Inobhutnahme bei Kindeswohlgefährdung
Eine rekonstruktive Studie zu Binnenperspektiven und
Handlungsstrategien betroffener Eltern
Dissertation
zur Erlangung des akademischen Grades
einer Doktorin der Philosophie (Dr. phil.)
genehmigt durch die
Fakultät für Humanwissenschaften
der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg
von Diplom-Pädagogin Heike Gräbedünkel
geb. am 03.01.1972 in Mühlhausen/ Thüringen
Gutachter: Prof. Dr. Winfried Marotzki
Gutachter: Prof. Dr. Winfried Baudisch
Eingereicht am: 02.06.2016
Verteidigung der Dissertation am: 07.06.2017
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Inhalt
Abkürzungsverzeichnis .............................................................................. 4
1. Einleitung .............................................................................................. 5
2. Diskurs Kindeswohl ............................................................................. 11
2.1. Der Begriff Kindeswohl ...................................................................... 11
2.1.1. Grundbedürfnisse des Kindes .............................................. 14
2.1.2. Kindeswohl als Rechtsbegriff .............................................. 18
2.2. Kindeswohlgefährdung ....................................................................... 26
2.3. Vernachlässigung ................................................................................ 31
3. Forschungslage ..................................................................................... 38
3.1. Forschung zu Kindeswohl und Kindeswohlgefährdung ..................... 42
3.2. Forschung zu Herkunftsfamilien ......................................................... 45
3.3. Forschung zu institutionsspezifischen Fragen des Jugendamtes ........ 47
3.4. Juristische Aspekte .............................................................................. 48
4. Forschungsdesign: Methode und Methodologie ............................... 50
4.1. Erkenntnisinteresse und Forschungsfrage ........................................... 51
4.2. Forschungslogik .................................................................................. 55
4.2.1. Qualitative Sozialforschung ................................................. 55
4.2.2. Biographieforschung ............................................................ 56
4.2.3. Datenerhebung mittels narrativer Interviews ....................... 60
4.3. Feldzugang .......................................................................................... 62
4.4. Sample ................................................................................................. 66
4.5. Datenauswertung ................................................................................. 71
4.5.1. Grounded Theory ................................................................. 71
4.5.2. Narrationsanalyse nach Schütze ........................................... 72
3
5. Empirische Ergebnisse: Musteranalyse ............................................. 73
5.1. Muster Hilflosigkeit/Ohnmacht & Passivität ...................................... 74
5.1.1. Fallportrait ............................................................................ 74
5.1.2. Analyse ................................................................................. 92
5.1.3. Struktur des Musters ............................................................. 117
5.1.4. Mustervarianzen ................................................................... 129
5.2. Muster Opfer & Konfrontation ........................................................... 136
5.2.1. Fallportrait ............................................................................ 136
5.2.2. Analyse ................................................................................. 154
5.2.3. Struktur des Musters ............................................................ 170
5.2.4. Mustervarianzen ................................................................... 181
5.3. Muster Einsicht & aktive Gestaltung .................................................. 187
5.3.1. Fallportrait ............................................................................ 187
5.3.2. Analyse ................................................................................. 206
5.3.3. Struktur des Musters ............................................................ 230
5.3.4. Mustervarianzen ................................................................... 240
6. Theoretisierung der Forschungsergebnisse ....................................... 245
6.1. Biographietheoretische Aspekte ......................................................... 245
6.1.1. Biographisierungsprozesse ................................................... 245
6.1.2. Biographizität ....................................................................... 248
6.1.3. Biographische Sinnfindung .................................................. 251
6.1.4. Verlaufskurvenkonzept ........................................................ 253
6.2. Diskussion der empir. Ergebnisse innerhalb des theoretischen Rahmens 255
6.2.1. Muster Hilflosigkeit/Ohnmacht & Passivität ....................... 256
6.2.2. Muster Opfer & Konfrontation ............................................. 266
6.2.3. Muster Einsicht & aktive Gestaltung ................................... 273
6.3. Forschungsertrag/Forschungsrelevanz ................................................ 280
6.3.1. Wissenschaftsdiskurs ........................................................... 280
6.3.2. Praxistransfer ....................................................................... 285
7. Fazit ....................................................................................................... 295
Literatur ..................................................................................................... 298
4
Abkürzungsverzeichnis
Abs. Absatz
ABM Arbeitsbeschaffungsmaßnahme
ALG II Arbeitslosengeld II
ARGE Arbeitsgemeinschaft (zuständige Behörde für den Arbeitslo-
sengeld II-Bezug, frühere Bezeichnung für das Jobcenter)
ASD Allgemeiner Sozialer Dienst
Art. Artikel
BGB Bürgerliches Gesetzbuch
BGBl. Bundesgesetzblatt
BGH Bundesgerichtshof
BRD Bundesrepublik Deutschland
bspw. beispielsweise
DJI Deutsches Jugendinstitut
FGG Gesetz über die Angelegenheiten der Freiwilligen Gerichts-
barkeit
GG Grundgesetz
JVA Justizvollzugsanstalt
KITA Kindertagesstätte
KJHG Kinder- und Jugendhilfegesetz
Nr. Nummer
Rn. Randnummer
SorgeRG Sorgerechtsgesetz
SGB VIII Sozialgesetzbuch VIII
SPFH Sozialpädagogische Familienhilfe
SPZ Sozialpädiatrisches Zentrum
5
1. Einleitung
Die Tatsache, dass es Kindern und Jugendlichen in Deutschland im Vergleich zu vielen
anderen Ländern in materieller Hinsicht relativ gut geht, kann nicht darüber hinwegtäu-
schen, dass viele von ihnen mit der Erfahrung von Vernachlässigung, körperlicher oder
sexueller Gewalt aufwachsen müssen. Der Schutz von Kindern und Jugendlichen als ge-
sellschaftliche und nicht zuletzt auch staatliche Aufgabe ist daher als Kernaufgabe im Ge-
samtauftrag der Kinder- und Jugendhilfe (hier im § 1 Abs. 3 Nr. 3 SGB VIII) verankert
und hat in den letzten Jahren im „öffentlichen Bewusstsein“ deutlich an Bedeutung ge-
wonnen. Maßgeblichen Einfluss hierauf hatte sicherlich auch die mediale Berichterstattung
über spektakuläre Einzelfälle, insbesondere von zu Tode gekommenen Kleinkindern, bei-
spielsweise der „Fall Kevin“ Ende 2006. Obwohl sich die gesellschaftliche Verantwortung
für den Kinderschutz insbesondere in den letzten Jahren im Fokus einer breiten Diskussion
befindet und das Thema nicht nur im Jugendhilfediskurs Hochkonjunktur zu haben scheint,
steht diese öffentliche Aufmerksamkeit jedoch in einem bemerkenswerten Gegensatz zu
dem wenig gesicherten Wissen über die Problematik, insbesondere die Spezifik von Kin-
deswohlgefährdung.
Zur Versachlichung der entfachten Diskussion über gefährdete Kinder und Jugendliche
und deren Familien sowie über einen wirksamen Kinderschutz in der Bundesrepublik
Deutschland soll das Augenmerk in dieser Arbeit zunächst auf das quantitative Ausmaß
dieses Phänomens gerichtet werden. Dabei fällt auf, dass es in Deutschland bis zum Jahr
2012 keine verlässlichen Daten hinsichtlich des Ausmaßes der Gefährdungen des Kindes-
wohls, respektive Vernachlässigung und Misshandlung von Kindern gab, so dass Poth-
mann (2006, S. 3) von einem „Stochern im Zahlennebel“ spricht. Dies wurde bereits im
Zehnten Kinder- und Jugendbericht, dem so genannten „Kinderbericht“ konstatiert (vgl.
BMFSFJ, 1998), aber bis 2012 hat sich daran kaum etwas geändert.
Seit 2012 werden nun im Kontext des 2005 in das SGB VIII eingefügten § 8a SGB VIII
zumindest einige Daten zur Gefährdungseinschätzung von Kindern und Jugendlichen in
den Jugendämtern erhoben, die allerdings noch nicht aussagekräftig sind, da aktuell nur die
Daten aus der ersten Erhebung vorliegen (vgl. Kaufhold/Pothmann, 2014). Dabei darf auch
nicht verkannt werden, dass es sich hierbei in erster Linie um eine institutionelle Tätig-
6
keitsstatistik handelt, die weniger über die tatsächliche Häufigkeit von Kindeswohlgefähr-
dungen als vielmehr über die Arbeit der Jugendämter und Familiengerichte Auskunft gibt.
Obwohl damit aktuell erst ein kleiner Teil der „Datenlücke“ bezüglich des Ausmaßes von
Kindeswohlgefährdungen geschlossen wird, leistet diese Datenerhebung dennoch einen
Beitrag, um die aktuelle Diskussion um einen wirksamen Kinderschutz langfristig auf ein
tragfähigeres empirisches Fundament als bisher zu stellen.
Statt einer verlässlichen empirischen Dauerbeobachtung gab es in Deutschland für diesen
Bereich bisher lediglich großzügige und restriktive Schätzungen. Der Elfte Kinder- und
Jugendbericht spricht beispielsweise davon, dass 10% bis 15% aller Eltern ihre Kinder
häufig und schwerwiegend körperlich bestrafen (vgl. BMFSFJ, 2002), wobei auf dieser
Grundlage im Jahr 2005 allein bei den unter 6-Jährigen 430.000 bis 650.000 Kinder betrof-
fen wären. Esser/Weinel (1990) schätzen, dass 5% bis 10% aller unter 7-jährigen Kinder
von Vernachlässigung betroffen sind, dies würde für die ersten 5 Jahrgänge der in Deutsch-
land lebenden Kinder einer Größenordnung von 220.000 bis 430.000 Kindern entsprechen,
ähnliche Dimensionen legt UNICEF (2003) zugrunde und spricht sogar von ca. 50 Kin-
dern, die jährlich infolge einer Vernachlässigung versterben.
Diese Reihe könnte man noch mit methodisch weitaus undurchsichtigeren Schätzungen
fortsetzen. So geht das UN-Kinderhilfswerk (zitiert in Pothmann, 2006, S. 3) davon aus,
dass in Deutschland ca. 200.000 Kinder in Verwahrlosung leben und/oder misshandelt
werden, die Deutsche Gesellschaft gegen Kindesmisshandlung und –vernachlässigung (zi-
tiert in Pothmann, 2006, S. 3) spricht dagegen „nur“ von 100.000 und nach Ansicht von
Hurrelmann (vgl. Gaschke, 2006) sind täglich 80.000 Kinder im Alter bis zu 10 Jahren
„von einer Katastrophe bedroht“.
Bereits diese grobe Zusammenstellung von nicht immer genau zu rekonstruierenden Schät-
zungen macht die Defizite in der Datenlage deutlich. Dabei gehen sowohl die zugrunde
liegenden Definitionen und Begrifflichkeiten stark auseinander, aber auch die Erhebungs-
verfahren der Basisdaten für die Schätzungen divergieren erheblich und nicht zuletzt wer-
den zum Teil ganz unterschiedliche Altersgruppen als Ausgangspunkt für die Berechnun-
gen herangezogen (vgl. Pothmann, 2006, S. 3).
7
Im Kontext dieser unterschiedlichen Schätzungen darf jedoch nicht vergessen werden, dass
in der Fachdiskussion Einigkeit darüber besteht, dass man es insbesondere bei Kindes-
misshandlungen und –vernachlässigung mit einem erheblichen „Dunkelfeld“ zu tun hat
(vgl. Pothmann, ebda.). Aber immerhin ein Teil der betroffenen Kinder und deren Familien
sind den Jugendämtern bekannt, so dass sich über die Kinder- und Jugendhilfestatistik dif-
ferenziertere Aussagen treffen lassen. Beispielsweise wurden im Jahr 2014 124.213 Ge-
fährdungseinschätzungen vom Jugendamt nach § 8a Abs. 1 SGB VIII vorgenommen, dabei
ging die Behörde in 23.242 Fällen (ca. 18,7% der Fälle) von einer andauernden akuten
Kindeswohlgefährdung aus (vgl. Statistisches Bundesamt, 2015a, S. 6).
In dieser Studie soll der Fokus genau auf diese Kinder gerichtet werden, deren Wohl „er-
wiesenermaßen“ gefährdet war. Insofern erscheint es sinnvoll, parallel zur Gesamtzahl der
akuten Kindeswohlgefährdungen noch einmal die Anzahl der von Jugendämtern eingelei-
teten Schutzmaßnahmen für Kinder und Jugendliche herauszustellen. Im Jahr 2014 waren
dies in Deutschland insgesamt 48.059 Inobhutnahmen als Schutzmaßnahmen für Kinder
und Jugendliche, bei denen diese außerhalb ihrer Familie untergebracht wurden. Von den
Inobhutnahmen resultierten 36.612 (76%) aus einer dringenden Gefahr für das Wohl des
Kindes oder Jugendlichen heraus und 11.447 (24%) erfolgten auf eigenen Wunsch der be-
troffenen Kinder bzw. Jugendlichen (vgl. Statistisches Bundesamt, 2015, S. 6).
Vorläufige Schutzmaßnahmen der Jugendhilfe/
Inobhutnahmen für Kinder und Jugendliche
2014
Inobhutnahmen wegen akuter
Gefährdung
Inobhutnahmen auf eigenenWunsch der Kinder bzw.
Jugendlichen
8
Legt man nun die Entwicklung der Inobhutnahmen wegen einer bestehenden Gefährdung
seit Einführung des derzeit geltenden Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG – SGB
VIII) am 01.01.1991 bzw. 03.10.1990 (in den neuen Bundesländern) zugrunde, so fällt auf,
dass sich deren Anzahl seit Beginn der statistischen Erhebung nach Einführung des KJHG
im Zeitraum 1995 mit ca. 15.400 bis ca. 20.000 im Jahr 2007 auf einem relativ konstant
hohen Niveau befindet. Seit 2008 und damit nach der Etablierung des modifizierten SGB
VIII und insbesondere des neu eingeführten § 8a SGB VIII steigt die Zahl der Inobhut-
nahmen jedoch kontinuierlich an und erreicht 2014 mit einer Gesamtzahl von über 48.000
Fällen einen neuen Rekord. Dabei machen die Inobhutnahmen wegen einer bestehenden
akuten Gefährdung im Zeitraum 1995 - 2007 zunächst ca. zwei Drittel und ab 2008 sogar
ca. drei Viertel der Gesamtheit aller Inobhutnahmen aus (vgl. Statistisches Bundesamt,
2015, S. 33 ff.), was ebenfalls auf der Folie des § 8a SGB VIII zu betrachten ist.
Entwicklung der Inobhutnahmen in Deutschland von 1995 - 2014
0
10000
20000
30000
40000
50000
60000
1995
1997
1999
2001
2003
2005
2007
2009
2011
2013
Inobhutnahmen auf
eigenen Wunsch der
Kinder bzw. Jugend-
lichenInobhutnahmen
wegen akuter
Gefährdung
Zusammenfassend kann daher konstatiert werden, dass das Thema Kindeswohlgefährdung
schon allein vor diesem quantitativen Hintergrund aufgrund der Anzahl erfasster Fälle ins-
besondere im sozialpädagogischen Arbeitsfeld der Kinder- und Jugendhilfe als ein außer-
ordentlich drängendes Problem angesehen werden muss. Aber vor allem in der in den letz-
ten Jahren intensiv geführten inhaltlichen Fachdiskussion um gefährdete Kinder und Ju-
gendliche und deren Schutz bildet sich der sehr hohe thematische Stellenwert innerhalb der
9
Sozialpädagogik ab (vgl. AFET, 2007, S. 4). Gleichsam fällt jedoch auf, dass die öffentli-
che Aufmerksamkeit für dieses Thema zwar momentan Hochkonjunktur zu haben scheint,
aber in einem bemerkenswerten Gegensatz zu dem wenig gesicherten Wissen steht, das es
über dieses Problem gibt. Hieraus ergibt sich der maßgebliche Stellenwert dieser Studie.
Sowohl in meiner eigenen Tätigkeit im Allgemeinen Sozialen Dienst eines Jugendamtes in
den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts als auch in unzähligen Beratungen bzw. Fallbe-
sprechungen mit Kollegen1 in diesem Arbeitsfeld wurde nicht nur der immense Nachhol-
bedarf an entsprechender Forschung deutlich, sondern es wurde vielfach eine tiefgreifende
Unzufriedenheit in der Bearbeitung von Einzelfällen beklagt. Diese resultiert in den meis-
ten Fällen daraus, dass bei bestehender Kindeswohlgefährdung den betroffenen Familien
entsprechende erzieherische Hilfen nahegelegt und in vielen Fällen auch durchgeführt
werden, aber den betroffenen Eltern ein Gespür für die bestehenden Gefährdungsaspekte
ihrer Kinder nicht bzw. nicht ausreichend nahegebracht werden kann. Vielmehr entsteht
bei den Praktikern der Eindruck, dass gerade bei einer Inobhutnahme mit anschließender
außerfamiliärer Unterbringung der Kinder bzw. Jugendlichen deren Eltern das Verständnis
für die Gründe, die zu dieser drastischen Maßnahme führten, häufig völlig fehlt. Stattdes-
sen wurde in vielen Fällen davon berichtet, dass die Eltern entweder eigene Anteile an der
zur Inobhutnahme führenden Familiensituation gänzlich verleugnen und stattdessen mit
anwaltlicher Hilfe gegen diese Maßnahme vorgehen, um eine Rückkehr der Kinder in die
Familie zu erwirken oder sich gänzlich aus der Zusammenarbeit mit dem Jugendamt zu-
rückziehen. Vielfach fiel auch auf, dass Eltern Situationen schaffen, die sie für geeignet
halten, das Jugendamt davon zu überzeugen, dass eine Rückkehr der Kinder in die Familie
möglich ist (wie z.B. das Aufräumen der Wohnung), die aber in den meisten Fällen bei den
Gründen für die Inobhutnahme nur eine marginale Rolle spielten. Vor diesem Hintergrund
entstand bei mir und sicher bei vielen Fachkollegen im ASD die Vermutung, dass die El-
tern gefährdeter Kinder oftmals nicht in der Lage sind, das Geschehen, welches zur Inob-
hutnahme führte, zu reflektieren, was wiederum die Arbeit mit dieser Zielgruppe im Rah-
men des Hilfeplanverfahrens nach § 36 SGB VIII deutlich erschwert und in Härtefällen
vermutlich sogar unmöglich macht.
1 Aus Gründen der Lesbarkeit der Arbeit werden ausschließlich männliche Berufs- und Personenbezeichnun-
gen verwandt, die jedoch selbstverständlich die entsprechenden weiblichen Bezeichnungen einschließen.
10
Daraus ergibt sich nun das Erkenntnisinteresse dieser Studie, die die Perspektive betroffe-
ner Eltern auf das Kindeswohlverfahren gezielt in den Blick nimmt und danach fragt, wie
sie zum einen ihre Elternschaft und die Genese ihrer Kinder wahrnehmen und zum ande-
ren, welches Verständnis sie von Institutionen und hier speziell vom Jugendamt haben. Der
Fokus wird dann thematisch erweitert auf das Verständnis der Eltern von einer Kindes-
wohlgefährdung sowie auf deren Hilfeverständnis im Allgemeinen.
Bevor jedoch der eigentliche Forschungsprozess in das Zentrum der Betrachtung rückt,
wird zunächst im Kapitel 2 der aktuelle Diskurs bezüglich Kindeswohl und Kindeswohlge-
fährdung rekonstruiert und aus der jeweiligen Perspektive verschiedener Professionen ana-
lysiert. Daran anschließend wird im Kapitel 3 die thematisch relevante aktuelle For-
schungslage einer näheren Betrachtung unterzogen. Diese erscheint gerade hierzulande
insgesamt noch immer sehr unbefriedigend, wodurch sich der Begriff von Kindler (2008)
als „Brachlandsituation“ durchaus rechtfertigen lässt. Diese Überlegung führt schließlich
dazu, dass der Fokus hier in dem Maße erweitert wird, dass auch angrenzende Forschungs-
bereiche, wie die institutionelle Spezifik des Jugendamtes, aber auch juristische Aspekte in
die Betrachtung einbezogen werden.
Im Kapitel 4 erfolgt dann die Fokussierung auf das Forschungsdesign und die Methodolo-
gie der Studie. Dabei bestimmen schon das Erkenntnisinteresse und die Charakteristik der
Forschungsfrage die methodische Architektur der Arbeit als Forschungsprojekt innerhalb
der qualitativen Sozialforschung und hier explizit deren biographieanalytischen Zugang
zum Forschungsgegenstand, nämlich den betroffenen Eltern gefährdeter Kinder als klassi-
sche Adressaten der Kinder- und Jugendhilfe. Mit Hilfe dieses Forschungsansatzes will die
hier vorliegende Arbeit einen Beitrag zur „Kultivierung“ der beklagten „Brachlandsituati-
on“ (ebda.) leisten, indem sie den Betroffenen ein Gesicht, respektive eine Stimme ver-
leiht.
Dazu wird im Kapitel 5 die Betroffenenperspektive mit den ihr inhärenten biographischen
Orientierungsrahmen umfassend entfaltet. Hierbei werden sowohl die Modi des jeweiligen
Selbst- und Weltverständnisses, aber auch die daraus resultierenden Handlungsstrategien
herausgearbeitet, die auf der Folie der Herkunftsfamilie, der Genese der eigenen Eltern-
schaft, aber auch im Umgang mit sozialstaatlichen Institutionen und hier speziell dem Ju-
11
gendamt und dessen Helfersystem ihren Ausdruck finden und schließlich das Verständnis
der Inobhutnahme, aber auch der Kindeswohlgefährdung und nicht zuletzt die Charakteris-
tik des Hilfeverständnisses der Betroffenen maßgeblich bestimmen.
Im Kapitel 6 werden die empirischen Ergebnisse biographietheoretisch rückgebunden und
in diesem Rahmen diskutiert, ehe abschließend der Erkenntnisgewinn der Studie sowohl
für den wissenschaftlichen als auch den praxisrelevanten Fachdiskurs herausgestellt wird.
2. Diskurs Kindeswohl
2.1. Der Begriff Kindeswohl
Bevor das Forschungsvorhaben angegangen werden kann, erscheint es zunächst zwingend
notwendig, die thematisch relevanten Begriffe einer näheren Betrachtung zu unterziehen.
Dabei wird zunächst der Begriff des Kindeswohls näher skizziert, da dieser am weitesten
gefasst ist und als übergeordnete Kategorie für die Begriffe fungiert, die für die Studie Re-
levanz besitzen, nämlich den Begriff der Kindeswohlgefährdung und der Vernachlässi-
gung.
Glaubt man Hügli (2003, S. 21), so ist die Berufung auf das Wohl des Kindes das wohl am
meisten gebrauchte und am meisten missbrauchte Argument, wenn es darum geht, Eingrif-
fe von Seiten Erwachsener in das Leben eines Kindes zu rechtfertigen. Dabei lade die no-
torische Vagheit des Begriffs „Kindeswohl“ zum Missbrauch geradezu ein und er müsste
allein deshalb schon abgeschafft werden. Dettenborn (2007, S. 46 f.) folgt ebenfalls dieser
Argumentation und gibt zu bedenken, dass als Folge der Interdisziplinarität des Begriffs
jeder, der den Begriff Kindeswohl verwendet, bereits seine Kompetenzen überschreitet.
Andere Autoren bezeichnen den Begriff des Kindeswohls wegen seiner Unbestimmtheit
als „hohle Mystifikation“ (Mnookin, 1975) und „Pauschalfloskel“ (Keiser, 1998), als
„Worthülse“ (Ell, 1990), „Mogelpackung“ (Goldstein/ Freud/ Solnit, 1974), „wolkige Vo-
kabel“ (Hattenbauer, 1997) oder als „definitorische Katastrophe“ (Dettenborn, 2007).
Steindorff (1994, S. 4) vergleicht ihn mit einer „leeren Schachtel“, die mit den Wahrneh-
12
mungen und Vorurteilen der Erwachsenen gefüllt wird und Frädrich/ Jerger-Bachmann
(1995, S. 14) sehen in dem „höchst moralisch und emotional aufgeladenen“ Begriff einen
„Knoten“, der in der deutschen Kinderrechtsdiskussion schwer aufzulösen ist und mit dem
sich jeder Erwachsene leicht der Kritik entziehen kann.
Dass die Problematik des Begriffs Kindeswohl im Fachdiskurs überwiegend als Misere
empfunden wird, zeigen die unterschiedlichen Reaktionen in der Diskussion: vom diffe-
renzierten Aufzeigen der Risiken, die mit der Bestimmung des Kindeswohls verbunden
sind (Zitelmann, 2001; Münder u.a., 2006) über die Proklamation der prinzipiellen Undefi-
nierbarkeit des Begriffs Kindeswohl (Keiser, 1998; Heilmann, 1998; Köster, 1997; Su-
ess/Fegert, 1999; Palandt, 2007; Schone, 2008a) bis hin zur Forderung, den Begriff gänz-
lich abzuschaffen (Steindorff, 1994).
Stattdessen konstatiert Dettenborn (2007, S. 49) nachvollziehbar, dass diese Radikalität
überzogen erscheint, zumal sich aufgrund der derzeitigen flächendeckenden Verwendung
des Begriffs Kindeswohl im Familien- und Kindschaftsrecht dessen ernsthaft gewollte Li-
quidation derzeit verbietet und er anscheinend trotz aller Mängel und Nachteile in der
Rechtspraxis eine unentbehrliche Funktion erfüllt (vgl. auch Hügli, 2003, S. 21).
Auch verschiedene alternative Begriffsvorschläge wie das „beste Interesse des Kindes“
(Liebel, 2005, S. 42), abgeleitet vom englischen Begriff: „best interest of the child“, oder
die „für das Kind am wenigsten schädliche Alternative“ (Goldstein/Freud/Solnit, 1974, S.
105) bzw. Dettenborns (2007, S. 50) Vorschlag der „für die Persönlichkeitsentwicklung
des Kindes günstigen Relation zwischen seiner Bedürfnislage und seinen Lebensbedingun-
gen“ erscheinen hier wenig praktikabel und konnten sich bisher auch nicht durchsetzen.
Dettenborn (ebda.) plädiert deshalb auf der Suche nach einem Kompromiss vielmehr für
eine produktive und differenzierte Nutzung des Kindeswohlbegriffs, um seine Eignung als
Erkenntnisinstrument zu forcieren, seine Humanisierungspotenziale unter den jeweils kon-
kreten sozialen Bedingungen und Rechtsverhältnissen auszuschöpfen und seine Bewegung
von den Rechten Erwachsener und der Institution Familie hin zur kindlichen Individualität
mitzuvollziehen.
13
Es wäre allerdings vorschnell, in diesem Kontext allein die „Leerformel-These“ der Kriti-
ker des Begriffs aufzugreifen, da Zitelman (2000, S. 241) aus meiner Sicht zu Recht die
Ausuferung dieser Diskussion beklagt, die eher am Problem vorbeigeht und dadurch Ge-
fahr läuft, dieses zu verschärfen (vgl. hierzu auch Coester, 1983, S. 240).
So liegt für Hügli (2003, S. 21) der Vorteil der fehlenden klaren rechtlichen Normierung
des Begriffes in der Öffnung gegenüber sich wandelnden gesellschaftlichen Vorstellungen
auf der Hand und Blandow (1997, S. 555 f.) spricht sogar davon, dass die gesellschaftliche
Kontextgebundenheit des Kindeswohlbegriffs dessen Definition verbietet und stattdessen
seine Bedeutung nur in einem spezifischen Kontext diskursiv bestimmt werden kann (vgl.
auch Wiesner, 2001, S. 293 f.). Nave-Herz (2003, S. 75 ff.) zeigt in diesem Zusammen-
hang auf, dass der Begriff Kindeswohl jeweils zeitbedingte unterschiedliche konkrete In-
terpretationen erfahren hat, die in Abhängigkeit vom jeweils gerade präferierten Men-
schenbild determiniert sind, was wiederum den Schluss zulässt, dass die Relativität des
Begriffs auf seine gesamtgesellschaftliche Einbettung hindeutet. Dabei beeinflusst die Fra-
ge, wer zu diesem Diskurs zugelassen wird und nach welchen Regeln er geführt wird, des-
sen Ergebnis ganz entscheidend (vgl. auch Wyttenbach, 2003).
Trotz aller bisher ausgeführten Unzulänglichkeiten bezeichnet es Maywald (2005, S. 236
f.) als fatal, die Suche nach einer Definition des Begriffs Kindeswohl aufzugeben, weil dies
seiner Auflösung gleichkommt und insbesondere für die schutzbedürftigen Kinder nicht
absehbare Folgen nach sich zieht. Stattdessen fordert er eine positive Begriffsbestimmung
dieses unbestimmten Rechtsbegriffs, die darauf fokussiert, was Kinder für ihre Entwick-
lung brauchen und welche Bedingungen erforderlich sind, damit ein Kind sich sowohl kör-
perlich, geistig und seelisch altersangemessen und gesund entwickeln kann. Hierfür schlägt
er als Arbeitsdefinition vor: „Ein am Wohl des Kindes ausgerichtetes Handeln ist dasjeni-
ge, welches die an den Grundrechten und Grundbedürfnissen von Kindern orientierte, für
das Kind jeweils günstigste Handlungsalternative (i. S. von die am wenigsten schädigende)
wählt.“ (Maywald, 2008, S. 40) Dies bedeutet, einen Wechselbezug zwischen deskriptiven
Beschreibungen und normativen Setzungen dessen, was für eine gesunde Entwicklung von
Kindern unabdingbar ist, darzustellen (vgl. auch Seithe, 2004, S. 4). Allerdings können
diese Minimalstandards, um mit den Worten Blandows (1997, S. 556) zu sprechen, ledig-
lich eine “Geschäftsgrundlage“ für den weiter erforderlichen, weil äußerst aktuellen Dis-
14
kurs zum Thema Kindeswohl darstellen, weil es bislang noch keinen wissenschaftlichen
Konsens darüber gibt, welche Variablen als Indikatoren für das Wohlergehen von Kindern
anzusehen sind und welche Gewichtung einzelnen Indikatoren dabei zukommen (vgl. Hee-
kerens/ Ohlig, 2007, S. 336)
2.1.1. Grundbedürfnisse des Kindes
Thematisch relevante erste Versuche einer Konkretisierung basaler kindlicher Bedürfnisse2
sind in der Kindeswohl-Trilogie von Goldstein, Freud und Solnit (1974, 1982, 1988) zu
finden. Sie rechnen zu den grundlegenden Bedürfnissen Nahrung, Schutz und Pflege, intel-
lektuelle Anregungen und Hilfe beim Verstehen der Innen- und Außenwelt. Das Kind
braucht außerdem Menschen, die seine positiven Gefühle empfangen und erwidern und
sich seine negativen Äußerungen und Hassregungen gefallen lassen, denn von seiner Stel-
lung innerhalb der Familie, d.h. von dem Gefühl geschätzt, anerkannt und als vollwertiges
Familienmitglied betrachtet zu werden, hängen sein Selbstgefühl und seine Selbstsicherheit
im späteren Leben ab.
Fegert (1999, S. 326 f.) verfolgt in diesem Kontext das Ziel, die in der UN-Kinderrechts-
konvention formulierten Normen sechs großen Bedürfnisbereichen zuzuordnen: (1) Liebe,
Akzeptanz und Zuwendung (2) stabile Bindungen (3) Ernährung und Versorgung (4) Ge-
sundheit (5) Schutz vor Gefahren von materieller und sexueller Ausbeutung (6) Wissen,
Bildung und Vermittlung hinreichender Erfahrung und dabei gleichzeitig mögliche negati-
ve Folgen bei deren Nichtbeachtung zu beschreiben. Dabei erscheint mir die Einordnung
dieser Bedürfnisse in ein hierarchisches Stufenmodell, wie es Maslow (1984) mit seiner
Bedürfnis-Pyramide vorgenommen hat, durchaus sinnvoll, um den Stellenwert der einzel-
2 Der hier bereits erfolgten Fokussierung auf kindliche Bedürfnisse liegt die Klassifikation menschlicher
Bedürfnisse von Alderfer (1972) zugrunde, der die menschlichen Bedürfnisse in 3 übergeordnete Kategorien
von Basisbedürfnissen einteilt, nämlich das Bedürfnis nach Existenz, das Bedürfnis nach sozialer Bindung
und Verbundenheit sowie das Bedürfnis nach Wachstum. Diesen übergeordneten Bedürfniskategorien kön-
nen einzelne Bedürfnisse aus feiner untergliederten Zusammenstellungen, z.B. kindlicher Bedürfnisse, zuge-
ordnet werden (vgl. auch Lillig, 2006, S. 73-2). Dabei darf jedoch nicht verkannt werden, dass die Grundbe-
dürfnisse miteinander in Zusammenhang stehen und in ihrer Wirkung voneinander abhängig sind. In den
unterschiedlichen Entwicklungsstadien des Kindes kommt dabei den verschiedenen Grundbedürfnissen un-
terschiedliche Bedeutung zu und das Verhältnis von Fürsorge und Autonomie hinsichtlich deren Befriedi-
gung verändert sich im Lauf der Entwicklung des Kindes maßgeblich und bedarf der kontinuierlichen Ausba-
lancierung (vgl. Werner, 2006, 13-1).
15
nen Stufen zu verdeutlichen und auch Schmidtchens (1989) Illustration kindlicher Lebens-
bedürfnisse kann an dieser Stelle zu einem besseren Verständnis beitragen. Um im Rah-
men sozialer Arbeit die einzelnen kindlichen Bedürfnisse und das Ausmaß ihrer Erfüllung
erkennen und einschätzen zu können, wurde im DJI-Projekt „Kindeswohlgefährdung und
ASD“ ein entsprechendes Einordnungsschema zur „Erfüllung kindlicher Bedürfnisse“
entwickelt, welches auf Maslows Kategorisierung basiert (vgl. Kindler u.a., 2006, A-9).
Nach Ansicht von Lenz/Lehmkuhl (2009, S. 761) ist das Kindeswohl aus psychologischer
Sicht dann gewährleistet, wenn Entfaltungsräume gegeben sind, in denen das Kind körper-
liche, kognitive, emotionale, soziale sowie praktische Fähigkeiten, Eigenschaften und Be-
ziehungen entwickeln kann, durch die es befähigt wird, in Übereinstimmung mit der Reali-
tät und den gegebenen sozialen Werten und Normen für sein eigenes Wohlergehen zu sor-
gen. Harnach (2007, S. 189) beschreibt es als wünschenswerten Zustand des Kindes, der
körperliche, psychische und geistige Gesundheit, einen altersgemäßen oder den individuel-
len Möglichkeiten entsprechenden Entwicklungsstand, altersgemäße und bestmögliche
soziale Eingliederung sowie Chancen zur Realisierung der verfügbaren Potenziale umfasst.
Dabei muss in dieser Argumentation jedoch neben dem aktuellen Status auch der Verlauf
des Entwicklungsprozesses Beachtung finden.
Einen aktuellen Versuch, sich über ein Bedürfniskonzept dem Kindeswohlbegriff zu nä-
hern, unternehmen Brazelton und Greenspan (2002) und erarbeiten dabei folgenden Kata-
log psychosozialer kindlicher Grundbedürfnisse:
Bedürfnis nach Liebe, Geborgenheit, Zuwendung, Unterstützung und beständiger
Erziehung
Bedürfnis nach körperlicher Unversehrtheit und Sicherheit
Bedürfnis nach neuen und entwicklungsgerechten Erfahrungen
Bedürfnis nach Lob und (adäquater) Anerkennung
Bedürfnis nach Verantwortung und Selbständigkeit
Bedürfnis nach Orientierung, Strukturen, Regeln und Grenzen
Bedürfnis nach Übersicht und Zusammenhang, nach stabilen und unterstützenden
Gemeinschaften sowie nach einer sicheren Zukunft,
wobei an dieser Stelle nochmals der Hinweis erfolgt, dass diese Bedürfnisse stets im Zu-
sammenhang stehen und in ihrer Wirkung voneinander abhängig sind.
16
Balloff (2004, S. 67) geht allerdings zu Recht darüber hinaus und weist eindringlich darauf
hin, dass die Sorge für das Kindeswohl zwar als Aufgabe der Eltern definiert ist, aber die
Verwirklichung des Wohlergehens des Kindes nur dann gelingen wird, wenn politische,
kulturelle, gesellschaftliche, rechtliche und unterstützende Rahmenbedingungen geschaffen
werden, die es Eltern ermöglichen, den Bedürfnissen und Interessen der Kinder bei der
Bewältigung alltäglicher Lebensaufgaben gerecht zu werden (vgl. auch Schneider, 2002, S.
149 f.; Seithe, 2004, S. 4). Damit wird deutlich, dass die rechtlichen Vorgaben allein den
Bereich dessen, was „Kindeswohl“ ausmacht, nicht hinreichend abdecken können, sondern
das Recht lediglich einen Rahmen vorgibt, der einerseits mit Hilfe sozial- und humanwis-
senschaftlicher Expertise ausgefüllt werden muss und sich andererseits auf gesellschaftli-
che Grundwerte erstreckt, die auf konsensfähigen, geübten und mehrheitsfähigen Überzeu-
gungen beruhen (vgl. auch Coester, 1991; Meysen, 2008, S.19).
Um diesem Aspekt Rechnung zu tragen, erscheint es an dieser Stelle geboten, die ausge-
führten Bedürfniskataloge auf dem Hintergrund einer sozialisatorischen Folie von Kindheit
in der heutigen postmodernen Gesellschaft zu betrachten. Um den Rahmen der Arbeit nicht
zu sprengen, wird hier jedoch nur stichwortartig auf entsprechende Charakteristika einge-
gangen. Ein auf diesem Hintergrund aufbauendes Bild des Aufwachsens in der Postmoder-
ne zeichnet Fend (1988, S. 61 ff. und S. 295 ff.) in Anlehnung an Habermas´ These von der
Kolonialisierung der Lebenswelt (1981), wobei er dabei den antinomischen Charakter der
postmodernen Lebensbedingungen genau wie Jostock (1999, S. 84) in den Vordergrund
stellt. Fuchs-Heinritz/Krüger (1991, S. 9) stellen im Kontext der Destandardisierung von
Lebenslaufmustern fest, dass das struktur-funktionalistische Altersnormen-Modell bzw.
Statuspassagen als soziale biographisch relevante Ereignisse in diesem Konzept ihre Rolle
als „fester Fahrplan durch die Jugendphase“ zugunsten von Entsynchronisierungstenden-
zen verlieren (vgl. von Trotha, 1982; Kohli, 1988; Fend, 1988; Tillmann, 1993, S. 267;
Schröder, 1995; Kötters, 2000, S. 32).
Unter diesem Blickwinkel sind so verschiedene Aspekte wie: Kinder und Jugendliche als
Aushandlungs-Akteure der eigenen „Bastel-“ oder „Wahlbiographie“ im Zuge einer Bio-
graphisierung als Chance und zugleich auch Risiko (Beck, 1986; Heitmeyer u.a., 1995;
Kötters, 2000, S. 34 ff.; Krappmann, 2000, S. 352) zu sehen; die Zerstückelung räumlicher
und zeitlicher Strukturen im Leben der Kinder mit den Folgeerscheinungen der zu erarbei-
17
tenden Beziehungen, „Verhäuslichung“ (Zinnecker, 1990) und „Verinselung“ von Kind-
heit, der Freizeitgestaltung als „Termingeschäft“ und „Pädagogisierungstendenzen“ (Zei-
her, 1983; Witjes u.a., 1994; Büchner, 1994a, S. 16 ff.; Rolff/Zimmermann, 1997, S. 162
ff.); der Bedeutungswandel von Kindern: ökonomische Last, aber zugleich elterliches
Sinnstiftungsobjekt mit übersteigertem emotionalen Wert und dem Hang der Eltern zum
Perfektionismus (Beck/Beck-Gernsheim, 1990; Fend, 1991, S. 15 ff.; Rolff/Zimmermann,
1997, S. 39 ff.; Nave-Herz, 2003, S. 80 ff.); die These der rationalisierten, verrechtlichten
Kindheit (Jostock, 1999, S. 87 ff; vgl. auch Honig, 2000, S. 252 ff.); der Gegenwartsbezug
von Kindheit und Jugend, verbunden mit deren Kommerzialisierung und Mediatisierung
(Wilk, 1994, S. 4; Ferchhoff, 1999, S. 64, 227 ff.) und andere zu diskutieren, was jedoch
den Relevanzrahmen der Arbeit an dieser Stelle überfordern würde und daher lediglich
erwähnt wird.
Obwohl ausdrücklich auf die gesellschaftliche Ambivalenz bzw. die Doppelbödigkeit des
Individualisierungsprozesses im Zusammenhang mit dem Aufwachsen von Kindern hin-
gewiesen wurde, so greift diese, in der Sozialpädagogik oft überbetonte, kulturkritische
„Schattenseite der Medaille“ bei der Betrachtung des sozialen Wandels doch zu kurz, da
im Zusammenhang mit der Individualisierungstendenz gleichzeitig die „Vielfalt der Wahl-
und Entfaltungsmöglichkeiten“ (Jaide, 1988, S. 258) deutlich zugenommen hat, was genau
so gut als Chance oder „Sonnenseite der Medaille“ verstanden werden kann.
Rolff/Zimmermann (1997, S. 14 f.) begreifen dieses widersprüchliche Verhältnis aber ins-
gesamt als Fortschritt durch die Ausgliederung der Kinder und Jugendlichen aus der Ar-
beitswelt und zugleich Reduktion der kindlichen Eigentätigkeit aufgrund der Einengung
des kindlichen Erfahrungsraumes und konsumierender Aneignung der materiellen Kultur,
zunehmender Erfahrungen aus zweiter Hand durch mediatisierte Aneignung der symboli-
schen Kultur, zunehmender elterlicher Kontrolle sowie entmündigender Expertisierung der
Erziehung und angesichts von Zeitknappheit und Beschleunigung einem inselhaften, pano-
ramatischen Raumerleben (vgl. auch Büchner, 1994b, S. 178; Brinkhoff, 1996, S. 30 f.).
18
Im Ergebnis dieser Diskussion hat Dencik (1989, S. 176 f.) einen Aufgabenkatalog erarbei-
tet, der seiner Ansicht nach für eine unter diesen Bedingungen gelingende Sozialisation
notwendig ist:
Entwicklung sozialer Flexibilität
Entwicklung möglichst früher Reflexionsfähigkeit
Entwicklung von Integrationsfähigkeit
Entwicklung von Kommunikationsfähigkeit und der Kompetenz, eine eigene
Meinung zu bilden und diese auch zu vertreten
Entwicklung der Fähigkeit zur Selbstkontrolle und Affektkontrolle
Aufbau von Selbstvertrauen, Fähigkeit zur Eigeninitiative und Selbstrepräsen-
tanz
An dieser Stelle erscheint aber auch der Hinweis auf den immens hohen Anspruch dieser
Aufgaben an den Einzelnen zwingend notwendig, der gleichzeitig die Gefahr birgt, dass
gerade die Klientel Sozialer Arbeit ohne adäquate Hilfestellung hieran zu scheitern droht.
Nach diesem Exkurs hin zu sozialisatorischen Prämissen wird nun der Blick auf die juristi-
sche Charakterisierung des Kindeswohlbegriffs gelenkt.
2.1.2. Kindeswohl als Rechtsbegriff
Der Begriff „Kindeswohl“ bildet die zentrale Leitnorm im Bereich des Kindschafts- und
Jugendrechts und hier insbesondere im Verhältnis Eltern-Kind-Staat oder wie Jestaedt
(2008, S. 12) es formuliert, „die grundrechtsdogmatische Mitte, um die sich alle kindbezo-
genen Regelungen der Verfassung gruppieren, von der her sie ihren Grund und ihre Grenze
beziehen und deren Verwirklichung sie zu dienen bestimmt sind“. In der Rechtssprechung
der letzten Jahre erlebt der Begriff eine Hochkonjunktur und wurde zu einem leitenden
Rechtsbegriff, der internationale Geltung beansprucht. Mit ihm soll ein Perspektivenwech-
sel in der Rechtssprechung dokumentiert werden: weg von der alleinigen elterlichen Sorge
um das Kind hin zur Wahrung der Interessen des Kindes (vgl. Nave-Herz, 2003, S. 75).
19
In der juristischen Fachdiskussion herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass der Kin-
deswohlbegriff als unbestimmter Rechtsbegriff kein deskriptives Tatbestandsmerkmal,
sondern als Herzstück einer Generalklausel (§ 1666 Abs. 1 BGB) (wert-) ausfüllungsbe-
dürftig und damit ein Auftrag zur (familien-)richterlichen Rechtskonkretisierung, also ein
Auftrag zur schöpferischen Umsetzung des Normzwecks für den Einzelfall ist (vgl. Simi-
tis, 1982, S. 194 f.; Nave-Herz, 2003, S. 75 f.; Staudinger/Coester, 2009, § 1666 Rn. 58,
66, 67; Jestaedt, 2008, S. 12). In der Argumentation von Staudinger/Coester (2009, § 1666
Rn. 66 ff.) fungiert er dabei als heuristisches Prinzip, das in Gestalt von rechtlichen und
außerrechtlichen Kindeswohlkriterien die zur Bildung der (entscheidungstragenden) Fall-
norm erforderlichen einzelfallbezogenen Bausteine liefert, worin Goldstein u.a. (1974, S.
103) jedoch eine Verstaatlichung, Verrechtlichung und uneingeschränkte Justiziabilität des
Kindeswohlbegriffes ausmachen. Mit der von Zitelmann (2001, S. 122 ff.) beschriebenen
sozialwissenschaftlichen Wende des Familienrechts verband sich dabei zunächst die Hoff-
nung, mit Hilfe objektiver und wissenschaftlich erhärteter, ideologiefreier Ergebnisse der
empirischen Sozialwissenschaft an eine von Vorurteilen unbelastete, exakte Diagnose von
Problemen zu kommen (vgl. auch Simitis, 1994, S. 435 ff.). Allerdings erwies sich diese
Hoffnung als trügerisch und birgt nun ihrerseits die Gefahr, dass sich an dieser Stelle ins-
besondere die Konjunktur bestimmter „Schulen“ und Paradigmen des Wissenschaftsmark-
tes niederschlägt (vgl. hierzu auch Koechel, 1995, S. 135 ff.). Fieseler (2004a, S. 6) weist
an dieser Stelle jedoch ausdrücklich darauf hin, dass gerade im Hinblick auf die Konkreti-
sierung des Begriffs im interdisziplinären Diskurs insbesondere sozialpädagogische Kom-
petenz gefragt ist, so dass in seinen Augen die Sozialpädagogik maßgeblich an der An-
wendungspraxis und Entwicklung des Kindeswohlbegriffs beteiligt ist.
Staudinger/Coester (2009, § 1666 Rn. 65 f.) sehen den Kindeswohlbegriff in dreierlei
Funktionen: als Eingriffslegitimation in das elterliche Erziehungsprimat, als Entschei-
dungsmaßstab für den Familienrichter im Kontext der Auswahl notwendiger Maßnahmen
zum Schutz des Kindes und als verfahrensleitendes Prinzip (vgl. auch Balloff, 2004, S. 64;
Schone, 2008a, S. 26). Dabei enthält das Kindeswohlprinzip zwei Grundwertungen: zum
einen den Vorrang der Kindesinteressen vor allen anderen beteiligten Interessen als „Leit-
und Sperrfunktion“ und zum anderen den Vorrang der Einzelfallgerechtigkeit vor allge-
meinen Regeln, wobei an dieser Stelle die bereits beschriebene und oftmals auch beklagte
fehlende allgemeingültige Definition von Nutzen ist, um den Begriff offen für eine dem
20
Einzelfall gerecht werdende Auslegung zu halten. Allerdings wertet Mnookin (1975) den
daraus resultierenden sehr hohen Auslegungsspielraum als offenkundigen Nachteil dieses
Charakteristikums, der ggf. Einzelfallentscheidungen als ungerecht und nicht hinreichend
vorhersehbar erscheinen lässt und Goldstein u.a. (1974, S. 100) sprechen davon, dass der
hohe Individualitätsgrad jedes einzelnen Falles den Gesetzgeber praktisch zu einer Ab-
straktion zwingt, die keinen anderen Ausweg zulässt als die partielle Substitution legislati-
ver - durch richterliche Aktivität.
Dabei weist der Kindeswohlbegriff schon per definitionem über den juristischen Bereich
hinaus, da in diesem Kontext Kindeswohlkriterien, die innerhalb und außerhalb des Rechts
angesiedelt sind, als Bausteine der richterlichen Normkonkretisierung fungieren (vgl. auch
Simitis, 1994, S. 431 ff.; Zitelmann, 2000 , S. 241 ff.). Auf rechtlicher Ebene ist zunächst
die entscheidende Blickrichtung vorgegeben, nämlich dass nur das Wohl des Kindes staat-
liche Eingriffe in das elterliche Erziehungsprimat legitimiert. Staudinger/Coester (2009, §
1666 Rn. 69) weisen an dieser Stelle ausdrücklich darauf hin, dass hier das Gesamtwohl
des Kindes im Fokus steht und sich dieses auch aus seiner Eingebundenheit und Angewie-
senheit auf familiäre Gemeinschaft definiert. An dieser Stelle zeigt sich das Spannungsver-
hältnis zwischen Kinder- und Elternrechten in aller Deutlichkeit.
Hinsichtlich der inhaltlichen Kriterien des Kindeswohls nehmen Staudinger/Coester (2009,
§ 1666 Rn. 70) die Unterteilung in eine körperliche, geistige und seelische Komponente
vor, wobei das seelische Wohl unter dem Eindruck wissenschaftlicher Erkenntnisse der
Kindesentwicklung erst in neuerer Zeit zunehmend an Bedeutung gewann (vgl. Simitis
u.a., 1979) und durch das SorgeRG 1979 nachträglich eingefügt wurde (vgl. auch Münch-
Komm-Olzen, 2012, § 1666 Rn. 42). In diesem Kontext wendet Seithe (2001, S. 115) je-
doch zu Recht ein, dass sich diese Bereiche in der Lebens- und Entwicklungsrealität des
Kindes kaum voneinander abgrenzen lassen, sondern sich vielmehr unmittelbar bedingen
und Auswirkungen aufeinander haben (vgl. auch Palandt, 2014, § 1666 Rn. 7).
Als entscheidungsleitendes rechtliches Kriterium fungiert darüber hinaus das im Grundge-
setz (GG) verankerte Erziehungsziel der selbständigen und eigenverantwortlichen, zu sozi-
alem Zusammenleben fähigen Persönlichkeit (vgl. auch Münch-Komm-Olzen, 2012, §
1666 Rn. 43; § 1 Abs. 1 SGB VIII) und die in der Fachdiskussion als rechtlich abgesichert
21
geltenden Prinzipien von Kontinuität und Stabilität der Betreuungs- und Erziehungsver-
hältnisse, die Beachtlichkeit innerer Bindungen des Kindes, seines subjektiven Willens
sowie des familiären Gesamtzusammenhangs des Kindesschutzes (vgl. Staudinger/Coester,
2009 , § 1666 Rn. 70 ff.; Münch-Komm-Olzen, 2012, § 1666 Rn. 43). In dieser Argumen-
tationslinie weisen sowohl das Bundesverfassungsgericht als auch Olzen ausdrücklich da-
rauf hin, dass sich ein Kind grundsätzlich in die Familie einfügen muss und den Eltern ein
erheblicher Gestaltungsspielraum hinsichtlich ihrer Lebensverhältnisse zusteht, so dass
dem Kind nicht mit Berufung auf sein Wohl „bessere Eltern“ verschafft werden können
(vgl. auch BVerfGE 60, 79, 94; Münch-Komm-Olzen, 2012, § 1666, Rn. 44; Münning,
1992, S. 236).
Im Diskurs um die Operationalisierung des Kindeswohlbegriffes betont Maywald (2005, S.
240 ff.), dass jedes Kind einen Anspruch auf die Respektierung und möglichst umfassende
Befriedigung seiner grundlegenden Bedürfnisse hat, welcher in der rechtlichen Normie-
rung der UN-Kinderrechtskonvention (vgl. BfFJ, 1993) verankert ist und so etwas wie ein
Grundgesetz für alle Kinder dieser Welt darstellt. Mit ihrer Ratifizierung hat die BRD die
Konvention zwar 1992 offiziell anerkannt, dies aber unter dem Vorbehalt, dass sich hieraus
keine subjektiven Rechtsansprüche für das einzelne Kind ergeben, die dann auch im inner-
staatlichen Recht geltend gemacht werden können, so dass die Konvention hierzulande
lediglich Empfehlungscharakter besitzt oder kritisch formuliert, nur eine Alibifunktion
innehat.
Bei einem Blick in unsere Verfassung fällt auf, dass man den Begriff Kindeswohl dort ver-
geblich sucht. Aber trotz der Tatsache, dass Kinder in unserer Verfassung nicht explizit als
Träger eigener Rechte vorkommen, sondern vielmehr im Art. 6 GG als Anhängsel ihrer
Eltern behandelt werden, ist ein Perspektivenwechsel, der Kinder nicht mehr als Objekte
der Erwachsenen, sondern als Subjekte und damit als Träger eigener Rechte betrachtet,
nicht mehr zu übersehen. So hat das Bundesverfassungsgericht bereits 1968 in einem
wegweisenden Urteil klargestellt, dass das Kind „ein Wesen mit eigener Menschenwürde
und einem eigenen Recht auf Entfaltung seiner Persönlichkeit i.S.d. Art. 1 Abs. 1 und Art.
2 Abs. 1 GG ist.“ (BVerfG 24, 119, 144) Jestaedt (2008, S. 12 f.) konkretisiert dies weiter,
indem er das Wohl des Kindes als spezifische Adaption der in Art. 1 Abs. 1 GG verbürgten
Menschenwürde begreift, die angesichts der Sondersituation des Kindes mit seiner beson-
22
deren Schutzbedürftigkeit einer alters- und entwicklungsbedingten Freiheits- und Persön-
lichkeitsentfaltungshilfe bedarf und den rechtlichen Anknüpfungspunkt für den besonderen
Anspruch auf Achtung, Schutz und Förderung des in wesentlichen Hinsichten selbstbe-
stimmungsunfähigen Kindes in seiner Subjektivität und Personalität darstellt (vgl. auch
Fritzsche, 2004, S. 121 ff.).
Schmid/Meysen (2006, S. 2-2) erweitern und ergänzen diesen Gedanken und sehen das
Kind als Grundrechtsträger mit eigener Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG), mit
dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) und dem
Recht auf Entfaltung seiner Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG), wel-
ches gleichzeitig den Schutz seines Eigentums und Vermögens genießt (Art. 14 Abs. 1
GG). Diese Grundrechte stellen die zentralen Bezugspunkte für eine Definition des Kin-
deswohls dar und beinhalten gleichermaßen einen Gegenwarts- wie Zukunftsbezug, indem
sie sowohl auf Förderung als auch auf Schutz abstellen. Sie formulieren damit sowohl die
Rechtspositionen des Kindes zum Staat als auch gegenüber den Eltern. Schmid/Meysen
(2006, S. 2-2) weisen in diesem Kontext darauf hin, dass es dabei nicht um eine an ein be-
stimmtes Alter geknüpfte Grundrechtsmündigkeit des Kindes geht, sondern lediglich um
die Grundrechtsträgerschaft, die jedem Kind, egal welchen Alters, zusteht.
Der beschriebene Perspektivenwechsel zugunsten des Kindes fand seinen Ausdruck in der
umfassenden Sorgerechtsreform von 1980, mit der der Übergang von der „elterlichen Ge-
walt“ hin zur „elterlichen Sorge“ vollzogen wurde (vgl. auch Baviera, 2003, S. 143 f.).
Dabei legt der in das BGB eingefügte § 1626 Abs. 2 die Mitsprache von Kindern und Ju-
gendlichen an allen sie betreffenden Entscheidungen entsprechend ihres Entwicklungs-
standes fest. Auch das im Jahr 1990 in Kraft getretene Kinder- und Jugendhilfegesetz
(KJHG-SGB VIII) benennt Kinder ausdrücklich als Träger eigener Rechte und die Kind-
schaftsrechtsreform von 1998 stellt eheliche und nichteheliche Kinder gleich, räumt dem
Kind den Umgang mit beiden Elternteilen ein und stellt ihm in besonders konfliktreichen
gerichtlichen Kinderschutzverfahren (wie den meisten der hier untersuchten Fälle) einen
eigenen Verfahrenspfleger als „Anwalt des Kindes“ zur Seite. Nach dem 2000 in Kraft
getretenen Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung haben Kinder hierzulande nun
nach der Neufassung des § 1631 Abs. 2 BGB auch ein Recht auf gewaltfreie Erziehung.
23
Diese Debatte würde allerdings zu kurz greifen, wenn man diesen offensichtlichen Wandel
im Verhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern mit einer Einebnung der Unterschiede
zwischen beiden Gruppen gleichsetzen würde. Trotz der Tatsache, dass an die Stelle der
Unterordnung des Kindes unter den Willen und die Macht der Eltern eine Beziehung auf
der Basis gleicher Grundrechte tritt, in der die Würde und die Rechte des Kindes neben
denen der Erwachsenen einen selbstverständlichen Platz einnehmen, wäre es fatal, Kinder
als kleine Erwachsene zu begreifen. Vielmehr bedürfen sie eines altersangemessenen
Schutzes und der Fürsorge, damit im Schonraum der Kindheit Verantwortlichkeit wachsen
und eingeübt werden kann. In diesem Spannungsverhältnis zwischen Gleichheit einerseits,
weil Kinder genauso Menschen sind und der Differenz andererseits, weil sie altersbedingte
spezifische Bedürfnisse haben, liegt nach Ansicht von Maywald (2005, S. 242), dem ich
mich anschließe, das besondere Verhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern. Und es ist
auch unbestritten, dass im Zweifel Eltern über die Belange ihrer Kinder entscheiden, falls
man sich trotz entsprechender Bemühungen nicht einvernehmlich einigen kann.
Dettenborn (2007) unterscheidet beim Kindeswohlbegriff, der im Kindschaftsrecht allge-
genwärtig ist, vier Gebrauchskontexte: nämlich eine
Bestvariante am Beispiel des § 1671 Abs. 2 (2) BGB (die Sorgerechtsübertragung
soll „dem Wohl des Kindes am besten“ entsprechen)
Genugvariante am Beispiel der § 1741 Abs. 1 BGB sowie § 27 SGB VIII („wenn
dies zum Wohle des Kindes erforderlich ist“)
den Maßstab zur Gefährdungsabwehr am Beispiel der §§ 1666 Abs. 1 (im Falle ei-
ner Gefährdung des Kindeswohls „hat das Gericht die Maßnahmen zu treffen zur
Abwendung der Gefahr“) und 1632 Abs. 4 BGB (die Herausgabe des Kindes aus
einer Pflegefamilie kann das Gericht abwehren, „wenn und solange das Kindes-
wohl durch die Wegnahme gefährdet würde“) sowie § 42 SGB VIII (das Jugendamt
ist zur Inobhutnahme verpflichtet, „wenn eine dringende Gefahr für das Wohl des
Kindes dies erfordert“)
das Kindeswohl als übergreifendes Kriterium im Sinne einer Metafunktion am Bei-
spiel der §§ 1697a und 1696 BGB (das Gericht hat Anordnungen zu ändern, „wenn
dies aus triftigen, das Wohl des Kindes nachhaltig berührenden Gründen angezeigt
ist“)
24
Obwohl eng an das Vorhandensein einer funktionierenden Familie gekoppelt, kennt das
deutsche Recht eine dem britischen Recht vergleichbare „Welfare Checklist“, die eine po-
sitive Definition des Kindeswohls vornimmt, nicht (vgl. Staudinger-Salgo, 2007 § 1631,
Rn. 10; White/Carr/Lowe, 1995, S. 11 ff.). Seithe (2001, S. 89 ff.) erstellt jedoch in Anleh-
nung an die kindlichen Grundbedürfnisse (siehe Kapitel 2.1.1.) einen Katalog von Bedin-
gungen auf, die für die Gewährleistung des Kindeswohls notwendig sind. Diese Aufstel-
lung erhebt zwar keinen Anspruch auf Vollständigkeit, aber verdeutlicht anschaulich, wel-
che Qualität der Grundversorgung ein Kind in unserer Gesellschaft beanspruchen kann:
Bedingungen für das körperliche Wohl
ausreichende und ausreichend gute Ernährung
ausreichende körperliche Pflege
ausreichende witterungs-, alters- und geschlechtsangemessene Kleidung
ausreichende medizinische Versorgung
körperliche Unversehrtheit
geschützter Raum in der Wohnung, Platz zum Spielen, Möglichkeiten für Rückzug
und Schlaf
Bewegungs- und Spielmöglichkeiten außerhalb der Wohnung
Bedingungen für das geistige Wohl
Schaffung eines anregenden Umfeldes
Förderung und Unterstützung
Spielmöglichkeiten und Anregung zum Spiel
Stabilität und Orientierung durch geordnete Abläufe, funktionale Regeln
verbale Ansprache
Wahl einer angemessenen Schule und Unterstützung beim Lernen
Unterstützung bei der Berufswahl
Bedingungen für das seelische (soziale, emotionale) Wohl
eine positive Beziehung zwischen Eltern und Kind
unterstützendes, akzeptierendes Geschwistersystem
verlässliche Sicherheit, Geborgenheit und Schaffung von „Urvertrauen“
25
Schutz und Aufsicht
offene Kommunikation und konstruktiver Umgang mit Konflikten
Verständnis, Trost und Anteilnahme zeigen
Kontakt mit anderen Kindern/Erwachsenen zulassen und fördern
Setzung von Wertmaßstäben und Vorbildfunktion der Eltern
Gewährung altersangemessener Mitbestimmung und Achtung der kindlichen Auto-
nomiebedürfnisse
Dabei darf allerdings das (gerade in dieser Arbeit offen zutage tretende) Risiko nicht außer
acht gelassen werden, dass hierbei mittelschichtorientierte Moral- und Wertvorstellungen
vor allem an ökonomisch/sozial deklassierte Familien angelegt werden, die dann leicht in
entsprechende Defizitzuschreibungen münden können, welche in der Folge Gefahr laufen,
als Erziehungsbedarf markiert und entsprechend diszipliniert bzw. sanktioniert zu werden.
(vgl. Zitelmann, 2001, S. 133; Fieseler/Herborth, 2001, S. 192).
Abschließend ist noch auszuführen, dass im Fachdiskurs weitgehend Einigkeit darüber
besteht, dass der Wille des Kindes zwar zentraler und integrierter Bestandteil des Kindes-
wohls ist, allerdings das Kindeswohl nicht im Kindeswillen aufgeht3 (vgl. Maywald, 2005,
S. 236; Künzli/ Kaufmann-Hayoz/ Bertschy, 2003, S. 199; Coester, 1983; Zitelmann,
2001; Dettenborn, 2007, S. 80 ff.; Köster, 1997, S. 131). Für Jaun (2003, S. 193) ist das
Recht des Kindes auf Partizipation als Ausdruck seines eigenen Willens „kein Akt des
Goodwills von Erwachsenen, hat nichts mit Wünsche-Erfüllen zum Tag des Kindes zu tun,
sondern ist ein Grundrecht, auf dessen Erfüllung Kinder einen Anspruch haben.“ (vgl. auch
Zitelmann, 2001, S. 145 ff.). Dettenborn (2007, S. 81) formuliert in diesem Kontext tref-
fend, dass als Prinzip zur Sicherung des Kindeswohls gelten muss: Soviel Akzeptanz des
Kindeswillens wie möglich, soviel staatlich reglementierender Eingriff wie nötig. Nach-
dem allerdings in Untersuchungen von Fegert u.a. (1999 und 2001) fast alle befragten Kin-
der beklagten, dass die Helfer für sie zwar Gutes wollten, aber im Sinne von Advokaten
über ihren Kopf hinweg entschieden, befragte Lüscher (2003, S. 85 ff.) Kinder (vielleicht
sogar erstmalig) am Rande einer Fachtagung zur Kindeswohlproblematik, was sie unter
3 zu den Willenstheorien des Familienrechts vgl. Coester (1983), Moritz (1989) sowie Klußmann/ Stötzel
(1995). Zitelmann (2001) hat mit ihrer Dissertation eine umfassende Untersuchung zum Spannungsverhältnis
von Kindeswohl und Kindeswille im Rahmen der Verfahrenspflegschaft für Kinder gemäß § 50 FGG vorge-
legt.
26
Kindeswohl verstehen und ließ diese Vorstellungen in die anschließende Fachdiskussion
einfließen. Und Liebel (2005, S. 42) fasst diese Argumentationslinie noch einmal zusam-
men, indem er sagt: „Gerade mit Blick auf Kinder und ihrem noch immer marginalen Sta-
tus in der Gesellschaft ist es wichtig, zu betonen, dass sie selbst die Möglichkeit haben
müssen, zu definieren und darauf Einfluss zu nehmen, was ihrem „Wohl“ dienlich ist.“
2.2. Kindeswohlgefährdung
Nachdem der Kindeswohlbegriff ausführlich diskutiert wurde und das ihm inhärente elter-
liche Erziehungsprimat bereits an mehreren Stellen angeklungen ist, wird nun auf den für
diese Arbeit maßgeblichen Begriff der Kindeswohlgefährdung fokussiert. Der familien-
bzw. jugendhilferechtliche Gefährdungsbegriff unterscheidet sich vom klinisch gebräuchli-
chen Gefährdungsbegriff, von dem bereits dann gesprochen wird, wenn Kinder bzw. Ju-
gendliche vermeidbaren Belastungen ausgesetzt sind oder Entwicklungsverläufe zeigen,
die mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit negativer Entwicklungsergebnisse einhergehen,
durch eine deutlich engere Fassung (vgl. Kindler, 2009, S. 765). An dieser Stelle weist
Fegert (1997, S.15) zu Recht darauf hin, dass hier die jeweiligen Kriterien des Kindes-
wohls nicht unter dem Blickwinkel der Optimalität, sondern unter dem Fokus des Noch-
hinreichens diskutiert werden müssen. Dabei werden in jeder Definition von Kindeswohl-
gefährdung Beobachtungen und Bewertungen miteinander verknüpft, so dass eine soziale
Sinnkonstruktion entsteht, die ähnlich wie beim Kindeswohlbegriff verschiedenen Dimen-
sionen unterliegt.
Die Gefährdungsgrenze im rechtlichen Sinne ist das zentrale Tatbestandmerkmal des §
1666 BGB und bezeichnet zugleich die Demarkationslinie zwischen grundgesetzlich ver-
bürgtem elterlichen Erziehungsprimat und staatlichem Wächteramt, so die treffende For-
mulierung von Coester (Staudinger/Coester, 2009, § 1666 Rn. 81; vgl. auch Maywald,
2005, S. 236). In diesem Kontext macht Zenz (1979, S. 307) auf den unverkennbaren
Kompromisscharakter des geltenden Rechts aufmerksam, wonach das Recht zwar das Kind
schützen, aber den Eltern „nicht weh tun“ will. Hier gilt es, eine „delikate Balance“ zu hal-
ten zwischen konkreten Kindesinteressen, dem Elternrecht und Gesellschaftsinteressen
(vgl. Staudinger/Coester, 2009, § 1666 Rn. 81).
27
Bereits 1956 hat die Rechtssprechung des Bundesgerichtshofes den Begriff der Kindes-
wohlgefährdung, der im § 1666 Abs. 1 BGB verankert ist, konkretisiert und versteht da-
runter „eine gegenwärtige, in einem solchen Maße vorhandene Gefahr, dass sich bei der
weiteren Entwicklung eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen
lässt.“ Aus dieser Definition ergeben sich drei Kategorien, die für die Feststellung einer
Kindeswohlgefährdung gleichzeitig erfüllt sein müssen:
die gegenwärtig vorhandene Gefahr
eine Erheblichkeit der Schädigung sowie
die Sicherheit der Prognose (vgl. BGH, FamRZ 1956, 350).
Bei der Frage nach der gegenwärtig vorhandenen Gefahr ist der Begriff nicht auf Sub-
sumtion angelegt, sondern die Betrachtung orientiert sich dabei vielmehr strikt an der
Konkretisierung der Situation des einzelnen Kindes oder Jugendlichen und hier an der Be-
friedigung seiner Bedürfnisse nach Fürsorge, Schutz und Erziehung, so dass die Relativität
des Gefährdungsbegriffs hier ihren Ausdruck findet (vgl. Coester, 2008, S. 5). Auf dieser
Folie ist auch die Feststellung von Schone u.a. (1997, S. 163 ff.) nachvollziehbar, die die
selbst in den einschlägigen familienrechtlichen Entscheidungen der Gerichte fehlende in-
haltliche Kriterienbildung beklagen und nur minimale Kriterien für die Basisfürsorge im
Bereich des körperlichen Kindeswohls, nämlich die Sicherstellung von Ernährung, Hygie-
ne und ärztlicher Versorgung finden konnten, während unter den veröffentlichten gerichtli-
chen Entscheidungen für den Bereich des geistigen oder seelischen Kindeswohls keinerlei
übereinstimmende Kriterien ersichtlich waren, da sie sich vollends am Einzelfall orientier-
ten. Als Indizien gelten hier – bei aller Vorsicht wegen der geringen Anzahl der untersuch-
ten Fälle – jedoch eine nicht altersgerechte Sprache sowie Verhaltensauffälligkeiten im
weitesten Sinne.
Die Annahme einer gegenwärtigen Gefahr kann sich dabei aus einem feststellbaren elterli-
chen Unterlassen bzw. Handeln, den konkret vorfindbaren Lebensumständen eines Kindes
oder aus Aspekten der Entwicklung des Kindes ergeben, zunächst einmal unabhängig vom
elterlichen Verhalten. In den meisten Fällen wird es jedoch darauf ankommen, die Lebens-
umstände bzw. das Tun oder Unterlassen der Eltern mit den Bedürfnissen eines konkreten
Kindes in Beziehung zu setzen. Weil jedoch die Bedürfnisbefriedigung des Kindes oder
Jugendlichen hier maßgeblich ist, muss dieses elterliche Handeln oder Unterlassen zwar
28
nicht mit dem gleichen, sehr hohen Beweisstandard nachgewiesen werden, aber zur An-
nahme einer Gefahr für das Kindeswohl ist zumindest ein begründeter erheblicher Ver-
dacht notwendig, bloße Vermutungen reichen nicht aus (vgl. Schmid/Meysen, 2006, 2-5;
Staudinger/Coester, 2009, § 1666 Rn. 82 - 83).
Bezüglich der Erheblichkeit einer drohenden oder bereits eingetretenen Schädigung erfolgt
der explizite Hinweis von Schmid/Meysen (2006, 2-6), dass hier nicht jede Entwicklungs-
beeinträchtigung bzw. jede elterliche Verletzung kindlicher Interessen unter Kindeswohl-
gefährdung subsumiert werden kann, sondern der Gesetzgeber auf die Nachhaltigkeit und
Ernsthaftigkeit der Gefährdung abstellt, um dem im Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG festgeschrie-
benen Vorrang elterlicher Sorge vor staatlicher Einmischung gerecht zu werden. Kinder
und Jugendliche müssen daher aufgrund ihrer Eingebundenheit in das familiäre Gesamt-
system wirkliche und vermeintliche Nachteile durch Entscheidungen, Verhaltensweisen
oder Lebenslagen ihrer Eltern oder Umwelt in Kauf nehmen, sofern sie dadurch in ihrer
Entwicklung nicht erheblich bedroht werden (vgl. auch BVerfGE 60, 79, 94; Münch-
Komm-Olzen, 2012, § 1666 Rn. 44 – 46; Staudinger/Coester, 2009, § 1666 Rn. 84 – 85;
Goldberg, 2009, S. 137). Coester (2008, S. 4 ff.) findet hierfür die treffende Formulierung,
nämlich dass der Staat dies nicht tut, um „das Beste“ für das Kind zu gewährleisten, son-
dern es nur vor dem „Schlimmsten“ zu schützen. Allerdings sieht er auch die Schwierigkeit
dieser Grenzziehung in der Einzelfallentscheidung, da hierbei auch subjektive Vorver-
ständnisse sowie dem gesellschaftlichen Wandel unterliegende Normen und Werte eine
Rolle spielen und Schone (2007, S. 37) bringt das Dilemma auf den Punkt, indem er kri-
tisch hinterfragt: „Wo schlägt überstrenges Erziehungsverhalten in körperliche und seeli-
sche Misshandlung um, wo wird eine sehr ärmliche Versorgung in materieller und emotio-
naler Hinsicht zur Vernachlässigung?“
Als drittes Kriterium für die Feststellung einer Kindeswohlgefährdung ist die Sicherheit
der Vorhersage einer gefährdungsbedingten erheblichen Beeinträchtigung der kindlichen
Entwicklung für die Zukunft bedeutsam. Bei einer bereits eingetretenen Schädigung des
Kindes bei weiter bestehender Gefährdungssituation erübrigt sich dieses. Ansonsten wird
auf prognostische Bewertungen abgestellt, um der vielfach kumulativen oder verdeckten
Wirkungsweise von Gefährdungen und daraus resultierenden „Schläfereffekten“ als zeit-
lich verzögert auftretende Beeinträchtigungen im kindlichen Entwicklungsverlauf Rech-
29
nung zu tragen (vgl. Schmid/Meysen, 2006, S. 2-6). Gerade bei chronischen Formen von
Vernachlässigung, die diese Arbeit in den Blick nimmt, darf dieser Aspekt keinesfalls
unterschätzt werden. An dieser Stelle sei jedoch der für mich berechtigte Einwand von
Coester (2008, S. 3) gestattet, dass das zentrale Anliegen des § 1666 BGB in erster Linie
der Schutz gefährdeter Kinder ist und nicht der Schutz der Eltern und dass „kein Blut unter
der Tür durchfließen muss, bevor eingeschritten werden kann.“
Durch das am 12.07.2008 in Kraft getretene „Gesetz zur Erleichterung familiengerichtli-
cher Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls“ (BGBl. 1, S. 1188 ff.) reformierte der
Gesetzgeber den § 1666 BGB mit dem Ziel, durch den Abbau von Tatbestandshürden ein
frühzeitiges Einschreiten der Familiengerichte zu ermöglichen und Kausalitätsprobleme
zwischen Elternverhalten und Kindeswohlgefährdung zu vermeiden. Zu diesem Zweck
wurde das Merkmal des „elterlichen Erziehungsversagens“ aus dem Tatbestand der Norm
gestrichen und zusätzlich wurde die Vorschrift um einen nicht abschließenden Katalog
möglicher Maßnahmen, die vom Familiengericht zur Beseitigung der Kindeswohlgefähr-
dung ergriffen werden können, ergänzt (vgl. Olzen, 2010, S. 1). Keine Veränderung erfuhr
jedoch das Gefahrabwendungsprimat der Eltern, welches ein negatives Tatbestandsmerk-
mal darstellt und dem Familiengericht erst die Möglichkeit des Eingriffs eröffnet, nachdem
es sich davon überzeugt hat, dass die Eltern nicht gewillt oder in der Lage sind, die Gefahr
abzuwenden. (§ 1666 Abs. 1 Satz 1 BGB). Coester (2008, S. 5) beklagt in diesem Kontext
jedoch zu Recht die Schwierigkeit einer solchen Prüfung durch den Familienrichter, der im
Rahmen seiner juristischen Ausbildung noch immer zu wenig auf diesen Tätigkeitsbereich
vorbereitet wird, aber trotzdem in der elterlichen Anhörung entscheiden muss, ob die El-
tern sich ernsthaft um die Beseitigung der Gefährdungslage bemühen und dazu auch in der
Lage sind oder ob es sich um bloße Lippenbekenntnisse handelt (vgl. Staudinger/ Coester,
2009, § 1666 Rn. 169).
Das Kinderschutz-Zentrum Berlin (2009, S. 32) schlägt auf der Grundlage der bisherigen
Diskussion eine Arbeitsdefinition für Kindeswohlgefährdung vor, die mir insbesondere für
sozialpädagogische Handlungsfelder hilfreich erscheint.
Kindeswohlgefährdung ist demnach:
„Ein das Wohl und die Rechte des Kindes (nach Maßgabe gesellschaftlich gelten-
der Normen und begründeter professioneller Einschätzung)
30
beeinträchtigendes Verhalten oder Handeln bzw. das Unterlassen einer angemesse-
nen Sorge
durch Eltern oder andere Personen
in Familien und Institutionen,
das zu nicht-zufälligen Verletzungen,
zu körperlichen und seelischen Schädigungen
und/oder zu Entwicklungsbeeinträchtigungen
eines Kindes führen kann,
was die Hilfe und evtl. das Eingreifen
von Jugendhilfe-Einrichtungen und Familiengerichten
in die Rechte der Inhaber der elterlichen Sorge
im Interesse der Sicherung der Bedürfnisse und des Wohls eines Kindes notwendig
machen kann.“
Dabei wird schnell klar, dass es sich bei Kindeswohlgefährdung um ein vielgestaltiges,
multifaktorielles, kontextuelles Mehrpersonen-Geschehen handelt, welches sich zudem
auch laufend verändert.
Um in diesem Kontext einerseits zu verdeutlichen, dass Gefährdungen entsprechend den
unterschiedlichen Inhalten der elterlichen Sorge in unterschiedlichsten Bereichen der kind-
lichen Existenz zutage treten können und andererseits eine Orientierungshilfe zu geben,
entwickelte Coester eine Vielzahl unterschiedlicher Fallgruppen der Kindeswohlgefähr-
dung, wie Gesundheitsgefährdungen mit den Untergruppen Kindesmisshandlung, Ausbeu-
tung der Arbeitsleistung, Behandlungsverweigerung, Schwangerschaftsabbruch, AIDS-
Probleme, Vernachlässigung, Overprotection und Gefährdung der Wertbildung. Als weite-
re Fallgruppen benennt er Störungen der Bindungs- und Erziehungskontinuität, Beschrän-
kungen von Entwicklungs- und Entfaltungsmöglichkeiten, Beschneidung des sozialen
Kontakts, Adoleszenzkonflikte sowie Konflikte in Familien mit abweichendem kulturellen
Hintergrund (vgl. Staudinger/ Coester, 2009, § 1666 Rn. 96 – 165).
Auch in den Augen von Münder u.a. (2000, S. 45 f.) handelt es sich bei dem Begriff der
Kindeswohlgefährdung um eine Sammelkategorie, unter deren „Begriffsdach“ sich eine
Spannweite unterschiedlicher kindeswohlgefährdender Aspekte und Handlungen verbirgt.
Für ihr Forschungsprojekt, welches dieser Studie in vielen Bereichen als Grundlage dient,
31
erwiesen sich die Fallgruppen im Gesetzestext des § 1666 BGB jedoch als zu grob oder
unzutreffend, zumal sie verschiedene Ebenen der Gefährdung ansprechen, so dass die For-
schergruppe selbst eine neue Kategorisierung vornimmt. Hierbei lehnen sich Münder u.a.
an Simitis u.a. (1979) an, der zwischen Kindesmisshandlung, Vernachlässigung, Wechsel
der Bezugsperson, Adoleszenzkonflikten und Elternkonflikten unterschied. Diese Katego-
risierung wurde dann weiter spezifiziert und in:
Vernachlässigung
körperliche Kindesmisshandlung
seelische Kindesmisshandlung
sexueller Missbrauch
Erwachsenenkonflikte ums Kind und
Autonomiekonflikte
unterteilt, wobei dieses Kategoriensystem auch für diese Arbeit als geeignet erscheint und
daher den weiteren Ausführungen zugrunde gelegt wird. Für die weitere Untersuchung
wäre es jedoch zu komplex, Fälle aus allen Fallgruppen der näheren Betrachtung zu unter-
ziehen, da es sich hierbei um ganz unterschiedliche Phänomene mit jeweils spezifischer
Dynamik handelt. Bei der weiteren Fokussierung wird daher auf die Vernachlässigung als
spezielle Form der Kindeswohlgefährdung abgestellt, weil es sich hierbei nach den Er-
kenntnissen von Münder u.a. (2000, S. 99 ff.) um die am häufigsten vorkommende Ge-
fährdungslage von Kindern und Jugendlichen handelt, die nach Aussagen der Fachkräfte in
den untersuchten Jugendämtern/ASD 65,1% der Gefährdungslagen von Kindern und Ju-
gendlichen ausmacht (Mehrfachnennungen waren hier möglich). Die seit 2012 eingeführ-
ten detaillierten statistischen Erhebungen zur Einschätzung einer Kindeswohlgefährdung
bestätigen dies mit einem Anteil der Vernachlässigung im Jahr 2014 von 50,5% an allen
akuten Gefährdungslagen (vgl. Statistisches Bundesamt, 2015a, S. 6 f.).
2.3. Vernachlässigung
Vernachlässigung stellt eine Form der Kindeswohlgefährdung dar, die in der bis August
2008 gültigen Fassung des § 1666 BGB ausdrücklich als eigene Fallkategorie ausgewiesen
wurde (zum Wegfall der Gefährdungsursachen im § 1666 BGB, siehe Kapitel 2.2.), aber
niemals eine ähnlich hohe Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit wie z.B. Kindesmisshand-
lung oder sexueller Missbrauch auf sich ziehen konnte. Wolock/Horowitz (1984) prägten
32
hierfür den Ausdruck der „Vernachlässigung der Vernachlässigung“ und Fegert (1997, S.
15) spricht von einer thematischen Tabuisierung des Phänomens, welches im Verhältnis zu
seinem quantitativen Ausmaß und der ihm inhärenten erheblichen Folgen eher unterer-
forscht in Deutschland geblieben ist (vgl. Wolff, 2007, S. 71).
Dabei unterscheiden Garbarino/ Gilliam (1980) Kindeswohlgefährdungen danach, ob die
Gefahr von bestimmten Handlungen der Betreuungspersonen oder vom Unterlassen be-
stimmter Handlungen durch die Betreuungspersonen ausgeht, wobei die Vernachlässigung
hierbei das gesamte Spektrum relevanter Unterlassungen umfasst. In dieser Lesart bedeutet
Vernachlässigung die Entgleisung bzw. das Versagen adäquaten elterlichen Verhaltens und
ist durch mangelnde oder unangemessene Förderung des Kindes, die Missachtung seiner
Gesundheit, die mangelnde Aufsicht des Kindes und dessen mangelnde Pflege und Fürsor-
ge gekennzeichnet (vgl. Petermann, 1991; Engfer, 1986, S. 621; Zobel 2005, S. 156; Fe-
gert/ Ziegenhain, 2008, S. 7).
Schone u.a. (1997, S. 21) entwickeln eine umfassendere Definition und begreifen Vernach-
lässigung als „andauernde oder wiederholte Unterlassung fürsorglichen Handelns sorge-
verantwortlicher Personen (Eltern oder anderer von ihnen autorisierte Betreuungsperso-
nen), welches zur Sicherstellung der physischen und psychischen Versorgung des Kindes
notwendig wäre. Diese Unterlassung kann aktiv oder passiv (unbewusst) aufgrund unzu-
reichender Einsicht oder unzureichenden Wissens erfolgen. Die durch Vernachlässigung
bewirkte chronische Unterversorgung des Kindes durch die nachhaltige Nichtberücksichti-
gung, Missachtung oder Versagung seiner Lebensbedürfnisse hemmt, beeinträchtigt oder
schädigt seine körperliche, geistige und seelische Entwicklung und kann zu gravierenden
bleibenden Schäden oder gar zum Tode des Kindes führen.“ Ähnlich definieren sie auch
Coester (2009, § 1666 Rn. 117 ff.) und Olzen (Münch-Komm-Olzen, 2012, § 1666 Rn. 100
– 102) in den entsprechenden Gesetzeskommentaren zum BGB sowie Deegener (2005, S.
37). Kindler (2006, S. 3-1) ergänzt die Definition von Schone u.a. um den Aspekt, dass
diese Unterlassung „für einen einsichtigen Dritten vorhersehbar zu erheblichen Beeinträch-
tigungen der physischen und/oder psychischen Entwicklung des Kindes führt oder vorher-
sehbar ein hohes Risiko solcher Folgen beinhaltet“, wobei sich an dieser Stelle die Frage
aufdrängt, wonach er die Einsichtigkeit von Dritten bemisst. Dies impliziert zumindest,
dass der Hinweis verschiedener Autoren berechtigt erscheint, dass ein Verständnis von
33
Vernachlässigung nur auf der Grundlage eines guten Informationsstandes über altersab-
hängige Bedürfnisse bzw. Entwicklungsaufgaben von Kindern gewonnen werden kann
(vgl. Zuravin, 1999; Scannapieco/ Connell-Carrick, 2002). Bei dieser Argumentation ist
aber auch zu beachten, dass bei der inhaltlichen Auslegung des Begriffes schichtspezifi-
sche Wertungen als normative Elemente nicht zu unterschätzen sind (vgl. Schone u.a.,
1997, S. 166), wobei die Gefahr naheliegt, dass die Bewertungen zwischen den meist mit-
telschichtangehörigen Fachkräften des ASD bzw. Familienrichtern und den meist zur Un-
terschicht gehörenden betroffenen Familien aneinander vorbeigehen, wobei mich gerade
diese Vermutung zu dieser Untersuchung animiert hat.
Balloff (2003, S. 154) spezifiziert die eben genannte Definition nochmals und sieht Ver-
nachlässigung als deutliches und dauerhaftes Außerachtlassen der grundlegenden körperli-
chen und seelischen Bedürfnisse des Kindes nach Nahrung, Sauberkeit, Pflege, Förderung,
Beaufsichtigung, Schutz vor Gefahren, bedarfsgerechter Kleidung, Unterkunft und medizi-
nischer Versorgung sowie affektiver Kommunikation (vgl. auch Kinderschutz-Zentrum
Berlin, 2009, S.43).
Unter Bezugnahme auf die bereits skizzierte Definition von Schone u.a. ist Vernachlässi-
gung die Folge elterlicher Unterlassungen und Fehlhandlungen und resultiert zumeist aus
der Unfähigkeit (sei es durch mangelndes Wissen oder Überforderung), angemessen auf
die Bedürfnisse von Kindern einzugehen. Schone u.a. (1997, S. 22) zählen z. B. das Allein-
lassen von Kindern über unangemessen lange Zeit und unzureichende Versorgung und
Pflege zur passiven Form der Vernachlässigung, während sie in der Verweigerung von
Schutz und Krankheitsbehandlung und dem Vorenthalten von Nahrung als Strafmaßnahme
eine aktive Form der Vernachlässigung sehen.
Mit dem Hinweis, dass Kinder zu einem gegebenen Alterszeitpunkt in jeweils mehreren
Entwicklungs- und Lebensbereichen der Fürsorge bedürfen, eine vorhandene Vernachläs-
sigung aber nicht alle diese Bereiche gleichermaßen betreffen muss, nimmt Kindler (2006,
S. 3-2) in Anlehnung an bestehende amerikanische (Sedlak/ Broadhurst, 1996) und kanadi-
sche (Trocme u.a., 2001) Kategorisierungssysteme eine Einteilung in verschiedene Ver-
nachlässigungsbereiche vor, die im Wesentlichen an den von Seithe (2001, S. 89 ff.) erar-
beiteten Bedingungskatalog für das Kindeswohl (siehe Kapitel 2.1.2.) anknüpfen:
34
körperliche Vernachlässigung
unzureichende Versorgung mit Nahrung, Flüssigkeit, sauberer Kleidung, Hygiene,
Wohnraum, medizinischer Versorgung
kognitive bzw. erzieherische Vernachlässigung:
Mangel an Konversation, Spiel und anregenden Erfahrungen; fehlende erzieheri-
sche Einflussnahme auf regelmäßigen Schulbesuch, Delinquenz, Suchtmittelge-
brauch; fehlende Beachtung eines besonderen und erheblichen Erziehungs- und
Förderbedarfs
emotionale Vernachlässigung:
Mangel an Wärme in der Beziehung zum Kind, fehlende Reaktion auf emotionale
Signale des Kindes
unzureichende Beaufsichtigung:
Kind bleibt längere Zeit allein und auf sich gestellt, keine Reaktion auf längere un-
angekündigte Abwesenheit des Kindes
Dabei geht das Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg in
seinem Papier zum Kinderschutz nach meiner Ansicht zu Recht davon aus, dass sich diese
Bereiche nicht scharf voneinander trennen lassen, sondern oftmals ineinander übergehen
(vgl. Land Brandenburg, 1997, S. 11). Kindlers (2006, S. 3-2) Argument, wonach in den
meisten Fällen die körperliche Vernachlässigung oder unzureichende Beaufsichtigung ei-
nes Kindes den Anlass der Kontaktaufnahme (in der Regel des Jugendamtes) mit der Fami-
lie darstellen und erst im Verlauf der Fallbearbeitung dann unter Umständen auch Formen
von emotionaler, erzieherischer und kognitiver Vernachlässigung ins Auge fallen, er-
scheint in diesem Kontext logisch, zumal die beiden genannten „Einfallstore“ für Außen-
stehende am ehesten sichtbar werden. An dieser Stelle müssen auch die Hinweise von
Krieger u.a. (2007, S. 17) und Ziegenhain (2006, S. 12) bedacht werden, dass sich Ver-
nachlässigung von Kindern meist als chronischer Zustand mit schleichendem Verlauf zeigt
und nur selten einzelne Ereignisse wie etwa bei körperlicher Misshandlung oder sexuellem
Missbrauch auszumachen sind. Bezüglich der emotionalen Vernachlässigung verweist das
Kinderschutz-Zentrum Berlin (2009, S. 54 ff.) darauf, dass diese Form der Vernachlässi-
gung zwar nicht auf den ersten Blick ins Auge fällt, aber aus entwicklungspsychologischer
Sicht möglicherweise das Kernstück aller Vernachlässigungsformen bildet, da sie die
schwersten psychosozialen Folgen für das Kind nach sich zieht.
35
In der Fachdiskussion besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass meist Kinder, die in be-
sonderem Maße auf Schutz, Fürsorge und Förderung angewiesen sind, von dieser Form der
Kindeswohlgefährdung betroffen sind, wie z.B. kleinere und/oder behinderte Kinder, die
(noch) nicht in der Lage sind, solche Mangelsituationen aus eigenen Ressourcen heraus zu
kompensieren oder die erfahrene Nichtberücksichtigung ihrer Bedürfnisse öffentlich aus-
zudrücken (vgl. Münder u.a., 2000, S. 49; Deegener, 2005, S. 37; Schone, 2008b, S. 52 f.;
Wolff, 2007, S. 70; Reinhold/ Kindler, 2006a, S. 17-1 ff.). Ziegenhain (2006, S. 12) spricht
hier von der besonderen Vulnerabilität in der frühen Kindheit. Dabei ist zu beachten, dass
die Gefährdung eines Kindes durch Vernachlässigung umso schwerwiegender ist, je jünger
das Kind ist sowie bei zusätzlicher Krankheit oder Behinderung (vgl. Fegert, 2002; Zie-
genhain, 2006, S. 12 f.) und Schone (2008b, S. 53) spricht davon, dass gerade kleine Kin-
der die Mangelsituationen quasi ungefiltert erleiden, ohne dass sie ihnen ausweichen oder
sie aus eigenen Ressourcen kompensieren könnten.
Schone u.a. (1997, S. 21) charakterisieren Vernachlässigung als besondere Form der Bin-
dungsstörung zwischen den sorgeverantwortlichen Personen und dem Kind, da sie die Un-
fähigkeit oder fehlende Bereitschaft der Eltern/Betreuungspersonen zur Wahrnehmung und
Befriedigung kindlicher Lebensbedürfnisse abbildet. Sie zeigen in ihrer empirischen Ana-
lyse (ebda., S. 21 f.), dass neben der materiellen Situation auch soziale und familiäre Be-
lastungen, z.B. Familiengröße, Konflikte bzw. Instabilität in der Partnerschaft, Trennung/
Scheidung, Krankheit oder Tod in der Familie sowie persönliche Probleme, wie mangelnde
Leistungsfähigkeit, Überforderung, Krankheit, Sucht, mangelndes Selbstwertgefühl, sozia-
le Isolation, gesellschaftliches Umfeld mit aggressiven Handlungen und Defizite bzw. ne-
gative Erfahrungen in der eigenen Lebensgeschichte eine gewichtige Rolle spielen. Deege-
ner (2005, S. 37 f.) konkretisiert die Belastungsdimensionen und sieht Armut, beengte
Wohnverhältnisse, Überforderung/ Krisen/ Krankheiten der Eltern, mangelndes Wissen
und unzureichende erzieherische Kompetenz, absichtliches Ignorieren in Verbindung mit
Ablehnung des Kindes, arbeits- oder wohlstandssüchtige bzw. aus Notlagen entstehende
übermäßige Berufstätigkeit als mögliche Ursachen einer Vernachlässigung an. Dabei ist
davon auszugehen, dass es sich auch hierbei nur um mögliche Indikatoren handelt, die ih-
rerseits nicht zwangsläufig zu einer Vernachlässigung führen müssen, jedoch die Wahr-
scheinlichkeit einer solchen deutlich erhöhen, insbesondere wenn es zu einer Verschrän-
36
kung von persönlichkeitsbezogenen und strukturbezogenen Merkmalen kommt (vgl. auch
Schone, 2008b, S. 54).
Esser (2007, S. 103 ff.) kann mit Hilfe seiner Mannheimer Risikokinder-
Längsschnittstudie folgende Risikofaktoren für eine Ablehnung des Kindes bzw. Vernach-
lässigung4 ausmachen:
ungewollte Schwangerschaft
unvollständige Familie, meist alleinerziehende Mutter
sehr frühe Elternschaft
Geburten in kurzen Abständen (unter 18 Monaten)