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Insel der Genies

Date post: 08-Jan-2017
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TERRA ASTRA 137

Insel der Genies von John T. Phillifent

1. Das Gebäude des Interstellaren Sicherheitsdienstes, dessen sichtbarer Teil sich zweihundertfünfzig Meter über den Mondboden erhob, bot keinen schö-nen Anblick. Das jedenfalls stellte Rex Sixx wieder einmal fest, als er einen kurzen Blick auf den Koloß werfen konnte, ehe das Schienenauto wieder in einen Tunnel eintauchte. Die Erbauer hatten nur Zweckmäßigkeit im Auge gehabt, und doch betrachtete es der Agent als sein Zuhause. Als sich der Tunnel zu einem ganzen System mit einer Unzahl von Quer-verbindungen erweiterte, wußte Rex, daß sie sich dem noch größeren, un-terirdischen Teil des Gebäudekomplexes näherten. Er betrachtete seinen Kollegen. Roger Lowry schien zu dösen, doch konnte dies als Regel be-trachtet werden. Sein hünenhafter Körper stak in einer blendendweißen Uniform, was zunächst einen Respekt und Ehrfurcht erweckenden Eindruck vermittelte. Blickte man jedoch genauer hin, so stufte man den Mann auf Grund seiner treuherzigen Augen und der sanften Art als den Typ des gut-mütigen aber nicht allzu intelligenten Riesen ein, was Lowry einen nicht unbeträchtlichen Vorteil verschaffte, den er oft ausnutzen konnte "Was, glaubst du, will der Alte diesmal von uns?" Sixx sprach die Frage aus, mit der sich beide in Gedanken beschäftigt hatten. Lowry zuckte fast unmerklich die Schultern. "Vielleicht ein Trainingskurs?" "Schlaf weiter", riet Sixx nachsichtig. "Das einzige Training, das ich jetzt brauche, mußte ich wegen dem Alten unterbrechen." Sie schwiegen wieder, bis sie in Jason Horns Büro saßen. "Ich glaube mich erinnern zu können", begann Horn in leichtem Plauderton und blickte mit sanften Augen abwechselnd auf die beiden Agenten, "daß einer von euch einmal die wohl witzig gemeinte Bemerkung fallenließ, ihr bekämet immer die schwierigsten Aufträge?" Er ließ den Satz in der Luft

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hängen und lehnte sich hinter seinem enormen Schreibtisch in den Sessel zurück. Er benahm sich wie ein geduldiger Großvater seinen aufsässigen Enkeln gegenüber, und Sixx wurde sofort wachsam. Horn holte tief Luft, und es klang fast wie ein Seufzer. "Diesmal handelt es sich um etwas so Einfaches, daß ich mich fast geniere, darüber viele Worte zu verlieren. Aber es ist für eine ganze Menge Leute wichtig, und ich brauche euch bei-den nicht zu erklären, daß zumindest die Hälfte unseres Rufes darauf zu-rückzuführen ist, was wir zu tun scheinen. Und nun handelt es sich um ei-nen der Fälle, deren Erledigung gut aussehen muß. Deshalb habe ich euch ausgewählt." Dieser Appell an einfache Logik und Vernunft ließ Sixxs Mißtrauen voll aufflammen. Er bedachte Horn mit einem traurigen Lächeln. "Was soll denn das für eine Einleitung sein, Sir?" fragte er sanft. "Wann haben wir jemals einen Auftrag abgelehnt? Es handelt sich also um eine heikle Sache. Heraus mit der Sprache!" "Die sanfte Verkaufstour macht mich nervös", stimmte Lowry zu. "Ihr seid Zyniker", sagte Horn anklagend. "Ihr vertraut überhaupt nieman-dem!" "Stimmt", sagte Sixx. "Und wir sind immer noch am Leben, was ja etwas beweisen muß." Horn seufzte und betrachtete ein Papier auf seinem Schreibtisch. "Der Auftrag ... Was wißt ihr über Martas?" "Nicht das geringste", versicherte Sixx. "Eine ganze Menge", stellte Lowry gleichzeitig fest und rutschte leicht verlegen auf seinem Stuhl, als sich ihm die beiden neugierig zuwandten. "Ach so?" sagte Horn. "Gut. Ich habe einige Daten hier, doch würde ich zum Vergleich gern hören, was Sie wissen." Lowry nahm den Helm seines Schutzanzugs von den Knien und legte ihn auf den Boden. Er fuhr sich durch die blaßblonden Haare, überlegte kurz und begann: "Ein Mann namens Jan Bardak. Ungar. Polymathematisches Genie. Entdeckte vor etwa fünfzig Jahren als Expeditionsleiter irgendwo im Spika-System einen Stern mit Planeten. Benannten die Sonne nach ihm, Bardak. Einer der Planeten gehört zur Klasse 'primitiv' und besitzt kontinen-tale Landmassen, Inseln und ein annehmbares Klima. Sie hielten ihn für Kolonisation geeignet und gaben ihm den Namen Martas." Horn warf einen Blick in seine Papiere. "Noch etwas?"

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"Ein wenig. Scheint, daß Bardak ein ziemlich cleverer Bursche war. Er blieb dort und organisierte die Kolonisation. Alles. Sie besiedelten den Hauptkontinent. Subtropisch, wild aber fruchtbar und reich an Mineralien. Er brachte alles in Schwung und erwarb sich dabei ein Vermögen." "Tüchtig", meinte Sixx vorsichtig, "ein guter Geschäftsmann vielleicht. Aber ein Genie? Das ist ein starkes Wort, Roger." "Es geht noch weiter", beruhigte ihn Lowry und fuhr fort: "Bardak blieb dort, auf dem Hauptkontinent - sie nannten ihn 'Dolgozni', was 'Arbeit' be-deutet -, bis er genug hatte. Dann verkaufte er seinen gesamten Besitz und erwarb eine einsame Insel in der Nähe des Kontinents. Ziemlich groß, und niemand wollte etwas damit zu tun haben, was ihm nur recht war. Er veröf-fentlichte eine Einladung, gerichtet an jedes Genie, jeden Experten und ähn-liche Menschen, an die, die sich durch die Gesellschaft behindert und fru-striert fühlen. Sie sollten ihm behilflich sein bei der Ausarbeitung von Plänen und Regeln für ein ideales, gesellschaftliches Gebilde, eine Art von Utopia. Sie brauchten bloß seine Tests zu bestehen. Er nannte die Insel 'Iskola'; das bedeutet 'Schule'." "Jetzt erinnere ich mich", warf Sixx ein. "Das neue Utopia. Ich habe da-von gehört. Aber soviel ich weiß, ist aus dem Vorhaben aus Mangel an Unterstützung und Interesse nichts geworden. Es scheint, als zogen es die Genies vor, in bekannter Umgebung frustriert zu werden, anstatt ihre Theo-rien im Neuland auszuprobieren. War es nicht so?" "Nein", widersprach Lowry mit Nachdruck. "Der Reiz des Neuen ver-blaßte bald, und es kam nie zu einem großen Zustrom. Wie ich hörte, sind die Tests nicht leicht zu bestehen. Niemand kehrte je zurück, und man erhält kaum Informationen, doch den Gerüchten nach geht es den Leuten auf Iskola gut." Sixx schüttelte bedächtig den Kopf. "Wenn du mich fragst, so glaube ich erst dann an eine Gesellschaft von Genies, an ein neues Utopia, wenn ich es selbst sehe. Vielleicht." "Jedenfalls stimmt Ihr Bericht mit meinen Informationen überein, Lowry", warf Horn ein. "Bardak ist inzwischen gestorben oder aber ein sehr alter Mann, die Inselgesellschaft besteht jedoch immer noch. Sie gibt sich so geheimnisvoll wie zuvor, und es ist genauso schwer hineinzukommen wie zuvor - bis jetzt. Es ist etwas geschehen, und nun sollen wir auf den Plan treten."

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Sixx wurde aufmerksam. "Unheil im Garten Eden?" "Etwas Ähnliches", gab Horn vorsichtig zu. "Zunächst einige Informatio-nen, damit ihr einen Überblick gewinnt: Zum ersten - es besteht keine Freundschaft zwischen Dolgozni und Iskola. Soweit ich es verstehe, sind die Dolgoznier - oder Martanier, wie sie sich selbst nennen - fest davon über-zeugt, daß Bardak ihre Wirtschaft künstlich auf zu hohe Touren angekurbelt und dann alle seine Anteile verkauft hat, um anschließend zu verschwinden und sie einer Reihe schwerer Krisen zu überlassen. Die jetzige Situation ist die, daß die Kolonie zwar immer noch gedeiht, daß die Einwohner aber sehr hart dafür arbeiten müssen. Sie sind der Ansicht, Bardak habe dies kommen sehen und sie rechtzeitig im Stich gelassen. Sie sind also auf Iskola nicht gut zu sprechen, was übrigens auf Gegenseitigkeit beruht. Weiter: Polizei gibt es nur in Dolgozni. Und obwohl sie recht tüchtig ist, beschränkt sich ihre Tätigkeit zumeist auf einfache Fälle. Niemand hat viel Freizeit, freies Kapital, noch sonst etwas frei. Daher sind die Gesetze grundlegend und einfach, und die Verbrechen sind spontan und unkompli-ziert." Horn zuckte die Achseln. "Als Iskola also merkte, daß unter ihren Genies eine Welle des Verbrechens ausbrach, wandte sie sich nicht an Dol-gozni um Hilfe." "Hah!" Sixx fand dies amüsant. "Kann der Arzt sich nicht selber heilen? Wenn sie schon in einer so genialen Gesellschaft leben, können sie mit ihren schwarzen Schafen wohl selbst fertig werden?" "Ganz im Gegenteil, Rex", widersprach Lowry. "Wenn man sich daran-macht, die ideale Gesellschaftsform zu entwickeln, so denkt man nicht im entferntesten an Regeln, deren Einhaltung man erzwingen muß. Recht und Ordnung, Gesetz und Strafe, aufgezwungene Disziplin - das sind nur Behel-fe für die, die es nötig haben." "Ein guter Einwand", stimmte Horn zu. "Wann habe ich zum Beispiel euch zu etwas zwingen müssen?" Sixx wandte sich erregt an seinen Partner: "Du tust so gescheit; warum bist du nicht selbst dieser Schule beigetreten?" Und seinen eigenen Gedan-ken weiter verfolgend, fügte er hinzu: "Vielleicht hast du es tatsächlich ein-mal versucht und weißt deshalb so viel darüber?" Wiederum rutschte Lowry verlegen auf seinem Stuhl hin und her. "Ich habe einige Erkundigungen eingeholt. Da ist doch nichts dabei."

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Horn wirkte nun sichtlich interessiert. "Das wußte ich nicht, Lowry. Was ist daraus geworden? Haben Sie den Test nicht bestanden?" "Soweit ist es nicht gekommen, Sir. Ich versuchte herauszufinden, was einen erwartet, falls man die Prüfungen besteht. Aber solche Informationen sind nicht erhältlich, und daher ließ ich den Gedanken fallen. Sie sagen, daß sie von einer Serie von Verbrechen heimgesucht werden? Wieso interes-siert uns das?" "Ah ja." Horn wandte sich wieder seinen Papieren zu. "Ich habe bloß einen groben Überblick. Es dauerte offenbar einige Zeit, bis die Iskolaner die Verbrechen überhaupt entdeckten. Und dann dauerte es wiederum, bis sie einen Ausschuß gebildet hatten, der Maßnahmen beschließen sollte." "Nennt man so etwas genial?" fragte Sixx. "Wieso ist es derart schwierig, einen Ausschuß zu bilden?" Kopfschüttelnd fuhr er fort: "Wenn sie schon so gescheit sind, so dürften sich keine Verbrecher unter ihnen befinden. Und wenn schon, dann sollten sie sie auch selbst erwischen können." "Ganz recht. So dachte man auch bei der Interstelpol, an die sie sich ge-wandt hatten. Die waren auch nicht davon begeistert. Dann entschloß man sich, einen Spezialagenten hinzuschicken, der die Situation prüfen und den Iskolanern mit seinem Expertenwissen beistehen sollte. Und ihr beide fahrt mit. Es handelt sich mit anderen Worten um einen einfachen Leibwächter-job." "Es sieht so aus, als könnte ich also dennoch mit eigenen Augen sehen, was es mit Iskola auf sich hat", sagte Lowry interessiert. "Ich bin dem auch nicht abgeneigt", stimmte Sixx zu. "Wo liegt eigentlich Martas?" Horn schob ihnen eine Sternkarte über den Tisch. "Der Stern Bardak liegt etwas außerhalb des Zentrums des Spika-Haufens in der Jungfrau. Ihr wer-det euren eigenen Klipper nehmen. Reine Routinesache. Nur eins: Der Agent ist Louise Latham, das einzige Kind eines sehr guten Freundes von mir. Wally - Commander Walter Latham - tat auf seine Art für I.S.P., was ich für diesen Laden getan habe." Er machte eine Handbewegung, die den gesamten Interstellaren Sicherheitsdienst einschloß. "Wir haben beide er-lebt, wie Louise aufwuchs. Sie ist intelligent, äußerst intelligent sogar. Und daher auch ein wenig sonderbar. Manchmal etwas schwierig. Aber darum braucht ihr euch nicht zu kümmern, verstanden? Euer Auftrag besteht darin,

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sie sicher nach Iskola zu begleiten, sie ständig zu bewachen und sie sicher wieder zurückzubringen. Davon abgesehen tut ihr alles, was sie verlangt!" Sixx vermeinte, Besorgnis in der Stimme von Horn zu entdecken und setz-te ein beruhigendes Lächeln auf. "Wir werden tun, was wir können, Sir. Holen wir sie von Terra, oder schafft sie es bis hierher allein?" Horn schüttelte den Kopf. "Es tut mir leid, ich habe euch scheinbar einen falschen Eindruck vermittelt. Louise ist nicht berühmt, nicht einmal unter ihren Kollegen. Ihr braucht keine Schau abzuziehen. Nicht vor eurer An-kunft auf Martas. Selbst dann ist Diplomatie das Wichtigste. Wir müssen strikt neutral auftreten und niemanden beleidigen. I.S.P. schickt die Tochter des Chefs, damit die Sache gut wirkt. Wir machen mit. Weder kränken wir Martas, noch verärgern wir Iskola. Diplomatie, meine Herren!"

2. Als sie sich im Aufzug zum unterirdischen Transportniveau befanden, fragte Lowry: "Kannst du mir erklären, warum niemand sich mit einer Gesellschaft von Genies befassen will?" "Manchmal gehst du mir auf die Nerven", antwortete Sixx. "Wie kannst du so etwas fragen, ohne die offensichtliche Antwort zu erkennen?" Der Aufzug hielt, die beiden Männer begaben sich zum Tunnelbahnsteig und warteten auf den nächsten Viersitzer. "Das ist doch klar, oder? Wie fühlst denn du dich, wenn du jemandem begegnest, der dir in allem haushoch über-legen ist?" "Das ist mir noch nie passiert. Ich habe eine Menge Leute getroffen, die auf bestimmten Gebieten eine Menge mehr wußten als ich. Von denen lern-te ich, wenn ich konnte." Lowry hielt inne, als ein Schienenauto heranzischte und sich die Türen öffneten. Sie stiegen ein, Sixx stellte ihren Bestimmungs-ort ein, und das Fahrzeug schoß unter dem Einfluß von starken Kraftfeldern davon. "Nimm diesen Schutzanzug zum Beispiel", setzte Lowry fort. "Ich mußte lernen, ihn anzuziehen, ihn auszuziehen, ihn in Ordnung zu halten, ihn zu bedienen, was er aushält, und noch vieles mehr - all das von Leuten, die viel mehr davon verstehen, als ich jemals tun werde. Sie wissen, wie und warum alle Schutz- und Servosysteme funktionieren. Ich nicht. Deshalb sind sie gescheiter als ich - auf diesem Gebiet. Na und? Vielleicht kenne ich

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Tricks in der waffenlosen Kampftechnik, von denen sie nie gehört haben. Macht ihnen das Kopfzerbrechen?" "Darauf kommt es nicht an. Ich spreche von jemandem, der dir in allem überlegen ist. Müßtest du gegen ihn antreten, so verlörest du jedesmal!" "Na und?" Lowry blieb unbewegt. "Wer sagt, daß ich gegen alle gewinnen muß? Und wer sagt, daß ein solcher Mann unbedingt gegen mich antreten will?" Sixx war irritiert. Er stützte sich ab, als das Fahrzeug bremste und die Türen sich öffneten. "Dir macht es vielleicht Spaß, dich in einer Schar von überspannten Genies aufzuhalten, ich jedoch werde ein scharfes Auge auf sie haben." Als sie die Halle des Raumhafens betraten, warf Sixx einen Blick in seine Dokumente, dann auf einen der großen Anzeigenbildschirme und reichte Lowry einen Durchschlag. "Der Zubringer von Terra ist soeben angekom-men. Ich erwarte die Agentin bei der Ankunft, während du uns einen Start-platz für Klipper IV besorgst." Lowry folgte der Aufforderung, und die Menge machte respektvoll Platz, als sie der blütenweißen, gestärkten Uniform mit den Goldaufschlägen an-sichtig wurde. Sixx grinste und schlenderte zur Ankunftsseite, wo soeben die Passagiere in kleinen Gruppen die Halle betraten. Kurz darauf bemerkte er ein Mädchen, das ganz den Eindruck erweckte, als erwartete sie, abge-holt zu werden. Sie war von mittlerer Statur, in einen blauschwarzen Um-hang gehüllt, dessen Kapuze über den Rücken hing, wodurch ihr raben-schwarzes Haar einen guten Kontrast zum königsblauen Futter abgab. Hin-ter der Sonnenbrille waren ihre Augen nicht auszumachen. Er näherte sich ihr. "Miß Latham? Miß Louise Latham?" Sie ergriff sein Handgelenk, blickte auf und nahm die Brille ab. Ihre Au-gen waren groß und besaßen die Farbe von Honig, durch den die Sonne scheint. Augenblicklich schloß sie die Augen wieder und setzte die Gläser auf. "Sie haben mich", sagte sie mit rauher Stimme. "Verschaffen Sie mir einen Platz in der Nähe eines Tisches mit einem großen Glas darauf. Ich brauche es!" "Kein Problem." Sixx bot ihr seinen Arm an, und sie stützte sich schwer darauf. "Hatten Sie eine beschwerliche Reise? Ihre erste?"

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"Für mich sind alle Reisen beschwerlich." Ihre Stimme klang, als wäre das Mädchen schwer erkältet. "Jede Bewegung, die rascher ist als ein flotter Spaziergang, verwirrt meinen Ortssinn. Geht es Ihnen auch so?" "Ich bin nicht sicher, daß ich Sie verstehe, Miß Latham." Sixx streckte seine freie Hand aus, um den Lichtstrahl einer Fotozelle zu unterbrechen, und die Tür zu einem ruhigen, gedämpft beleuchteten Lokal öffnete sich. Er führte das Mädchen an einen Tisch und drückte den Knopf nach der Bedienung. "Wenn Sie den Orientierungssinn meinen - den habe ich, doch soviel ich weiß, verwirrt sich der nicht. Jedenfalls werde ich nicht seekrank. Was möchten Sie haben?" Ein Robot glitt heran. Sie sah ihn zweifelnd an und schüttelte mißbilligend den Kopf. "Wählen Sie einen doppelten Whisky, einen doppelten Wodka und einen Spritzer Zitrone für mich. Alles in ein Glas." Sixx's Hand blieb auf halbem Wege zur Wählscheibe auf der Brust des Robots in der Luft hängen. Er gedachte der Warnung Horns, konnte sich aber nicht verkneifen zu fragen: "Sind Sie da ganz sicher?" "Bei einem solchen Modell geht nicht mehr in ein Glas hinein. Ich habe es versucht. Selbst so bekäme ich ohne den Zitronenzusatz nicht, was ich woll-te. Bestimmungen? Warum kann man nicht bestellen, wonach einem der Sinn steht? Passen Sie auf, daß Sie richtig wählen, sonst erhalten Sie auto-matisch zwei Gläser serviert, und es ist doch um die Zeit schade, oder? Und ..." "Das habe ich nicht gemeint", unterbrach er hastig und wählte das Ge-wünschte. Als der Robot das volle Glas auf den Tisch stellte, wählte Sixx für sich selbst einen bescheidenen Whisky mit Lime und beobachtete faszi-niert Miß Latham, wie sie das Glas an die Lippen setzte und bis auf den letzten Tropen austrank. Sie stellte es zurück, schüttelte sich und meinte: "Jetzt fühle ich mich woh-ler. Ein zweites Glas wäre natürlich noch besser." Er fand keine Worte. Da sah er Lowry herankommen und betätigte er-neut die Wählscheibe. "Deiner mit Soda, Roger?" "Nehmen Sie Ihre Karte aus dem Zahlschlitz", drängte Miß Latham. "Jetzt sind wir drei, und das Ding kann zählen." Sixx tat, wie ihm geheißen, als Lowry sich setzte und sein Glas ergriff. Sie verwendete ihre eigene Karte und bestellte sich ein weiteres Getränk vom selben Kaliber. "Für euch beide

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wieder dasselbe?" fragte sie, und die Gläser erschienen auch prompt. Sixx holte tief Atem und nahm einen kleinen Schluck. "Darf ich bekannt machen?" fragte er. "Miß Latham, ich bin Rex Sixx, und das ist mein Partner Roger Lowry. Von jetzt an sind wir Ihre Leibwa-che. Wie sieht es aus, Roger?" "Günstig. In ein paar Stunden geht eine Karawane zum Arkturus ab. Von dort aus können wir uns einer zur Spika anschließen. Ich erfuhr, daß Miß Lathams Gepäck vorläufig bereits auf die Canberra II geschafft wird, deren Ziel der Arkturus ist." Er blickte fragend zu dem Mädchen hinüber, doch es war zu sehr mit seinem Glas beschäftigt, das genauso wie das erste in steti-gem Zug geleert wurde. Sixx wartete darauf, sie tot umfallen zu sehen, doch Miß Latham schien immer lebendiger zu werden. "Noch besser", seufzte sie zufrieden. "Jetzt sind Sie an der Reihe, Mr. Lowry." Lowry betrachtete seine beiden Gläser, dann die beiden, die vor Sixx stan-den, wovon nur aus einem ein Schluck fehlte, betrachtete das Mädchen abschätzend, fragte nach der Zusammensetzung des Drinks und starrte Sixx ungläubig an, als sie ihn aufklärte. "Was siehst du mich so an? Du hast gehört, was sie gesagt hat. Du weißt auch, was uns Mr. Horn aufgetragen hat: Was immer sie auch verlangt. Und wenn wir sie an Bord tragen müssen, so ist das kein großes Problem." Miß Latham lachte leise, als Lowry die Wählscheibe des Robots betätigte. Sie nahm die Sonnenbrille ab und legte sie beiseite. Ihre Augen waren kei-neswegs getrübt, sondern blickten frisch und amüsiert. "Sie sind nicht der erste, der diesen Fehler begeht, Mr. Sixx. Sie werden mich nirgendwohin zu tragen brauchen. Danke." Sie griff nach dem dritten Glas, während der Robot, seinem Programm gehorchend, davonrollte. Wie sie richtig festge-stellt hatte, konnte er zählen. Und zwischen zwei Bestellungen auf dersel-ben Karte mußten zehn Minuten vergehen, während nichts daran hinderte, eine ganze Runde auf einmal zu bestellen. Es war nicht schwer, die Maschine hereinzulegen, dachte Sixx, als er der Leerung des dritten Glases zusah. "Niemand kann soviel Alkohol in sich hineingießen und bei Bewußtsein bleiben", sagte er. "Jede Regel hat ihre Ausnahmen, Mr. Sixx. Wie war das mit meinem Gepäck?" Sie erschien noch entspannter als zuvor - und attraktiv; sie schien

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zu strahlen, aber es handelte sich nicht um das Strahlen, das aus der Flasche zu kommen pflegt. Sixx gewann irgendwie den Eindruck, als hätte der Al-kohol wie ein Schmiermittel in einem verrosteten Getriebe gewirkt. "Ihr Gepäck wird an Bord der Canberra II gebracht", wiederholte Lowry. "Aha, und es wäre euch lieber, wenn wir in eurem Schiff reisten?" "Ja", erwiderte Sixx. "Unser Schiff ist etwas Besonderes, wie Sie viel-leicht wissen. Und obwohl wir nicht an etwas Unvorhergesehenes glauben, ehe wir Martas erreicht haben, sind wir bekannt dafür, keine Risiken einzu-gehen." "Ich kenne euren Ruf. Seit Jahren nenne ich Jason Horn Onkel, und ich möchte euch in keiner Weise Schwierigkeiten bereiten. Handelt so, wie ihr es für richtig haltet!" Lowry erhob sich. "Ich kümmere mich um das Gepäck, während du Miß Latham einstweilen an Bord bringen kannst." Sixx stand auf und bot dem Mädchen seinen Arm an, da er immer noch überzeugt davon war, daß es sich am Rande der Bewußtlosigkeit befinden mußte. Miß Latham erhob sich jedoch mit offensichtlicher Leichtigkeit und ging zwischen den beiden Männern, als wäre nichts Besonderes geschehen. Außerhalb des Lokals warf Lowry Sixx einen erstaunten Blick zu, ehe er in Richtung des Landeplatzes der Canberra II verschwand. Sixx und das Mädchen nahmen ein Schienenauto zum weiter entfernten Clipper IV. "Wir nennen ihn Joe", sagte er stolz. "Das ganze Schiff ist ein Computer, nicht wahr?" fragte sie und blickte zur Einstiegsluke empor. "Beobachtet er mich jetzt?" "So könnte man es ausdrücken." Sixx vermißte den Respekt in ihren Wor-ten, der Joe seiner Meinung nach zukam. "Joe speichert Ihr Aussehen für die Zukunft. Er wird Sie an Bord lassen, wenn wir, Roger oder ich, dabei sind. Aber er wird nichts für Sie tun, bis wir ihn darüber informiert haben, daß Sie ein Freund von uns sind." Er hätte ihr noch viel mehr erzählen kön-nen, doch unterließ er es. Sie waren noch nicht lange an Bord, als auch schon Lowry mit zwei Rei-setaschen nachfolgte, die in einer der Gästekabinen verstaut wurden. An-schließend setzte man sich in die winzige Messe und wartete auf das Essen, das von der Automatküche zubereitet wurde. Sixx bot Miß Latham scherz-haft einen Drink an, doch sie lehnte dankend ab.

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"Ich brauche ihn noch nicht", erklärte sie ganz ernsthaft. "Ich trinke nur das Notwendigste. Ich fürchte mich richtig vor dem Tag, da mir das Zeug zu schmecken beginnt." "Was?" fuhr Sixx auf. "Jetzt verstehe ich gar nichts mehr." Sie lachte in sich hinein. "Ich kann alles in einem Wort zusammenfassen, aber das wird Ihnen nicht viel helfen: Ich bin intuitiv begabt." Bei seinem Anblick lachte sie wieder. "Die meisten Frauen behaupten das von sich, ob es nun stimmt oder nicht", brachte er endlich hervor. "Das ist nichts Neues." "Bei mir stimmt es", erwiderte sie ruhig und mit einem ernsten Unterton. "Aber ich kann es nicht gut erklären. Seit meiner Kindheit vermag ich, um Menschen, Dinge, Örtlichkeiten, Ereignisse herum eine Art von Ausstrah-lung oder Aura zu ... fühlen. Es ist wie eine Zeitverschiebung, so daß ich weiß, was gerade geschehen ist, was geschieht und was geschehen wird - alles irgendwie gleichzeitig. Es handelt sich nicht um etwas optisches, son-dern nur um ein Gefühl. Und es wird unbehaglich, ja unerträglich, wenn etwas nicht stimmt oder gefährlich ist. Können Sie damit etwas anfangen?" Sixx nickte langsam, und Lowry sagte: "Das nehme ich Ihnen ab. Rex und mir geht es wohl so ähnlich. In unserem Beruf braucht man das. Es ist eine Art Riecher für Dinge, bei denen etwas faul ist. Aber dies beruht auf Trai-ning, Gewohnheit, Erfahrung und Beobachtung von Einzelheiten samt un-bewußten Prozessen, die alles zusammenfassen. Oder nicht?" Sie schüttelte lächelnd den Kopf. "Für so einfach halte ich es nicht. So habe ich zum Beispiel seit meinem zwölften Lebensjahr nicht mehr ver-sucht, jemandem diese meine Intuition zu erklären, weil ich wußte, daß mich niemand verstehen würde. Ihr beide jedoch tut es, und ich wußte es bereits vorher. Und außerdem: Was habe ich schon für ein Training gehabt? Die Schulen schaffte ich spielend, und mein größtes Problem bestand darin, daß ich nicht verstand, warum alle Lösungen nicht für alle anderen ebenso of-fensichtlich waren wie für mich. Ich konnte meine Gabe nicht nach Belie-ben abschalten, sondern sie war ständig am Werk. Und dann wuchs ich auf und wurde eine Frau." Ihr Lächeln verschwand, und ihre Augen verschle ierten sich ein wenig bei der Erinnerung daran. "Es handelte sich natürlich bloß um chemische Veränderungen, doch mir erschien es so, als hätte jemand die Leistung meines Nervensystems voll aufgedreht. Was zuvor gewissermaßen mit sanfter Hintergrundsmusik ver-

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glichen werden konnte, wurde langsam zu einem Kreischen in voller Laut-stärke auf allen Kanälen und aus allen Richtungen. Für eine Zeitlang wurde ich verrückt. Bis ich auf die Lösung stieß." "Aber Alkohol ist ein Stimulans!" protestierte Sixx. "Oh nein. Glaubt mir, ich habe mich ausführlich damit befaßt. Fragt Joe, wenn ihr wollt!" Lowry nahm sie beim Wort, drehte sich in seinem Stuhl herum und mach-te sich an der Tastatur des Terminals zu schaffen. "Alkohol", fuhr sie fort, "ist mit Äther verwandt. Er scheint die psychi-schen und physischen Funktionen zu stimulieren, indem er Spannungen ab-baut, aber in Wirklichkeit ist er ein Betäubungsmittel. Erst betäubt er all unsere kleinen Sorgen und Schmerzen, dann setzt er Wahrnehmungs- und Urteilsvermögen herab. So einfach ist es. Für mich hat dies zur Folge, daß er die schmerzenden Obertöne wegfiltert, denen ich sonst ausgesetzt bin. Wenn ich nach euren Begriffen stocknüchtern bin" - sie schauderte bei dem Gedanken - "arbeitet jede meiner Nervenfasern mit maximaler Intensität. Es ist eine Tatsache, daß ich in den vergangenen achtzehn Jahren auch nicht ein einziges Mal vollkommen nüchtern war." Sie wandte sich an Lowry. "Was sagt Joe dazu?" "Er bestätigt alles. Aber er fügt hinzu, daß Alkohol ein Gift ist, das das Gewebe verhärtet und die Nerven schädigt und daß Ihre Lebenserwartung weit unter dem Durchschnitt liegt." "Ich weiß", seufzte sie, "aber was soll ich tun?" Sixx schnitt eine Grimasse. Er glaubte ihr in allem. "Aber das ist ja wahnsinnig! Seinen Geist so zu betäuben, daß er normal funktioniert. Wenn Sie bloß auf irgendeine Art lernen könnten, mit den Informationen fertig zu werden, die Sie dauernd empfangen, dann wären Sie allen Menschen haus-hoch überlegen!" Wieder schüttelte sie den Kopf. "Auch daran habe ich gedacht. Normale Menschen haben von Natur aus Filter, weil ihr Gehirn eben nur eine gewis-se Menge von Daten gleichzeitig aufnehmen kann. Ich besitze diese Schal-ter oder Filter nicht, und daher muß ich zu künstlichen Mitteln greifen - in diesem Fall Alkohol. Es gibt auch andere Dinge, doch sind sie schwerer erhältlich.

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Ich danke euch beiden, daß ihr mich so gut versteht. Könnt ihr euch vor-stellen, wie oft gutmeinende Personen versucht haben, mich von meiner 'Schwäche' zu heilen?" Lowry hatte während der letzten Minuten Kopfhörer aufgesetzt, um die Nachrichten zu verfolgen, und wandte sich jetzt an Sixx: "He, Rex! Das solltest du hören! Neuigkeiten von Martas." "Martas?" fragte Sixx aufmerksam. Lowry sprach in ein Mikrophon: "Er-suche um Wiederholung der Nachricht über Sol-Senator Arthur Vancec. Ende." Er legte einen Schalter um, und aus einem Lautsprecher ertönte eine metallene Stimme: "ARATNI, Hauptstadt von Dolgozni, Planet Martas, vierter Monat, dritter Tag, neunhundertdreißig Stunden Standardzeit, Bericht von Polizeichef Ra-mon Martinez. Er erfuhr von Iskola, daß dort in dem Gästehaus auf dem Besitz des Iskolaners Bernhard Hoff heute die Leiche des Sol-Senators Arthur Vancec aufgefunden wurde. Aus dem Bericht geht hervor, daß Vancec offenbar aus nächster Entfernung mittels einer noch nicht aufge-fundenen Waffe erschossen wurde. Nachdem die Iskolaner keine eigene Polizei haben, wurde die tragische Angelegenheit sofort Polizeichef Marti-nez übertragen, der erklärte, er werde alle Mittel aufbieten, um den Fall zu lösen. Sol-Senator Vancec befand sich zu offiziellem Besuch auf Martas und ist einer der wenigen, die nach Iskola eingeladen wurden. Es ist allge-mein bekannt, daß Iskola sich gewöhnlich rigoros isoliert und daß seit mehr als dreißig Jahren keine offiziellen Besuche gestattet wurden. Gerüchtewei-se verlautet, daß es um die sogenannte Superkultur nicht gut bestellt ist. Nach den Nachrichten folgt eine Analyse der bekannten Fakten ..." Lowry schaltete ab. "Das brauchen wir nicht. Ich bezweifle, daß sie mehr über Iskola wissen als wir. Was Vancec betrifft, so war es für mich klar, daß ihn früher oder später jemand erschießen würde. Sie sind der Boß, Louise. Was tun wir?" "Es gilt, rasch zu handeln. Für die Untersuchung des Mordes an einem Sol-Senator wird man sicher ein Spezialistenteam schicken, doch ist es mei-ne Pflicht, so rasch wie möglich dort zu sein und alle Spuren zu sichern, ehe sie jemand verwischt. Wann können wir starten?" "Sofort."

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3. "... welches Schiff? Hier ist Aratni. Welches Schiff ? Hier ..." Sixx antwortete, während Joe das Schiff in eine Kreisbahn schwenken ließ und die Kameras ihnen ein Bild der Planetenoberfläche vermittelten. In vieler Hinsicht ähnelte der Planet der Erde. Zwei größere Landmassen drängten sich auf einer Halbkugel, während kleinere und größere Inselgrup-pen die andere zierten. Zum Unterschied von Terra befanden sich die bei-den Kontinente zu beiden Seiten des Äquators, und nur vereinzelte Halbin-seln erstreckten sich in die gemäßigten Zonen. "Heiß", stellte Sixx fest. "Überall heiß. Feucht, viel Regen. Kaum ein Pa-radies." Aratni benötigte einige Minuten, um ihre Informationen zu verarbeiten, doch die übrigen Formalitäten waren im Nu erledigt. "Dort landen wir nach der nächsten Umkreisung", stellte Sixx fest und wies auf eine Bucht, die einen Hafen selbst auf diese Entfernung hin erken-nen ließ. "Und dort liegt Iskola. Es sieht nicht so aus, als hätten sie etwas daran verändert in all diesen Jahren." Alle drei studierten die von Dschungel bedeckte Insel im Osten von Dol-gozni. "Sie sieht wirklich unbewohnt aus", stimmte Miß Latham zu. "Doch was sind das für Wolken? Rauch? Dampf?" Unter stärkerer Vergrößerung stellte sich heraus, daß die weißen Dampf-fahnen regelmäßig verteilt waren. "Es scheint sich um irgendwelche Indu-striebauten auf einem Bergrücken zu handeln", meinte Sixx und änderte die Einstellung der Kamera. "Wie man sieht, beträgt die Entfernung zwischen Iskola und Dolgozni etwa dreihundert Kilometer." "Außerdem sind auf Iskola keinerlei Hafenanlagen, Leuchttürme oder ähnliche Einrichtungen zu erkennen", spann Lowry den Gedanken weiter. "Dazu kommt noch, daß es nur einen Kommunikationssatelliten gibt und sich dieser stationär über Dolgozni befindet. Wir haben nur mit Aratni ge-sprochen und landen auch dort. Iskola kann man mit vollem Recht als intro-vertiert bezeichnen." "Damit ist es nach dem Mord vorbei", meinte Lowry. "Speziell, nachdem es sich bei dem Toten um den 'neugierigen' Vancec handelt. Wenn jemand

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daran interessiert war, Iskola den Schleier zu entreißen, so hätte er sich keine bessere Methode ausdenken können." "Roger, als du die bekannten Daten über Iskola studiertest, sind dir da Zahlen über Rückwanderer untergekommen? Du weißt, solche, die aufge-nommen wurden, später aber zurückkehrten?" "Null." Lowry lehnte sich nachdenklich zurück. "Nicht ein einziger in all diesen Jahren. Ich habe alle relevanten Daten in Joe gespeichert. Du kannst sie von ihm anfordern." Joe lieferte ihnen eine übersichtliche Menge von Zahlen, Kurven und Durchschnittswerten. Sixx studierte sie intensiv. "Durchschnittliche Anzahl von Bewerbern pro Jahr: knapp über dreißig. Durchschnittliche Anzahl der Abgewiesenen: weniger als zwei. Das ist wenig!" "Die Vortests sind äußerst schwierig", sagte Lowry. "Ich habe mit jemand gesprochen, der so weit gekommen ist, sich es dann jedoch anders überlegt hat. Daß fünf Prozent abgewiesen werden, ist also nicht verwunderlich." "Vielleicht nicht, aber man kann es auch umgekehrt betrachten: Hat man einmal seinen Fuß auf Iskola gesetzt, so stehen die Chancen, von dort weg-zukommen, bei fünf Prozent." "Jetzt hört aber auf!" protestierte Miß Latham lachend. "Ihr beide begeht den Grundfehler, auf mangelhaften Daten Theorien aufzubauen. Wir sollten abwarten, bis wir wissen, wovon wir eigentlich sprechen. Verbrechen, ja. Mord, vielleicht. Aber das hat nichts mit der inneren Ethik eines sogenann-ten Utopia zu tun. Denkt daran, Iskola ist Privatbesitz, und es geht keinen etwas an, wie sie dort leben." "Jetzt schon", widersprach Sixx. "Vancecs Ableben hat dafür gesorgt. Bei Morduntersuchungen gilt Privatrecht nicht in demselben Ausmaß." Sie schnitt ihm eine Grimasse, und Joe kündigte die bevorstehende Landung an. Der Hafen von Aratni unterschied sich nicht sehr von denen, die die bei-den Männer bisher gesehen hatten. Vielleicht war er sauberer, jedenfalls aber heißer und die Organisation effektiver. Kaum waren sie gelandet, kam schon ein Fahrzeug heran, um sie abzuholen. "Überall Steingebäude", stellte Sixx fest, als sie sich der eigentlichen Stadt näherten, "Nachdem sie den Dschungel praktisch vor der Tür haben, möch-te man annehmen, daß sie mehr Holz verwenden, doch sie bauen alles in diesem graubraunen Stein. Das gibt einem ein sicheres, solides Gefühl."

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Miß Latham fühlte sich unbehaglich. Ihr war heiß, doch hatte ihr Unbeha-gen andere Gründe. Sixx merkte es. "Es ist nicht leicht zu beschreiben", antwortete sie auf seine Frage hin. "Allgemeiner Groll. Die Menschen passen nicht zur Umgebung. Das Leben ist hart. Aber mehr noch: Man mag uns nicht. Ich spüre deutlich die Abnei-gung gegen uns." Das Hauptquartier der Polizei war massiv, imposant und kühl im Innern. Beamte mit unbewegten Gesichtern wiesen sie zu einem Aufzug, der sie in das oberste Stockwerk brachte. Polizeichef Martinez machte kein Hehl aus seinem Mißtrauen. Er war klein und dunkel, und hinter seinem künstlichen Lächeln verbarg sich eiserner Wille. "Ich erkenne Ihre Uniformen, Mr. Sixx und Mr. Lowry. Ich respektiere Ihre Papiere, Miß Latham. Ich werde Sie nach besten Kräften unterstützen - wenn die Zeit gekommen ist. Aber ich traue euch nicht und heiße euch auch nicht willkommen - noch nicht. Wenn ich direkt und grob wirke, so deswegen, weil ich gelernt habe, auf diese Weise Zeit zu sparen. Vorwände und konventionelle Unwahrheiten sind hier fehl am Platz." Sein Lächeln war kaum mehr als ein Zeigen der Zähne. Sixx versuchte ebenfalls ein Grinsen. "Sie brauchen sich nicht zu bemü-hen, Chef. Übergeben Sie nur Miß Latham alle Informationen über den Fall, und zeigen Sie uns die Richtung, in der sich Iskola befindet. Den Rest schaffen wir selbst." "Sie haben nicht verstanden. Sie gehen nirgendwohin, tun nichts, bis ich mich davon überzeugt habe, daß ihr seid, die ihr zu sein vorgebt. Hier und jetzt." "Das nenne ich einen Befehl", murmelte Sixx. "Und wie wollen Sie das bewerkstelligen?" "Mittels eines Tests." Martinez drückte auf einen Knopf, und nach weni-gen Augenblicken kam ein großer, schlanker Mann in den Fünfzigern, ange-tan mit einem weißen Arbeitsmantel, herein, der einen Wagen mit einer Menge von Apparaten vor sich her schob. "Ah, Dobny!" Martinez half, den schweren Wagen zum Stillstand zu brin-gen. "Das ist Dr. Edgar Dobny, Vorstand unserer rechtsmedizinischen Abteilung. Dobny, das ist Miß Latham von der Interstelpol, die sich mit der Vancec-Affäre befassen soll, mit ihrer Eskorte, zwei Agenten des Interstellaren Sicherheitsdienstes." Er wandte sich an die drei. "Sie können sich geehrt fühlen. Dobny ist ein sehr beschäftigter Mann. Er führt die

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ehrt fühlen. Dobny ist ein sehr beschäftigter Mann. Er führt die Untersu-chungen nicht oft selbst aus." Sixx betrachtete mißtrauisch die Geräte. "Dieser Apparat kann beweisen, daß ich Rex Sixx bin?" "Das kann er", versicherte Martinez bestimmt, als er sich hinter seinem Schreibtisch setzte. Lowry schüttelte unmerklich den Kopf. "Ist das Ihre Erfindung, Dr. Dob-ny?" Der Mann im weißen Kittel, auf den die Beschreibung 'verrückter Wis-senschaftler' ganz gut zutraf, lächelte entschuldigend. "Nein. Zwar habe ich einige kleinere Modifikationen durchgeführt, doch stammen das grundlegen-de Schaltschema und der Entwurf von Iskola. Ein solches Gerät zu konstru-ieren, geht weit über meine bescheidenen Kräfte." "Du bist zu schüchtern, Edgar. Du bist genauso ein Genie wie die dort drüben!" "Nein, nein Ramon. Ich kenne meine Grenzen." Dobny schenkte den drei-en ein mildes Lächeln. "Ich habe mich einmal beworben, in Iskola aufge-nommen zu werden, und habe versagt. Welcher Beweise bedarf es noch?" "Aber Sie stehen mit Iskola in Verbindung?" fragte Sixx. "O ja. Es sind ja keine Monstren. In gewisser Weise könnte man sie als vielköpfiges Orakel bezeichnen. Sie betreiben eine Art von Problemlösungs-dienst, doch muß man die richtigen Fragen stellen können, was nicht immer leicht ist." "Und die Kosten?" fragte Lowry. Dobnys Lächeln wurde noch breiter. Er ging mit einem dicken Kabel zur Wand und steckte den Stecker in die Dose. "Eine logische Frage", gab er zu. "Nein, ihre Dienste sind kostenlos. Allerdings beantworten sie von tau-send Fragen nur etwa eine. Wir wissen das, denn jede Kommunikation fließt über eine automatische Radiostation an der Südküste, und wir über-wachen den gesamten Funkverkehr. In diesem Fall" - er wies auf das Test-gerät - "fragte ich, ob es möglich wäre, die Aufrichtigkeit eines Menschen zu messen. Und dies war das Resultat. Soweit ich die Schaltung verstehe, mißt sie Ungereimtheiten zwischen dem, was eine Person denkt und was sie spricht. Ich bin fertig mit den Vorbereitungen. Wer ist der erste?" "Nehmen Sie mich", sagt Lowry. "Was brauchen Sie von mir?"

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"Nur den Kopf. Setzen Sie sich hierher. Ich stülpe Ihnen den Helm über - so. Dann treffe ich einige Einstellungen, und danach sagen Sie Ihren Na-men, Alter, Geschlecht, Beruf und Dienstgeber." Sixx wandte seine Aufmerksamkeit Miß Latham zu. Er hatte bereits ge-lernt, ihr Benehmen zu interpretieren, und merkte, wie angespannt sie unter ihrer ruhigen Maske war. "Ist etwas?" fragte er leise. "Ich habe Angst. Es schmerzt!" Sixx ergriff ihre Hand und wandte sich an Martinez: "Ist Ihr Büro nicht auch für Gastfreundschaft eingerichtet? Ich meine in Form einer Flasche oder so." Martinez' krampfhaftes Lächeln wurde zu einem höhnischen Grinsen. Sixx zuckte mit den Achseln. "Das war das. Louise, Sie sind die nächste. Dann haben Sie es hinter sich. Es sieht so aus, als wäre Roger fertig." Ihr Gesicht war blaß und unbewegt, als sie sich an Lowrys Platz setzte. Sixx dachte: Da stimmt etwas nicht. Aber was? Fürchtet sie das Ergeb-nis des Tests? Lowry begab sich zu seinem Stuhl zurück, und irgend etwas in seinen Bewegungen kam Sixx seltsam vor. Er kannte ihn seit Jahren und merkte, daß er etwas vorhatte. Aber was? Dobny änderte einige Einstellungen, nahm den Helm auf und lächelte Miß Latham zu. "Sitzen Sie ganz ruhig. Sie bekommen das hier aufgesetzt, ich justiere die Kontrollen, und wenn ich Sie danach frage, sagen Sie Ihren Namen, Alter, Geschlecht, Beruf und Dienstgeber. Haben Sie verstanden?" "Ja." Ihre Stimme erklang schwach und undeutlich. Dobny hantierte an seinem Schaltpult, und Sixx hatte das plötzliche Be-dürfnis, "Halt!" zu rufen. Doch ehe er das letzte Zögern überwinden könnte, hatte Dobny den Hauptschalter betätigt. Und nichts geschah. Einen langen Augenblick starrte er auf seine Anzeigengeräte, dann stieß er hervor: "Ver-dammt, da stimmt etwas nicht!" "Vielleicht liegt es daran?" fragte Lowry und wies auf den Stecker des Kabels, der unterhalb der Dose auf dem Boden lag. "Ich bin wohl mit mei-nem Fuß hängengeblieben." Dobny murmelte etwas Unverständliches und kniete nieder, um das Kabel wieder anzustecken, doch stand Lowry mit seinem Fuß darauf. "Rex", sagte er, "sieh zu, daß Louise sich von dem Apparat entfernt. Wir wollen auf Nummer Sicher gehen."

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Verwundert, aber unbewegten Gesichts tat Sixx, wie ihm geheißen, nahm dem Mädchen den Helm ab und führte es einige Schritte weit von dem Testgerät weg. "Was soll das heißen?" schrie Martinez. Lowry ignorierte ihn vollständig. Er grinste zu Dobny hinab und sagte: "Gut. Jetzt können Sie anstecken!" Der Rechtsmediziner zögerte. Sein Lächeln war verschwunden, und auf seiner Stirn glänzte Schweiß. Dann nahm er den Stecker und rammte ihn in die Dose. Im selben Augenblick erklang von der Apparatur her ein Knistern und Krachen, um und im Helm bildete sich ein sprühender Schein, es ertön-te das explosive Plopp einer überlasteten Sicherung. Und dann war alles still.

4. Sixx hielt den Atem an und fühlte, wie Miß Lathams Finger in seiner Hand zuckten. Lowrys Riesenhand fuhr hinab, packte Dobny beim Kragen, zog den Mann nach oben und führte ihn zu seinem Gerät. "Ich behaupte nicht, besonders intelligent zu sein", stellte er fest, "aber ich habe Augen im Kopf. Siehst du den kleinen Zeiger hier? Bei mir hast du ihn auf eineinhalb Volt eingestellt. Und worauf zeigt er jetzt? Auf fünfzehnhun-dert! Du solltest ein wenig sorgfältiger sein, mein Freund, wenn du mit sol-chen Sachen spielst!" Dobny starrte mit offenem Mund vor sich hin, dann verdrehten sich seine Augen, und er sackte in sich zusammen. Hinter seinem Schreibtisch stieß Martinez unverständliche Worte hervor, bis Lowry Dobnys leblosen Körper fallen ließ und mit festen Schritten auf den Polizeichef zuging. Sixx unter-drückte ein belustigtes Grinsen. Das war eine Gelegenheit, da Roger in Fahrt kam. Er spielte seine ganze, beeindruckende Erscheinung aus, als er sich über den Polizeichef beugte. "Es sieht so aus, als wäre Ihre Lieblingsmaschine kaputt", stellte er fest. "Und Ihr Lieblingsexperte ist vor Schreck ohnmächtig geworden. Und Sie haben verdammtes Glück, daß nicht mehr geschehen ist. Wäre Miß Latham etwas zugestoßen, so hätten Sie und der da die gesamte Interstelpol auf dem Hals!" "Es war ein Zufall - ein Unglück!"

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"Vielleicht. Er baute die Maschine. Er wendete sie an. Sie gaben ihm den Auftrag dazu. Miß Latham hätte getötet werden können! Zufall!" "Es liegt kein Verbrechen vor!" schrie Martinez. "Es war ein Unglücks-fall! Niemand wurde verletzt!" "Das ist Ihre Version. Ein genauer Bericht muß geschrieben werden." "Aber Sie haben es ja selbst erlebt! Dobny, du Narr, steh auf!" Martinez plapperte weiter, indem er einige Knöpfe auf seinem Schreibtisch drückte. Der Gestank verbrannten Isolationsmaterials machte sich unangenehm be-merkbar. Miß Latham jedoch war die Ruhe selbst. "Jetzt ist es vorüber", verkündete sie. "Alles ist in Ordnung. Eine Zeitlang jedenfalls." "Hmm!" machte Sixx und wies mit dem Kopf auf den bewußtlosen Dob-ny. "Und was ist mit ihm? Ich meine, hat er es absichtlich getan?" "Ich bin mir nicht sicher. Zwar gewann ich einen eigenartigen Eindruck von ihm: Es ging so etwas wie Furcht von ihm aus. Aber die gesamte At-mosphäre war und ist immer noch so sehr mit Antipathie gefüllt, daß ich nichts Genaues feststellen kann. Und Roger jagt Martinez einen fürchterli-chen Schrecken ein. Ich erlöse den armen Mann lieber." Und dies gelang ihr auch ohne Anstrengung. Sie nahm Lowrys Platz ein und überzeugte Martinez, ohne die Stimme zu heben, von der Notwendigkeit seiner sofortigen Zusammenarbeit. "Sie beginnen am besten damit, unsere Identität anzuerkennen. Ihre Ma-schine können Sie vergessen. Ich möchte alle Ihre Daten über Sol-Senator Vancec. Sie nehmen mit den Verantwortlichen in Iskola Kontakt auf. Und ich glaube mich erinnern zu können, daß Mr. Sixx etwas zu trinken vorge-schlagen hat?" Es wirkte wie Zauberei. Danach ging alles recht rasch: Beamte kamen und entfernten Dobny und seine Maschine aus dem Zimmer. Eine dünne Akte wurde Miß Latham übergeben. Eine Flasche tauchte auf und Gläser dazu. "Ein hiesiges Erzeugnis", entschuldigte sich Martinez. "Sie werden es vie l-leicht für rauh halten, aber man kann es mit Wasser verfeinern." Schmeckt wie Absinth , dachte Sixx, und hat auch dieselbe ölige Kon-sistenz, jedoch der Anisgeschmack fehlte . Er beschloß, Vorsicht walten zu lassen. Miß Latham, die das Wasser ignorierte, leerte ihr Glas ohne mit der Wimper zu zucken und widmete sich danach wieder der Akte über den Senator, während Martinez die Augen aus den Höhlen zu treten schienen.

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Sixx fragte: "Hatten Sie Schwierigkeiten mit Senator Vancec, während er sich hier, auf Dolgozni, befand, Sir?" "Keine erwähnenswerten. Was die Sicherheit betrifft, so stellte er kein Problem dar. Man gewann den Eindruck, der Senator hielt es für ein Verbrechen, reich zu sein. Gemäß diesem Prinzip sind wir alle hier auf Dol-gozni rechtschaffene Staatsbürger. Man ist zufrieden, so viel zu verdienen, um weiterleben zu können." "Jan Bardak wurde reich", stellte Sixx fest. "Das hätte ihn zum Staatsfeind Nummer Eins machen müssen." "Er ist es, wenn er noch lebt! Er hat aus uns allen Narren gemacht. Wir kamen mit großen Erwartungen hierher, Mr. Sixx. Wir hatten einen frucht-baren, grünen Kontinent, geeignete Maschinen und einen Absatzmarkt zur Verfügung, der nur auf unsere Produkte wartete: Nahrungsmittel, Minerale. Bardak war unser großer Mann. Er plante für uns. Wir würden drei, vier oder fünf Jahre hart arbeiten, den Dschungel roden, Straßen und Städte bauen. Das taten wir auch, und dann kamen die Gewinne herein. Bardak arbeitete schwerer als jeder von uns; half hier, erklärte dort, packte da mit an. Ein Held!" Martinez schnaubte durch die Nase. "Wen nahm es wunder, als er sich zurückzuziehen begann? Niemand. Es war zuviel für einen Mann, sagten wir. Die Probleme waren gelöst, und der Weg war frei, sagte er. Und wir glaubten ihm, kauften seine Anteile und machten ihn reich. Es machte uns nichts aus, denn bald würden wir alle reich sein - dachten wir. Eine Weile ging alles gut. Dann wurden die Ernten geringer, die Maschi-nenschäden nahmen zu, der Dschungel kam zurück, die Bergwerke verloren an Ertrag. Er wußte es!" Martinez hieb mit der Faust auf den Tisch. "Wir sind über den Berg, sagte er. Wie richtig! Jetzt sitzen wir nämlich tief unten. Und er sitzt dort drüben auf Iskola und lacht uns aus!" "Entschuldigt bitte", unterbrach Miß Latham. "Diese Akte ist wunderbar, doch muß ich zum Schauplatz der Tat. Gestern früh wurde die Leiche ge-funden. Es ist schon viel zuviel Zeit vergangen." "Natürlich!" Martinez war die Hilfsbereitschaft selbst. Seine Finger husch-ten über Tasten und Knöpfe, während er seine Befehle gab. "Wollen Sie noch etwas von Dr. Dobny?" "Das überlasse ich Ihnen. Ich hätte jedoch nichts gegen ein weiteres Glas Ihres hiesigen Getränks. Wie nennen Sie es?"

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"Villam", antwortete er und sah fasziniert zu, wie der Inhalt in einem Zug verschwand. "Das bedeutet im Ungarischen Blitz." "Ein passender Name", sagte sie fröhlich, und sie gingen, ehe Martinez etwas erwidern konnte. Diesmal wurden sie nach Nordosten durch die Stadt gefahren, bis sie die Küste erreichten. Bei einer Anlegestelle und einem niedrigen Haus hielt das Polizeiauto an. "Von hier ab ist es Ihre Sache", sagte der Fahrer und wies mit dem Kopf aufs Meer hinaus. "Und ein langer Weg zurück, wenn Sie uns nicht abholen", fügte Sixx hin-zu, als das Auto wendete und in Richtung Stadt verschwand. Er hatte kein ungutes Gefühl, und auch Louise schien nicht beunruhigt. Sie betraten das Haus durch automatische Türen und wurden von klickenden Relais und blinkenden Signallämpchen empfangen. Sie folgten Pfeilen auf dem Boden und gelangten in ein kleines Auditorium, in dem halbkreisförmig angeordnete Bankreihen einem Bild-Schirm gegenüberstanden, der eine ganze Wand einnahm. Die Armstützen waren mit Kontaktknöpfen versehen, wie Sixx sogleich feststellte. "Ich nehme an, daß wir uns setzen sollen, schlage aber vor, sonst nichts zu berühren." Doch selbst das Niedersetzen hatte bereits zur Folge, daß der Wand-schirm aufleuchtete und wie ein Fenster den Blick auf einen Garten bot. Zwischen farbenprächtigen Blumen zu beiden Seiten führte ein Weg in ei-nen Torbogen, der von zwei Bäumen mit dunklen Stämmen flankiert war. Man vernahm das Zwitschern von Vögeln und das undefinierbare Summen verschiedener Insektengattungen. "Hübsch!" stellte Sixx fest. "Gute Reklame. Mir gefällt es. Ist jemand daheim?" Als Antwort ertönte eine unpersönliche Stimme: "Der Mensch Tillet wur-de verständigt und ist im Kommen. Bitte warten Sie." "Auch die Stimme ist freundlich", murmelte Lowry. "Sie halten ihre elek-tronischen Einrichtungen gut in Schuß." "Ich bin ein wenig überrascht, daß sie solche überhaupt verwenden. Ich habe immer geglaubt, die Supermänner hätten so etwas nicht länger nötig." "Pst!" mahnte Miß Latham. "Es kommt jemand. Sie hört vielleicht, was wir sprechen." Und es bestand kein Zweifel darüber, daß es eine "Sie" war,

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die aus dem Torbogen hervortrat und sich der Kamera näherte. Duftiger, gelber Stoff verhüllte lose Brust und Lenden, während der Rest ihres Kör-pers eine Symphonie in goldenen Brauntönen war. Sixx hatte in seinem Leben viele hübsche Mädchen getroffen, nun aber begegnete er einer schö-nen Frau, was etwas ganz anderes darstellte. Als nur noch Kopf und Schul-tern den Bildschirm ausfüllten, blieb sie stehen, blickte zur Seite, und die gesamte Szenerie schwenkte mit ihr zu einer schattigen Ecke mit einem Stuhl. Sie nahm Platz und tat etwas, so daß die Lampen in dem kleinen Au-ditorium heller leuchteten. "Hallo", sagte sie. "Ich bin Alma Tillet." Ein ganz schwacher schottischer Akzent war zu erkennen. "Ich nehme an, ihr seid von der Interstelpol. Bitte identifizieren Sie sich. Der Schlitz für die I-Karten befindet sich vorn in der linken Armstütze." "Ich bin von der Interstelpol", sagt Miß Latham und tat, wie ihr geheißen "Mein Name ist Louise Latham. Die beiden Herren sind meine Leibwache." Die Iskolanerin blickte auf eine Stelle außerhalb des Sichtbereichs der Kamera, als Sixx und Lowry ihre Karten in die Schlitze steckten. Nach einer Weile sagte sie: "Interstellarer Sicherheitsdienst - ja, das ist die Erklä-rung. Die Sitzbänke sind so konstruiert, daß sie mir Daten über Ihre Körper-funktionen - neben anderen Dingen - vermitteln. Ihre Anzüge, meine Her-ren, verhindern dies. Ich muß Sie bitten, das grüne Rechteck vor Ihnen mit der nackten Handfläche zu berühren." "Woran sind Sie interessiert, Miß Tillet?" fragte Lowry, während sie ihrer Aufforderung nachkamen. "An den verschiedensten Dingen, Mr. Lowry. Zusammenfassend könnte man es als allgemeinen Gesundheitszustand bezeichnen. Von Ihnen, Miß Latham, erhalte ich stark abweichende Werte. Wollen Sie eine Erklärung dafür abgeben?" "Nicht jetzt. Es handelt sich um komplizierte und persönliche Ursachen." "Wie Sie wollen. Ich bin nur daran interessiert, Daten zu sammeln. Ande-re werden sie interpretieren und anwenden. Meine Aufgabe besteht darin, Erklärungen zu geben." "Sonst nichts?" fragte Sixx. "Sonst nichts", antwortete sie. "Ich erkläre eine Person einer anderen. Interpret? Vermittler? Analogist? Es gibt eine Menge Bezeichnungen dafür. Ich bin ziemlich beschäftigt."

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"Das glaube ich", stimmte er verständnisvoll zu, und sie lachte. "Es ist nicht so einfach. Das werden Sie feststellen, wenn Sie sich einmal mir erklären müssen. Man sagt, ich helfe den Menschen, ihre Gedanken zu ordnen. Vielleicht ist es so. Nun gut. Ein Boot ist unterwegs. Ich werde euch hier treffen und euer Führer sein." "Ich habe das Gefühl, wir verursachen Ihnen viel Mühe." "Aber gar nicht, Miß Latham. Zur Zeit bin ich an der Reihe, neuen An-wärtern behilflich zu sein. Diesmal handelt es sich ja um etwas anderes. Glauben Sie mir, es ist kein Vergnügen, all diese Menschen abzuweisen, was wir in neun von zehn Fällen tun." "Tun Sie das?" fragte Sixx kopfschüttelnd. "Nicht ich persönlich. Sie sitzen inmitten einer ziemlich komplizierten Testmaschinerie, Mr. Sixx. Ich brauche nur die Ergebnisse abzulesen." "Sie scheinen sich ziemlich stark auf Geräte zu verlassen", meinte Miß Latham mit einer Spur von Mißbilligung in der Stimme. Alma Tillet lachte kurz in sich hinein. "Das ist nur das Grobsieb. Wir ver-wenden Maschinen nur für solche Zwecke, für die sie besser geeignet sind als Menschen. Warum nicht?" "Ja, warum nicht", stimmte Miß Latham zu. "Somit könnt ihr euch auf die menschlichen Probleme konzentrieren, auf Dinge, die eine Maschine nicht versteht?" "Ja." Die Iskolanerin wirkte plötzlich wachsam. "Warum können wir also nicht unsere eigenen Verbrecher fangen?" "Es tut mir leid, daß ich so offensichtlich darauf zusteuerte, aber darauf wollte ich tatsächlich hinaus. Sind nämlich die Gerüchte über Iskola wahr, dann ist jeder einzelne von euch um Häuser gescheiter, als ich es je sein werde." "Das stimmt zwar nicht ganz, würde aber zu weit führen, es jetzt zu erklä-ren. Ich will Ihnen ein Beispiel bringen: Ihre persönliche Gesundheit und Ihr Wohlbefinden sind stets Ihre ureigenste Angelegenheit, erleiden Sie aber einen Unfall oder werden Sie krank, dann überantworten Sie sich einem außenstehenden Experten, einem Arzt. Habe ich recht?" "Ja, aber wie ich es verstanden habe, besteht der Zweck der Kolonie auf Iskola darin, eine perfekte Gesellschaft zu entwickeln, wozu sicherlich das Studium des Verbrechens gehört."

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"Stimmt. Aber die Situation hat sich verändert. Wir verwenden Daten. Jeder Soziologe muß Daten heranziehen. So objektiv wie möglich. Jetzt sind wir jedoch selbst beteiligt, und daher handelt es sich nicht länger um Daten, sondern um subjektive Phänomene. Wir hoffen, daß ... Louise uns Daten verschaffen kann. Um meine Analogie weiterzutreiben: Ein Arzt sollte sich nie selbst eine Diagnose stellen, wenn er krank ist, denn die Krankheit be-einträchtigt sein kritisches Urteilsvermögen." Alma Tillet warf wieder einen Blick auf ein nicht sichtbares Anzeigegerät. "Euer Boot sollte fast ange-kommen sein. Wir sehen einander bald wieder." Das Bild erlosch.

5. "Wißt ihr, daß ich mich sehr wohl fühle, hier mit euch?" meinte Miß Latham und blickte über das Meer der sich nähernden Insel entgegen. "Was treibt ihr so in eurer Freizeit, Jungens?" "Gewöhnlich greifen wir nach jeder Unterhaltung, die sich uns bietet, nach jeder Gelegenheit, sich zu entspannen. Meist hat man keine Zeit, voraus zu planen." "Vielleicht läßt sich das ändern. Ich würde gern viel Zeit mit euch beiden verbringen. Doch seht! Hier ist ein Teil der Antwort auf die Frage, wie sie Neugierige fernhalten." Am Horizont in ihrer Fahrtrichtung war eine graue Felsenwand immer höher gewachsen. Auf dieser stiegen in regelmäßigen Abständen weiße Rauchsäulen gen Himmel. "Wenn der Teil typisch für die gesamte Küste ist, Rex, dann benötigen sie kaum etwas anderes." "Aber es ist nur ein Teil, und auf der anderen Seite sieht es nicht so unzu-gänglich aus. Die Dampfsäulen müssen künstlichen Ursprungs sein. Sie sind zu regelmäßig angeordnet." "Mag sein. Aber was ich mich momentan frage, ist, wie wir hier landen sollen." Es war ganz einfach. Das Boot wurde langsamer, ein Tunnel öffnete sich in der Steilwand, und nach kurzer Fahrt hielt das Boot in einer unterirdi-schen Halle. Am Ufer wartete Alma Tillet in einem kleinen Elektrowagen.

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"Steigt auf!" sagte sie. "Gewöhnlich führt der Weg zuerst dorthin in die Testräume, doch darum brauchen wir uns jetzt nicht zu kümmern. Wir fah-ren geradeaus." Der Wagen erhob sich leicht, nachdem sie Platz genommen hatten, und setzte sich mit einem leisen Zischen in Bewegung. "Ein Schwebefahrzeug?" fragte Sixx, und sie lächelte. "Eine Abart. Es wird nicht von einem einzigen Luftpolster getragen, das von einer rundum gehenden Seitenwand umgeben ist, sondern von hunder-ten. Alle arbeiten, von einem Computer gesteuert, unabhängig voneinander. Weniger Lärm, größere Flexibilität. Man könnte es als ein Tausendfüßler-Auto bezeichnen." "Dem Senator wurden die Testräume wohl auch erspart?" fragte Miß Latham, und die Iskolanerin nickte. "Vorgestern kam er hier an. Nun gelang es dem armen Teufel doch nicht, allzuviel zu sehen. Dabei haben wir uns solche Mühe gemacht." "Ihr habt für ihn spezielle Vorbereitungen getroffen?" "Natürlich, Mr. Lowry. Wir hatten vor, ihm zu zeigen, was er sehen woll-te. Soviel wie möglich auf jeden Fall. Ah, die Sonne!" Das Fahrzeug glitt in eine Gartenwildnis, die der auf dem Bildschirm glich. Einen Augenblick später umrundete es eine Gebüschgruppe, und sie befanden sich tatsächlich bei der Nische, in der sie Alma Tillet auf dem Schirm gesehen hatten. Sie machte eine einladende Geste. "Willkommen in meinem derzeitigen Heim!" "Derzeitig?" fragte Miß Latham verwundert. "Ja, wir lösen einander mit dem Dienst am Tor ab - einmal jährlich. Macht es euch bequem. Etwas zu essen oder zu trinken?" Sixx merkte die Belustigung in ihrer Stimme, drehte sich herum, sah aber nichts als halbwilden Garten. "Gut. Ich ergebe mich. Wo?" Miß Latham blickte ihn verwundert an. "Spüren Sie es denn nicht, Rex? Und Sie auch nicht, Roger? Es ist natürlich unterirdisch!" Alma Tiller hob verwundert ein wenig die Augenbrauen. "Richtig", sagte sie. "Kommt!" Und als sie alle um den kleinen Tisch auf den Steinplatten versammelt waren, sagte sie einfach: "Hinunter, bitte." Die gesamte Nische sank rasch und lautlos. "Es gibt viele Gründe", antwortete sie auf ihre unausgesprochene Frage. "Ästhetische. Bequemlichkeit, wenn man an Stabilität und die leichtere Kon-trolle der Temperatur denkt. Einfachheit, indem man sich Fundamente oder

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massive Grundmauern erspart. Und außerdem beschränken wir damit schädliche Auswirkungen auf die Natur auf ein Minimum." Der Aufzug hielt in einem langen, niedrigen Zimmer mit einem dicken Teppich. Das Klicken und Ticken von Maschinen war deutlich zu hören. "Der Daten-Raum", er-klärte die Gastgeberin. "Jede Heimstatt ist damit ausgerüstet." Sie geleitete die drei in einen größeren Raum, der mit niedrigen Tischen und Sofas, mit verstreuten Kissen und tiefen Teppichen ausgestattet war. "Macht es euch bequem! Es gibt keinerlei Formalitäten. Wenn euch zum Beispiel eure Kleidung stört, so ..." Eine Geste vervollständigte den Satz. Ein Service-Robot rollte herein und nahm ihre Bestellungen auf. Kurz dar-auf kam er mit einem großen Glas für Miß Latham zurück. Sie nahm es und blickte gleichsam entschuldigend zur Gastgeberin. Diese zuckte mit den Schultern und sagte: "Aber gern, wenn Sie es brauchen?" "Ich brauche es." Miß Latham nahm die Dosis mit steten Schlucken, und Sixx sah zum erstenmal Überraschung auf Alma Tillets Gesicht. "Um sicherzugehen, habe ich Ihre Anlyse wiederholt", gab sie zu. "Der Alkoholgehalt Ihres Blutes ist unglaublich hoch. Normalerweise müßten Sie bewußtlos sein. Können Sie darüber sprechen?" "Dann habe ich es wenigstens überstanden", seufzte Miß Latham, und die Iskolanerin eilte davon, um ein bewegliches Terminal zu holen. "Informationen", erklärte sie. "Olga wird sich dafür interessieren. Olga Glink, Spezialistin in den Bio-Wissenschaften. Es macht Ihnen doch nichts aus?" Sie sind sehr höflich hier, dachte Sixx, als Miß Latham erst zögernd begann, dann aber immer eifriger wurde. Er aß, hörte zu und dachte nach. Höflichkeit war eine Notwendigkeit. Genial sein bedeutet anders sein. Und eine Gemeinschaft von Genies mußte höflich sein, sonst brach sie zusam-men. Aber wahrscheinlich steckte mehr dahinter. "Olga wird begierig sein, Sie zu treffen", meinte Alma Tillet, als Louise geendet hatte. "Apropos treffen", hakte Miß Latham ein. "Sie verstehen doch, daß ich alle Beteiligten treffen und den Schauplatz der Tat untersuchen muß?" "Ja, natürlich. Daran ist uns sehr gelegen. Ich muß Ihnen nur etwas erklä-ren." Alma Tillet strich sanft über den Bildschirm des Terminals. "Wir tref-fen einander selten persönlich. Mit den Hilfsmitteln, die uns zur Verfügung stehen, ist es kaum nötig, und wir legen großen Wert auf Zurückgezogen-

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heit. Natürlich sehen wir ein, daß Ausnahmen gemacht werden müssen. Das also ist Iskola." Sie machte sich an der Tastatur zu schaffen, und auf dem Bildschirm erschien der Umriß der Insel. "Hier ist der Eingangstunnel. Wir befinden uns hier. Und dies sind die Heimstätten." Auf dem Bild der Insel glühten Pünktchen auf, deren Verteilung rein zufällig wirkte. Sixx schätzte ihre Anzahl. "Etwa fünfundfünfzig, sechzig. Sind das alle?" "Weniger als das. Und nun unser Sektor in stärkerer Vergrößerung." Der entsprechende Teil dehnte sich aus, und die Pünktchen wurden zu kleinen Kreisen. "Senator Vancec zuliebe, der nur sehr beschränkte Zeit zur Verfü-gung hatte, arrangierten wir ein Treffen. Dazu wählten wir Bernard Hoffs Heimstatt als die geeignetste. Bernard ist auf Urbanologie spezialisiert, und sein Heim ist dementsprechend groß. Das ist nötig, wenn für die Modell-städte, mit denen er experimentiert, Platz sein soll." "Wie groß ist eine Heimstätte?" fragte Lowry, worauf Alma Tillet mit den Achseln zuckte. "Die obere Grenze ist etwa acht Kilometer im Durchmesser, wird jedoch selten erreicht. Die meisten liegen bei ein bis zwei Kilometern. Wer braucht mehr? Bernard stellte sich als Gastgeber einer kleinen, repräsentativen Gruppe zur Verfügung." "Einen Augenblick!" unterbrach Miß Latham. "Soviel ich weiß, war Iskola immer sehr viel daran gelegen, sich von der Umwelt abzuschließen. Und plötzlich öffnetet ihr Senator Vancec - ausgerechnet ihm! - weit die Türen." "Nicht wir haben ihn ausgesucht, sondern umgekehrt. Wir hatten unsere kleinen, internen Probleme - klein, wenn man jetzt zurückblickt, denn damals erschienen sie uns äußerst bedeutend -, wir brauchten Hilfe und Verständ-nis. Vancec antwortete auf unsere Kontaktversuche. Wir stellten eine Gruppe zusammen. Sie bestand aus mir, Bernard Hoff, Lea Lawrence - das da ist ihre Heimstatt -, sie arbeitet auf dem Gebiet der Bio-Akustik, Musik und andere Geräusche, und wie diese den Organismus beeinflussen; dann Graham Packard hier, der sich mit Rechtsgeschichte befaßt; Ivan Rilke, dessen Heim an Leas angrenzt, studiert die Auswirkungen elektromagneti-scher Felder auf den Organismus; Olga Glink, Biologin, ist spezialisiert auf die Kunst, richtig zu leben. Ja, das wäre unsere kleine Versammlung, das heißt, sie ist es." "Sie meinen, sie sind noch alle beisammen?" fragte Miß Latham.

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"Ja. Sie warten auf euch. Es ist äußerst unbehaglich für uns, läßt sich jedoch nicht vermeiden. Alles befindet sich noch in unverändertem Zustand - außer der Leiche natürlich. Die mußte entfernt werden."

6. "Wer hat dies getan?" Lowry wurde sofort mißtrauisch, aber Miß Latham beruhigte ihn mit einem Lächeln und wies auf die Akte, die sie immer noch hatte. "Das steht alles da drin, Roger. Dr. Dobny kam mit zwei Polizisten und nahm die Leiche zur Untersuchung mit. Vancec wurde aus geringer Entfer-nung mit einer Waffe auf Explosionsbasis, etwas Primitivem, das feste Ge-schosse ausstößt, erschossen." "Das klingt so, als hätte man sie nicht gefunden." "So ist es. Dobny berichtet von einer erfolglosen Suche." "Das ist schlecht." Sixx runzelte die Stirn. "Die Waffe könnte uns eventu-ell einiges verraten." "Können wir uns nun zu Hoff begeben?" fragte Miß Latham. "Natürlich. Ein Bohrer wartet auf uns. Nur eines noch: Nennt bitte alle beim Vornamen, nachdem ich euch vorgestellt habe. Wir sind es so ge-wöhnt. Ja? Louise, Rex, Roger - ich bin Alma. Gehen wir?" Der Hundertfüßer brachte sie an die Grenze von Almas Besitz. Der Übergang zwischen Park und Dschungel war messerscharf. Eine schwere, gedrungene Maschine auf Raupenketten und mit einem riesigen Propeller am Bug schien förmlich darauf zu lauern, die Wildnis anzufallen. Sixx be-trachtete den Bohrer, bemerkte aber etwas anderes. "Ein Bio-Schirm?" Sixx wies mit dem Kopf auf die präzise gezogene Trennlinie und die ungefährlich aussehenden Pfosten, die sich in Abständen von sechs Metern darauf befanden. Er kannte die Wirkung des Neuronen-feldes, das zwischen den Pfosten aufgespannt war. In ihm wurden alle me-tabolischen Prozesse ungeheuer verstärkt. Näherte man sich ihm, traten Schmerzen und Krämpfe auf, die sich bis ins Unerträgliche steigerten. Es stellte sich heraus, daß der Propeller vorn eigentlich aus zwei gegeneinander rotierenden Flügelrädern bestand, die sich in einem vorn mit rasiermesser-scharfen Zähnen versehenen Zylinder befanden. Der Effekt war der, daß

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das Fahrzeug einen kreisförmigen Tunnel in den Dschungel schnitt und den Hundertfüßer hinter sich her zog. Alma betätigte einen Knopf, worauf sich eine durchsichtige Kuppel über dem Fahrzeug schloß. "Dieses Neuronenfeld", fragte Sixx, "sind alle Heimstätten damit ausgerü-stet?" "Ja. Es ist geräuschlos und sauber und hält die wenigen Raubtiere fern, die wir hier haben. Schlangenartige Geschöpfe und eine Schweineart. Und die Unzahl von Insektenarten natürlich." "Und einen solchen Schirm habt ihr um die ganze Insel?" "Ganz herum?" Sie blickte erstaunt und lachte dann. "Kaum! Sechstau-send Kilometer? Abgesehen von anderen Schwierigkeiten, haben wir kaum soviel Energie dafür übrig." "Nun gut. Aber irgendeine Art von Zaun habt ihr wohl?" "Stimmt. Jan Bardak hat ihn vor Jahren errichtet. Außer dort, wo ihn die Felsküsten überflüssig machen, ließ er eine bestimmte Dornbuschart an-pflanzen. Sie wächst auf allen Sandstränden und wirkt äußerst unbehag-lich." "Das muß ich mir erst ansehen." Sixx schüttelte den Kopf. "Du befindest dich in einem Dilemma, Alma. Natürlich hättest du gern, daß der Verbre-cher nicht von Iskola, sondern von draußen stammt. Und der Außenseiter muß irgendwie hereinkommen. Eine vertikale Felswand empor oder durch eine undurchdringliche Dornenbarriere?" "Selbst wenn ihm eins von beiden gelänge", setzte Lowry fort, "so hat er noch den Dschungel gegen sich, und der ist praktisch eine solide Wand. Die Wahrscheinlichkeit spricht sehr gegen einen Außenseiter!" "Aber es kann keiner von uns gewesen sein!" protestierte Alma. "Was hätten wir für ein Motiv? Hier haben wir in unseren Heimstätten die absolu-te Freiheit, zu tun, was wir wollen. Dazu kommt eine reine, gesunde Umge-bung und die Gelegenheit, jederzeit mit Menschen meiner Geistesgesinnung in Kontakt treten zu können. Grenzenlose, stimulierende Spannung! Was kann man sich mehr wünschen? Und wer würde dies aufs Spiel setzen? Es muß jemand von draußen gewesen sein, ist das nicht offenbar?" "Schon, aber gerade zuvor hast du erklärt, warum das nicht möglich ist", erinnerte Sixx sie. Louise legte eine Hand auf seinen Arm. "Deswegen sind wir ja hier, Rex. Wäre es einfach gewesen, dann hätten sie uns nicht benötigt."

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Sie fuhren eine Weile schweigend. Dann wies Alma mit umfaßender Ge-bärde auf den Dschungel. "Seht euch das an: Man möchte glauben, man hat die Fruchtbarkeit selbst vor sich, und man irrte gewaltig. Dieser Dschungel gleicht ebenso wie der auf Dolgozni denen, die sich vor nicht allzu langer Zeit noch auf der Erde in Brasilien und in Zentralafrika befunden haben. Man stellt sie sich so vor, daß Blätter, Zweige, Blüten und Früchte zu Bo-den fallen und zu einer dicken, fruchtbaren Humusschicht vermodern. Aber das ist hier nicht der Fall. Diese Art von Pflanzen beziehen ihre Nahrung fast ausschließlich von Pilzsporen, Mycorrhiza, die den organischen Abfall fast so schnell aufbereiten, wie er zu Boden fällt. Der Pilz arbeitet in Zu-sammenspiel mit Enzymen und ähnlichen Stoffen so effektiv, daß sich der Zyklus des Verfalls und des erneuten Aufbaues praktisch auf der Erdober-fläche abspielt. Mit anderen Worten ist die fruchtbare Erdschicht nur weni-ge Zentimeter dick. Es besteht überhaupt Grund zur Annahme, daß sich dieser spezielle Zyklus eben deswegen gebildet hat." "Ich hätte angenommen, die Humusschicht wäre meterdick", gab Lowry zu. "Das taten auch die ersten Siedler auf Dolgozni, die sich für die Landwirt-schaft entschlossen. Sie rodeten große Teile des Dschungels. Sie arbeiteten hart, bekämpften Schädlinge, bauten Häuser, Vorratsgebäude, importierten Maschinen, und für ein, zwei Jahre ging alles wunderbar. Dann traten Ver-änderungen ein. Durch die neuen Bedingungen wurde der Pilz ausgerottet. Dann kamen lange, schwere Regenfälle. Der Dschungel hielt sie aus - die nackte Erde nicht. Die wertvollen Spurenelemente wurden weggewaschen, und übrig blieben hauptsächlich Eisen- und Aluminiumoxyde. In der kurzen aber intensiven Trockenzeit wird daraus solider Stein. Das Land ist steril." "Läßt sich dagegen gar nichts machen?" fragte Louise. "Man könnte es natürlich physisch aufbereiten und dann enorme Mengen von Humus und Dünger darunter mengen. Die muß man aber von irgendwo herschaffen, was die Sache sinnlos macht, oder?" "Jetzt begreife ich, warum Bardak ausgestiegen ist", bemerkte Sixx. Alma schüttelte den Kopf. "Glaube bitte nicht an diese Propaganda. Bardak wußte, was zu tun war, aber die Agronomen wollten sich nichts dreinreden lassen. Man hätte spezielle Entlaubungsmittel anwenden müssen, die Fäulnis verursachen, anstatt den Urwald zu verbrennen. Aber habt ihr einmal versucht, einem

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den Urwald zu verbrennen. Aber habt ihr einmal versucht, einem Experten auf seinem Gebiet etwas zu sagen? Daß er nicht recht hat?" "Ich weiß, was du meinst", lachte Sixx. "Ein Ding der Unmöglichkeit!" "Deswegen machte sich Bardak daran, die Gesellschaft an sich als Phä-nomen zu studieren. Die Gesellschaft ist im Grunde feindlich gegen Genies eingestellt, so sagt er, weil ihr Bestehen von der Einheitlichkeit der Reaktion der Mitglieder abhängt. Das stimmt. Die Gesellschaft, wie wir sie kennen, kann nicht anders funktionieren. Aber er glaubt, es sei möglich, eine Gesell-schaft zu konstruieren, die einen Platz für Genies hat. Und damit befassen wir uns auf Iskola. Und wir haben bereits eine ganze Menge interessanter Dinge gelernt." "So zum Beispiel eine Energiequelle ohne Abfallprodukte?" fragte Lowry, doch sie verneinte dies mit einem heftigen Kopfschütteln. "Wir verwenden sie, ja. Aber wir haben sie nicht erfunden. Dies geschah vor fast hundert Jahren, aber damals hat sich niemand darum gekümmert. Wißt ihr, daß ihr sie bereits gesehen habt?" "Ah?" Six wunderte sich. "Die Dampfsäulen! Aber ist das kein Abfallpro-dukt?" "Nein, es ist reiner Wasserdampf. Sogar mir erscheint die Idee äußerst einfach zu sein. Denkt an folgende Tatsachen: Feuchte Luft ist leichter als trockene Luft. Warme Luft ist leichter als kalte Luft. Und ein Schornstein erzeugt unter normalen Umständen seinen eigenen Zug. Habt ihr das? Der Rest folgt daraus. Man wählt ein feuchtes, heißes Gebiet, zum Beispiel ei-nen See im Urwald oder einen Salzsumpf am Fuß einer Steilküste. Man errichtet den Schornstein. Er braucht nicht gerade in die Höhe zu streben, sondern man kann eine Steilwand oder einen Berghang ausnützen. Er soll etwa tausend Meter hoch sein. Dadurch entsteht der Zug. Bei den Eintritts-öffnungen unten gelangt warme, feuchte Luft aus der Umgebung des Sees oder des Sumpfes in den Schornstein, steigt empor und treibt ganz oben in den Austrittsöffnungen Turbinen. Als Beiprodukt erhält man destilliertes Wasser. Einfach, was?" "Ein umgekehrter Niagarafall." Lowry grinste. "Was meinst du, Rex?" "Mir gefällt es nicht. Ich habe ein komisches Gefühl. Alles ist zu einfach, zu offensichtlich, zu richtig. Entweder du bist wirklich gut im Erklären, Al-ma, oder wir anderen sind einfach dumm."

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"Aber nein", widersprach sie. "Das ist ja gerade der springende Punkt! Keiner von euch ist dumm! Ihr seid imstande zu sehen, worauf es ankommt, könnt der Argumentation folgen. Senator Vancec war zum Beispiel nicht dazu in der Lage. 'Einfach' und 'offenbar' waren für ihn Worte, denen er mit Mißtrauen begegnete. Ich nehme an, das lag an seinem Beruf. Man hat gesagt, ein Denker versuche stets genau das auszudrücken, was er meint, während ein Politiker dies zu vermeiden trachtet. Jedenfalls war er die gan-ze Zeit hier davon überzeugt, daß wir eine Menge vor ihm verheimlichten. Was wir natürlich nicht taten!" "Aber ja!" Louise überraschte alle mit ihrem Einwurf. "Indem ihr euch einfach und unkompliziert gabt, wurdet ihr für ihn total unverständlich. Ich kenne das, denn ich hatte mein ganzes Leben das gleiche Problem. Ihr habt denselben Fehler: Ihr könnt euch gewöhnlichen Menschen, wie zum Beispiel dem Senator, nicht verständlich machen." "Ja." Alma wirkte verwirrt. "Du sagst da etwas, worüber man sicher nachdenken muß." Sie blickte auf eine Skala vor ihr und dann auf den Dschungel, der vor ihnen lag. "Wir sind fast angelangt. Nachdem ich kürz-lich zweimal diesen Weg gefahren bin, ging es natürlich rascher. Norma-lerweise dauert es mindestens doppelt so lange, sich durch jungfräulichen Dschungel zu bohren. Ein weiterer Grund dafür, warum wir einander so selten besuchen." "Verwenden wir einen Schutzschirm, um durch Hoffs Sperrschirm zu kommen, oder verständigst du ihn von unserer Ankunft?" "Ich gebe ein Radiosignal. Wir verwenden hier nur selten Funk, und wenn, dann nur für kurze Entfernungen wie diese oder in den Heimstätten zur Steuerung der Roboter. Du erwähntest einen Schutzschirm. Gegen ein Bio-Feld?" "So etwas gibt es. Hast du das nicht gewußt? In diesem Anzug könnte ich jederzeit durch ein Bio-Feld spazieren." Sie hielt den Bohrer an. "Das Feld liegt nur wenige Meter voraus", sagte sie. "Würdest du mir das vorführen?" "Warum nicht?" Sixx grinste. "Wenn du dadurch überzeugt wirst." Als sie ihm eine Luke öffnete, stieg er aus dem Fahrzeug und sank fast knietief in eine schwammige, faulende Masse. Er stülpte den Helm über den Kopf und schritt auf die Lichtung zu. Er wußte, daß man auf Iskola eine neue und verbesserte Variante des Bio-Feldes entwickelt hatte und war

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deshalb keineswegs leichtsinnig. Nach wenigen Augenblicken hatte er den Urwald hinter sich gelassen und einen Streifen nackter Erde erreicht, auf dem nicht einmal Gras wuchs. Ein Sensor klickte in Ohrnähe, und er ver-spürte ein Kitzeln auf der Haut und vernahm ein hohes Pfeifen, aber das war auch schon alles. Er ging weiter, bemerkte links und rechts die felder-zeugenden Pfosten und schritt zuversichtlich zwischen ihnen hindurch, um in den gepflegten Garten dahinter zu gelangen. Er unterschied sich beträchtlich von Almas Park. Der Rasen war kurzge-schoren, es gab keinerlei Blumen, und die geometrisch angelegten Pfade waren mit einer Kunststoffmasse bedeckt. Regelmäßig gestutzte Bäume säumten sie, und aus allem sprach Ordnung und Zurückhaltung. Eine Be-wegung ließ ihn reflexartig herumfahren. Ein großer Mann, hager und ver-wittert wie ein alternder Pan, kam ihm langsam entgegen. "Wer, zum Teufel, sind Sie?" fragte er halb wütend, halb neugierig. "Und wie haben Sie das gemacht?" Mit diesen Worten griff er an den Gürtel, riß mit der Gewandtheit eines Revolvermannes einen Gegenstand hoch und richtete ihn auf Sixx. Und starrte in die Mündung der Nadelpistole, die der Agent mit noch größerer Geschwindigkeit gezogen hatte. Dann siegte das Denken über den Reflex, und Sixx ließ die Waffe ebenso schnell wieder verschwinden, als er den Gegenstand als Minirecorder erkannte. Er kippte den Helm nach hinten und grinste. "Auf der anderen Seite des Zaunes befindet sich Alma Tillet", sagte er und wies mit dem Arm in die Richtung. "Sie wird gleich ein Signal geben. Sie sind wohl Bernard Hoff. Mein Name ist Rex Sixx, Begleiter des Exper-ten von der Interstelpol. Entschuldigen Sie bitte mein Benehmen, aber Sie hätten nicht so gegen mich ziehen sollen!" "Gegen Sie ziehen? Ah, das! Entschuldigen Sie bitte. Gäste zu haben, bringt mich ganz aus der Fassung. Dazu kommt, daß Sie hier einfach so eindringen. Wissen Sie, daß ich immer noch dieses Gefühl habe - Feindlich-keit, meine ich. Erstaunlich!" Er sah auf seine Hand und steckte dann den Recorder weg. "Dummheit. Ich treffe so selten persönlich Menschen, daß ich die Angewohnheit habe, alles aufzunehmen. Es unterscheidet sich so gänzlich vom Kontakt über Bildschirm. Bemerkenswert!" Er wandte sich um, als er das sanfte Schnurren des Hundertfüßers ver-nahm. "Alma!" Er hob grüßend den Arm. "Willkommen! Und das ist wohl

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der Detektiv? Miß Louise Latham? Sehr erfreut. Meine Heimstatt. Will-kommen, Mr. Lowry." "Hast du auf uns gewartet, Bernard?" "Eigentlich nicht." Er führte sie zu einer Glaskuppel. "Ich konnte nicht länger bei den anderen bleiben. Bemerkenswert! Wir scheinen die Kunst, die Gabe der Konversation verloren zu haben. Miß Latham - Louise - je rascher Sie hier zu einem Ergebnis gelangen, desto glücklicher sind wir!"

7. Als sie alle unter der Glaskuppel versammelt waren, senkte sich der Boden und brachte sie in einen riesigen, spärlich möblierten Raum, dessen Wände fast ausschließlich aus Bücherregalen bestanden. Ihre Ankunft schien Le-ben in die Gruppe von Menschen zu bringen, die darin versammelt waren. Alma übernahm das Vorstellen, und Sixx benützte die Gelegenheit, alle ein-gehend zu studieren. Lea Lawrence war schlank und schien eher zu schweben denn zu gehen. Ein formloses, weißes und wallendes Gewand verstärkte noch diesen Eindruck, wurde jedoch durch den harten australi-schen Dialekt fast zerstört. Olga Glink glich dagegen trotz ihres unschönen Namens einer anmutigen, griechischen Statue, was auf Grund ihrer kaum nennenswerten Kleidung leicht festzustellen war. Der schmale Stoffstreifen um ihre Hüften stach in seinem blenden Weiß gut gegen ihre Sonnenbräune ab. Sie war das denkbar beste Beispiel auf ihrem Gebiet: der Kunst zu le-ben. Graham Packard konnte mit einem Falken verglichen werden. Als Sixx ihm die Hand schüttelte, gewann er den Eindruck, daß sich der Mann hinter einer Fassade verbarg und alles beobachtete und merkte. Sein grauer Over-all verstärkte das Bild. Rilke dagegen war klein und gedrungen, hatte einen übertrieben festen Händedruck und schien dauernd eine finstere Grimasse zu schneiden, wozu auch sein grelloranger Umhang paßte. Trotz aller Be-obachtungen hielt Sixx auch ein Auge auf Louise. Ohne sich dessen bewußt zu sein, hatte er es hingenommen, daß sie die tragende Rolle spielte. Natür-lich hatte er gleich zu Anfang gewußt, daß sie die Untersuchung leiten wür-de und er und Lowry nur die Rolle von Leibwächtern innehatten. Aber das Wissen lag auf der Ebene des Verstandes. Sein Blut und sein Temperament

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jedoch sprachen eine andere Sprache - nämlich, daß er ihr zumindest eben-bürtig war. Und jetzt, in diesem Raum, drang es ihm völlig überraschend und unbehaglich ins Bewußtsein, daß er ihr, was Untersuchungen dieser Art betraf, hoffnungslos unterlegen war. Nach den Bekanntmachungen verteil-ten sich die Leute wieder im Raum, als hielten sie es miteinander kaum aus. "Wie sieht es aus, Louise?" fragte er leise. "Bis jetzt nichts. Nur geringe Spannungen. Sie mögen einander nicht be-sonders - nicht im gewöhnlichen Sinne -, es ist mehr einer Art von Unbeha-gen ..." "Dazu braucht man keine Intuition", murmelte Lowry. "Sie benehmen sich wie eine Ansammlung gleichnamiger, magnetischer Pole." "Ist eigentlich kein Wunder", stellte Sixx fest. "Sie waren alle hier, als Vancec starb, und stehen daher alle unter direktem Verdacht. Klar, daß sie kein fröhliches Fest abhalten." "Das ist nicht der einzige Grund", widersprach Louise. "Aber dies ist leicht festzustellen." Sie wandte sich an Alma, sprach aber so laut, daß sie von allen in der Nähe gehört werden konnte: "Ich habe den Eindruck, als ver-mieden alle die Nähe der anderen. Stimmt das? Und wenn, ist das üblich? Und warum?" Alma lächelte und wandte den Kopf. "Ivan? Ich glaube, das ist dein Ge-biet." Rilke sah noch finsterer drein als sonst und räusperte sich. "Alle Lebewe-sen generieren aktive Felder verschiedener Art und Intensität, wodurch sie einander beeinflussen. Das Bio-Feld unserer Zäune ist nur ein Beispiel da-für. Soziale Gruppen entstehen unter solchen Organismen, deren Felder harmonieren und sich verstärken. Dies ist ein weitgespanntes Gebiet. Es umfaßt zum Beispiel die Relation zwischen männlich und weiblich, den Her-dentrieb, das Gefühl, willkommen zu sein oder nicht, das Vermögen, Grup-penmitglieder als solche zu erkennen, Freund von Feind zu unterscheiden und so weiter. In jeder Art gibt es Individuen, die nicht in die Gruppe passen - geborene Einzelgänger. Wir hier sind solche. Für uns ist es äußerst unbe-haglich, sich mit anderen in engem Kontakt zu befinden. Reicht das als Antwort?" Louise nickte, als verstünde sie nun alles, aber Lowry sagte: "Ich habe eine Zusatzfrage. Das Argument mit den Einzelgängern kaufe ich euch ab. Ich bin selbst auf einige gestoßen. Ich nehme an, daß die Tests, die ihr

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durchführt, so aufgebaut sind, daß sie nur solche Menschentypen bestehen können. Stimmt das?" Er wandte sich an Alma, die zustimmend nickte. "Gut. Meine Frage ergibt sich von selbst: Wie könnt ihr erwarten, auf dem Gebiet der Sozialwissenschaften zu Ergebnissen zu gelangen, wenn ihr alle dem asozialen Typ angehört?" Eine Welle der Unruhe ging durch den Raum. Einzelne Ausrufe erhoben sich über das Gemurmel. Als Graham Packard sich laut räusperte, wurde es wieder still. "Darauf kann vielleicht ich Antwort geben, junger Mann", sagte er. "Etwa bis zur Mitte des vergangenen Jahrhunderts wurde die Geschichte über-haupt nicht als Wissenschaft anerkannt. Geschichte war eine ungeheure Ansammlung von Berichten, die meist von solchen Leuten stammten, die mitten in den Ereignissen standen, sowie von Abhandlungen darüber und Abhandlungen über die Abhandlungen, die von späteren Gelehrten stamm-ten. Alle wollten ihre eigenen Standpunkte darlegen. Man braucht zum Bei-spiel bloß drei verschiedene Zusammenstellungen der Ereignisse zu vergle i-chen, die zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs geführt haben, und die aus französischen, britischen beziehungsweise deutschen Quellen schöpfen. Man sieht, daß eine Objektivität nicht möglich ist, weil die Verfasser in die Sache verwickelt waren. Und analog ist es unmöglich, Soziologie zu betrei-ben, als Soziologe objektiv zu sein, wenn man von Natur aus ein sozialer Mensch ist." Packard schwieg. Sixx fühlte Irritation und vermutete, daß es Roger nicht anders ging. Diese Art, Fragen zu beantworten, war der Tod jedweder Konversation. Louise schien unbewegt. "Können wir jetzt weitermachen?" fragte sie. "Ich möchte den Schauplatz der Tat sehen und euch danach wahrscheinlich einige Fragen stellen. Es besteht jedoch keine Notwendigkeit für euch, sich in ein und demselben Raum aufzuhalten, wenn ihr nicht wollt. Ihr braucht nur erreichbar zu sein." "Hier entlang." Hoff löste sich von der Wand, an der er gelehnt hatte, und führte sie in einen langen Korridor mit vielen Türen zu beiden Seiten. "Was die Unterkunft betrifft, so stellen Gäste für mich kein Problem dar. Ich be-sitze viele Zimmer, die verschieden eingerichtet und mit Wand-Bildschirmen an allen vier Seiten versehen sind. Damit kann ich den Aufenthalt in jeder beliebigen Stadt simulieren und experimentieren." Er öffnete eine der Türen und ließ sie eintreten.

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An einer Wand befanden sich die übliche Kochnische, die Waschecke sowie Regale und Schränke, während die übrigen drei Wände zur Gänze aus Bildschirmen bestanden, die den Eindruck vermittelten, als befände man sich in einem Haus auf dem sonnigen Hang eines Hügels. Die Einrichtung bestand aus aufblasbaren Möbeln im Stile der Jahrhundertwende, nur der große Schreibtisch inmitten des Zimmers war von beständiger Form. "Au-ßer der Leiche wurde hier nichts berührt", betonte Hoff. Sixx nahm den allgemeinen Eindruck in sich auf und trat zur Seite, um Louise zu beobachten. Sie wirkte gespannt und nervös. "Es ist etwas hier", sagte sie. "Etwas Böses." "Vielleicht die Nachwirkungen der Tat?" "Nein. Soviel kann ich unterscheiden. Es befindet sich immer noch hier." Hoff hörte aufmerksam zu. "Diese Sensitivität der Umgebung gegenüber ... Ivan wäre sicher sehr interessiert daran. Ivan ..." "Kann warten!" unterbrach ihn Sixx scharf. "Kannst du das Zentrum an-geben, Louise?" "Ich versuche es." Sie schritt langsam in die Mitte des Raumes und wand-te den Kopf nach allen Seiten. Lowry trat an Hoff heran. "Wo wurde er gefunden?" fragte er leise. "Am Schreibtisch. Ich kann es dir zeigen. Alle Räume sind nämlich mit Kameras ausgestattet, und ich machte einige Videoaufnahmen, als ich auf die Polizei wartete." "Gute Idee. Warte einen Augenblick, Louise. Wir sehen uns erst einige Bilder an. Fang an." Hoff begab sich zu einer der Wände und befaßte sich kurz mit einigen dort angebrachten Schaltern. Die sonnige Hügelaussicht verschwand, und an ihre Stelle trat das Abbild des Zimmers, in dem sie sich befanden, nur daß sich statt ihnen die Leiche darin befand. Sixx betrachtete sie genau. Es schien, als wäre Vancec am Schreibtisch sitzend erschossen worden. Oder aber war er so plaziert worden, um diesen Eindruck zu erwecken? "Kannst du vergrößern?" fragte er, und als das Bild der Leiche die ganze Wand ausfüllte, biß er die Zähne zusammen. Es bot keinen schönen An-blick. Der Hinterkopf war vollkommen zerschmettert, und der Kopf lag in einer Blutlache auf dem Schreibtisch. Hoff betätigte seine Schalter und vermittelte ihnen Bilder von verschiedenen Seiten.

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"Die Aufnahmen stammen von vorgestern, von acht Uhr dreißig." Hoffs Stimme war heiser. "Einer meiner Robots sollte auf mein Geheiß die Früh-stücksbestellung aufnehmen. Als er keine Antwort erhielt, begab ich mich selbst her. Und da lag er." "Dr. Dobny kam mit seinen Assistenten um elf Uhr fünfzehn vom Fest-land", fuhr Louise fort. "Das steht in ihrem Bericht." Hoff nickte mit dem Kopf. "Und ihrer Untersuchung nach muß der Tod zwischen Mitternacht und zwei Uhr morgens eingetreten sein. Stimmt das?" "Er zog sich knapp vor Mitternacht auf sein Zimmer zurück", antwortete Hoff nachdenklich. "Da wurde er zuletzt lebend gesehen." "Und außer der Leiche wurde nichts angerührt", murmelte Sixx, und Low-ry nickte kurz. "Das Geschoß muß sich also noch hier befinden, nachdem es den Kopf durchschlagen hatte, Rex." "Stimmt. Aber wo? Das hier ist ein Drehstuhl." Louise starrte sie an. "Das Geschoß", rief sie, hob halb die Mappe mit der Akte und ließ sie wieder sinken. "Es wird hier überhaupt nicht erwähnt. Hier steht nur, daß der Senator schräg von unten in die Kehle geschossen wurde und daß die Kugel aus dem Hinterkopf austrat." "Und das hilft auch nicht viel, wenn er saß, denn er kann den Kopf zu-rückgebeugt oder gesenkt oder sonstwie gehalten haben", stellte Lowry fest. "Ich finde das sehr interessant", meinte Hoff händereibend. "Können wir nicht eine Rekonstruktion durchführen?" Er machte Anstalten, zum Sessel zu gehen, doch Sixx hielt ihn hastig zurück. "Langsam", meinte er. "Wir wollen nichts überstürzen. Ich nehme an, daß alle Fingerabdrücke sichergestellt wurden?" "Ja, natürlich. Das hat die Polizei getan. Es gab keine, außer denen des Senators. Dafür sorgen meine Robots." "Die haben hier danach aufgeräumt?" "Natürlich. Zum Glück sind alle Oberflächen fleckenfest, und daher brauchte nichts entfernt zu werden." "Es sieht wirklich so aus, als hätte er einfach hier gesessen und sich er-schießen lassen!" brummte Lowry und schüttelte den Kopf. "Ich sehe keine andere Möglichkeit." "Nein, aber Louise sieht sie. Ist es sehr schlimm?"

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Sie war bleich und ging zögernd auf den Schreibtisch zu. "Es ist immer noch hier", sagte sie leise. "Das läßt sich herausfinden." Lowry ließ seinen Helm in die Halterungen einschnappen und setzte sich auf den Drehsessel, der unter seinem Gewicht krachte. Sixx wandte sich an Hoff und schaltete gleichzeitig das Brustmi-krophon ein, so daß ihn auch sein Partner hören konnte. "In welcher Stimmung befand sich Vancec, als er sich zurückzog? Ruhig, aufgeregt, vielleicht sogar zornig? Hat es irgendwelche Meinungsverschie-denheiten gegeben? Andeutungen, daß er danach privat jemanden treffen wollte?" "Nicht, daß ich wüßte. Ich kann dir von fast allem, was gesagt wurde, Tonbandaufzeichnungen vorspielen." Louise sog hörbar den Atem ein, und Sixx fuhr herum, als Roger eine behandschuhe Hand nach einem Gegenstand auf dem Tisch ausstreckte. "Vorsicht, Roger", mahnte er. "Was ist das?" "Sieht aus wie eine Art Täschchen oder Beutel. Vielleicht für Toilettesa-chen?" "Ja, das!" warf Hoff ein. "Es gehörte dem Senator, der es stets mit sich umhertrug. Ich hielt es für eine Art ... Aktentasche." "Könnte uns einen Hinweis geben." Lowrys Stimme klang ruhig. Mit dem Daumen drückte er auf eine Verriegelung. Man vernahm ein Klicken, der Deckel sprang auf, und ein Mikrophon schnellte hoch und richtete sich auf Lowry. Dann ertönte ein weiteres Klicken. "Ich glaube, wir haben es, Rex!" Lowry schien amüsiert. "Sieh dir das an!" Sixx blickte über Lowrys Schulter und sah in die Mündung des Mikro-phons, denn um eine solche handelte es sich. Das metallene Schutznetz war durchbohrt, und dahinter war es finster. Sixx schüttelte bewundernd den Kopf. Es war ebenso einfach wie tödlich. Der gesamte Koffer stellte eine Einheit dar. Wenn man die Verriegelung öffnete, hob sich der Deckel, was wiederum zur Folge hatte, daß sich das Mikrophon zwischen den Spulen löste und auf die Geräuschquelle richtete. Alles automatisch. Sixx versuch-te, das Mikrophon in seine Ruhestellung zu drücken, um die Stärke der Fe-dern zu testen. Sie waren ohne weiteres imstande, den Rückstoß abzufan-gen. Der Benutzer würde sich natürlich dem Mikrophon zuwenden. Er wür-de zu sprechen beginnen. Und peng! Ganz einfach. Und nach einiger Zeit

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der Stille würde es sich abschalten, den Deckel schließen, aus. Ein teufli-sches Gerät! "Nett!" meinte Sixx ironisch. "Auch gar nicht schwer durchzuführen. In-nerhalb einer Stunde könnte man leicht das richtige Mikrophon ausbauen und durch die Waffe ersetzen. Wir müßten jetzt auch das Geschoß finden." Als sie den Wandschirm, vor dem der Senator gesessen hatte, ganz ab-schalteten, sahen sie es. Zerstörte elektronische Teile wiesen ihnen den Weg. Lowry schüttelte den Kopf. "Ein Bleistück. Das sagt uns nicht viel." "Doch", meinte Hoff. "Ist es nicht ein Indiz für unsere Unschuld?" "Frage nicht mich", antwortete Sixx. "Sie ist hier der Detektiv." Louise schien ihre Angst verloren zu haben, war jedoch immer noch ein wenig niedergeschlagen. "Mir genügt es", seufzte sie. "Ich gehe doch recht in der Annahme, daß der Senator seit seiner Ankunft nie allein war und ständig dieses Gerät bei sich hatte?" "Ich bin sicher, daß die anderen das bestätigen können." "Das ist nicht nötig. Und handelt es sich nicht um eine sinnlose Verschwö-rung eurerseits, wogegen sich mein Verstand sträubt, dann ist es für mich klar, daß jemand auf dem Festland ihm diese Falle gestellt hat - jemand, der seine Gewohnheiten kannte, der wußte, daß der Senator seine Gedanken auf Band sprach, ehe er zu Bett ging. So sehe ich es." "Was weiter?" fragte Sixx. "Du schaust nicht gut aus. Brauchst Du vie l-leicht einen Drink?" "Gleich. Zuerst muß ich etwas veranlassen. Kann ich von hier aus direkt mit Terra in Subradio-Kontakt treten, Bernard?" "Natürlich. Jede Heimstatt ist mit dem Zentralkomputersystem, der Data-bank, den anderen Heimstätten, mit Aratni und der Subradiostation dort verbunden. Folgt mir bitte." Er führte sie in den Daten-Raum, traf einige Vorbereitungen und übergab Louise dann das Terminal. "Von jetzt an ist es ganz einfach. Tue so, als hättest du einen gewöhnlichen Sender vor dir." "Du brauchst mich nicht allein zu lassen." Sie lächelte müde. "Es handelt sich nicht um ein privates Gespräch. Ich berichte, was ich bisher entdeckt habe, verlange alle Daten über Vancec und ersuche um weitere Instruktio-nen. Was meine Meinung betrifft, so steht Iskola außer Verdacht. Die Ant-wort wird achtundvierzig Stunden auf sich warten lassen, aber hier sind wir

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wir sicherlich fertig. Das kannst du deinen Freunden mitteilen. Es wird ih-nen eine große Last von der Seele nehmen."

8. Hoff begab sich dennoch außer Hörweite. Sixx und Lowry folgten ihm. "Ich habe geglaubt, ihr verwendet Funk nur für kürzeste Entfernungen", sagte Roger. "Richtig, nur für Haushaltsrobots und ähnliches. Funk ist zu offen, zu leicht abzuhören. Für die Kommunikation untereinander verwenden wir Kabel, abgeschirmte Multiplex-Natriumkabel. Die sind viel zuverlässiger als Funk." "Das ist natürlich ein Standpunkt", gab Sixx zu, "aber es muß eine Heiden-arbeit sein, all diese Kabel zu verlegen!" "Das ist nicht so arg." Hoff machte eine wegwerfende Handbewegung. "Es geht alles auf einmal. Hast du eine Karte gesehen? Dann weißt du un-gefähr, wo die Energiestationen liegen?" "Die Dampfsäulen." Sixx nickte. "Richtig. Nimm nun an, du wärest ein neuer Einwohner von Iskola. Du wählst dir die Stelle für deine Heimstätte ganz nach Belieben. Sobald der Zentralkomputer die Koordination erhalten hat, geschieht alles nach Pro-gramm. In dem dir am nächsten liegenden Energiezentrum wird ein Bewoh-ner aktiviert, der sich in Bewegung setzt, der Bau-Automaten, Material und eine Kabellegmaschine hinter sich her zieht. Danach ist die neue Heimstatt komplett mit Energie, Kommunikationsmöglichkeiten und Maschinen ausge-stattet, die alles tun, was du dir nur wünschst. Ah, Louise! Ist alles gutge-gangen?" "So wie es zu erwarten war", antwortete sie. "Bevor ich die Daten über Vancec nicht habe, kann ich nicht viel tun. Es sieht so aus, als müßte ich auf Dolgozni eine Menge Untersuchungen bezüglich Motiv, Möglichkeiten, Gelegenheit - die üblichen Routinesachen - durchführen." "Aus Romanen ist man anderes gewöhnt", beklagte sich Sixx. "Und auch in allen Kriminalfilmen, die ich gesehen habe, entdeckt der Detektiv den springenden Punkt, denkt angestrengt nach und sagt dann: 'Aha! Der hat es getan!'"

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"Spaßvogel!" Louise grinste schwach. "So ist es äußerst selten der Fall. Gewöhnlich bedeutet es langweilige, mühsame Arbeit. Jetzt könnte ich den Drink gebrauchen!" In den großen Verhandlungsraum zurückgekehrt, konnte selbst Sixx die gespannte Atmosphäre wahrnehmen. Louise gewann mit einer Handbewe-gung die Aufmerksamkeit aller. "Ich bin zu der Ansicht gelangt", teilte sie ihnen mit, "daß Senator Vancec durch einen Mechanismus getötet wurde, den er selbst vom Festland mitgebracht hatte. Das bedeutet, daß keiner von euch länger hierbleiben muß. Es besteht die Wahrscheinlichkeit, daß ich eventuell weitere Fragen an euch habe, doch ist diese äußerst gering." "Wir danken dir herzlich!" Lea Lawrence schwebte näher. "Wir sind sehr erleichtert, und ich lade euch ein, meine Heimstatt zu besuchen, solange ihr auf Iskola seid." Alma Tillet, die sich gedämpft mit Olga Glink unterhalten hatte, machte einen Vorschlag: "Wir haben für Senator Vancec eine Besichtigungstour geplant, auf der er zwei weitere Heimstätten, eine Energiezentrale, unser Computerzentrum und Jan Bardak besuchen sollte", - bei der Nennung des großen Namens schwiegen alle ehrfürchtig - "und ich bin dafür, das auch auszunützen. Louise, willst du das als formelle Einladung betrachten?" Alma blickte fragend zu den Versammelten, merkte deren Einverständnis und wandte sich wieder an Louise. "Ihr braucht wohl nicht sofort aufzubre-chen?" "Aber nein. Ich muß auf Informationen und Instruktionen von Terra war-ten, was mindestens zwei Tage in Anspruch nimmt." "Und die kannst du an jedem beliebigen Terminal entgegennehmen. Du nimmst also an? Gut!" Hoff hob den Arm und wollte offenbar den guten Gastgeber spielen. "Es ist mir ein Vergnügen, euch allen eine Mahlzeit servieren zu lassen, bevor ihr geht. Ein besonderer Anlaß!" In allem unterscheiden sie sich nicht von gewöhnlichen Menschen, stellte Sixx fest. Die Last des Verdachts ist von ihnen genommen, und ihre Gefühle verkehren sich ins Gegenteil. Olga Glink trat strahlend an Louise heran. "Meine Liebe, Alma hat mir von dir, von der Analyse deines Metabolismus berichtet, und ich verschreibe dir einen Drink, wenn du gestattest. Er wird sich ein wenig von denen un-terscheiden, die du gewöhnt bist. Ich bin mir nämlich fast sicher, daß deine

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Schwierigkeiten ihre Ursachen in der Diät haben." Sie schenkte ihr strah-lendes Lächeln den beiden Männern. "Ihr wißt ja - man ist, was man ißt. Der arme Mann, der Senator, er litt an einer tödlichen Krankheit. War euch das bekannt?" "Ah so?" Sixx wurde aufmerksam. "Wußte er es?" "Aber natürlich. Ich entdeckte es nach wenigen Minuten - diese Gabe habe ich - und teilte es ihm mit. Er aber wußte es bereits. Euren Ärzten zufolge hatte er nur noch ein Jahr zu leben. Ich hätte die Frist zumindest verdoppeln können, doch nun ist es dazu zu spät. Der arme Mensch!" Wäh-rend des Gesprächs hatte sie die Terraner zum Küchenautomaten geführt und drückte nun gewandt eine Reihe von Knöpfen, wobei sie die üblichen Programme vollständig außer acht ließ. "Natürlich Alkohol, weil du daran gewöhnt bist", murmelte sie. "Dazu kommen jedoch einige B-Vitamine und Protein, siehst du?" Sie lächelte wieder Louise zu. "Stelle dir folgendes vor: Die Nerven übermitteln Informationen an das Gehirn. Ja? Und der Organismus befindet sich gewöhnlich im labilen Gleichgewicht zwischen der einströmenden Information und der inneren Organisation. Wenn man zum Beispiel jegliche Information von außen un-terbindet, generiert das Gehirn eigene: Illusionen, Halluzinationen. Das ist natürlich ein künstlicher Extremfall. Hier, probiere das!" Sie reichte Louise ein Glas und setzte ihren Wortschwall fort. "Stelle dir eine Person vor, deren Nervensystem nicht sehr leistungsfähig ist. Ja? Ihm gehen alle Nuancen verloren, er empfängt bloß die stärksten Impulse. Er wird dauernd auf der Jagd nach Sensationen sein. Er ist der laute, herzliche, joviale Typ von Mensch, der grelle Musik, wildes Treiben, schreiende Farben und scharf gewürztes Essen liebt - der typische Extro-vertierte. Der Gegensatz dazu ist der Mensch mit einem empfindlichen Nervensystem. Er nimmt viel mehr wahr, manchmal vielleicht zuviel. Er zieht die ruhigen, sanften Dinge vor, zarte Nuancen, das Einfache. Er ist der typische Introvertierte. Das waren rein quantitative Überlegungen: viel oder wenig. Gehen wir zur Qualität über, so wird es etwas komplizierter. Ihr kennt vielleicht die technische Bedeutung des Wortes 'Rauschen'?" Lowry nickte und lächelte zurück. "Das ist alles, was ein Signal stört. Ungefähr." "Gut genug. Und 'Verzerrung'?" "Das ist etwas anderes. Das ist eine Störung im Signal selbst."

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"Sehr gut!" Sie strahlte. "Wenn nun jemand in der Nähe eine Trommel schlüge, so müßten wir schreien, um uns miteinander zu verständigen. Die Laute von der Trommel sind das Rauschen. Unangenehm. Würden wir aber schreien und aufeinander einbrüllen, ohne daß es eine Trommel gibt, so hat man den Fall der Verzerrung vor sich, und das wäre genauso unangenehm. Dein Problem, meine Liebe, ist nicht zuviel Information, ist nicht das Rau-schen, sondern die Verzerrung, die Qualität der Information." Louise hatte ihr Glas halb geleert und nippte höflich daran. "Ich habe im-mer geglaubt, ich erhielte zuviel Information in zu großem Ausmaß. Soviel, daß ich damit nicht auf einmal fertig werde", meinte sie zweifelnd. "Zuviel, als daß das Gehirn damit fertig würde? Niemals!" Olga schüttelte den Kopf. "Denke doch, meine Liebe! Hast du einmal einem großen Orche-ster mit Chor zugehört? Konntest du jede Note, jedes Instrument, jede Stim-me identifizieren? Und dabei handelt es sich nur um akustische Reize. Oh nein, das Gehirn kann alles verarbeiten, wenn nur die Qualität stimmt. Vie l-leicht nicht bewußt, aber was ist schon Bewußtsein, wenn nicht selektive Konzentration? Wir wählen, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten; alles andere wird jedoch immer noch verarbeitet. Du wirst es sehen. Ich verschreibe dir die richtige Diät, und bald brauchst du kein Betäubungsmittel mehr; du wirst imstande sein, alles richtig zu absorbieren." Gerade als Sixx Olgas Art zu irritieren begann, verkündete Hoff, daß das Essen fertig sei. Sixx setzte sich neben Packard. "Plötzlich scheint ihr erpicht darauf zu sein, eure Isolation aufzugeben", begann er das Gespräch. "Diese Einladung an Vancec selbst ...?" "Ja, das stimmt. Wir brachen unsere Isolation von der Umwelt, als unsere Maschinen Anzeichen krimineller Aktivität unter uns feststellten. Da stellten wir nämlich fest, wie groß das Ausmaß der Animosität der Umwelt uns gegenüber eigentlich war. Wir haben natürlich Kontakt mit der Außenwelt, doch nur durch Filter, wie zum Beispiel Alma, die das Unnötige eliminieren. Wir ziehen Daten vor und nicht Ansichten. Aber als wir uns an die Inter-stelpol um Hilfe wandten, ließ man uns fühlen, daß niemand es sonderlich eilig hatte, uns diese zu gewähren. Ich nehme an, wir benahmen uns etwas naiv." Packard hüstelte und zwang sich zu einem Lächeln. "Es ist wohl unver-meidlich, daß das Unbekannte als Drohung wirkt. Jedenfalls kamen wir zu der Erkenntnis, etwas tun zu müssen, um das Bild von uns zu verbessern,

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und da kam die Anfrage des Senators sehr gelegen. Unglücklicherweise trat genau die gegenteilige Wirkung ein. Daher reichen wir jetzt Miß Latham und euch die Hand, um etwas von dem Schaden gutzumachen." "Ihr habt mit anderen Worten nichts zu verbergen?" "Das trifft nicht ganz zu. Wir haben Informationen - wir wollen es so nen-nen -, die wir lieber nicht an die Öffentlichkeit dringen lassen wollen. Aber das macht uns nicht einzigartig. So etwas gibt es in jeder Gesellschaft, oder nicht?" "Richtig", stimmte Sixx grinsend zu. "Ich sehe tatsächlich nichts Besonde-res an dem Ganzen. Für Genies ein wenig enttäuschend." "Wir haben keine besondere Vorliebe für dieses Wort." Packard runzelte die Stirn. "Genie ist einfach die Kunst, das zu sehen, was jeder andere auch sieht, und dann zu denken, woran keiner gedacht hat. Und um das zu kön-nen, muß man Abstand zu den Dingen haben, möglichst desinteressiert sein. Es ist natürlich nicht möglich, vollständige Objektivität zu erzielen. Maschi-nen sind eine große Hilfe." Packard schwieg abrupt, als die Hintergrundmusik plötzlich lauter wurde. Eine fröhliche Melodie wob sich durch ein Netz von Kontrapunkten und löste sich in tiefen Bässen auf. Das dauerte nicht länger als eine Minute, beendete jedoch auf irgendeine bestimmte Weise das Mahl. Lea Lawrence erhob sich. "Das waren Konstruktionen von Bach mit hinzugefügten Infraschalltönen, um die Verdauung zu fördern. Das ist doch viel besser als dieses schreckli-che Gefühl des Angegessenseins, meint ihr nicht auch?" Sixx war nicht der Meinung. Trotz des guten Essens und des anregenden Gesprächs war er froh über den Aufbruch. Er wollte an die frische Luft, an die Sonne, weg von dem Gefühl, manipuliert und wie unter einem Mikroskop betrachtet zu werden. Er war froh, daß die aufbrechenden Gäste das Heck des Hundertfüßers ihm und Lowry überließen und Louise und Alma direkt vor ihnen saßen. "Ist es dir auch so ergangen, Roger? Jedesmal, wenn ich eine Frage stell-te, erhielt ich einen Vortrag als Antwort. Nichts Persönliches." "Das kommt auf die Fragen an. Ich habe langsam das Gefühl, Vancec könnte sich selbst umgebracht haben. Wenn man Olga zuhört, gewinnt man den Eindruck, er suchte etwas oder jemanden, bereit, eine Bombe hochge-hen zu lassen."

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"Und warum sollte er dazu hierherkommen?" "Vielleicht bringen die Informationen Klarheit, auf die Louise wartet. Hast du etwas über ihre Verbrechenswelle herausgefunden?" "Nein, verdammt!" Sixx war wütend über sich. "Packard hätte mich auf-klären können, doch habe ich die Gelegenheit verpaßt. Alma weiß sicher auch Bescheid." Er beugte sich vor, um sie zu fragen, und sah, daß sie dabei war, Louise auf einer Karte ihre Position zu zeigen. "Wir befinden uns jetzt hier", sagte sie. "Wir bewegen uns fast genau nach Norden auf Leas Heimstatt zu. Graham steigt auch dort aus, denn er muß nach Westen weiter. Wir setzen die Fahrt nach Norden fort bis zu Ivans Heim und von dort nach Nordosten zu Olga. Da ist es fast Abend, und wir werden dort übernachten." "Macht es Olga nichts aus? Weiß sie davon?" "Nein, es macht ihr nichts aus. Es war ja ihr Vorschlag. Sie ist sehr an deinem Problem interessiert. Wie fühlst du dich?" Louise wartete mit der Antwort, dann sagte sie: "Gut. Und frisch. Ich glaube, Rex hat eine Frage." "Ja. Diese kriminelle Aktivität, die euch dazu veranlaßte, um Hilfe zu bit-ten - woraus bestand sie eigentlich?" "Ah ja." Alma schwenkte ihren Sitz herum, und Louise folgte ihrem Bei-spiel. "Als jemand Konsumationsstudien betrieb und als Vergleichswerte unsere eigenen auf Iskola heranzog, stellte er fest, daß diese viel zu hoch waren, selbst wenn man berücksichtigte, daß wir für die verschiedensten Zwecke äußerst viel Material verbrauchen. Das war der Anfang. Andere stellten ähnliche Untersuchungen an und gelangten zu ähnlichen Resultaten. Und dann bemerkten wir etwas viel Ernsteres: Jemand entfernte Daten aus dem Zentralspeicher!" "Was willst du damit sagen?" "Ich war die erste, die darauf stieß. Es fehlen Programme. Ich wollte einmal den genauen Wortlaut einer Anekdote aus der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts nachsehen. Ich wußte, daß sich die Geschichte im Speicher befand, denn ich hatte sie selbst kodiert und eingegeben. Es war schwer zu glauben, aber sie befand sich nicht länger darin. Da begann ich, nach ande-ren Dingen zu suchen. Es ist gar nicht so leicht, nach etwas zu suchen, das eventuell nicht vorhanden ist, doch fanden wir genug Hinweise darauf, daß sich jemand auf verbotene Weise des Speichers bedient hatte!"

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9. "Eine peinliche Situation", gab Sixx zu, als er das Gehörte überdachte. "Je-mand - einer oder mehrere - zieht Vorteile aus eurem System." "Genau. Die Lage ist unerträglich. Selbst wenn wir den meisten Kriterien nach eine äußerst unorthodoxe Gesellschaft darstellen, so gilt auch für uns die Regel von William James, die besagt, daß eine Gesellschaft nur dann funktioniert, wenn die Mitglieder sich darauf verlassen können, daß sich alle an die Regeln halten." Das Gespräch wurde unterbrochen, als der Bohrer hielt, um Lea Lawren-ce und Graham Packard aussteigen zu lassen. Als die Schutzkuppel offen-stand, drangen die heißen Gerüche des Dschungels in das Innere und erin-nerten Sixx an die großen Kontraste, die auf Iskola herrschten: überall wil-der Urwald bis auf die kleinen, weit verstreuten Fleckchen, Enklaven höch-ster Ordnung. Zwar waren die Heimstätten miteinander durch Kabel ver-bunden, doch wirkten diese wie dünne Fäden - verglichen mit der Urwüch-sigkeit des Dschungels. Sixx hatte das Gefühl, daß das gesamte Experiment auf Iskola zum Scheitern verurteilt war. Die Kuppel schloß sich wieder, und der Bohrer entfernte sich von Leas Heimstatt. Olga Glink kam zu ihnen ins Heck, die Schwankungen des Fahrzeugs leicht und elegant ausbalancierend. "Ich habe mit Ivan gesprochen, und er ist meiner Meinung", sagte sie. "Wir bleiben bei euch an Bord und fahren direkt zu Jan Bardak, um ihm einen Besuch abzustatten. Wir wollen ihm persönlich vom glücklichen Er-gebnis der Untersuchung berichten. Seid ihr alle dafür?" Alma runzelte die Stirn, drückte einige Knöpfe an ihrem Sitz, und auf dem kleinen Bildschirm erschien eine andere Karte. "Da müssen wir einen bisher unbenutzten Weg einschlagen", überlegte sie. "Das geht zwar langsamer, doch sind wir vor Sonnenuntergang am Ziel." Niemand hatte etwas dagegen, und der Bohrer schlug eine neue Richtung ein. Nach einiger Zeit ging das hohe Wimmern des Bohrers plötzlich in ein tiefes Brummen über. Rilke im Bug schien ebenso überrascht wie die ande-ren. "Die Instrumente zeigen an, daß wir uns den Grenzen einer Heimstatt nähern", rief er ihnen zu. "Der Karte nach gibt es hier nur Urwald. Hier

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dürfte keine Heimstatt sein, oder aber wir sind weit vom Kurs abgekom-men!" Sixx ging nach vorn und warf einen Blick auf die Instrumente. Auf dem Bildschirm war deutlich die Grenzlinie einer Heimstatt zu erkennen, und er sah auch, daß sich der Urwald weiter vorn lichtete. "Es muß sich um einen Kursfehler handeln." Der Physiker klopfte auf den Instrumentenkasten. "Ich werde einen Bogen machen und dann die ur-sprüngliche Richtung einschlagen." Der Bohrer setzte sich wieder in Bewe-gung, und die Grenzlinie auf dem Schirm schwang zur Seite und ver-schwand aus dem Bild. Sixx fühlte ein Kribbeln und wandte sich um. Lowry war ebenfalls nach vorn gekommen und blickte ihn fragend an. "Da stimmt etwas nicht, Roger." Sixx wies nach hinten. "Schau, Louise merkt es auch. Gehe lieber zu ihr, und frage sie, ob sie etwas Genaueres sagen kann!" Lowry folgte der Aufforderung, während Sixx blieb und über Rilkes Schulter nach vorn blickte. Nach einer Weile hob sich der Boden, und die Fahrt ging zumeist aufwärts. "Ein Berg?" fragte Sixx, und Rilke bejahte. "Bardaks Heimstatt befindet sich genau unterhalb der ersten Kraftstation in dieser Richtung. Die gesamte Flanke des Berges ist von einem Park be-deckt, in dem es Wasserfälle, Brücken, Lichtungen mit Skulpturen, eine Fülle von Blumen gibt - eine Art lebendes Denkmal in der Wildnis zu Ehren unseres großen Mannes. Wir sind etwa eine Fahrtstunde von der ersten Lichtung entfernt. Was zum..." Erstaunen ließ ihn verstummen, als die wirbelnden Rotoren des Bohrers plötzlich durchdrehten und laut aufheulten, ehe die Automatik eingriff und sie abbremste. Sixx griff nach vorn und hielt das Fahrzeug an. Sie befanden sich auf einem einige Meter breiten Streifen von brauner Farbe, der sich von links nach rechts erstreckte, ohne daß ein Ende abzusehen war. Rilke traten die Augen aus den Höhlen. "Alles tot!" rief er. "Verbrannt! Die Art des Rodens ist bei uns verboten!" "Jemand kümmert sich nicht darum, mein Freund. Jemand ist hier mit einem Entlaubungssprüher entlanggefahren, und das vor gar nicht langer Zeit." Alma eilte herbei und starrte ebenso verwundert auf den Todesstrei-fen wie Rilke. "So etwas habe ich nie zuvor gesehen", erklärte sie.

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Sixx fuhr sie an: "Stelle die Richtung fest, in der der Streifen verläuft! Stelle fest, ob die Heimstatt, die wir gerade hinter uns ließen und die es nicht geben dürfte, daran liegt!" Sie gehorchte wortlos. Es war so, wie Sixx vermutet hatte: Folgte man dem Streifen nach links, so gelangte man zu der Heimstatt, die nicht auf der Karte verzeichnet war. "Was nun?" fragte er. "Sehen wir nach, was hier los ist? Oder fahren wir weiter und tun so, als wäre nichts geschehen?" "Jemand verwendet ein verbotenes Entlaubungsmittel. Wir sollten dies sofort an die Datenzentrale weitergeben!" "Das ist unmöglich!" erklärte sie. "Wenn man diesem Todesstreifen folgt", er wies mit dem Finger nach links, "kommt man zu einer Heimstatt, die sich nicht in eurem Register be-findet! Unmöglich oder nicht - sie ist dort." "Gefahr!" stieß Louise hervor. "Aus dieser Richtung. Sie kommt näher." Sie zeigte in die entgegengesetzte Richtung. Und da war auch schon ein Dröhnen zu vernehmen. Zugleich mit dem Dröhnen wirbelten verbrannte Blätter, Zweige und Wurzeln heran. Es war ein Bohrer, der sich rasch näherte. "Schnell!" schrie Sixx. "Volle Geschwindigkeit voraus! Der Kerl will uns rammen!" Rilke hieb auf die Kontrollen ein, und der Bohrer heulte auf und fraß sich in den Dschungel jenseits des Streifens. "Das ist lächerlich", widersprach der Physiker nach wenigen Augenblik-ken. "Eine ungerechtfertigte Folge von Annahmen!" "Glaubst du?" Sixx blickte nach hinten. "Und warum folgt er uns dann?" "Und er erwischt uns auch", stellte Lowry ruhig fest. "Er braucht ja nur dem von uns gebahnten Pfad zu folgen." Die Iskolaner waren vollkommen verstört, und Sixx verstand sie auch. Das Eintreffen einer Unmöglichkeit war schlimm genug, aber eine ganze Serie mußte eine verheerende Wirkung auf sie ausüben. Und der Verfolger holte rasch auf. Mehrere Ideen schossen Sixx durch den Kopf, wurden ebenso schnell wieder verworfen. Da klopfte er Lowry auf die Schulter. "Bist du bewaffnet, Roger?" "Immer. Zwar mußte ich Platz für Louises Flasche schaffen, doch habe ich immer noch genug, um die Kerle zu entmutigen. Detonit vielleicht?"

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"Es scheint unsere einzige Chance zu sein. Sobald zu bereit bist, öffnen wir die Kuppel." Lowry ging ins Heck, stülpte seinen Helm über und faßte in eine Tasche seines Anzugs, aus der er drei kleine, silbrige Eier, Detonitkapseln, hervor-zog. Er kniete nieder und hob einen Arm. Sixx wandte sich an Alma. "Mache dich bereit, genau das zu tun, was ich dir sage. Ich möchte, daß sich alle ducken, wenn die Kuppel geöffnet ist." Und zu Rilke gewandt: "Langsamer!" Zu Alma: "Jetzt!" Er kippte seinen Helm über den Kopf. Die Kuppel versank in den Seiten-wänden des Fahrzeugs, und die feuchte Dschungelluft drang ein. Lowry warf die Detoniteier in rascher Reihenfolge. Sixx überzeugte sich rasch, daß alle in Deckung lagen. Der Bohrer hinter ihnen füllte die Luft mit sei-nem Getöse, der Lärm änderte sich plötzlich, und gleich darauf zerrissen drei Explosionen die schwüle Atmosphäre. Ganze Äste wirbelten durch die Luft und nahmen die Sicht auf den Verfolger. Dann mußte Sixx feststellen, daß der Fahrer so rasch reagiert hatte und auf die Bremsen gesprungen war, daß er eine totale Zerstörung verhindert hatte. Zwar waren die Roto-ren verbogen und vollkommen unbrauchbar, doch die Ketten hatten keinen Schaden erlitten, und der Bohrer nahm die Verfolgung wieder auf. Und dann geschah etwas, was den Kampf endgültig zu ihren Ungunsten ent-schied. Ein intensiver Lichtstrahl blitzte auf, und nach dem kurzen Augen-blick der durch die Helmautomatik verursachten Dunkelheit sah Sixx, wie ein Stück der ein wenig über die Bordwand ragenden Glassitkuppel sprü-hend kochte. "Warte, Roger", grollte er. "Unsere Lage ist schlechter, als wir dachten. Die Gegner setzen Laser-Gewehre gegen uns ein. Wir ergeben uns lieber. Wir müssen an die anderen denken." Er schaltete den Außenlautsprecher ein, damit ihn alle hören konnten, und sagte: "Halt! Motor abstellen! Gebt auf! Sie zielen mit Laser-Gewehren auf uns!" Lowrys Stimme drang an sein Ohr. "Wir brauchen Hilfe, Rex. Wir tren-nen uns am besten, oder?" "Richtig. Einer von uns muß verschwinden. Und das bin ich, denn dich sehen sie. Wir halten die Verbindung aufrecht."

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Er duckte sich, schlich gebückt zum Bug des Hundertfüßers und sah, daß sich Louise und die Iskolaner nach ihm umgewandt hatten. Der Feindbohrer kam näher und hielt. Sixx rief über den Außenlautsprecher: "Dreht euch um und seht dem Feind entgegen! Kümmert euch nicht um mich! Ich hole Hil-fe. Dreht euch um!" Sie gehorchten ihm völlig verwirrt. Er schwang sich über die Bordwand, zwängte sich an den Rotoren des Bohrers vorbei und drang in die grüne Wand dahinter ein. Wütend kämpfte er sich durch das Dickicht. Die Einrichtungen des Anzugs halfen ihm beträchtlich, doch gab er sich über die Schwierigkeit seines Vorhabens keinen Illusionen hin. Rilke hatte gesagt, der Park am Berghang befände sich eine Fahrtstunde entfernt, also vierzig bis fünfundvierzig Kilometer. Eine erschreckende Entfernung für einen Mann zu Fuß im Dschungel. Von Zeit zu Zeit erstattete Lowry Be-richt. "Es sind sieben oder acht. Alle tragen grüne Overalls. Jeder hat ein Strahlengewehr und eine Handwaffe. Sie umringen uns. Scheint, als wüßten sie nichts mit uns anzufangen. Einer hat einen Sender." Nach einer langen Pause: "Sie übernehmen unseren Bohrer. Das ist logisch, denn ihrer ist ver-nichtet. Drei oder vier von ihnen könnte ich von hier aus erledigen." "Laß das lieber bleiben, Roger. Es hat keinen Sinn, sie zu reizen. Wir wol-len herausfinden, wer dahintersteckt, wer sie sind." "Gut. Sie scheinen auf Befehle zu warten." "Ich schalte für eine Weile ab, Roger. Ich benötige jetzt jede erdenkliche Energie." Sixx kämpfte sich weiter durch den Urwald, während er zuerst die Strom-kreise für den Funkkontakt von Mann zu Mann abschaltete. Dann unter-brach er nach und nach die Energiezufuhr für alle anderen Hilfsmechanis-men des Anzugs, bis er sich kaum zu bewegen vermochte. Dann konzen-trierte er die gesamte zur Verfügung stehende Energie in eine höchst ge-heime Folge von Impulsen und wartete. Zu seiner größten Erleichterung kam nach wenigen Sekunden das Antwortsignal. "Hallo, Joe", sagte er leise. "Tut mir leid, dich zu stören, aber ich befinde mich in großen Schwierigkeiten." Er wußte, daß diese einfachen Worte genügten, den Computer in äußerste Alarmbereitschaft zu versetzen, und fühlte sich bereits viel besser.

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10.

"Gib mir die Frequenz des Kontrollturms", befahl er. Es ertönte ein Klicken und danach eine gelangweilte Stimme. "Aratni, Kontrollturm. Sie wünschen?" "Clipper IV an Kontrollturm. Erbitte baldigste Starterlaubnis." "Verstanden, Clipper IV. Warten Sie!" Sixx wartete. Die Luft im Anzug wurde zunehmend schlechter und heißer. Dann ertönte wieder die gelang-weilte Stimme: "Clipper IV. Sie haben Starterlaubnis." Sixx bestätigte, ließ Joe die Verbindung unterbrechen und befahl ihm: "Routinestart, Joe. Fünfzehn Kilometer in die Höhe. Peile mein Signal an und begib dich in Position direkt über mir. Dann nimmst du Kontakt mit mir auf. Los!" Sixx setzte wieder alle Systeme in Betrieb und machte sich auf den Weg. Joe war kaum vor einer Stunde zu erwarten, und er sparte Zeit, wenn er in der Zwischenzeit so weit wie möglich an Bardaks Heimstatt herankam. Lianen, Zweige, Dornen, Wurzeln - alles schien so zu wachsen, um ihm das Vorwärtskommen möglichst schwerzumachen. Er zog für eine Weile in Betracht, sich mit einigen Detonitkapseln einen Weg zu bahnen, entschied dann aber dagegen. Da meldete sich Roger: "Wir befinden uns jetzt wieder auf dem verbrannten Streifen und fahren in Richtung der unbekannten Heimstatt. Zwei Mann bewachen mich, die an-deren sitzen umher. Alma und die anderen Iskolaner sind wie betäubt. Sie können es immer noch nicht fassen, daß es einen unregistrierten Wohnplatz gibt." "Ich habe darüber nachgedacht, Roger. Deswegen sind ihre Verbraucher-zahlen auch so hoch. Es hat eine Invasion stattgefunden. Die Zahlen weisen auf eine größere Anzahl hin. Eine Heimstatt mehr wäre nicht ins Gewicht gefallen." "Es können Hunderte sein, Rex. Die Insel ist groß genug." "Stimmt. Und das bedeutet, daß sie jemanden in einer Schlüsselstellung bei einer Kraftstation haben." "Davon gibt es eine ganze Menge. Haben sie routinemäßig die am näch-sten liegende genommen, dann ist es die in Bardaks Nähe. Achtung! Wir

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sind angekommen." Nach einer kurzen Pause fuhr Lowry fort: "Sieht aus wie alle anderen: Bio-Zaun, Aufzug." "Hast du eine Ahnung, wer sie sind, Roger?" "Noch nicht. Eins ist sicher: Einzelgänger sind sie keine. Die Knaben ar-beiten gut zusammen." Da wurde die Stimme immer le iser, und Sixx sprach eindringlich: "Drehe mehr auf, Roger! Ich höre dich kaum noch. Der Erdboden absor-biert zuviel." Er selbst erhöhte die Lautstärke, und da kam deutlich wieder Lowrys Stimme: "Wir verlieren eine weitere Runde, Rex. Hör genau zu! Dobny ist der Boß, und er weiß, was er tut. Wenn ich nicht sofort den Anzug ausziehe, geht es Louise schlecht. Ich habe keine andere Wahl. Du bist unsere einzi-ge Chance!" Wut brandete in Sixx hoch. Bisher war der Auftrag alltäglich, ja eher langweilig gewesen, jetzt aber kam ihm zu Bewußtsein, daß er Louise verlo-ren hatte, und das war schlecht. Daß er Roger verloren hatte, war eine Katastrophe! Er hoffte und nahm an, daß Roger seinen Anzug vollkommen stillgelegt hatte, als er ihn auszog, denn da waren einige Dinge eingebaut, die Außen-stehende nichts angingen. Und obwohl Roger auch mit bloßen Händen ein nicht zu unterschätzender Gegner war, konnte die Lage kaum schlechter sein. Verbissen kämpfte er sich weiter, während er ungeduldig auf das Signal vom Schiff wartete. Mittlerweile wälzte er Pläne und überdachte die ver-schiedenen Möglichkeiten. Bardak war eine wichtige Figur. Die Kraftsta-tionen und der Zentralkomputer stellten Schlüsselpunkte dar, die man beach-ten mußte. Aber auch die Zeit war kostbar und spielte eine große Rolle. Wütend kämpfte er gegen die grüne Hölle. Endlich ertönte das langersehnte Signal im Innenlautsprecher des Helmes, und er blieb unter einem dicht mit Lianen behängten Urwaldriesen stehen. "Wie weit ist es von mir bis zur nächsten Dampfsäule in östlicher Rich-tung, Joe?" "Hundertachtundvierzig Kilometer", kam die prompte Antwort. "Wie weit bis zur nächsten Lichtung in derselben Richtung?" "Vierundzwanzig Kilometer."

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"Verdammt!" fluchte er. "Dazu brauche ich Stunden!" Doch dann kam ihm eine Idee, und er gab seinem Schiff genaue Instruktionen. Kurz darauf vernahm er das Dröhnen der Raketenmotoren, das immer mehr anschwoll. Er senkte die Empfindlichkeit seiner Außenmikrophone und machte sich auf den Weg in Richtung des zunehmenden Donnerns, so rasch es der Dschun-gel erlaubte. Bald stieß er auf die Lichtung, die der Feuerstrahl des Schiffes geschaf-fen hatte. Rauch und Dampf stiegen auf, vereinzelt leckten noch Flammen an verkohlten Baumstämmen empor, während alles Gebüsch zu Asche ver-brannt war. Fast blind und taub rannte Sixx weiter, watete hüfttief in der Asche und den immer noch glühenden Holzkohlestücken. Aber er konnte rennend dem höllischen Pfad folgen, den das Schiff für ihn in den Urwald brannte, bis es an dessen Rand anlangte. Sixx erkannte dies daran, daß die Raketenmotoren verstummten. Er tau-melte weiter, klopfte sich, so gut er es vermochte, Ruß und Asche vom Anzug, wischte die Sichtscheibe des Anzugs sauber und sah sich um. Kilo-meterweit erstreckte sich wunderschöner Rasen mit Blumen und dekorati-ven Büschen bis zu den graublauen Hängen der Bergkette am Horizont. Ganz in der Nähe des Landeplatzes befand sich ein Holzhaus mit einem Schindeldach. Hatte er sich nicht total verschätzt, so mußte es sich um Bar-daks Grund handeln, und es sah so aus, als hätte sich Joe ausgerechnet auf einem der das Bio-Feld erzeugenden Pfosten niedergelassen. Sixx gewann den Atem und sein Vertrauen wieder, als er langsam auf die Hütte zuging. Wenn du da drin bist, dachte er, so hörst du wohl alle Alarmglocken läuten. Also komm heraus! Als er beim Schiff angekommen war, blieb er unentschlossen stehen. Da trat eine hagere, sonnengebräunte Gestalt, in ein weißes Lendentuch gehüllt, aus der Hütte und schritt langsam auf Sixx zu. Der Mann war alt. Dünne Haarbüschel hingen in das zerfurchte Gesicht. Aber der Mann war keines-wegs senil oder schwach. Er blickte zornig, als er stehenblieb und Sixx mit erhobener Hand Einhalt gebot. "Du dringst hier ein!" stellte er mit voller Stimme fest. "Wer bist du? Wie bist du durch meinen Zaun gelangt? Und wie kannst du es wagen, deine Maschine auf meinem Boden zu landen?" Sixx tat noch einige Schritte, kippte den Helm nach hinten und blieb ste-hen.

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"Sie müssen Jan Bardak sein. Angeblich ein Genie. Beweisen Sie es, in-dem Sie genau zuhören. Für Wiederholungen und dumme Erklärungen ist nicht die Zeit. Iskola bat um Hilfe bei der Aufklärung von Verbrechen. Sie kam. Mein Partner und ich brachten sie. Ihr hattet recht; es gibt Verbre-cher. Dieser Feind hält den weiblichen Detektiv, der euch helfen sollte, ge-fangen. Er besteht aus einer größeren Organisation, ist bewaffnet und be-droht das Leben der Detektivin, meines Partners und einiger eurer Leute: Alma Tillet, Olga Glink und Ivan Rilke. Können Sie mir bisher folgen?" Dir alte Mann schnitt eine Grimasse, nickte aber. Sixx fuhr rasch fort: "Ich entging der Gefangennahme und brauchte Hilfe. Daher rief ich mein Schiff. Es tut mir leid, daß es auf Ihrer Heimstatt landete. Das war nicht beabsichtigt. Ich brauche noch mehr Hilfe. Von Ihnen!" Der alte Mann hob die Schultern. "Was kann ich tun?" "Vieles. Zeigen Sie mir den Weg zur nächsten Anlage des Zentralkompu-ters und zur nächsten Energiestation." "Warum?" "Tun Sie es! Wenn Sie wollen, erkläre ich es Ihnen unterwegs. Zeigen Sie mir die Richtung!" Bardak zuckte wieder mit den Schultern, wandte sich um und wies den Hang hinauf, wo eine Glaskuppel im Grün von Büschen glitzerte. Die Ent-fernung betrug etwa achthundert Meter. Sixx begann langsam zu laufen. Bardak kam hinterher und holte auf. "Du kannst da nicht hinein. Niemand geht hinein, außer ganz selten zu Kontrollzwecken." "Ist das nur eine Regel, oder gibt es Gründe dafür?" "Es gibt Gründe." Bardak sprach nun stoßweise, um Atem zu sparen. "Kontrollen ... natürlich nötig ... aber Fachleute, zwei und zwei. Jedes ande-re Eindringen ... kann Schaden anrichten ... Außerdem ... gibt es kein Ter-minal. Keine Information ... dafür benötigt man ein Terminal!" "Oh!" Sixx blieb stehen. "Das ist schlecht. Na gut. Wo ist die nächste Kraftstation?" Bardak zeigte schräg voraus. "Da vorn." "Und sie ist mit einem Terminal versehen?" "Ja, natürlich." "Also los!" Sixx nahm seinen langsamen Lauf wieder auf, und Bardak hielt mit, wirkte jedoch ziemlich wütend. Sixx grinste ihn an. "Sparen Sie

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sich den Atem und hören Sie gut zu. Ihr seid das Opfer einer Invasion ge-worden - nicht plötzlich und offen, sondern heimlich und langsam. Der Füh-rer muß jemand sein, der euer System genau kennt, so zum Beispiel, wie man eine Heimstatt errichtet. Es gibt mindestens eine, wahrscheinlich aber viel mehr, von denen ihr keine Ahnung habt. Es gibt Straßen im Dschungel, die mit Hilfe von Entlaubungsmitteln gebrannt wurden, es gibt Truppen, die mit Laserwaffen ausgerüstet sind. Damit finden auch eure hohen Verbrau-cherziffern ihre Erklärung. Genügt Ihnen das?" Bardak hielt sich mühsam an Sixx Seite und runzelte verwundert die Stirn. "Eine Invasion? Aber wie? Und wer steckt dahinter?" "Das steht noch nicht ganz fest. Ich habe nur einen Namen: Dobny, Edgar Dobny. Er hat sich anscheinend vor langer Zeit um Aufnahme in Iskola beworben, wurde aber abgelehnt. Wurde Chef der Rechtsmedizin auf Arat-ni. Sagt Ihnen das etwas?" Bardak dachte nach. Dann sagte er: "Ich glaube, ich erinnere mich schwach. Ein paranoider Fall. Wie so viele andere ... mit hoher Intelligenz ... unbalanciert. Aber wie ... konnten sie eindringen?" "Eure Zäune - seien sie elektronisch oder natürlich - können niemand mit ein wenig Phantasie abhalten, der es sich in den Kopf gesetzt hat, sie zu überwinden. Sie sind vielleicht auf vielen Gebieten äußerst gescheit, Mr. Bardak, aber über Menschen wissen Sie nichts!" Der alte Mann biß die Zähne zusammen. "Wer bist du?" fragte er wieder-um. "Und was für eine dumme Uniform!" "Interstellarer Sicherheitsdienst. Leibwächter des Detektivs von der Inter-stelpol, den ihr angefordert habt. Mein Name ist Sixx. Ich bin kein Soziolo-ge, Mister, aber selbst ich weiß, daß man durch das Errichten eines Zaunes die Neugierigen geradezu dazu einlädt, diesen zu übersteigen, um zu sehen, was man zu verstecken versucht." Für einen alten Mann hielt sich Bardak ganz gut, aber er rang schon ziem-lich nach Atem. "Warum", fragte er keuchend, "laufen wir dorthin?" Er deu-tete auf das stählerne Gebäude vor ihnen. Dahinter waren die Grundmauern eines riesigen Turmes zu sehen, aus dem weißer Dampf quoll, eine kleinere Ausgabe der Titanen weiter oben auf dem Bergrücken. "Dort haben wir die größten Chancen, herauszufinden, was eigentlich vor sich geht. Wohnt dort jemand?"

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"Keine ... Heimstatt!" keuchte Bardak. "Niemand ... lebt dort. Ab und zu ... spezielle Experimente ... Instandhaltung. Ein Bio-Feld... rundherum!" "Ich weiß." Sixx hatte bereits die Reihe der Pfosten gesehen, und er dach-te nach, wie er den alten Mann durch das Feld bringen konnte. Er war da-mit so beschäftigt, daß er fast die Bewegung an einer Ecke des Gebäudes übersehen hätte. Seine Reflexe retteten ihn und Bardak. Er stieß den alten Mann kräftig beiseite und rief: "Nieder! Auf die Erde!" Bardak strauchelte und fiel gleichzeitig mit Sixx, der seinen Helm überstülpte und dann den Kopf hob. An einer halb geöffneten, massiven Doppeltür stand ein Mann in einem grünen Overall mit einem Gewehr in der Hand. Die Entfernung war etwas zu groß für die Nadelpistole, schätzte Sixx. Er sah zur Seite, wo Bardak lag. "Ist alles in Ordnung?" "Nein!" stieß der Alte hervor. "Ich bin verletzt. Mein Arm - siehst du?" Sixx erkannte die rote Spur eines Streifschusses aus einem Lasergewehr. "Bleiben Sie ruhig liegen und hören Sie zu! Sie haben jetzt den Beweis für die Existenz von Feinden? Gut. Wir müssen herausfinden, wie viele sich in dem Gebäude aufhalten. Sie bleiben liegen und rühren sich erst, wenn ich Ihnen winke. Verstanden?" Er rollte sich auf den Rücken, holte die Nadelpistole aus einem Zusatzbeu-tel, ein Verlängerungsrohr aus einem anderen und schraubte die Teile sorg-fältig zusammen. Die Entfernung war für die leichten Nadeln immer noch zu groß, besonders wenn man an die zunehmende Abendbrise dachte, aber das ließ sich ändern. Er erhob sich und ging mit festen Schritten auf den Zaun und den wartenden Feind zu. "Komm, mein Freund", murmelte er und hielt die Hand mit der Waffe halb hinter dem Rücken verborgen. "Komm doch! Der weiße Anzug bildet ein gutes Ziel. Eine solche Chance bekommst du nie wieder!" Der Mann in Grün machte zwei Schritte vorwärts, kniete nieder und zielte, nachdem er zuvor eine Einstellung vorgenommen hatte. "Minimale Streuung, volle Leistung", riet Sixx und ging ruhig weiter. Er verließ sich auf die Techniker des I.S.P., die den Anzug gegen so ziemlich alles undurchlässig gemacht hatten. Der Helm war zum Beispiel mit Senso-ren und Filtern ausgestattet, die viel rascher reagierten als menschliche Re-flexe. Drei kurzzeitige Verdunklungen waren das einzige, was auf drei Voll-

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treffer hinwies. Dann sah er, wie der erstaunte Schütze aufstand und lang-sam rückwärts ging. "Nein, tue das nicht", murmelte Sixx. "Es wäre eine Heidenarbeit, dich da drinnen zu erwischen. Warte ein wenig!" Er hatte nun einen der Pfosten erreicht, ignorierte das Bio-Feld, stützte sich darauf, zielte mit der Nadelpi-stole und feuerte zehn Nadeln ab. Der Mann in Grün machte noch einen Schritt und fiel dann unelegant auf die Nase. Vorsichtig, wie es seine Art war, wartete Sixx und grinste zufrieden, als ein weiterer Uniformierter aus der halboffenen Tür hervorstürzte und sich nach der Waffe bückte. Auch dieser Mann landete auf dem Bauch. Sixx zählte langsam bis fünfzig. Nichts rührte sich. Er wandte sich um und wink-te Bardak heran. Der kam bis auf einige Schritte an den Zaun heran und begann die Aus-wirkungen des Feldes zu spüren. "Ich kann nicht weiter", sagte er.

11. "Gehen Sie ein wenig zurück, legen Sie sich hin und halten Sie sich die Oh-ren zu! Jetzt wird es etwas rauh." Er sah zu, wie Bardak ihm gehorchte und nickte anerkennend. Der Alte war jedenfalls kein Narr. Sixx holte zwei Detonitkapseln hervor, drückte eine kräftig und warf sie zum Pfosten zu seiner Rechten. Er drehte sich um und wiederholte den Vorgang auf der anderen Seite. Dann zog er den Kopf ein und ließ die beiden Schockwellen und den Regen aus Gras, Erde und Steinen über sich ergehen. Danach winkte er Bardak. "Das war die einzige Möglichkeit, tut mir leid. Und nun wollen wir uns den Feind mal genauer ansehen." "Wieso gerade hier?" fragte Bardak. "Nehmen Sie an, ich hätte Sie auf die Insel geschmuggelt und wollte Ihnen eine Heimstatt verschaffen. Die einzige Möglichkeit, die Konstruktionsma-schinerie in Gang zu setzen, ohne das gesamte Kommunikationsnetz davon in Kenntnis zu setzen, besteht darin, daß sich jemand hier, in der Zentrale selbst, zu schaffen macht." Als sie das Gebäude erreichten, untersuchte Sixx die auf dem Boden lie-gende Waffe und machte sie unbrauchbar. Bardak war mehr an den be-

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täubten Männern interessiert. Er wälzte einen auf den Rücken und blickte erstaunt auf. "Ich erinnere mich an diesen Mann. Paul Massenet. Er ist ein brillanter Physiker mit einem brennenden Interesse an soziologischen Problemen. Er glaubte, wir hätten nur auf ihn gewartet, doch war er von der Idee einer elitären Herrschaft besessen. Platos Theorie. Du hast davon gehört?" "Ja, Supermänner, die sich selbst als Wächter einsetzen." "So ähnlich, ja. Dadurch wurde er für uns natürlich uninteressant, denn unsere Ideen haben nichts damit zu tun. Aber das war vor fast zwei Jah-ren!" Sixx kontrollierte die Schutzsysteme und trat durch die Tür. Der riesige Raum dahinter lag im Halbdunkel. Maschinen summten leise. "Wo ist das Terminal?" fragte er Bardak. "Und sagen Sie mir, wie viele Anwärter sich pro Jahr durchschnittlich melden und wie viele davon ange-nommen werden." "Die genauen Zahlen kann ich am Terminal feststellen, aber es handelt sich um etwa dreißig Anwärter, von denen wir zwei oder drei akzeptieren. Warum?" "Alma Tillet gab mir dieselbe Auskunft. Aber draußen erhie lt ich andere Informationen. Zwar spricht man auch von dreißig Anwärtern, von denen aber nur zwei oder drei nicht aufgenommen werden!" "Das ist lächerlich! Da wäre unsere Zahl in den vergangenen zwanzig Jahren auf fünfhundert angewachsen!" "Das scheint mir nicht so viel zu sein." "Aber doch. Ursprünglich waren wir zehn - ich und neun weitere, die alle von derselben Idee besessen waren. Ich entwarf den Plan, und die anderen halfen mir, ihn zu formen. Und jetzt sind wir nicht mehr und nicht weniger als einundfünfzig! Ich kenne alle persönlich. Junger Mann, niemand betritt Iskola, ohne daß ich persönlich damit einverstanden bin!" "Das wird sich ja herausstellen", versprach Sixx, als sie durch eine kleine-re Tür in einen anderen Raum traten. Hunderte Lämpchen blinkten unun-terbrochen. Bardak blieb stehen. "Nein", brummte er. "Das paßt mir alles nicht. Ich bin nicht überzeugt. Das sind unmögliche Dinge. Du sagst, ich soll zuhören und dir glauben. Aber so leicht kann ich nicht glauben, was du mir da erzählst!"

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"Und ich wette, Ihr Arm schmerzt auch nicht", schnappte Sixx. Jede ver-lorene Minute war ihm wie ein Stachel im Fleisch. "Sie haben sicher nicht erwartet, auf Ihrem Grund und Boden beschossen zu werden, oder? Und die beiden Männer, die da draußen liegen - an die glauben Sie wohl auch nicht?" Bardak stieß heftig Luft durch die Nase. Dann hob er den gesunden Arm. "Da ist ein Terminal. Danach hast du ja gesucht." "Gut. Kommen Sie her. Sie sollen weitere Beweise erhalten. Um es noch einmal festzuhalten: Hier ist der Ausgangspunkt für die Maschinen, das Energiekabel, Material, Rohstoffe und so weiter. Stimmt das?" "Ja", antwortete Bardak und trat an das Terminal. Nachdem er rasch einige Tasten gedrückt hatte, erschien ein Schema farbiger Linien auf dem Bildschirm. "Hier kommt die Energie herein. Da unten befinden sich die schweren Maschinen, hier die Fertigteile. Der Neuankömmling sucht sich irgendeinen Platz auf der Insel aus, und von da an werden alle Verbindun-gen automatisch hergestellt." "Das weiß ich bereits. Zeigen Sie mir alle Heimstätten!" "Na schön." Bardak betätigte die Tastatur, und Sixx erblickte denselben Plan, den ihm bereits Alma Tillet gezeigt hatte. Der Alte zuckte mit den Achseln. "Du kannst sie ja zählen, wenn du willst." "Nicht nötig. Das habe ich bereits zuvor gesehen. Dafür gibt es ein Pro-gramm, nicht?" "Natürlich!" "Gut. Und jetzt machen Sie etwas anderes: Verlangen Sie eine Übersicht über alle gegenwärtig aktiven Energie - und Informationsendpunkte. Los!" "Aber die hast du ja vor dir!" "Nein, die habe ich nicht vor mir. Tun Sie, was ich gesagt habe: Energie - und Informationsverbindungen. Nicht Heimstätten!" "Na schön", meinte Bardak. Diesmal dauerte es beträchtlich länger. "Du weißt ja, das ist kein Standardprogramm." Er gab den letzten Befehl ein und sog scharf den Atem ein. Der Bildschirm, der die Insel zeigte, war mit einer Unzahl von leuchtenden Pünktchen übersät, weit mehr, als man hätte schät-zen können. "Die Summe!" stieß Sixx hervor, und der alte Mann fummelte an der Ta-statur, während er unverwandt auf den Bildschirm starrte. Sixx sah die Zahl

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aufleuchten und ließ die Schultern hängen. "Sechshundertachtzehn!" flüster-te er. "Das ist unmöglich", krächzte Bardak. "Auf jeden Fall ist es eine Katastrophe!" stellte Sixx fest. Seine Gedanken rasten. All diese Heimstätten - wahrscheinlich mehr als eine Person in jeder ... und alle überdurchschnittlich begabt. Die Implikationen lähmten ihn einen Augenblick, dann packte er Bardak hart am Arm. "Zum Staunen ist später noch Zeit, alter Mann. Jetzt hören Sie mir zu, und beantworten Sie mir einige Fragen. Alle Heimstätten sind so ziemlich iden-tisch, oder?" "Die Grundkonstruktion ist dieselbe, doch kann der Besitzer natürlich Ver-änderungen durchführen." "Aber alle befinden sich unter der Erdoberfläche?" "Oh ja. Das ist eine Standardregel!" "Wir wollen hoffen, daß sie nicht von zu vielen umgangen wurde. Und jetzt hören Sie gut zu: Zuerst schicken Sie an alle Heimstätten ein Alarmsi-gnal oder so etwas, was alle an die Terminale lockt, dort festhält und auf weitere Nachrichten warten läßt. Sie sagen einstweilen noch nichts, son-dern sorgen nur dafür, daß alle an ihrem Terminal sitzen. Haben Sie ver-standen?" "Ja, natürlich. Aber warum?" "Das ist das zweite. Sie treffen alle Vorbereitungen dafür, daß auf ein Signal hin die Energiezufuhr, die Versorgungseinrichtungen, der Informati-onsfluß, kurz jede Verbindung mit und zwischen den unregistrierten Heim-stätten unterbrochen wird. Können Sie das tun?" "Die Lebenslinien abschneiden?" Es klang, als handle es sich um Mas-senmord, und für Bardak bedeutete es dies wahrscheinlich auch. "Das kann ich nicht." "Was meinen Sie mit 'können'? Wollen? Bardak, sehen Sie!" Sixx wies auf den Bildschirm. "Ihr seid infiltriert worden. Eine Armee von machtgieri-gen Paranoikern ist dabei, die Insel zu erobern, weil ihr etwas habt, was sie besitzen wollen." "Wir sind nicht machthungrig." "Vielleicht nicht. Aber sie sind es. Sie werden euch und die Dinge, die ihr entdeckt habt, für ihre Zwecke mißbrauchen. Alle eure Geheimnisse. Ist das nicht klar?"

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Bardak schüttelte den Kopf, und plötzlich merkte man sein Alter. "Wir besitzen Mittel zur Macht, das stimmt. Aber sie dürfen nicht mißbraucht werden!" "Ich weiß!" Sixx zwang sich zur Geduld. "Ich weiß, daß ihr sie nicht miß-brauchen werdet. Wohl aber sie. Und sie haben sie fast in den Händen. Mann, auf jeden von euch kommen zwölf skrupellose, bewaffnete Männer! Ihr habt keine Chance, wenn Sie nicht jetzt handeln. Sofort!" Bardak machte seine Sache gut. Zwar schmerzte es ihn, gegen die mei-sten seiner Grundsätze zu handeln, doch merkte man, daß er der Logik ge-horchte. Nach kurzem Ringen sagte er: "Na schön. Aber ich kann es nicht hier tun. Einige Systeme müssen manuell verändert werden." "Tun Sie, was zu tun ist", drängte Sixx, und der alte Mann schlurfte zu einer weiteren Tür. Intuitiv warf Sixx einen Blick zurück zur Eingangstür, riß die Pistole hoch und schickte eine Nadel gegen eine grüngekleidete Ge-stalt, die noch den Strahler abfeuern konnte, ehe sie zu Boden sank. Sixx wandte sich zu Bardak um. "Alles in Ordnung?" Bardak wich von einer glühenden Stelle an der Metalltür zurück und nick-te sprachlos. "Gehen Sie weiter, während ich Wache halte! Es sind vielleicht noch meh-rere hier." Sein Warten wurde belohnt. Ein Strahler schob sich um den Türrahmen, gefolgt von einem Arm. Sixx sandte den Gegner zu seinem Kollegen auf den Boden. Er wartete wieder. Als nichts geschah, ging er vorsichtig zurück ins Freie, entdeckte aber niemand. Als er wieder in den Terminalraum kam, trat eben Bardak ein. "Es ist alles vorbereitet", sagte er und wischte sich einen kleinen Ölfleck von der Wange. "Soll ich sie jetzt anrufen?" "Ja, sicher. Tun Sie Ihr Bestes!" "Darauf kannst du dich verlassen!" Der alte Mann schien nun Feuer und Flamme für das Vorhaben zu sein. Er trat entschlossen an das Terminal, programmierte einige Befehle. Ein Scheinwerfer flammte auf, und eine Kamera schwenkte in seine Richtung. Er drückte den Startknopf. "Ich grüße meine Mitarbeiter auf Iskola. Hier spricht Jan Bardak, und ich habe euch allen etwas äußerst Wichtiges mitzuteilen. Ich werde drei Minu-ten damit warten, um allen Gelegenheit zu geben, zuzuhören und eventuell

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andere zu verständigen. Die Sache ist von höchster Wichtigkeit. Drei Minu-ten!" Er schwieg unbewegten Gesichts. Die drei Minuten krochen dahin. "Ich begrüße euch wieder, meine Freunde. Hört genau zu! Wir befinden uns in größter Gefahr. Bleibt bitte an den Terminalen, so daß ich euch erreichen kann, wenn ich eurer Hilfe bedarf. Das ist für den Augenblick alles." Und dann aktivierte er mit einem Knopfdruck die vorbereiteten Programme. Die Lichter im Raum flackerten, das Summen der Maschinen veränderte die Tonhöhe. Dann war alles wieder wie zuvor. Bardak lächelte. "Wir haben gut gebaut, junger Mann. Eine solche Umverteilung der Ausgangsleistung war nie geplant, aber es ging gut. Wir haben alle Ratten in der Falle. Aber was tun wir mit ihnen?" "Die meisten können warten. Aber in einer der Fallen sitzt mein Partner zusammen mit der Detektivin, für die wir verantwortlich sind. Wir müssen sie irgendwie herausholen." "Kann ich helfen?" "Ich weiß noch nicht. Kommen Sie, wir gehen hinaus!" Sixx ging vorsichtig voran. Es war keineswegs sicher, daß alle Feinde sich in den Heimstätten aufgehalten hatten. Aber draußen war keine Spur des Feindes zu entdecken. Fünf Minuten später befanden sich die beiden Män-ner an Bord des Schiffes.

12. Nach dem Start betrachteten sie auf dem Bildschirm den Dschungel unter sich. "Sieh, dort!" stieß Bardak plötzlich hervor. "Was sind das für braune Streifen? Sie sind zu regelmäßig, als daß sie auf natürliche Weise haben entstehen können!" "Das hätte nie geschehen können, wenn ihr regelmäßig Kontrollflüge durchgeführt hättet. Das sind die Verbindungsstraßen zwischen den illega-len Heimstätten!" Der Alte schwieg erschüttert. Sixx suchte nach einer anderen Spur: nach dem Pfad, den Joe vor ihm in den Urwald gebrannt hatte. Er folgte dieser Spur bis zu der "Straße", auf der sie auf die Invasoren gestoßen waren, und hielt dann auf die Heimstatt zu, in der sich Roger befinden mußte. Als sie

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darüber schwebten, fragte er Bardak: "Die Heimstätten müssen doch mit Frischluft versorgt werden! Wie und wo?" Er stellte das Bild schärfer ein. "Es sind Schächte an der Peripherie", antwortete der Alte. "In diesen vier Gebüschgruppen verborgen, siehst du. Sie bilden ein Quadrat um die Heim-statt." "Ja, jetzt sehe ich sie. Durch einen muß ich hinein. Aber durch welchen? Verdammt! Wenn ich nur mit Roger sprechen könnte!" Und gerade da er-tönte ganz schwach Rogers Stimme im Helmlautsprecher. " Rex? Hörst du mich? Rex?" "Roger!" Sixx schaltete den Schiffsempfänger auf dieselbe Frequenz. "Ich höre dich, aber nicht sehr deutlich. Wie ist die Lage?" "Könnte schlechter sein. Wer ist für die Verdunklung verantwortlich? Du?" "Ja, mit Jan Bardaks Hilfe. Eine gute Idee?" "Kommt drauf an. Der Gegner versucht verzweifelt, irgendwie Licht zu machen. Sie hatten Louise und mich von den übrigen getrennt in einen Raum zwei Stockwerke tiefer gesperrt. Es war ziemlich kalt dort und roch säuerlich und nach Hefe." "Das ist die Proteinerzeugungseinheit", murmelte Bardak. "Und du bist natürlich ausgebrochen." "Das war nicht schwierig, nachdem ich einmal den Luftschacht gefunden hatte. Vielleicht wäre ich ganz entkommen, doch wollte ich erst meinen Anzug zurückhaben. Dann kam ohnedies die große Finsternis, und so nahm ich Louise gleich mit. Bin ziemlich froh darüber, denn sie bewegt sich in der Dunkelheit wie im hellsten Tageslicht." "Du hast also wieder deinen Anzug. Wo befindest du dich?" fragte Sixx und legte den Schalter des Autopiloten um, der die Landevorbereitungen durchführte. "Im zweiten Geschoß in einer Art Vorratsraum." "Gut. Ich kann euch beide über Funk anpeilen, aber was ist mit den ande-ren?" "Louise sagt, Alma und die beiden anderen befinden sich ganz in der Nähe und über uns." "Hoffentlich hat sie recht. Haltet die Hüte fest, ich komme!" Sixx drückte zwei Knöpfe, und die Gegend auf dem Bildschirm begann rasch zu wach-

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sen. "Entspannen Sie sich im Sessel", warnte er Bardak. "Das wird keine Musterlandung!" Auf dem Bildschirm war nur noch ein Teil der kreisrunden Heimstatt zu sehen, und Sixx beobachtete, auf welchen Luftschacht der Peilmechanis-mus zusteuerte. Er schaltete die Automatik aus, lenkte das Schiff ein wenig zur Seite und biß die Zähne zusammen, als die Oberfläche auf sie zuraste. Einige Sekun-den später schaltete er den bremsenden Feuerstrahl wieder voll ein und stöhnte, als ihn sein Gewicht tief in den Sessel drückte. Der folgende Auf-prall raubte ihm den Atem, doch die drei Landebeine hielten. Das Schiff war ebenso wie der Anzug dafür konstruiert, enormen Beanspruchungen standzuhalten. Es schwankte ein wenig, stand jedoch nach einem stabilisie-renden Feuerstoß aus den Heckdüsen still. "Jetzt haben sie noch mehr nachzudenken", murmelte er, stand auf und warf einen Blick auf Bardak. Der alte Mann war bewußtlos, atmete jedoch regelmäßig. Sixx stülpte sich den Helm über und rannte zur Luftschleuse. "Roger?" rief er. "Wie war das?" "Wie das Ende der Welt! Wo hast du aufgesetzt?" "Auf dem Luftschacht euch gegenüber." Sixx öffnete die Schleuse und sah, daß er keine Leiter benötigte. Das Schiff stand so schief, daß er mit einem Sprung leicht den Boden erreichte. Er wandte sich um und betrachte-te das rauchende und dampfende Loch, das sich das Schiff gegraben hatte. "Ein ziemlicher Schaden", berichtete er. "Aber ich werde ihn noch vermeh-ren, ehe ich nach einem Weg nach unten suche. Vielleicht kannst du die Iskolaner durch einen Ventilationsschacht finden?" "Bin bereits unterwegs." Sixx stellte sich den Grundriß der Heimstatt vor. Er war genau auf einem Luftschacht gelandet. Daher mußte Roger sich bei dem da drüben befinden. Blieben noch die beiden links und rechts übrig, um die er sich zu kümmern hatte, falls der Gegner auf diesen Ausweg verfallen sollte. Er trottete schwerfällig nach rechts, drang durch eine Gebüschgruppe mit roten Blüten und stieß auf eine Steinkonstruktion mit einem Metallgitter, die wie der Kopf eines Riesenpilzes aussah. Er warf drei Detonitkapseln hinein, wandte sich um und hetzte, so rasch er vermochte, zum vierten Luft-schacht. Es war fast das letzte, was er in seinem Leben tat. Ein furchtbarer

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Schmerz durchzuckte sein rechtes Bein, und dann vernahm er die betäu-bende Explosion, die ihn zu Boden schleuderte. Halb bewußtlos stützte er sich auf einen Ellbogen, zog ein Knie unter den Körper und kam schwankend zum Stehen, obwohl ihn das rechte Bein kaum tragen konnte. Vor ihm stand eine in grüne Fetzen gehüllte Vogel-scheuche, die von Ruß geschwärzt war und aus einer Kopfwunde blutete, aber eine gefährlich aussehende Waffe auf Sixx' Bauch gerichtet hielt. "Raketengeschosse. Explodieren beim Aufschlag. Habe von Ihrem Wun-deranzug gehört, Mister. Aber das da macht ein Loch hinein. Und in Sie. Bleiben Sie also ganz still, oder es stellt sich heraus, wer recht hat." "Was wollen Sie?" "Das!" Die Vogelscheuche deutete mit dem Daumen über die Achsel zum Schiff. "Wir beide steigen ein, fliegen dorthin zurück, woher Sie gerade ge-kommen sind, und stellen alle unterbrochenen Verbindungen wieder her." "Und was dann?" "Dann brauche ich Sie nicht mehr." "Darauf gehe ich nicht ein", murmelte Sixx. "Was habe ich von dem Ge-schäft?" Die Situation erschien ihm so unwirklich, daß er zu träumen glaub-te. "Ganz einfach", antwortete die Vogelscheuche. "Diese Waffe enthält zehn weitere Geschosse. Ich weiß, was ich damit ausrichten kann, denn ich habe sie konstruiert. Vorhin streifte ich Sie nur am Bein. Der nächste Schuß reißt Ihnen einen Arm ab, der nächste den anderen. Dann ein Bein. Kommt dar-auf an, wieviel Sie aushalten. Gehen Sie auf meine Bedingungen ein, erhal-ten Sie einen raschen Tod." Das Gefühl der Unwirklichkeit verschwand. Sixx schüttelte den Kopf. "Ich mag Sie nicht! Was liegt Ihnen an mir? Ich kann Sie nicht hindern, das Schiff zu nehmen!" Schweiß rann ihm in die Augen. "Laß die Waffe fallen!" ertönte ein scharfes Kommando von der Luft-schleuse her. Bardak stand in ihr und hielt einen langen, glänzenden Gegen-stand in den Händen. Die Vogelscheuche wirbelte herum, während Sixx zugleich lossprang, den Gegner zu Boden warf und die Waffe beiseite schlug. Gegen die Servomotoren des Anzugs hatte der Grüne im Handge-menge keine Chance. Sixx entriß ihm die Waffe, schleuderte sie beiseite, hielt den Gegner am Hals fest und hieb ihm mit der anderen Faust über den

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Schädel. Dann konnte er endlich Atem schöpfen. Zitternd humpelte er zu dem Raketenwerfer und studierte ihn kurz. "Niedlich und bösartig", murmelte er. "Auf dieser Insel scheint es wirklich vor Genies nur so zu wimmeln!" Und dann erinnerte er sich an seinen Part-ner. "Roger? Wie sieht es bei dir aus?" "Bin beschäftigt", kam die keuchende Antwort. "Am Luftschacht... zwei, drei der Feinde kamen auf dieselbe Idee. Muß mich um sie kümmern. Dann komme ich heraus." "Viel Spaß!" rief Sixx und machte den Werfer unbrauchbar, indem er den Lauf verbog. Dann humpelte er zum Schiff. "Werfen Sie mir das Brecheisen herunter! Danke für die Hilfe, aber ver-suchen Sie so etwas nicht wieder. Das Brecheisen sieht nicht einmal so aus wie eine Waffe! In der Kabine hängt gleich neben der Schleuse eine Rolle Stahlkabel. Die können Sie mir ebenfalls herunterwerfen!" Bardak tat, wie ihm geheißen. Sixx hob die Sachen auf und humpelte quer durch den Garten zum Luftschacht, in dem sich Roger befinden mußte. Über den Ausgang der Auseinandersetzung zwischen Roger und seinen Gegnern machte er sich keine Sorgen. Er beugte sich zum Gitter und rief hinein: "Hallo, da unten! Paßt auf eure Augen auf, denn es fängt gleich zu stauben an!" Er vernahm einen gedämpften Ruf, setzte das Brecheisen an und lehnte sich dagegen. Die Metallstäbe bogen sich ächzend und gaben dann völlig nach. Mit den Händen riß er die Reste aus den Verankerungen. "Der Weg ist jetzt frei!" rief er hinunter. Er glaubte, Olga antworten zu hören. "Bist das du, Olga?" Sie war es. "Paß auf, ich werfe ein Seil hinunter!" Er befestigte ein Ende am Mauerwerk selbst und ließ dann das Kabel fallen. Kurz darauf spannte es sich, und wenige Augenblicke später kam Olga Glink daran heraufgeklettert. Sie blickte verwundert um sich. "Was? Sonnenuntergang? Mein Zeitgefühl ist ganz durcheinander!" Len-dentuch, Arme und Knie waren reichlich schmutzig, aber sonst hatte sie keinen Schaden davongetragen "Als nächste kommt Alma und dann Roger, der Schreckliche." Es klang wie ein Titel. "Aha, sie ist schon hier!" Sie bot Alma ihren Arm, denn diese besaß nicht die katzenhafte Gewandtheit. Auch Almas gelbe Tunika hing in Fetzen an ihr herab, aber das schien sie nicht im mindesten zu stören, als sie zu Boden sprang.

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"Vollständige Dunkelheit ist ein eigenartiges Erlebnis", stellte sie fest. "Man fühlt sich irgendwie ... kleiner, weniger. Aber Louise ist prima, nicht wahr, Olga?" "Tatsächlich! Sie besitzt eine seltene Gabe! Ich freue mich sehr, daß mei-ne Maßnahmen bezüglich der Diät einen solchen Erfolg gezeitigt haben." Als Lowry ans Tageslicht kam, fragte ihn Sixx: "Was soll das heißen, Louise da unten zu lassen?" "Und Rilke samt sechs Feinden. Willst du sie allein heraufziehen?" Und selbst zu zweit war es eine mühselige Arbeit, die sechs bewußtlosen oder toten Invasoren heraufzuziehen. Dobny befand sich unter den Gefalle-nen. "Der Drahtzieher", sagte Lowry. "Wollte wohl galaktischer Diktator wer-den oder etwas ähnliches. Das Netz erstreckte sich bis zur Erde und wahr-scheinlich auch auf andere Planeten." Danach kam Louise, und Sixx half ihr hinunter, während Lowry das Kabel zum letztenmal hinabwarf. "Ich freue mich, daß dir nichts geschehen ist", sagte Sixx lahm. "Ich freue mich, daß ich von da heraus bin", gab sie zu und lächelte durch all den Schmutz im Gesicht. "Aber irgendwie war es auch ein Spaß." "Es war ein Spaß?" wiederholte er, und sie lachte laut. Sogar in der ein-brechenden Dämmerung schien sie vor innerer Lebensfreude zu leuchten. "Ja. Ich habe mich nie zuvor in meinem Leben so wohl gefühlt. Ich glau-be, es liegt daran, daß ich unter Druck gestanden habe. Die totale Dunkel-heit hat wohl auch eine Rolle gespielt. Ich konnte nichts sehen und stand Todesängste aus. Aber dann wurde mir bewußt, daß ich irgendwie feststel-len konnte, wo sich Personen und Dinge befanden. Ich wußte es einfach und lernte es zu akzeptieren. Und damit schien alles in Ordnung zu sein!" Sixx schüttelte langsam den Kopf und versuchte, sie zu verstehen. Louise erklärte nochmals: "Ich konnte meiner 'Gabe' nicht mehr davonlaufen. Ich mußte ihr gegenü-bertreten. Und jetzt fürchte ich sie nicht länger."

13.

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Als letzter erblickte Rilke das schwindende Tageslicht. Trotz einer blutunterlaufenen Stelle an einem Backenknochen grinste er. "Körperliche Gewalt ruft einen bemerkenswerten katharsischen Effekt hervor", sagte er. "Muß mir eine Notiz machen." Er ging zu den anderen, und Sixx humpelte zu seinem Partner. Er fühlte sich eigenartig beschwingt. "Es war völlig dunkel? Was ist mit deinem Helmscheinwerfer, Roger?" "Nichts. Ich brauchte ihn nicht. Hätte eine schöne Zielscheibe abgegeben! Und mit Louises Hilfe ... Ich wollte, ich hätte ihre Fähigkeit! Was geschieht jetzt?" "Bardak ist dort drüben im Schiff. Schau, daß alle an Bord kommen und ..." Sixx fühlte seine Sinne schwinden und streckte die Arme aus, um seinen Fall abzufangen. Dann glaubte er zu schweben, getragen zu werden, und als er zu sich kam, befand er sich in der Schiffsmesse in einem Lehnsessel. Lowry war damit beschäftigt, ihm den Anzug auszuziehen. Bardaks Stim-me drang an sein Ohr. "Wir haben viel über unsere Schwächen gelernt und stehen nun vor dem Problem, mit sechshundert Eindringlingen fertig zu werden, die uns äußerst feindlich gesinnt sind. Wir müssen versuchen, das Problem selbst zu lösen. Und zu diesem Zweck müssen wir unsere Unabhängigkeit aufgeben und zusammenarbeiten!" "Das stimmt mit der Gleichung überein." Almas Stimme. Das Bein schien in Flammen zu stehen, als Lowry den Anzug vorsichtig davon entfernte. "Was für eine Gleichung?" Alma kam in sein Gesichtsfeld und lächelte ihm zu. "Es ist ganz einfach, Rex. Die Menschen haben drei Grundbedürfnisse: Selbstbestätigung, Stimuli und Selbsterhaltung. Aber diese Bedürfnisse stehen in ständigem Konflikt miteinander, bilden ein labiles Gleichgewicht. Das ist die Dynamik des Le-bens! So bringt zum Beispiel Mangel an Stimulus Langeweile mit sich und damit erhöhte Bereitschaft, das Leben zu riskieren, oder aber seine Identität einer gemeinsamen Sache zu opfern. Jetzt ist unsere Sicherheit bedroht, und so opfern wir für den Augenblick unsere Individualität." Sixx glaubte immer noch zu träumen. Er hatte das Gefühl, sein Bein wäre auf die doppelte Größe angeschwollen. Bardak trat heran. "Wir dürfen keine Zeit verlieren. Junger Mann - Roger Lowry - kannst du uns zu meiner Heimstatt bringen? Ich habe dort ein Vielkanal-Terminal, und wir müssen in dieser Notsituation alle unsere Kräfte mobilisieren!"

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"Ich muß mich um das Bein kümmern", sagte Lowry bestimmt. "Das kannst du mir überlassen, Roger", meinte Olga mit einem kompeten-ten Lächeln. "Tu, was sie sagt, Roger", stimmte Rex zu. "Joe kennt den Weg." Er ver-spürte eine Berührung am Knie und dann einen momentanen, fürchterlichen Schmerz. Er blickte auf Olgas gebeugten Kopf und sah ihr zu, wie sie sein Bein mit den Fingerspitzen betastete. Sie lächelte zu ihm empor, stand auf und ging zum Küchenautomaten. Er fühlte die Vibrationen des Startens. Olga kam mit einem gefüllten Glas zurück. "Trinke das!" befahl sie. "Ich muß einen Knochen einrichten, und das wird gegen die Schmerzen helfen." Das Getränk half tatsächlich, denn als er wieder zu sich kam, befand er sich im Data-Raum in Bardaks Heimstatt. Die vier Iskolaner saßen an je einem Terminal und kommunizierten mit an-deren Inselbewohnern. Die Diskussionen wurden auf einem solchen Niveau geführt, daß Sixx nur hin und wieder einige Worte verstand! Rilke sprach von Lähmfeldern, Zug- und Druckstrahlen, verschiedenen Modifikationen des Bio-Feldes. Alma gab an Olga Informationen über die Struktur von Nervengasen weiter, die man mit Hilfe eines Küchenautomaten herstellen konnte. Bardak sprach mit Lea Lawrence und anderen, diskutierte die Ent-wicklung von Frequenzen mit hypnotischem Effekt, sprach von lähmenden Blinkmustern der Beleuchtungsanlagen, die man zu diesem Zweck in allen illegalen Heimstätten einschalten könnte. Vorschläge wurden gemacht, wie Bälle aufgenommen, zurückgeworfen, verworfen, miteinander kombiniert ... "Dobny hatte recht", murmelte Sixx benommen und blickte zu Louise und Lowry hoch. "Mit diesen Köpfen hinter sich, wenn er sie hätte zwingen können ..." "Ja, sie haben Macht. Gefährliche Macht", stimmte Lowry zu. "Aber es ist die Macht, andere Menschen zu beeinflussen. Und daran liegt diesen Ein-zelgängern nichts!" "Das kaufe ich dir ab", sagte Sixx. "Aber wieso arbeiten sie plötzlich so gut zusammen?" "Du weißt doch, wie sie ihre Heimstätten abschirmen. Nun, und in dieser Situation betrachten sie ganz Iskola als ihre gemeinsame Heimstatt. Jeden-falls hat es den Anschein, als würden sie mit dem Problem der Invasoren fertig. Wir können uns absetzen."

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"Stimmt das, Louise?" Sixx blickte zu ihr empor. "Ist unsere Arbeit ge-tan?" "Fast", antwortete sie. "Es sind nur noch Details aufzuklären. Dobny war der Schlüssel zu allem andren." "Wie hast du das erfahren?" "Oh das!" Sie zuckte mit den Achseln. "Er hat es uns erzählt. Ein Mensch wie er hat das Bedürfnis, vor anderen mit seinen Taten zu prahlen. Er und Vancec waren Halbbrüder. Beide waren machtgierig, aber jeder auf seine Weise. Sie konkurrierten ständig miteinander. Edgar neigte mehr zur Wis-senschaft - er war ein Wunderkind -, während Arthur die politische Lauf-bahn einschlug. Auf Grund seiner Kindheit brachte er allem, was nach Intel-ligenz, nach Elite aussah, größtes Mißtrauen entgegen und gab stets vor, die Stimme des Volkes zu vertreten. Die beiden kämpften ständig gegeneinan-der. Als Edgar von Iskola erfuhr, begab er sich sofort nach Martas, und man hörte nichts mehr von ihm. Natürlich mußte Arthur annehmen, daß Edgar an der Verwirklichung seiner Ideen von der Herrschaft einer Elite arbeitete, und niemand konnte ihn an einem Besuch hindern, um mit seinem gescheiten Bruder abzurechnen. Aber wie wir wissen, gelang ihm das nicht. Edgar hatte offenbar die Möglichkeit, auf seinem eigenen Weg jederzeit Iskola zu besuchen. Dazu kam die Überwachung des Funkverkehrs. Er sammelte alle von Bardak zurückgewiesenen Paranoiker in seiner Organi-sation. Es war sein Pech, daß sein Bruder gerade dann auftauchte, als er im Begriff stand, Iskola zu übernehmen." "Es hat sich also alles aufgeklärt", sagte Lowry mit einem für ihn unübli-chen Ernst. "Und die Iskolaner schaffen den Rest allein." Louise wandte sich ihm zu, und Sixx bemerkte einen sonderbar reservie r-ten Ausdruck auf ihrem Gesicht, den das heftige Heben und Senken ihrer Brust Lügen strafte. "Sprich weiter!" drängte sie, und Lowry hob unmerklich die Schultern. "Du schreibst also deinen Bericht, und Rex und ich bringen ihn ..." Sixx wollte protestieren, aber er hatte dies kommen sehen und teilte Low-rys Auffassung. Louise, strahlend vor Gesundheit und atemberaubend schön in diesem Zustand, gehörte zu den Idealisten auf dieser Insel. Es schmerzte ihn fast körperlich, und er wandte sich ein wenig ärgerlich um, als Bardak an ihn herantrat. "Was ist los?"

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"Es tut mir leid, mich wieder an euch um Hilfe wenden zu müssen, aber ich habe keine Wahl, und die Sache ist dringend." "Was?" fragte Sixx, und trotz seiner Besorgtheit lächelte der alte Mann. "Wir sollten von euch Unumwundenheit lernen. Ich werde es dir zeigen." Er rollte einen Bildschirm herbei, auf dem ein Stück der Küste zu sehen war, und zeigte darauf. "Ungefähr sechzig Kilometer von hier. Eine unserer Energiestationen. Hier ist das System der Einsaug-Öffnungen am Fuß der Klippen, und hier ist die Kraftstation selbst auf den Klippen oben. Wie alle anderen, ist sie unbemannt, doch verwenden wir Kameras und Mikrophone, um die Wetter-bedingungen und ähnliches zu überwachen..." "Ich glaube, ich bin Ihnen voraus", unterbrach Sixx. "Der Feind befindet sich dort?" "Ja. Die genaue Anzahl kennen wir nicht. Sie scheinen über ein Boot zu verfügen." "Das hätten wir Ihnen auch verraten können. Wie sollten sie sonst den Verkehr mit Iskola aufrechterhalten?" "Ja. Jetzt ist es offenbar. Sie dürften sich auch mehr des Funkverkehrs bedienen, als wir es tun. Jedenfalls sind die Verbrecher da draußen irgend-wie gewarnt worden. Wir sind absolut sicher, diejenigen auf der Insel mit Narkosegas, hypnotisierenden Schallwellen und verstärkten Bio-Feldern streng isoliert zu haben. Diese Gruppe greift jedoch eine Kraftstation an, und wir können keine dieser Maßnahmen anwenden. Obwohl wir bereit sind, euch selbst im Kampf von Mann zu Mann beizustehen, mangelt es uns bei solchen Dingen an taktischem Geschick." Man sah es Bardak an, daß er den letzten Satz nur widerwillig aussprach. Lowry grinste. "Sie brauchen sich dessen nicht zu schämen, Sir. Experten sind dazu da, bei Bedarf herangezogen zu werden." "Augenblick, Roger!" Sixx war immer noch ein wenig irritiert. "Erstens gehört das nicht zu unserem Auftrag, denn Louise hat ihre Sache erledigt, und zweitens kann ich kaum gehen. Das macht zwar nicht viel aus, wenn der Anzug in Ordnung ist..." "Es gab nicht viel zu reparieren", unterbrach ihn Roger. "Alle Systeme sind wieder betriebsbereit."

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"Das ist natürlich etwas, aber in einem Kampf würde ich nicht viel nützen. Das muß überlegt werden. Du kannst die Sache nicht allein durchführen, Roger," "Das ist klar", gab Lowry zu. "Ich kann nicht an beiden Enden eines zwölfhundert Meter langen Schornsteins zugleich sein. Ist es übrigens mög-lich, Mr. Bardak, diese Dinge innen zu erklettern?" "Das ist ziemlich leicht. Die Schornsteine sind innen mit Leitern und Sim-sen versehen, um eine Kontrollbesichtigung zu erleichtern. Aber ich kann euch versichern, daß ein Aufstieg einige Zeit in Anspruch nimmt!" "Die brauchen wir zum Planen. Weiterhin brauchen wir einen Freiwilligen, der die Anlagen genau kennt, so daß wir die Eindringlinge im Schlot selbst einsperren können, bevor sie Schaden anrichten." "Wie wäre es mit mir?" fragte Rilke grinsend. "Ich habe hier nichts be-sonders Wichtiges zu tun, kenne die Anlagen und weiß, daß ich gewaltsam werden kann, wenn es darauf ankommt." "Schön, dich zu haben. Du kannst ganz gut 'rangehen! Aber wie steht es mit dir, Rex? Du benötigst jemand am oberen Ende der Station, jemand, der sich flink bewegen kann." "Ich glaube, ich weiß jemand." Wieder grinste Rilke, "Olga! Komm doch einen Moment her!" Sixx verspürte wieder Unbehagen, als sie herankam. Der Stoffrest um ihre Hüften schien jeden Augenblick herabzufallen, und das goldene Haar stand wirr nach allen Richtungen, doch war sie sich dessen nicht bewußt. Binnen kurzem wußte sie, worum es ging, und Sixx erwartete Einwände, doch schien sie eher noch begieriger, als sie sich an ihn wandte. "Aber natürlich will ich dein Partner sein, wenn du mit mir einverstanden bist", erklärte sie. "Ich habe hier jetzt nichts zu tun und bin ganz aufgeregt. Bewegung hilft die Spannungen abzubauen. Außerdem kann ich gut schie-ßen. Nimmst du mich?" "Na schön. Es ist ja dein Kopf." Sixx setzte sich auf und stellte vorsichtig die Füße auf den Boden. "Wo ist der Anzug, Roger?" Als er in den Anzug schlüpfte und ihn sorgfältig kontrollierte, trat Louise an ihn heran und sagte ernst: "Ich wünschte, ich könnte mitkommen und helfen. Aber ich wäre kaum von Nutzen. Irgendwie fühle ich mich als Teil des Teams hier. Ich werde

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keinen Augenblick Ruhe haben, ehe ihr nicht zurück seid. Du paßt doch auf dich auf?" "Mache dir keine Sorgen! Ich komme zurück." "Ich werde warten. Wir haben etwas zu besprechen - etwas, das wichtig für uns alle ist. Gehe also keine unnötigen Risiken ein! Die Arbeit ist bei weitem noch nicht getan." Sie drückte seine Hand, ehe sie in einem gepanzerten Handschuh ver-schwand. Er fragte sich, was sie damit wohl gemeint haben könnte und ging etwas mühsam zum Klipper. Dankbar ließ er sich in seinem Sessel nieder. Während des Starts fragte er: "Hast du dir etwas überlegt, Roger?" "Nicht viel. Ich mache mir um den Treibstoff Sorgen. Es ist nicht mehr viel übrig." "Das ist meine Schuld." Sixx dachte an den enormen Verbrauch im Dschungel. "Aber für dieses Unternehmen reicht er noch. Ich werde im Ufergewässer dicht am Schornstein landen. Hier haben wir schon die Anla-gen!" Er wies auf den Bildschirm, der vier Hallen und daneben jeweils einen der mächtigen Schornsteine zeigte, aus denen beständig weißer Dampf aufstieg. Olga beugte sich über ihn, um Erklärungen abzugeben. "Die Eingänge zu den vier Turbinenhallen befinden sich auf dieser Seite, zu den Gärten hin. Du landest am besten mitten darin." "Ivan!" Lowry wandte sich an den Physiker. "Wir landen genau neben den Schloten im Wasser. Ich springe als erster hinaus, um mich eventuell um einen Nachhutposten zu kümmern. Ich winke dir, wenn du nachkommen kannst. Rex, gib ihm Zeit, sich vom Schiff zu entfernen, ehe du wieder hier heraufkommst!" Sixx ließ das Schiff vertikal sinken und sah die Felswand daran vorbeizie-hen. "Benütze das Radio nur im Notfall; es ist möglich, daß wir abgehört werden!" Da kam ihnen auch schon die Meeresoberfläche entgegen, und Sixx bremste vorsichtig. Lowry stand auf und begab sich mit Rilke in die Schleuse. Olga streckte sich im Sessel neben Sixx aus. Beim Anblick ihres fast nackten Körpers empfand er teilweise Wohlbehagen, teilweise Irritation. Er fühlte, daß sie wußte, daß sie auf ihn Eindruck machte, und dies trug nicht dazu bei, sein Unbehagen zu vermindern. "Ihr beide habt äußerst gute Reflexe", bemerkte sie. "Ist dazu ein spezie l-les Training nötig gewesen?"

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"Training würde ich nicht sagen", antwortete er mürrisch. "Übung paßt schon eher." Er justierte vorsichtig die Kontrollen, und das Schiff fiel den letzten Meter ins Wasser, wo es leicht schwankend trieb. Ein rotes Lämp-chen leuchtete auf und zeigte damit an, daß die Schleuse offenstand. "Wenn man mit einer komplizierten Maschine arbeitet, versucht man, es ihr an Ge-schwindigkeit gleichzutun. Und das stellt ein ziemlich hochgestecktes Ziel dar." "Da hast du recht", stimmte sie zu. "Man benötigt den Druck der Heraus-forderung, der Notwendigkeit. Diese Invasion - es ist eine schreckliche Sache, und doch ist sie irgendwie zugleich von Nutzen. Ich glaube, wir alle hier sind geistig etwas träge geworden." "Da ist Roger." Sixx hatte auf die Kamera über der äußeren Schleusentür umgeschaltet, und sie vermittelte den Blick über die rastlosen Wellen des Meeres zu den Grundmauern der Schlote, die sich zwischen dem Grün der Ufervegetation erhoben. Lowrys weiße Gestalt glitt rasch durch das Was-ser. "Er hält auf das Gleitboot dort drüben zu. Mit dem muß der Feind ge-kommen sein." "Es scheint unbemannt zu sein." Sie beugte sich weiter vor. "Da besteht wohl keine Gefahr für Ivan, oder?" "Darauf würde ich mich nicht verlassen, und ich wette, Roger tut dies auch nicht. Wenn Ivan halbwegs vernünftig ist, bleibt er in der Schleuse und wartet Rogers Zeichen ab." Plötzlich tauchte eine Gestalt hinter der Bord-wand auf und zielte mit einem Gewehr auf den Schwimmenden. "Oh!" Olga hielt den Atem an und umklammerte den Arm von Sixx, doch war ihre Besorgnis grundlos. Der Fremde schwankte, zielte, schwankte und schien dann jedes Interesse an Lowry zu verlieren. Er ließ die Arme sinken, sackte zusammen und fiel über Bord. Sekunden später schwang sich Lowry ins Boot und winkte zum Schiff zurück. "Jetzt ist die Luft rein", murmelte Sixx und sah das Wasser aufspritzen, als Rilke hineinsprang. Er merkte selbst durch den Anzug hindurch, daß Olgas Hand immer noch auf seinem Arm lag und wandte sich ihr zu. Ihr Gesicht war ganz nahe, und in ihren großen, blauen Augen stand fragende Neugier. "Wieso fiel der Mann?" fragte sie. "Das verstehe ich nicht." Sixx lächelte sie an. In ihrer Wißbegier wirkte sie wie ein Kind. "Du kennst die rasch wirkenden Gifte, die ein Lebewesen binnen kürzester Zeit betäuben? Man verwendet sie für den Tierfang."

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"Natürlich. Aber ich habe keinen Pfeil gesehen! Wie geht es vor sich?" "Mit einer von diesen." Mit einer geschmeidigen Bewegung und der Ge-schwindigkeit langjähriger Übung zog er seine Nadelpistole und zeigte sie ihr auf der geöffneten Handfläche. Sie warf einen Blick darauf, und ihre Au-gen weiteten sich. "Darf ich?" Sie nahm die Pistole, wog sie abschätzend in der Hand und strich mit den Fingern darüber. Dann sah sie ihn wieder mit ihren großen Augen an. "Sie ist schön", sagte sie leise. So hatte er auch immer empfunden, obwohl sie nicht zu diesem Zweck konstruiert worden war. "Du überraschst mich ein wenig", gab er zu. "Diese Beschreibung hätte ich nicht von dir erwartet." "Warum nicht?" Sie schloß ihre Finger um den Kolben, drehte Hand und Arm versuchsweise nach allen Richtungen, um dann die Hand wieder zu öffnen. "Sie paßt in meine Hand, ist ausbalanciert und hat keine häßlichen Ecken. Wie funktioniert sie?" "Ganz einfach." Er zog eine zweite Pistole und zeigte es ihr. "Hier ist die Energiequelle. Sie schickt einen kurzen, aber äußerst kräftigen Impuls in diese Magnetwindungen hier. Da an der Seite befindet sich der Vorrat an Kobalt-Samarium-Nadeln. Sie sind hohl und mit der Droge gefüllt. Der ma-gnetische Impuls reißt sie einzeln heraus und schleudert sie mit solcher Kraft aus dem Lauf, daß die Waffe bis zu achthundert Meter Entfernung effektiv ist. Es gibt keinen Abzugshahn, denn das ist der größte Nachteil der meisten Waffen, daß man dazu den Finger benötigt, mit dem man gewöhn-lich zeigt. Statt dessen ist die Pistole mit einem Druckknopf für den Daumen versehen, der sich genau an der richtigen Stelle befindet. Im Magazin haben fünfzig Nadeln Platz." "Darf ich diese Pistole für den Notfall behalten?" "Du?" Er sah ihr in die Augen und sagte nach kurzem Überlegen: "Na schön, du kannst sie behalten. Du kannst mir glauben, daß ich dies nicht jedem erlauben würde, aber du ... Bei dir mache ich mir keine Sorgen." Er riß sich von den Gedanken los, die so gar nicht in die jetzige Situation paß-ten, und wandte sich wieder dem Bildschirm zu. "Es ist Zeit", stellte er fest. "Ivan ist weit genug entfernt. Halte dich fest!" Er betätigte einige Schalter, und das Schiff schoß an der Steilwand entlang senkrecht empor. "Ich frage mich, wie ich in den Gärten landen soll, wie du

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mir empfohlen hast, ohne etwas zu sehen! Diese Dampfwolken nehmen einem ja alle Sicht." "Das ist überhaupt kein Problem." Sie lachte in sich hinein. "Du brauchst nur langsam hinunterzugehen. Die Schornsteine erheben sich fünfzig Meter über den Rand der Klippen, und der Dampf kommt oben heraus. Von oben kann man das nicht so genau feststellen." "Ich komme mir vor wie ein Dummkopf", murmelte er, während er einige Korrekturen vornahm, als die Schlote auf dem Schirm auftauchten. "Daran habe ich nicht gedacht." "Deswegen bist du noch lange kein Dummkopf" sondern lediglich unin-formiert, Rex. Aus diesem Grunde bin ich ja mitgekommen. Ich besitze Kenntnisse, die du nicht hast. Außerdem bist du nicht ganz gesund und stehst unter Druck." "Noch bin ich nicht soweit, daß ich jemand brauche, der mich an der Hand führt!" Er bremste den Fall des Schiffes noch mehr und landete es inmitten exotischer Blumen und üppiger Büsche. "So denke ich zum Beispiel daran, alle Systeme abzuschalten, weil das Schiff nur Roger und mir gehorcht. Das für den Fall, daß einer der Feinde an mir vorbeikommt." "Du brauchst nicht so streng mit dir zu sein. Komm, ich erkläre dir den Aufbau der Anlage." Gemeinsam betraten sie die Schleuse und stiegen die Leiter hinab. Die kühle Brise brachte den Geruch von Tang mit, der sich mit dem Geruch der verbrannten Sträucher mischte. Sie streckte ihren wohlgeformten Arm aus. "Dort befinden sich die vier Turbinenhallen. Ungefähr zweihundert Meter unter dem Rand der Klippe teilt sich der Schornstein in vier Schlote, die zu je einer Turbine führen." Sixx merkte, daß sie ihr Tempo seinem mühsamen Humpeln anpaßte, und es schien die natürlichste Sache der Welt zu sein, daß sie sich in ihn ein-hängte, als befänden sie sich auf einem Sonntagsspaziergang. Was einen Beobachter gewundert hätte, war, daß er, Sixx, in seinen schweren Anzug gehüllt war, während sie, nachdem sie die Fetzen, ihrer Kleidung als unprak-tisch im Schiff zurückgelassen hatte, völlig nackt neben ihm einherging. Sixx mußte sich richtig anstrengen, um sich auf die bevorstehende Aufgabe zu konzentrieren. Er hielt die Ausgänge der vier Hallen ständig unter Beobach-tung. Bedauernd stülpte er den Helm über, schaltete den Außenlautsprecher ein und faßte Olga sanft am Arm.

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"Warte einen Augenblick", forderte er das Mädchen auf. "Es mag hier ja ganz friedlich aussehen, aber wir befinden uns nicht auf einem Spaziergang. Das Problem besteht darin, vier Tore zu überwachen, die sich jeweils etwa sechzig Meter voneinander entfernt befinden. Außerdem wissen wir nicht, wie viele Gegner den Schornstein hochkommen und welche Abzweigung sie wählen. Dazu kommt, daß wir uns hier ohne jede Deckung im Freien befin-den!" "Du siehst es zu schwarz, Rex. Das kleine Boot kann nicht mehr als höch-stens sechs Leute gefaßt haben. Ein Gegner ist ausgeschaltet. Das heißt, daß sich höchstens fünf im Schornstein befinden, und es dauert eine Weile, zwölfhundert Meter zu erklettern!" "Jetzt bin ich der Experte", unterbrach er sie zornig. "Ich kenne alle Tricks und bin gerüstet. Du hast nichts als deine hübsche Haut! Du mußt ..." Er reagierte, ohne sich dessen zunächst bewußt zu sein. Am Rande des Gesichtsfelds hatte er eine Bewegung wahrgenommen. Er stieß Olga heftig beiseite, riß mit der anderen Hand die Pistole hoch und sandte einen Schwarm von Nadeln gegen eine grüngekleidete Gestalt, die durch die Tür der zweiten Halle von links getreten war. Die Helmautomatik nahm ihm für einen Bruchteil einer Sekunde die Sicht, und dann brach der Gegner auf den Steinplatten vor dem Tor zusammen. "Bleibe vollkommen unbeweglich liegen", befahl er und schlich gebückt seitwärts auf sie zu, ohne den Blick von den vier Toren zu wenden. "Wir haben es hier mit Fanatikern zu tun, und die sind unberechenbar!" Als er Olga erreicht hatte, hockte er sich mit dem Rücken zu ihr nieder, um ihr Deckung zu gewähren. "Ist alles in Ordnung?" Zu seiner grenzenlosen Erleichterung vernahm er ihre Antwort: "Ich ver-spürte Hitze über meinem Kopf. Ich glaube, mein Haar ist versengt. Aber sonst ist mir nichts zugestoßen." Dann fragte sie: "Ich habe nichts mitbe-kommen. Was ist geschehen?" "Ich numeriere die Hallen von links, ja? Ein Mann kam aus Nummer zwei. Er ist jetzt bewußtlos, aber gemäß unseren Schätzungen sind noch minde-stens vier Gegner übrig. Er scheint allein gewesen zu sein. Das bedeutet, daß sie sich beim Aufstieg getrennt haben, was mir einen kleinen Zeitvor-sprung läßt. Nummer zwei lasse ich außer acht. Ich halte es für am wahr-scheinlichsten, daß der nächste Nummer drei gewählt hat. Ich nehme an, daß die äußeren Verzweigungen des Schlotes sich am stärksten krümmen?"

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"Ja, das stimmt." "Daher nehme ich an, daß sie die mittleren Wege als die kürzesten ein-schlagen. Ich werde in Nummer drei eindringen. Sage mir, wie es darin aussieht!" "Ich werde es dir zeigen!" Sie sprang auf und wollte vorauslaufen, doch er erwischte sie am Oberarm und riß sie heftig an sich. "Jetzt höre mir einmal genau zu! Hast du denn gar keinen Verstand in deinem hübschen Kopf? Du hast bereits einen Streifschuß abbekommen und brauchst dir eine Weile nicht die Haare zu schneiden. Beim nächsten mal hast du vielleicht weniger Glück. Ich gehe da hinein, weil sie mir nichts antun können. Du verbirgst dich hier zwischen den Büschen!" "Das werde ich nicht tun. Wozu bin ich denn mitgekommen, wenn ich mich jetzt verstecken soll? Es ist mein Kopf und meine Heimat. Es ist mein Kampf. Du kannst mich nicht aufhalten!" Sixx schüttelte resignierend den Kopf. Gegen eine solche Entschlossenheit war er machtlos. "Na gut. Du sollst deinen Willen haben. Aber wir wollen dennoch vorsichtig sein. Du hältst dich die ganze Zeit so dicht wie möglich hinter mir!" Während er sprach, behielt er die Türen ständig im Auge. Keine Bewegung war zu entdecken. "Wir begeben uns in Nummer drei. Du bleibst dicht hinter mir und erzählst mir, wie es drinnen aussieht. An der Mauer angekommen, beziehst du Stel-lung neben der Tür und schießt augenblicklich und ohne zu zögern auf jeden, dem es gelungen sein sollte, an mir vorbeizukommen. Ist das klar?" "Jawohl, Sir!" sagte sie und er mußte grinsen, als sie vorsichtig auf das Tor zu gingen. "Hinter der Tür erstreckt sich ein langer Gang, der links an der Turbine entlangläuft. Du wendest dich jedoch gleich nach rechts, gehst neben dem Dynamo vorbei und gelangst zu dem Gang auf der anderen Seite der Turbine, der mit einer Metallwand abschließt. Darin befindet sich eine Panzertür, die mittels eines Handrads geöffnet und geschlossen wird. Soviel ich weiß, ist sie nicht versperrbar. Dahinter befindet sich der Luftschacht. Ist deine Sorge um mich bloß beruflicher Natur, oder steckt etwas anderes dahinter?" Nicht schon wieder, dachte er, und laut sagte er: "Euer Fehler ist, daß ihr eure soziologischen Theorien in einem Vakuum aufstellt. Ihr argumentiert mit der Objektivität des Beobachters und habt damit bis zu einem gewissen Grade recht. Doch Gesellschaften bestehen

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aus Menschen, die miteinander leben, und nicht aus Ziffern einer Computer-simulation. Und das ist ein riesiger Unterschied! Beantwortet das deine Frage?" "Ja, danke. Es bringt mich auch auf eine Idee." "Vergiß deine Ideen für eine Weile, und halte lieber die Augen offen!" Vor ihnen ragte das riesige Tor empor, und erst jetzt gewann er einen Eindruck von den Ausmaßen der Anlage. Zwei Schritte vor der kleineren Tür in dem großen Tor hielt er an. "Du stellst dich hier an die Wand und schießt auf alles, was sich bewegt!" Sie tat, was ihr geheißen, und er öffnete die Tür und trat über die niedrige Schwelle ins Innere. Das von außen kaum hörbare Summen verstärkte sich. Überall begegneten matte Metalloberflächen seinem Blick. Er sah das Blin-ken von Kontrollämpchen, den riesigen Generator selbst und den Dynamo am Ende, in dem hin und wieder Funken überschlugen. Wende dich scharf nach rechts, hatte sie gesagt, und er tat es, bis er links den langen Gang entdeckte, an dessen anderem Ende in der Metallwand ein dunkles Loch gähnte. Wo bist du, mein Freund? fragte er sich, wich mit dem Rücken gegen die Wand zurück und suchte die Umgebung mit den Blicken ab. Es gab Hunderte von Stellen, die dem Feind als Versteck dienen konnten. Aber er mußte an ihm vorbei, und da erregte auch schon eine Bewegung auf dem Generator selbst seine Aufmerksamkeit. Aber ehe er noch feuern konnte, wurde seine Sichtscheibe dunkel, und aus dem Wimmern seines Schutzsy-stems schloß er, daß er sich unter intensivem Laserfeuer befand. Er konnte nichts tun, als fluchend zu warten. Als sich die Automatik klickend abschal-tete, sah er eine grüngekleidete Gestalt, die der Ausgangstür zu hetzte. Er jagte eine Nadelsalve hinterher und folgte dem Gegner schwerfällig. Als er die Tür erreichte, sah er ihn reglos auf den Steinplatten davor liegen. Er schob seinen Kopf um die Ecke und beruhigte Olga, die eben auf ihn schie-ßen wollte: "Der rührt sich nicht mehr." Kaum hatte er ausgesprochen, traf ihn etwas mit großer Wucht in den Rücken, was ihn taumeln und über die Schwelle stolpern ließ. Schmerz durchzuckte sein Bein, als er auf die Knie fiel. Ein Tritt zwischen die Schulterblätter warf ihn flach auf den Bauch, und als er sich auf den Rücken rollte, vernahm er eine scharfe Stimme: "Versuchen Sie keine Tricks, Mister, oder sie bekommt es genau in den Bauch!"

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Sixx hielt in der Bewegung inne. Der grüne Overall vor ihm unterschied sich von denen, die er bisher gesehen hatte. Er schmiegte sich eng an einen kurvenreichen Körper. Schwarzes Haar umrahmte ein knöchernes Gesicht mit blitzenden Augen und wölfischen Zähnen. Bedeutungsvoller als das war jedoch die Tatsache, daß die Mündung des Lasergewehrs in ihren Händen sich nur wenige Zentimeter vor Olgas nacktem Bauch befand. Sixx' Gedan-ken rasten. Seine Pistole war nutzlos, denn selbst wenn er sie zur Anwen-dung würde bringen können, wirkte die Droge nicht so rasch, als daß die Gegnerin nicht noch den Feuerknopf hätte drücken können. Und ihrem Ge-sichtsausdruck nach zu schließen, war diese Frau genauso eine Fanatikerin wie alle anderen. "Gehen Sie in die Halle zurück, Sie weißer Ritter! Oder Ihre Freundin ist erledigt. Zurück!" Ihre Taktik war richtig, mußte Sixx zugeben. Hatte sie einmal die Tür hinter ihm geschlossen, gab es für ihn keine Möglichkeit mehr zu erfahren, was draußen vor sich ging. Er wich so langsam wie möglich zurück, bis er die tückische Schwelle unter seinen Füßen spürte. Es war ihm immer noch nichts eingefallen. Solange Olga das Ziel abgab, hatte er keine Chance. Er studierte ihr Gesicht, aber es war ausdruckslos und ruhig. Als er einen Fuß hob und damit nach hinten tastete, explodierte sie. Die Frau mit dem Ge-wehr war ebenso überrascht wie er. Olga wirbelte herum, schlug das Gewehr beiseite, griff zu, entriß es der Feindin, schleuderte es in einem Bogen davon - all das in einer einzigen Bewegung. Dann packte sie den grünen Overall an den Schultern, stemmte einen Fuß gegen den Bauch und ließ sich nach hinten fallen. Die grüne Ge-stalt sauste kreischend durch die Luft. Sixx zog in Erwartung des Aufpralls den Kopf ein, doch gelang es der Dunkelhaarigen, harmlos abzurollen. Als sie sich aufrichtete, war Olga schon herangetänzelt, packte sie an den Haa-ren und lenkte damit ihren Kopf genau gegen das emporschwingende Knie. Man vernahm das Knirschen des Kiefers, die Frau fiel nach rückwärts, schlug mit dem Hinterkopf gegen die Steinplatten und rührte sich nicht mehr. "Ich komme mir überflüssig vor", murmelte Sixx, als Olga an ihn herantrat und ihn anstrahlte, aber sie schien ihn nicht zu hören. Statt dessen warf sie die Arme um seinen Hals und fragte: "Wie soll ich dich küssen können, wenn du diesen dummen Helm trägst?"

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"Wofür?" fragte er entgeistert und ließ den Helm nach hinten schnappen. "Weil du mich so viel gelehrt hast und weil ich dankbar bin, und aus rein persönlichen Gründen." Das nächste, was Sixx vernahm, war Lowrys Stimme aus dem Lautspre-cher in seinem zurückgekippten Helm: "Aus eurem Benehmen schließe ich, daß der Krieg vorbei ist!" Sixx schob Olga sanft von sich und sah Lowry von Halle eins her auf sich zukommen. Rilke befand sich bei ihm, und sein breites Grinsen war selbst auf die Entfernung hin zu erkennen. Sixx wandte sich wieder Olga zu und sagte: "Alle guten Dinge gehen einmal zu Ende." Er seufzte. "Wir hatten einen Auftrag, und es sieht so aus, als hätten wir ihn endlich beendet." "Hast du es so eilig, Rex?" "Du weißt, daß das nicht stimmt, aber wir haben keine Wahl. Wir haben unsere Befehle." Er hielt sie sanft an der Hand und fragte sich, was ihr geheimnisvolles Lächeln zu bedeuten hatte. "Du bist eine geschickte Kämp-ferin", stellte er anerkennend fest. "Ich könnte dich das eine oder andere lehren, aber nicht viel. Und du siehst großartig aus mit deinem kurzen Haar. Du bist eine wunderbare Person, Olga." Ihr Lächeln wurde zu einem Strahlen. "Und du glaubst wirklich, daß ich dich nach einer solchen Rede einfach gehen lasse? Warte nur ab!" Ihm blieb keine Zeit zu einer Erwiderung. Lowry war herangekommen und berichtete, wie sie den Rest des Landungstrupps unschädlich gemacht hatten. Dann traf ein Hundertfüßer mit Bardak und Louise ein, und es gab eine Menge Fragen zu beantworten. An die Rückfahrt erinnerte sich Sixx kaum, weil er durch die Anstrengungen und die Schmerzen im Bein fast bewußtlos war. Als er seine Umgebung wieder deutlicher wahrnehmen konnte, befand er sich mit den anderen in Bardaks Garten in einer gemütli-chen Felsennische. Sein Anzug lag ihm zu Füßen. Roger, der ebenfalls den Anzug abgelegt hatte, saß links von ihm, und Louise rechts. Sie waren mit den Iskolanern in eine Diskussion verwickelt. "Wir haben einen Aspekt der wissenschaftlichen Methodik vollständig vernachlässigt", stellte Olga fest. "Wir haben Theorien, wir finden Lösungen für bestimmte Probleme, aber wir führen nie Experimente durch!"

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"Natürlich ist es wünschenswert, Theorien anhand von Experimenten zu testen; aber mit Menschen kann man nicht experimentieren!" protestierte Bardak. "Und warum nicht? Ist es nicht so, daß jede neue Gemeinschaft, jede neue Gruppe ein Experiment mit Menschen darstellt?" Rilke starrte sie fassungslos an. "Willst du damit vorschlagen, daß wir eine solche Gruppe bilden sollen? Hier?" "Gewiß. Warum nicht? Wir haben genügend Platz. Wir könnten ein kle i-nes Dorf für - sagen wir - ein Dutzend Menschen errichten und sehen, was geschieht. Wir laden ganz gewöhnliche Menschen auf einen Monat oder so ein. Wenn sie damit einverstanden sind, Ratschläge anzunehmen und beo-bachtet zu werden, könnten sie kostenlos ihren Urlaub da verbringen. War-um nicht?" Die Iskolaner steckten die Köpfe zusammen und diskutierten den Vor-schlag. Sixx wandte sich verwundert an Louise: "Was hat das mit uns zu tun? Du solltest deinen Bericht schreiben, den Roger und ich mitnehmen." "Das hast du bereits einmal gesagt. Du scheinst erpicht darauf zu sein, mich hier allein zu lassen." "Du gehörst zu diesen Menschen", warf Lowry ein. "Du hast ihre Art von Begabung." "Du magst recht haben, was mein Talent betrifft, aber ich bin nie und nimmer ein Einzelgänger. Olga hat mich mit ihrer Diät von meinen Schwie-rigkeiten befreit, und ich habe erkannt, daß ich die menschliche Gesellschaft brauche. Nein, ich gehöre nicht hierher." Sie brach ab, als Olga sich neben sie setzte. "Was haltet ihr von dem Er-holungsdorf?" "Scheint mir eine gute Idee zu sein", antwortete Sixx. "Ich habe sie auch dir zu verdanken, Rex. Aber Bardak hat recht. Wir müssen erst die Details ausarbeiten, und dazu benötigen wir Versuchska-ninchen: euch drei." "Uns?" fragten alle im Chor. "Der Auftrag ist erledigt. Wir können nicht hierbleiben", protestierte Sixx. "Nicht?" Olga grinste ihn boshaft an. "Hört zu: Louise, deine Diätkur ist noch nicht beendet. Ich benötige noch mindestens einen Monat, um Beob-

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achtungen anzustellen und Tests durchzuführen. Keine Einwände! Ich bin Experte." "Ich habe keine Einwände", sagte Louise schwach. "Und du," Olga wandte sich an Sixx. "Du bist krank. Dein Bein muß erst heilen, und das dauert mindestens einen Monat." "Jason Horn wird keinen Augenblick daran glauben!" "Und was ist mit mir?" fragte Lowry. "Was habe ich für einen Vorwand?" "Das ist einfach und gilt auch für Sixx. Euer Schiff besitzt fast keinen Treibstoff mehr. Auf Iskola gibt es keinen. Es dauert einen Monat, welchen zu beschaffen." "Wir geben auf." Sixx sprach für alle. "Ich habe immer schon behauptet, ihr hier seid Genies. Und wer will gegen Genies etwas ausrichten? Wir bleiben." "Gut!" Olga lachte in sich hinein. "Ich habe dir ja gesagt, daß du von mir nicht so leicht loskommst, oder? Jetzt kannst du mich diese Tricks lehren, von denen du sprachst ..." Ihre Augen blitzten ihn an.

ENDE


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