier und unge­zwungener Umgang mit allen Deutschen schien in den 1950er Jahren noch nicht möglich.

In seiner Autobiographie »Fremd in Zion. Aufzeich­nun gen eines Unzuverlässigen« blickt Daniel Cil Bre­cher auf das Verhalten seiner aus Czernowitz stammen­den Eltern, die 1953 aus Tel­Aviv nach Düssel dorf ka men, gegenüber der nichtjüdischen Umwelt zurück: Sie gaben mir ein differenziertes Bild der deutschen Ge­sell schaft mit auf den Weg und ermunterten mich, so un beschwert und frei wie eben möglich mein Leben in Deutschland zu beginnen. Aber auch sie zogen Grenzen. Sie suchten und fanden nichtjüdische Freunde unter den unbedenklichen Gruppen der politischen Emigranten und Anti­Nazis, praktizierten ansonsten große Zurückhaltung und Vorsicht.7

Trotz des Unterschieds zwischen den osteuropäi­schen DPs und den Juden aus dem deutschsprachigen Kulturraum teilten alle nach dem Krieg in Westdeutsch­

Lea Fleischmann, 1947 in Ulm geboren, 1979 nach Is rael ausgewandert. © Ca lenber ger Online News

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noch die Frage nach den Motiven für die Entscheidung seines Vaters: Was sich mein Vater dabei gedacht hatte, mich auf den Obersalzberg zu schicken, ist mir bis heute rätselhaft. Zweifellos hat er gewusst, in welche Umgebung ich kam. Es war geradezu paradox, dass ich, der kleine jüdische Junge, der aus dem Exil zurückgekehrt war, die Schulbank mit den Kindern einstiger Nazi­Größen drücken musste. Zeitweilig teilte ich das Zimmer mit dem Sohn des Hitler­Stellvertreters Rudolf Heß. 12

Die Mehrheit der Juden im Nachkriegsdeutschland konnte und wollte die Vergangenheit jedoch nicht so schnell beiseite legen und geriet deshalb in ein anderes Paradox: Sie konnten ihren Kindern weder ein kohä­rentes Narrativ vom Leben in Deutschland noch rele­vante Identitätsvorlagen und Vorbilder anbieten. In diesem Vakuum übernahm eine Institution die Rol­le, den Jugendlichen klare Lebensentwürfe und Identi­fikationsmodelle aufzuzeigen: Die Zionistische Jugend in Deutschland (ZJD). Deren Mitglieder legten den Eid ab, nach Abschluss ihrer Schulausbildung nach Israel auszuwandern. Der allmähliche Prozess, in dem die jü­dischen Gemeinden ihre Legitimation in Deutschland

fremde Land sich meiner Mutter mit etwas zu Verbergen­dem verband und dass der Grund dafür in besonderer Wei se mit »Deutschland« zusammenhing.9 Auch in der Bundesrepublik glaubten die Eltern immer noch, nur auf Zwischenstation zu sein, aus den sprichwörtlich »gepackten Koffern« zu leben, und erzogen ihre Kinder dementsprechend. Viele Angehörige der »ersten Gene­ration« führten oder führen dennoch ihr Leben in Deutschland zu Ende.

Das elterliche Problem, ihr Leben im »Land der Tä­ter« zu legitimieren, spiegelt sich in dem Bewusstsein der Kinder wider. Im Elternhaus gab es keine klare Iden­titätsvorlage, sondern es standen lediglich widersprüch­liche und zum Teil unausgesprochene Erwartungen im Raum. Daniel Cil Brecher beschreibt diese Situation folgendermaßen: So wuchsen meine Altersgenossen und ich in einem seltsamen Vakuum auf: Der Ursprung unserer Eltern war durch den Holocaust verdeckt oder hinter dem ›Eisernen Vorhang‹ verschwunden, Vorgeschichte und Erin­nerung an Familie und Heimat fielen unter das Schweigen, das um ›die Vergangenheit‹ herrschte, und die deutsche Ge­sellschaft kam für viele von uns als Vorbild und Ziel von Anpassungsbemühungen nicht in Frage.10

Mit dem Wissen um dieses Vakuum lässt sich die Lebensgeschichte von Julius H. Schoeps als eine Beson­derheit verstehen. Sein Vater Hans­Joachim war nach seiner Selbstdefinition ein bekennender »Jude, Preuße und Konservativer«11 aus einer traditionsreichen assimi­lierten Familie, der bereits in Dezember 1946 den Weg zurück in seine Heimat fand. Julius Schoeps wurde 1942 im schwedischen Exil geboren, 1948 folgte er mit sei­nem Bruder dem Vater, der zu den wenigen deutschen Juden zählte, die nach dem Holocaust noch immer von der Idee der Assimilation überzeugt waren. Auch die Ermordung seines Vaters in Theresienstadt und seiner Mutter in Auschwitz hatten nichts an dem lei­denschaftlichen Glauben an den deutschen Staat und dessen Volk ändern können. Die Religionszugehörigkeit sollte in keiner Weise die Identifikation seiner Söhne mit Deutschland beeinträchtigen. Wie der Vater hielten sich die Kinder in einer nichtjüdischen Umwelt auf und die kleine Familie pflegte kaum Kontakte mit anderen Juden. Hans­Joachim Schoeps war sogar bereit, seiner Weltanschauung so weit treu zu bleiben, dass er seinen Sohn mit zehn Jahren auf ein Internat auf dem Ober­salzberg schickte. Dieses, untergebracht im ehemaligen Anwesen des Reichsleiters der Partei­Kanzlei der NSDAP Martin Bormann, besuchten zu dieser Zeit auch meh­rere Kinder von früheren ranghohen NS­Funktionä ren. Jahrzehnte später stellte sich Julius Schoeps immer

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te und aus dem von der ZJD vermittelten abstrak ten, ideologisch aufgeladenen Bild resultierte. Die des illu­sionierte Erfahrung war zwar schmerzhaft, regte aber zugleich ein Nachdenken über ihren eigenen Bezug zu Deutschland an. Moshe Zuckermann beschloss, trotz der herben Enttäuschung vom Land, in Israel zu bleiben. Dort ordnete er sich dem anti­ bzw. nichtzio­nistischen Rand des politischen Spektrums zu. Seine Kontakte nach Deutschland, das er als »vertraute Un­heimat« bezeichnet, pflegt er durch akademische Be­suche und Publikationen in deutscher Sprache.

Daniel Cil Brecher lebte jahrelang als Außenseiter in der israelischen Gesellschaft: Ich war weder religiös, noch war ich länger Zionist, und ich konnte die Kluft, die sich täglich zwischen mir und meiner Umwelt weiter öffnete, immer weniger leicht überwinden. Immer öfter erschien mir mein Leben in Israel als gescheitert – zu viele Kompromisse, zu wenig Glück.16 Nach knapp zwanzig Jahren in Israel hat sich Brecher zum zweiten Mal in seinem Leben für die Auswanderung entschieden und ließ sich 1986 in der Schweiz nieder.

Micha Brumlik entschied bereits nach zwei Jahren in die BRD zurückzukehren, wobei er diesen Ent­schluss als »unwiderruflich und endgültig« beschreibt: Es tauchte das Bild meiner Mutter auf, meiner Mutter, die sich nie hatte verzeihen können, meinem Vater nach Deutschland gefolgt zu sein, meiner Mutter, die nach der Trennung von meinem Vater alle zwei Jahre – mehr oder minder verzweifelt – erneut erwog, ihre Frankfurter Woh­nung aufzulösen. [...] So ein Leben, das war alles, was ich wusste, so ein Leben wollte ich nicht führen. Und darum war der Entschluss, den ich traf, klar und eindeutig: ich würde in Deutschland leben. 17 Nach seiner Rückkehr studierte Brumlik an der Universität Frankfurt und war dort sowie in Heidelberg bis 2013 als Professor für Er­ziehungswissenschaften tätig.

Bezeichnend ist, dass sich die Fragen, mit denen sich die Autoren in ihren Autobiographien auseinan­dersetzen, auch in ihrem Forschungsinteresse bzw. in der Auswahl ihrer Veröffentlichungen niederschlagen. Sowohl Schoeps als auch Brumlik und Zuckermann befassen sich wissenschaftlich mit den Problemen der deutsch­jüdischen Beziehungsgeschichte. Auch Brecher machte die jüdische Geschichte zum Schwer­punkt seines Studiums und Fleischmann widmet ihre Arbeit dem christlich­jüdischen und deutsch­israe­lischen Dialog.

fanden, zwang auch die ZJD im Lauf der Jahre zur Lo ckerung des ideologischen Drucks zur Auswande­rung: Hieß es zunächst noch in ihren Statuten, jedes Or­anisationsmitglied verpflichte sich nach dem Abitur nicht nur auf Alijah [Einwanderung nach Israel], sondern gleich auf ein Leben im Kibbuz, so sah man sehr bald ein, dass die doktrinäre Rigidität nicht durchzuhalten sei, und be­gnügte sich mit der bloßen Verpflichtung, früher oder spä­ter nach Israel zu gehen. 13

Auswanderung ins »Gelobte Land«?

Welche Wege haben schließlich die Protagonisten die­ses Beitrags eingeschlagen? Julius H. Schoeps folgte den Zielen seines Vaters und studierte und promovier te nach seinem Abitur in Erlangen und Berlin. Seit 1991 ist er als Professor für deutsch­jüdische Geschichte in Potsdam tätig. Erst nachdem er sein Vaterhaus verlas­sen hatte, drängten sich ihm die Fragen auf, die jahre­lang nicht gestellt wurden. Nach den Jahren der Ver­drängung und den daraus resultierenden Hemmungen setzte er sich als Historiker mit dem Schicksal jüdischer Opfer während des Holocaust auseinander. Der Sechs­Ta ge­Krieg löste bei ihm zum ersten Mal das Interesse aus, seinen Bezug zu Israel und zum Judentum zu hin terfragen: Dieser [Krieg] veränderte mein Leben von Grund auf. Ich nahm mir zwar nicht vor, wie viele andere, nach Israel überzusiedeln, begann aber, mich zu fragen, was mein Judesein mit dem Staat Israel zu tun hatte. War die Gründung des Staates Israel die Folge des gescheiterten Assimilationsprozesses? 14

Lea Fleischmann beschloss im August 1979, nach­dem sie fünf Jahre in einer deutschen Fachschule ge­ lehrt hatte, nach Israel zu übersiedeln. In ihrer Auto­biographie zieht sie eine bittere Bilanz über die Mög­lichkeit jüdischen Lebens in Deutschland. Heute lebt Fleischmann als deutschsprachige Schriftstellerin in Jerusalem. Sie hat sich inzwischen mit ihrem Geburts­land versöhnt: In Jerusalem habe ich meinen persönli chen Frieden mit Deutschland geschlossen. In Jerusalem fügten sich die Brüche in meinem Leben zu einer Einheit zusam­men. 15

Zuckermann, Brecher und Brumlik entschieden sich nach ihrem Schulabschluss für die Auswanderung nach Israel. Ihre Vorstellung von dem »gelobten« Land traf sich jedoch nicht mit der Realität, da sie überwie gend auf der Projektion ihrer eigenen Identitätssuche ba sier­

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Wo gehöre ich hin?

Wenn es in der Autobiographie darum geht, über sich selbst zu schreiben, sich die Frage zu stellen »Wie bin ich geworden, was ich heute bin?«, rückt in den Refle­xionen der »zweiten Generation« eine weitere existen­zielle Frage in den Vordergrund: »Wo gehöre ich hin?« In dem individuellen Prozess der Identitätsentwicklung und ­findung war diese unvermeidbar mit der Konfron­tation mit der Elterngeneration verbunden. Hätten sie nicht ein andres Land wählen und mir dieses unerträgliche Gefühl ersparen können, nirgendwo dazuzugehören?, fragt sich Daniel Cil Brecher 18 und drückt damit stellvertre­tend für viele Vertreter der »zweiten Generation« einen durch lange Jahre unausgesprochenen Vorwurf aus.

Wie ihre Lebensgeschichten zeigen, beantwortete jeder der Autoren die Zugehörigkeitsfrage zu verschie­denen Zeitpunkten unterschiedlich. Der Weg, den jeder einzelne von ihnen eingeschlagen hat und dem er/sie immer noch folgt, ist der Ausdruck eines individuellen Umgangs mit den Identitätskonflikten, denen sich die »zweite Generation« stellen musste.

Anmerkungen

1 Walter W. Jacob Oppenheimer, Jüdische Jugend in Deutschland. Mün-chen 1967, S. 18.

2 Ebd., S. 168–169. 3 Lea Fleischmann, Dies ist nicht mein Land. Eine Jüdin verlässt die

Bundesrepublik. Hamburg 1980, S. 25. 4 Ebd., S. 31. 5 Ebd. 6 Moshe Zuckermann, Israel – Deutschland – Israel: Reflexionen eines

Heimatlosen. Wien 2006, S. 80. 7 Daniel Cil Brecher, Fremd in Zion. Aufzeichnungen eines Unzuverläs-

sigen. München 2005, S. 172. 8 Micha Brumlik, Kein Weg als Deutscher und Jude. Eine bundesrepubli-

kanische Erfahrung. München 2000, S. 29–30. 9 Zuckermann, S. 56. 10 Brecher, S. 177. 11 Julius H. Schoeps, Mein Weg als deutscher Jude. Autobiographische

Notizen. Zürich 2003, S. 15. 12 Ebd., S. 53. 13 Zuckermann, S. 82. 14 Schoeps, S. 245. 15 Lea Fleischmann, Die unbeantworteten Fragen meiner Kindheit. In:

Lea Fleischmann, Chaim Noll, Meine Sprache wohnt woanders. Ge-danken zu Deutschland und Israel. Frankfurt/Main 2006, S. 29–50, hier S. 49.

16 Brecher, S. 16.1 7 Brumlik, S. 91. 18 Brecher, S. 205.

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auszustatten, dessen sie für ihren Lebenskampf für unser Volk bedürfen. Deshalb wende ich mich an Sie, meine Herren Kollegen, dass Sie in der Ausübung Ihres hohen Amtes als deutsche akademische Lehrer sich stets die Ver­pflichtung vor Augen halten, an der Ausrichtung unserer akademischen Tätigkeit im Geiste der nationalsozialis­tischen Weltanschauung zu arbeiten. Wir haben uns alle der Notwendigkeit bewusst zu sein, unsere Hochschule mit allen ihren Kräften und Möglichkeiten für den Dienst an unserem deutschen Volke und seinen Zielen in der Welt einzusetzen.1

Die »Säuberungen«

Für viele Angehörige der »Welthandel« hatten solche programmatischen Aussagen handfeste Konsequenzen. In den ersten beiden Semestern nach dem »Anschluss« mussten auf einen Schlag 40 Prozent der Studierenden die Hochschule für Welthandel verlassen – der stärkste prozentuale Rückgang seit dem Ersten Weltkrieg. Ein großer Teil dieser Studierenden war Opfer politisch oder »rassisch« motivierter »Säuberungen«. Sie fielen ver mutlich aus zwei Gründen umfangreich aus: Erstens zählte der Handel seit jeher zu den wenigen Berufsfel­dern, in denen der jüdische Bevölkerungsteil proportio­nal stark vertreten war – war seinen Angehörigen doch der Zugang zu anderen Professionen jahrhundertelang verwehrt gewesen. Zweitens hatte die »Welthandel«, die 1919 aus der K. k. Exportakademie hervorgegangen war, in der Zwischenkriegszeit nicht zuletzt auf Studie­rende aus den osteuropäischen Nachfolgestaaten des Habsburgerreiches eine starke Anziehungskraft ausge­übt. Hierunter befand sich, wohl auch als Folge der Ju­denpogrome im Ersten Weltkrieg, ein hoher Anteil an Jüdinnen und Juden.

Wie für andere österreichische Hochschulen hatte der »Anschluss« Österreichs an das nationalso­

zia listische Deutschland auch für die Vorgänger in sti­tu tion der heutigen Wirtschaftsuniversität Wien (WU) gravierende Folgen: Ab März 1938 wurden zahl reiche Studieren de, Doktorandinnen und Dokto ran den, Do­zen ten sowie Verwaltungsangestellte aus »rassi schen« oder politischen Gründen von der Hochschule für Welt handel vertrieben. Hiervon waren insbesonde­re Angehörige der jüdischen Bevölkerung betroffen. Studierende mit nur einem bzw. zwei jüdi schen Groß­eltern teilen durften in der NS­Zeit nur mit Zustim­mung des zuständigen Reichsministeriums weiterstu­dieren oder Prüfungen ablegen, und zwar nur dann, wenn sie zum Christentum konvertiert oder konfes­sionslos waren und einige weitere Voraussetzungen einer ras sis tisch motivier ten Gesetzeslage erfüllten. Während des Zweiten Weltkriegs war den Angehörigen von »Feindstaaten« ein Verbleib an der Hochschule nicht möglich. Zwei Absolventen, die das neue Regi­me als missliebig ansah, wurden die akademischen Grade aberkannt. Innerhalb der Hochschule wurde das national sozialistische »Führerprinzip« eingeführt, Forschung und Lehre wurden an den Bedürfnissen des NS­Regimes ausgerichtet. In diesem Sinn appellierte Gaudozentenbundführer Kurt Knoll, seit November 1939 Rektor, an die versammelte Professorenschaft der »Welthandel«:

Unsere Hochschule hat als Wirtschaftshochschule des nationalsozialistischen Grossdeutschland ihre ganz bestimmten Aufgaben. Sie hat die ihr zukommende heran­wachsende Jugend unseres deutschen Volkes im Geiste der nationalsozialistischen Weltanschauung zu Kämpfern für die Weltgeltung unseres Volkes in Sonderheit auf dem Gebiet der Wirtschaft zu erziehen und mit jenem Wissen

Die Hochschule für Welthandel

Johannes Koll

»Säuberungen« und Nazifizierung 1938–1945

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und drängten jüdische Studierende wiederholt mit Ge­walt aus Hörsälen. Die wohlbegründeten Proteste von jüdischen Interessenvertretungen verhallten fast unge­hört. Auch wenn die überwiegende Mehrheit der Dozen­tenschaft konservativen und ständestaatlichen Leh ren anhing, hatte der NS­Dozentenbund unter seinem Ver­trauensmann Kurt Knoll dazu beigetragen, den Boden für eine Nazifizierung der »Welthandel« zu bereiten. Mit dem »Anschluss« Österreichs änderte sich das Vorgehen gegen die jüdischen Studierenden in quantitativer und qualitativer Hinsicht: Nun wurden »Säuberungen« eben­

Der systematische Ausschluss der jüdischen Studie ren­den fiel freilich nicht vom Himmel: Seit den zwanziger Jahren war es zu antisemitischen Hetzkampagnen ge­kommen, und wie an anderen Hochschulen des Lan des waren schon lange vor dem »Anschluss« auch an der »Welthandel« jüdische Studierende immer wieder Opfer gewaltsamer Ausschreitungen geworden. Deutschnatio­nale und nationalsozialistische Studierende sorgten für Tumulte, beschmierten Wände mit Hakenkreuzen und antisemitischen Losungen, warfen Böller, deren Detonationen gelegentlich zu Sachschäden führten,

Wien und der »Anschluss« Österreichs

Karteikarte von Maksymiljan M. Dzialoszynski: Eindeutig be legt ist, dass drei jüdische Studierende der Hochschule für Welthandel in Konzentra-tionslagern ums Leben ge-bracht wurden, unter ihnen Maksy miljan M. Dzialoszyn-ski. © Archiv der WU Wien

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sozialistischer Lesart als jüdisch galten. Gemessen an der Zahl der Personen, die im Wintersemester 1937/38 inskribiert waren, büßte die »Welthandel« somit in kur­zer Zeit über zehn Prozent ihrer Studierenden ein.

Dreizehn jüdischen Doktorandinnen und Dokto­randen, die kurz vor dem Abschluss ihrer Promotion standen, wurde zwar die Gelegenheit gegeben, noch schnell im Laufe des Sommersemesters 1938 die Rigo­rosen ab zu legen. Die Umstände waren aber denkbar unwürdig und Ausdruck rassistischer Diskriminierung: Die Öffentlichkeit, Verwandte und Bekannte waren von der Promo tionsfeier ausgeschlossen; akademische Funktionsträger wie Rektor, Dekan und Doktorvater durften nicht im Talar auftreten; anstelle einer münd­lichen Spon sion durften die Promovendinnen und Promoven den ihr Gelöbnis nur schriftlich ablegen, und zwar durch Unterzeichnung eines vorgedruckten For­mulars; Ansprachen waren nicht erlaubt. Hinzu kam, dass den jüdischen Doktorandinnen und Doktoranden im Unterschied zu ihren »arischen« Kolleginnen und Kollegen in der Regel vom Professorenkollegium die Befreiung von der Verpflichtung zur kostenintensiven Drucklegung ihrer Dissertation verweigert wurde. Noch schlechter erging es zwei jüdischen Doktoranden, die Ende Januar 1938 ihre Doktorarbeit eingereicht hatten: Karl Löwy und Arthur Luka wurde bald nach dem »An­schluss« vom damaligen Rektor Bruno Dietrich die Pro­motion mit dem Hinweis auf ihr Judentum verweigert: »Da mosa isch zu den Rigorosen nicht zugelassen«.2

so rasch wie umfassend in Angriff genommen und mit bürokratischer Effizienz durchgeführt.

Unter den Dozenten und Verwaltungsangestellten wurden in erster Linie Männer entlassen, die dem aus­trofaschistischen Regime der Bundeskanzler Engelbert Dollfuß und Kurt Schuschnigg nahegestanden hatten. Unter den Studierenden hingegen waren es vorwiegend Jüdinnen und Juden, die zu den Opfern des NS­Regimes zählten. Bei ihnen waren nicht das individuelle Reli­gionsbekenntnis, sondern »rassische« Gesichtspunkte ausschlaggebend, wie sie 1935 in den »Nürnberger Ras sen gesetzen« definiert worden waren. Diese traten unmittelbar nach dem »Anschluss« auch in Österreich in Kraft. An der »Welthandel« wurde den jüdischen Stu dierenden unmissverständlich bedeutet, dass sie fortan unerwünscht waren und das Hochschulgebäude im Wäh ringer Park nicht mehr betreten durften. Nur in Ausnahmefällen durften sie noch in aller Eile – und un­ter hohem Druck – Prüfungen absolvieren. Ein Nume­rus clausus für jüdische Studierende von anfangs zwei, später nur noch einem Prozent wurde nach der soge­nannten Reichspogromnacht (vom 9. auf den 10. No­vember 1938) aufgehoben; von da an waren Jüdinnen und Ju den generell vom Studium ausgeschlossen. Auch jüdi sche Studierende mit sehr guten Leistungen muss­ten im Laufe des Jahres die Universität verlassen – in den meisten Fällen ohne Examen. So kam es, dass in relativ kurzer Zeit 80 Personen aus der Hochschule für Welthandel verbannt wurden, weil sie nach national­

Immigration Card von Julius Winter, der sich nur wenige Wochen, nachdem seine Eltern ermordet worden waren, der US-Armee anschloss. © Leo Baeck Institute, Julius Winter Collection, AR 10741 (MF 506)

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chischen Gemeinden zeitgleich mit dem Einmarsch deutscher Truppen ließen Schlimmes erahnen. Wie ihre Kolleginnen und Kollegen mit österreichischer Staats­bürgerschaft wurden auch die jüdischen Studierenden aus dem Ausland ab dem Sommersemester 1938 aus der Matrikel der »Welthandel« gestrichen.

Wie viele der jüdischen Studierenden vom Natio­nal sozialismus wieder eingeholt wurden, nachdem die Tschechoslowakei zerschlagen worden war und die Wehrmacht Polen, Frankreich, die Sowjetunion und andere Länder in Europa und Nordafrika überfallen hatte, ist nicht bekannt. In zahlreichen Einzelfällen ist immerhin belegt, dass ehemalige jüdische Studie­rende der Wiener »Welthandel« die Shoah überlebt haben. Dies gilt insbesondere für diejenigen, die es schafften, in die Vereinigten Staaten von Amerika, die Schweiz oder den Bereich des britischen Common­wealth einschließlich des Mandatsgebiets in Palästina zu emigrieren. Als Beispiel kann auf Georg Schüller ver­wiesen werden, dessen Vater vom NS­Regime um eine Textilfirma mit gut 1.000 Angestellten in Österreich und Ungarn gebracht worden war; er selber überlebte in den USA. Eitel Fritz Figge hingegen emigrierte in die Schweiz, und zwar nachdem die Vermögensverkehrs­stelle ihn und seine verwitwete Mutter Irene um über 150.000 Reichsmark beraubt sowie das Dorotheum ihr wertvolles Mobiliar versteigert hatte und beide die obligatorische Reichsfluchtsteuer und andere Abgaben entrichtet hatten. Weitgehend ohne Vermögen und Be­

Folgen für die Betroffenen

Die Folgen der systematischen Ausgrenzungs­ und Ver­treibungspolitik für die Biographien der Betroffenen müssen differenziert betrachtet werden. Die jüdischen Studierenden, Doktorandinnen und Doktoranden mit österreichischer Staatsbürgerschaft waren demselben Schicksal ausgeliefert wie alle anderen Jüdinnen und Ju­den des »Großdeutschen Reiches«. Dies schloss ein, dass ihr Lebensraum und ihre Möglichkeit zum wirtschaft­lichen Überleben im Zuge der »Arisierungen« immer weiter eingeschränkt wurde. Dabei gilt es zu bedenken, dass sich die staatlich sanktionierte Beraubung sowohl auf Privatvermögen als auch auf Geschäfte oder Produk­tionsbetriebe erstreckte. Später kamen Deportation und Ermordung in den Vernichtungslagern hinzu. Wer konn­te, versuchte zu emigrieren, zu fliehen oder unterzutau­chen. Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs im September 1939 wurden die Möglichkeiten zur Auswanderung zu­nehmend schwieriger.

Die jüdischen Studierenden aus osteuropäischen Län dern kehrten in den meisten Fällen sehr rasch nach dem »Anschluss« in ihre Heimatländer zurück. Von den Zimmern oder Wohnungen, die sie in Wien gemietet hatten, meldeten sich etliche noch im März 1938 ab, die Übrigen folgten im Laufe des Frühjahrs und Som­mers. Das Vorgehen der Nazis in Deutschland seit der »Machtergreifung« im Januar 1933 sowie die Explosion antisemitischer Gewalt in Wien und anderen österrei­

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handel, heiratete in Kolumbien die gebürtige Wienerin Elisabeth Bleier, die genauso wie er durch Emigration der Judenverfolgung hatte entkommen können und die ge­nauso wie ihr Bräutigam die nächsten Verwandten in der Shoah verloren hatte.

Leider verliert sich zu den meisten Personen jede Spur, nachdem sie 1938 Österreich hatten verlassen müssen. Die Flucht in diverse europäische Länder garan­tierte allerdings noch lange keine Sicherheit vor dem NS­Regime. Der jüdische Absolvent Leopold Fär ber bei­spielsweise hatte sich zwar im Februar 1939 nach Belgien absetzen können. Er geriet aber vermutlich im Zuge des Westfeldzugs ab Mai 1940 wieder in die Fänge des »Groß­deutschen Reiches« und wurde zwölf Monate lang im südfranzösischen Konzentrationslager Gurs interniert.

Ein Student der »Welthandel«, der kurz vor dem Krieg nach Nordamerika ausgewandert war, verdient be­sondere Erwähnung, weil er sich aktiv an der Befreiung Europas vom Nationalsozialismus beteiligte: Nur wenige Wochen nachdem seine Eltern ermordet worden waren, schloss sich Julius Winter der US­Armee an. Als Über­setzer trug er seinen Teil zum Sieg der Alliierten über die nationalsozialistische Herrschaft in Afrika, Italien, Frankreich und Deutschland bei, er wurde mehrfach ausgezeichnet.

sitz gingen auch die Brüder Hans und Robert Eder mit ihren Eltern, Großeltern und ihrer Schwester Lisbeth ins Exil, nachdem die Nationalsozia listen die Hutfabrik und das Kaffeehaus im 7. Wiener Gemeindebezirk »arisiert«, das Familienvermögen blo ckiert und die Wohnung im schönen Neubauhof an nicht­jüdische Mieter vergeben hatten. Auf Malta, das damals von Großbritannien ver­waltet wurde, baute sich Familie eine neue Existenz auf.

Eindeutig belegt ist, dass drei jüdische Studierende der Hochschule für Welthandel in Konzentrationsla­gern ums Leben gebracht wurden: Karl von Kummer, Maksymiljan M. Dzialoszynski und der schon genannte Arthur Luka. Das gleiche Schicksal widerfuhr etlichen Verwandten von weiteren Studierenden. Ein tragisches Beispiel hierfür ist Hans Ungar. Ihm selber gelang es, sich rechtzeitig nach Kolumbien abzusetzen. Sein Bru­der Fritz hingegen war kurz nach dem »Anschluss« verhaftet und in die Konzentrationslager Dachau, Bu­chenwald und Auschwitz verschleppt worden; hier kam Fritz im Februar 1943 ums Leben. Auch die Eltern, in deren großbürgerlichem Wiener Haus einst bekannte Schriftsteller wie Stefan Zweig und Hermann Bahr zu Gast gewesen waren, wurden Opfer der Shoah: Sie wur­den im Vernichtungslager Sobibór umgebracht. Hans, der vertriebene Studierende der Hochschule für Welt­

Das Gebäude der Hochschule für Welthandel im Währinger Park, 1937 © Wiener Stadt- und Landesarchiv, Fotoarchiv Gerlach, FC1:5502M

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Examensprüfungen auf einen bestimmten Zeitraum einschränken und eine Wiederholungsmöglichkeit aus­schließen; es konnte das Diplomstudium genehmigen, ein Promotionsstudium jedoch verweigern. Es kam auch vor, dass eine bereits erteilte Zulassung zurückge­nommen wurde. Gegen die Entscheidungen des Mini­steriums konnten die Studierenden, die einer »Misch­ehe« entstammten, kaum vorgehen. Aus diesem Kreis waren nach derzeitigem Forschungsstand 19 Personen von der einen oder anderen genannten Einschränkung be troffen. Es ist allerdings davon auszugehen, dass die Gesamtzahl höher war.

Aberkennung akademischer Grade

Die Hochschule für Welthandel hat in der NS­Zeit zwei Absolventen die akademischen Grade aberkannt, nämlich Felix Glattauer und Franz Krusche. Bei dem jü­dischen Ökonomen Glattauer begründete das Rektorat die Aberkennung mit dessen Emigration, bei Krusche mit dem Verstoß gegen das »Heimtückegesetz«, mit dem die Nationalsozialisten jede Verunglimpfung von

Der Umgang mit »Mischlingen«

Im Unterschied zu den sogenannten »Volljuden« und den ihnen gleichgestellten »Geltungsjuden« wurden Studierende mit einem oder zwei jüdischen Großeltern­teilen nicht generell von der Hochschule verbannt, vo rausgesetzt, sie waren nicht Mitglied der Israeliti­schen Kultusgemeinde, jüdisch verheiratet, oder das Kind aus der Ehe oder einem unehelichen Verhältnis mit einem Juden bzw. einer Jüdin. Als »Mischlinge er­sten« bzw. »zweiten Grades« bedurften sie aber der Ge­nehmigung des »Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung« in Berlin, um ein Studi­um aufnehmen oder fortsetzen zu dürfen. Im Zusam­menwirken mit dem Rektorat der Hochschule für Welt­handel und dem Kurator der wissenschaftlichen Hoch­schulen Wiens, der eine Art politische Aufsicht über die Universitäten in Wien führte, machte das Ministerium von seinem Spielraum reichlich Gebrauch: Es konnte eine Studienzulassung selbst dann rückwirkend verwei­gern, wenn ein Student oder eine Studentin bereits alle Leistungen erbracht hatte; es konnte die Ablegung von

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fortgesetzt bzw. nachgeholt. Manchen der einst Ver trie­benen ge lang es in der Nachkriegszeit, hohe Positionen in der Wirtschaft oder in Wirtschaftsverbänden zu er­reichen.

Dies ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass unter dem NS­Regime zahlreiche Lebensverläufe zerstört und Menschenleben vernichtet wurden. Die »Säuberungen« ab März 1938 blieben eine offene Wunde – auch wenn diese außerhalb des Kreises der unmittelbar Betroffenen und ihrer Angehörigen jahrzehntelang entweder nicht wahrgenommen wurde oder von der populären These überlagert war, ganz Österreich sei Opfer von Hitlers aggressiver Außenpolitik gewesen. Nicht zuletzt die be­reitwillige Anpassung der Hochschule für Welthandel an das neue Regime ab 1938 lässt die Fragwürdigkeit der Opferthese deutlich werden.

Eine kritische Auseinandersetzung mit der NS­Ge­schichte der »Welthandel« ist lange Zeit ausgeblieben. Angeregt durch Anfragen betroffener Nachfahren wird seit 2012 an der WU Wien die Vertreibung der Studie­renden erforscht. Bereits zwei Jahre früher haben an der dortigen Universitätsbibliothek Recherchen nach Büchern begonnen, die in der NS­Zeit unrechtmäßig in den Bibliotheksbestand gelangt waren. Die Ergebnisse der Forschungen zu den Angehörigen der Hochschule für Welthandel, die Opfer des NS­Regimes wurden, ha­

Staat und Partei als Verbrechen ahndeten. Nur wenige Wochen nach dem Ende des Krieges erkannte die »Welt­handel« den beiden Geschädigten die akademischen Grade eines Diplomkaufmanns und Doktors der Han­delswissenschaften wieder zu.

Nach 1945

Kein einziger der jüdischen Studierenden ist nach der Befreiung von der NS­Herrschaft an die Hochschule für Welthandel zurückgekehrt. Ganz allgemein war ange­sichts der traumatischen Erfahrungen der zurücklie­gen den Jahre die Bereitschaft zur Remigration denkbar ge ring. Nur von zwei jüdischen Studierenden lässt sich nach derzeitigem Forschungsstand überhaupt nachwei­sen, dass sie zumindest kurzfristig nach Österreich zu­rückgekehrt sind: Georg Schüller hielt sich 1954 für vier Monate in seiner alten Heimat auf; Kurt Waldapfel kam 1947 aus Palästina nach Wien zurück – als einziger der vertriebenen jüdischen Studierenden für den Rest seines Lebens.

Unter den »Mischlingen« und den politisch Verfolg­ten des NS­Regimes hingegen haben zahlreiche Perso­nen, die zwischen 1938 und 1945 von Repression und Diskriminierung betroffen gewesen waren, nach Kriegs­ende ihr Studium oder Doktorat an der »Welthandel«

Die Ergebnisse der Forschungen zu den Angehörigen der Hoch-schu le für Welthandel, die Op fer des NS-Regimes wurden, haben mittlerweile Eingang in ein vir-tuelles Gedenkbuch gefunden: http://gedenkbuch.wu.ac.at/ © Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, WU Wien

Abbildung auf der Einstiegsseite der Website: »Da mosaisch zu den Rigorosen nicht zugelassen.« © Archiv der WU Wien

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ben mittlerweile in ein virtuelles Gedenkbuch Eingang gefunden. Unter der Internetadresse http://gedenkbuch.wu.ac.at können Kurzbiographien zu verfolgten Studie­renden, Dozenten und Verwaltungsangestellten abge­rufen werden. Seit dem Frühjahr 2014 erinnert überdies ein Denkmal auf dem neuen WU­Campus am Rande des Praters an die Angehörigen der »Welthandel«, die zwischen 1938 und 1945 ausgegrenzt, verfolgt, vertrie­ben oder ermordet wurden. Damit stellt sich die WU Wien ihrer Vergangenheit und setzt für zukünftige Ge­nerationen ein Zeichen der Erinnerung, des Gedenkens und der Mahnung.

Anmerkungen

1 Protokoll der Professorenkollegiumssitzung der Hochschule für Welthan-del vom 30. November 1939, Archiv der WU Wien.

2 Promotionsanträge von Löwy und Luka, Allgemeine Akten der Studien-abteilung 1938, Archiv der WU Wien.

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Impressum: Juden in Mitteleuropa. Erscheint jährlich. Zweck: Information über jüdische Geschichte und Kultur. Medien in ha ber, Heraus geber und Verleger: Institut für jüdi sche Geschichte Österreichs, Dr. Karl Renner-Promenade 22, A-3100 St. Pöl ten, Tel.: +43-2742-77171-0, Fax: DW-15, [email protected], www.injoest.ac.at. Chefredaktion und PR-Ver wal tung: Dr. Sabi ne Hödl. Gestaltung: Renate Stockreiter. Litho graphie: pixel storm. Druck: rema print.

© Institut für jüdische Geschichte Österreichs. Alle Rechte vor behalten. Trotz intensiver Bemühungen ist es uns nicht in allen Fällen gelungen, die Inhaber der Bildrechte aus findig zu machen. Bitte wenden Sie sich zwecks Abgeltung allfälliger Ansprüche an das Institut für jüdische Geschichte Österreichs.

Wir danken dem Bundes kanzler amt, der Erzdiözese Wien, der Diözese St. Pölten und der Mondi Neusiedler GmbH für die Unterstützung der Zeitschrift.

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