Date post: | 17-Sep-2018 |
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Karl-Peter Ellerbrock, Tanja Bessler-Worbs
Industriepioniere, Wirtschaftsbürger und
Manager. Historische Unternehmer-
persönlichkeiten aus dem Märkischen Raum
vom 18. bis zum 20. Jahrhundert
Inhaltsverzeichnis:
Heinrich Frommknecht: Zum Geleit
Vorwort
Karl-Peter Ellerbrock:
Unternehmer und Strukturwandel: Südwestfälische Lebensbilder im Spiegel von drei
Jahrhunderten
Vor- und Frühindustrialisierung
Louisa Catharina Märcker (1718-1795)
eine großbürgerliche Unternehmerin aus dem 18. Jahrhundert
Johann Caspar Rumpe (1748-1833)
Altenas erster Manager
Hermann Diedrich Piepenstock (1782-1843)
Ein Iserlohner Unternehmer begründet die Eisen- und Stahlindustrie im Dortmunder
Raum
Stephan Witte (1784-1849)
Ein Frühindustrieller beginnt die Massenproduktion
Johann Caspar (1791-1863) und Peter (1794-1865) Brüninghaus
Zwei Brüder und der Wandel des Stahlmarktes
Friedrich Harkort (1793-1860)
Industriepionier und Politiker
Maschinenzeitalter und Industriegesellschaft
C. Rudolf (1804-1863) und Peter Adolf Rudolf (1843-1892) Ibach
Text fehlt noch – Untertitel einfügen!
Arnold Gerdes (1806-1863)
Ein Wirtschaftsbürger in bewegter politischer Zeit
Wilhelm (II.) Funcke (1820-1896)
Impulsgeber für die märkische Region
Julius Assmann (1836-1914)
Ein Kaufmann und bürgerlicher Gelehrter
Gustav Selve (1842-1909)
Patriarch und Konzerngründer
Carl Berg (1851-1906)
„Über alles ist die Pflicht.“
Robert Löbbecke (1852-1910)
Militär statt Kontor
Unternehmer des 20. Jahrhunderts
Adolph Müller (1852-1928)
Pionier der deutschen Akkumulatorenindustrie
Emil (1859-1928) und Hans Eberhard (1891-1972) Hoesch
Die Begründung der modernen Papierindustrie im Hagener Raum
Friedrich Kirchhoff (1859-1953)
Erfolgreiches Engagement auf vielen Ebenen
Eugen Schmalenbach (1873-1955)
Begründer der modernen Betriebswirtschaft
Alfred Colsman (1873-1955)
Ein Veteran des Luftschiffbaus
Oskar Eduard Hueck (1886-1966)
Vater der modernen Lüdenscheider Aluminiumindustrie
Fritz Berg (1901-1979)
Sprecher des gewerblichen Mittelstandes
Auswahlbibliographie
Die Autoren
Bildnachweis
Vorwort
Das Märkische Südwestfalen ist eine stark industriell geprägte Region. Im
Märkischen Kreis, der Stadt Hagen und dem Ennepe-Ruhr-Kreis arbeitet etwa die
Hälfte aller Erwerbstätigen im Verarbeitenden Gewerbe. Viele international
erfolgreiche Industriebetriebe der Sanitärarmaturen- und Schalterindustrie,
Automobilzulieferer genauso wie Betriebe der Schließtechnik haben hier ihren Sitz.
Auch bei Kaltwalzprodukten, Schrauben und Drähten, um weitere Beispiele zu
nennen, sind die Unternehmen im Märkischen Südwestfalen führend.
Die Industrie gerade in den Bereichen Automotive und Gebäudetechnik wird auch in
Zukunft die Basis des Wohlstandes unserer Region sein. In der Studie „Märkisches
Südwestfalen – Zukunft mit Industrie“ haben die SIHK zu Hagen und das Institut der
deutschen Wirtschaft Köln dies deutlich herausgearbeitet.
Vor diesem Hintergrund ist das vorliegende Buch ein Beitrag zum Standortmarketing.
Es soll den Blick darauf lenken, dass es gerade die markanten Persönlichkeiten aus
der Industrie waren, die das Märkische Südwestfalen zu dem gemacht haben, was
es ist: eine Industrieregion mit großen landschaftlichen Reizen. Und der Band will
dafür sensibilisieren, dass dies auch in den kommenden Jahrzehnten so sein wird.
Und noch etwas können wir aus der Lektüre lernen: Es gibt einige Aspekte, unter
denen die Biografien brandaktuell erscheinen. Heute wie damals sind es
herausragende Unternehmer aus den Bereichen Industrie aber auch Handel, die mit
ihrer Begeisterung für Technik und Innovation, mit unternehmerischem
Fingerspitzengefühl und Mut ihre Betriebe und damit die ganze Region nach vorn
bringen. Diese Tugenden haben bis heute nicht an Aktualität verloren.
Basis dieser Veröffentlichung ist eine Reihe von Artikeln über historische
Unternehmerpersönlichkeiten aus dem Märkischen Südwestfalen, die die SIHK seit
Dezember 2005 in ihrer Zeitschrift „Südwestfälische Wirtschaft“ veröffentlicht.
Verfasser sind Dr. Karl-Peter Ellerbrock und Dr. Tanja Bessler-Worbs vom
Westfälischen Wirtschaftsarchiv. Diese Reihe ist bei den Leserinnen und Lesern sehr
gut angekommen. Gern haben wir die Anregung aufgegriffen, die Beiträge zu einer
Veröffentlichung zusammenzufassen und sie damit einer breiteren Öffentlichkeit
zugänglich zu machen. Selbstverständlich kann an dieser Stelle nur eine kleine
Auswahl präsentiert werden, die sich ohne Probleme um zahlreiche weitere Beispiele
ergänzen ließe.
Unser Dank gilt den beiden Autoren, die ihre Beiträge überarbeitet, ergänzt und mit
einem einleitenden Artikel abgerundet haben. Bei der Lektüre wünschen wir viel
Freude und Gewinn.
Südwestfälische Industrie- und Handelskammer zu Hagen
Harald Korte Hans-Peter Rapp-Frick
Präsident Hauptgeschäftsführer
Unternehmer und Strukturwandel: Südwestfälische Lebensbilder im Spiegel
von drei Jahrhunderten
Von Karl-Peter Ellerbrock
„Vor der sogenannten industriellen Revolution waren die Produktionsmethoden in Europa relativ statisch: Die um 1750 angewandten wichen nicht wesentlich von jenen um 1300 ab. Fortschritt, soweit es ihn überhaupt gab, war langsam. ... Unter diesen Umständen wurden Menschen, die eine Änderung der Produktionsmethoden erstrebten, leicht mit Argwohn betrachtet. Sie wurden in einen Topf geworfen mit jenen, die vorschlugen, Edelmetalle aus Schiffswracks zu retten oder mit dem Segen des Teufels nach verborgenen Schätzen an Wegkreuzungen in Vollmondnächten zu graben.“ (Fritz Redlich, Der Unternehmer)
Der vorliegende Band versammelt 20 historische Unternehmerportraits aus dem
Märkischen Raum zwischen dem frühen 18. Jahrhundert und den 1970er Jahren. Sie
sind Spiegel von drei Jahrhunderten bewegter Wirtschaftsgeschichte einer Region,
die weitgehend deckungsgleich mit dem heutigen Bezirk der Südwestfälischen
Industrie- und Handelskammer zu Hagen (SIHK) ist. Dieser umfasst neben der Stadt
Hagen den Märkischen Kreis und den Ennepe-Ruhr-Kreis ohne die Städte Witten
und Hattingen. Der Märkische Raum war im 18. Jahrhundert eines der führenden
frühindustriellen Gewerbezentren in Deutschland und gilt als die „Wiege des
Ruhrgebiets“. Am Selbstverständnis als Industrieregion hat sich bis heute nichts
geändert: „Wir sind ein industrielles Kernland und nicht Grüngürtel des Ruhrgebiets“,
betonte der Präsident der SIHK Harald Korte in der jüngst zusammen mit dem Institut
der deutschen Wirtschaft herausgegebenen Studie über die industriellen
Perspektiven des Kammerbezirks.
Der folgende Beitrag versucht, eine Klammer zwischen den hier ausgebreiteten
Lebensbeschreibungen zu bilden. Dabei können natürlich für diesen langen Zeitraum
lediglich die wichtigsten Strukturveränderungen des Wirtschaftsraumes und
derjenigen Branchen skizziert werden, für die die einzelnen Persönlichkeiten stehen.
Auch kann keine exakte wissenschaftliche „Typenbildung“ etwa im Sinne der
Methode der kollektiven Biographie erwartet werden, denn die Auswahl der hier
untersuchten Unternehmer folgt nicht den strengen wissenschaftlichen Kriterien der
Repräsentanz. Verbindendes Element ist die erfolgreiche Behauptung im
strukturellen Wandel, denn: „Nichts bleibt wie immer.“ So lautet eine der
Kernaussagen der oben zitierten Studie: „Strukturwandel ist ein Zeichen jeder
dynamischen Wirtschaft. Unternehmer müssen sich täglich auf Änderungen
einstellen und sich abzeichnende Trends in ihrem Umfeld früh erkennen. Was heute
noch erfolgreich ist, kann morgen bereits durch eine bessere Idee verdrängt sein.“
Industrialisierung vor der Industrialisierung: Der Märkische Raum im 18.
Jahrhundert
Auch auf dem Märkischen Raum lasteten zunächst die Hemmnisse der traditionellen
Wirtschaftsweise, die einer quasi staats- und zwangswirtschaftlichen (Markt)Ordnung
unterworfen war. Grob skizziert stellte sich das alte System wie folgt dar: Die
„despotischen und inquisitorischen Reglementierungen des städtischen
Marktwesens“ (Henri Pirenne) setzten einer überregionalen Ausweitung des Handels
und einer Merkantilisierung der gewerblichen Produktion enge Grenzen. Komplizierte
Wochenmarkts- und Verkaufsordnungen, Stapelrechte, städtische Preistaxen,
Verbote des Landhandwerks und des Landhandels, Einschränkungen des
Hausierbetriebs und die aus lokalem Marktrecht und dem Korporationsstreben der
Handwerker hervorgegangenen Zunftverfassungen schützten zwar die städtisch-
lokalen Wirtschaftszentren, beschnitten aber gleichzeitig durch die rigide
Abschließung der einzelnen städtischen Märkte voneinander ihre wirtschaftlichen
Entwicklungsmöglichkeiten. Die territoriale Wirtschaftspolitik der absolutistischen
Staaten folgte ihrerseits weitestgehend dem Primat der Manufakturförderung, mit
dem Ziel, eine positive Handelsbilanz zu erreichen. Friedrich der Große formulierte in
diesem Sinne im Mai 1748 einen über viele Jahrzehnte gültigen Leitsatz der
merkantilistischen Wirtschaftspolitik: „Es gereichen zwei Sachen zur Aufnahme und
wahrem Besten eines Landes, nämlich 1) aus fremden Ländern Geld herein zu
ziehen; dieses geschiehet durch das Commercium; und 2) zu verhindern, daß das
Geld nicht unnöthiger weise aus dem Lande gehen müsse; und solches geschiehet
durch die Manufakturen.“ Trotz intensiver obrigkeitlicher Maßnahmen, z. B. der
Verhängung von Schutzzöllen oder Einfuhrverboten, gelang es aber nicht, die
wirtschaftliche Entwicklung dauerhaft in diesem Sinne zu steuern. So war bereits in
Teilgebieten seit dem hohen Mittelalter eine handwerkliche Produktion entstanden,
die seit dem frühen 18. Jahrhundert zunehmend mit größeren Märkten verflochten
war. Es waren aber schließlich die frühindustriellen Gewerberegionen des späten 18.
und frühen 19. Jahrhunderts, die aus der jahrhundertealten, relativ statischen
wirtschaftlichen und sozialen Ordnung hinausdrangen.
Zu diesen Regionen gehörte auch der Märkische Raum, der sich, zugespitzt
formuliert, nicht wegen, sondern trotz der preußischen Merkantilpolitik als
protoindustrielles Wirtschaftszentrum profilierte. Der preußische Staat beschränkte
seine Maßnahmen zur Gewerbeförderung nahezu ausschließlich auf die
Zentralprovinzen. Die westlichen Provinzen wurden als handelspolitisches Ausland
betrachtet. Zollschranken und Einfuhrverbote verhinderten eine noch stärkere
Marktintegration des hoch entwickelten Metallgewerbes der Grafschaft Mark
zugunsten einer fragwürdigen Manufakturpolitik. Unter den Gesetzen der Ökonomie
des Marktes verloren übrigens später bis auf wenige Ausnahmen diese staatlich
subventionierten Manufakturstandorte ihre wirtschaftliche Bedeutung. Darüber hinaus
wirkten vor allem auch der kurzsichtige Fiskalismus und der rücksichtslose
Militarismus des preußischen Staates negativ auf die wirtschaftlichen
Rahmenbedingungen im Märkischen Raum zurück. Das Steuersystem mit seiner
strikten Stadt-Land-Trennung war schematisch aus den mittleren Provinzen auf die
Grafschaft Mark übertragen worden und wurde hier den wirtschaftlichen
Verhältnissen mit seiner ausdifferenzierten ländlichen Gewerbestruktur nicht gerecht.
Die Praxis der „Soldatenwerbung“ unter Gewaltandrohung schließlich führte trotz der
1748 zugestandenen, aber weitgehend wirkungslos gebliebenen „Werbefreiheit für
die Fabriquendistrikte“ zu einer Abwanderungswelle junger Arbeitskräfte in das
benachbarte Herzogtum Berg.
Umso höher sind die wirtschaftlichen Erfolge der Region zu bewerten. Der Märkische
Wirtschaftsraum war im ausgehenden 18. Jahrhundert „Pionier und Nachzügler“
zugleich (Jürgen Reulecke). Er stand zwar England und den belgisch-französischen
Industrieregionen noch nach, zählte aber neben Sachsen, Schlesien und dem
Berliner Raum zu den führenden Wirtschaftslandschaften in Deutschland. Neuere
Forschungen von Stefan Gorißen zur Protoindustrialisierung haben ein
differenziertes Bild der gewerblichen Entwicklung in der Grafschaft Mark mit dem
Eisen- und Stahlgewerbe als Leitsektor gezeichnet. Danach basierte der
Entwicklungsvorsprung nicht auf einem überschüssigen ländlichen
Arbeitskräftepotential, sondern auf den bereits seit frühmittelalterlicher Zeit genutzten
Rohstoffressourcen (v. a. Eisenerz). Die gezielte Nutzung der Wasserkraft bewirkte
seit dem 14. Jahrhundert eine außerordentliche Produktivitätssteigerung und
begünstigte die Herausbildung arbeitsteiliger Prozesse (Metallproduktion,
Metallverarbeitung, spezialisiertes Handels- und Exportgewerbe) sowie die
Ausbreitung überregionaler Handelsbeziehungen. Zum wichtigsten Standortfaktor
wurde aber nach der Erschöpfung der regionalen Erzvorkommen das „human
capital“, also das Vorhandensein eines qualifizierten Arbeitskräftepotentials: Eine
hoch spezialisierte Handwerkerschaft beherrschte durch Erfahrungswissen, das von
Generation zu Generation weitergegeben wurde, komplexe Herstellungsverfahren,
deren metallurgische Grundlagen noch weitgehend unbekannt waren.
Spätestens an dieser Stelle muss die besondere Leistung der einzelnen
Unternehmer in den Blick genommen werden. Die große Mehrheit kam aus
alteingesessenen Familien, in denen eine offen gelebte individuelle Erwerbshaltung,
wie sie Industriepioniere vom Schlage der Familie Piepenstock aus Iserlohn an den
Tag legten, weithin als verpönt und anstößig galt. Betrachten wir die Familie
Piepenstock näher: Caspar Diedrich Piepenstock (1756-1821) und sein Sohn
Hermann Diedrich Piepenstock (1782-1843), der im Jahre 1840 mit dem Erwerb des
Geländes der Hörder Burg die Eisen- und Stahlindustrie im Dortmunder Raum
begründen sollte, zählten zu den bedeutendsten frühindustriellen Unternehmern in
der Metallverarbeitung nicht nur im Märkischen, sondern im gesamten rheinisch-
westfälischen Wirtschaftsraum. In den im 18. Jahrhundert gegründeten
Stammbetrieben in Iserlohn und Grüne wurden Näh- und Stecknadeln, sog.
Panzerwaren (Haken, Ösen, Haarnadeln, Drahtstifte oder Fischangeln) sowie
gezogene und gegossene Bronzewaren hergestellt. Auf dem 1835 bei Hüsten
gegründeten „Sophienhammer“ wurde später Schwarz- und Weissblech gewalzt,
ebenso in Neu-Oege bei Hohenlimburg, wo zusätzlich noch Walzdraht und
„Gußstücke zu Maschinen, Walzen und Büchsen“ produziert wurden. Insgesamt
beschäftigten die Piepenstockschen Unternehmungen bereits an der Wende zum 19.
Jahrhundert über 1.000 Arbeiter.
Der unternehmerische Erfolg hatte seinen Preis, wie das „Gesuch gegen die
Nähnadelfabrik Piepenstock“ von 1815 an den Oberpräsidenten von Vincke,
unterzeichnet von den „Konkurrenten“ Müllensiefen und Altgeldt aus Iserlohn sowie
Rumpe und Schniewind aus Altena, belegt. Es richtete sich gegen das
Geschäftsgebaren der Familie Piepenstock, „welche nicht sowohl aus Unkunde, als
vielmehr aus Brotneid freche Willkühr an die Stelle vernünftiger Ordnung setzen.
Dadurch hat nunmehr völlige Anarchie eingegriffen.“ Als Anarchie werden in
schwülstigen Worten niedrigere Verkaufspreise, die einer „neuen Gewinnsucht“ im
Gegensatz zu den „gewohnten Normalprinzipien“ entsprängen, bezeichnet. Die
Familie Piepenstock verstehe nicht zu berechnen, was „ihnen die Ware kostet“, ihr
erscheine „aus blinder Unwissenheit die Nadelfabrik als eine unerschöpfliche
Goldgrube. Sie erlauben sich jeden beliebigen Eingriff in die Gerechtsame der
friedlichen Stammfabriken, bezahlen den debauchirten Arbeitern höheren Lohn, als
die Sache tragen kann, verleiten jene dadurch zu beständigem Uebergange von
einem zum andern und machen aus einst fleißigen und ruhigen Bürgern zum Theil
unsittliche und zügellose Menschen, die – keine Verträge mehr achtend – als ein
Auswurf der Gesellschaft allgemein gefürchtet und eine große Geißel der Besseren
sind. Dadurch werden oft die unentbehrlichsten Kunsthandwerker durch
ungeheueren Lohn zu einer Zeit abwendig gemacht, wo man ihrer zur Vollziehung
dringender Bestellungen gerade am nötigsten bedurfte. Das schlimmste von allem
diesem ist, daß durch die wohlfeilen Preise, wofür jene unwissenden Neulinge zu
ihrem eigenen unvermeidlichen Untergange ihr elendes Fabrikat notgedrungen im
Ausland verschleudern, der Handel im allgemeinen verdorben und zugleich der
schöne Ruf vernichtet wird, der es uns bisher möglich machte, mit den Aachenern
und Engländern auf allen Märkten Europens so ehrenvoll zu concurrieren.“
Hinter jenen Eigenschaften, welche die „Konkurrenten“ aus der Sicht der „alten
Ordnung“ kritisierten, scheinen indes erste Merkmale modernen, neuzeitlichen
Unternehmertums hervor, das zunehmend die neuen Gesetze des Marktes erkannte.
Wir befinden uns „zwischen den Welten“, zwischen alter, zünftiger Ordnung und
moderner Wirtschaft und Gesellschaft. Der erste große Strukturwandel fand also in
den Köpfen statt und bewirkte den „Verlust der alten Ökonomik“ (Erich Egner). Erste
Ansätze zu einer wirtschaftlichen Reformpolitik zeigten sich in Preußen seit den
späten 1780er Jahren. Die jüngere Forschung hat herausgearbeitet, dass der
Märkische Raum dann vor allem von den positiven Impulsen der napoleonischen
Modernisierungspolitik (Code de commerce) profitierte, nachdem die Grafschaft Mark
am 1. März 1808 für eine Übergangszeit Teil des französischen Großherzogtums
Berg geworden war. Im Zuge der Stein-Hardenbergschen Reformen wurde 1810/11
dann auch in Preußen die allgemeine Gewerbefreiheit eingeführt. Damit endete die
gemeinhin „traditionell“ genannte Wirtschaftsweise, und eine neue Ökonomie des
Marktes sollte fortan das wirtschaftliche Leben bestimmen. Die Jahre um 1800
bildeten im Märkischen Raum unter diesen neuen Rahmenbedingungen für die
unterschiedlichen Branchen ein „Nadelöhr“ für den erfolgreichen Eintritt ins
Industriezeitalter. Bei genauerer Betrachtung war der Stahlsektor in verschiedene
gewerbliche Teilbereiche gegliedert, die unterschiedliche Marktchancen besaßen,
wie sich in dem tief greifenden Strukturwandel der Branche seit der Wende zum 19.
Jahrhundert erkennen lässt. Die Entwicklung der Osemund- und Drahtproduktion
verlief krisenhaft, während sich die Rohstahl- und Stabeisenhämmer erfolgreich der
Qualitätsstahlproduktion zuwandten. Das sog. Drahtfolgegewerbe und die
Kleineisenindustrie entwickelten sich schließlich zum industriellen Kernbereich und
waren wichtige Motoren beim Übergang des gesamten Wirtschaftsraumes in die
Industrialisierung.
Aufbruch ins „Maschinenzeitalter“
Die 1830er und 1840er Jahre gingen auch in Südwestfalen als die Zeit des
„Pauperismus“ in die Annalen der Geschichte ein. Folgen wir dazu einem Artikel im
Hagener Kreisblatt vom 12. April 1845:
„Ueberall im deutschen Vaterlande hat der Pauperismus auf eine bedrohliche Weise
um sich gegriffen. Nicht allein in Schlesien, Ravensberg und an der Mosel gewahren
wir diesen Feind der gesellschaftlichen Ordnung; auch in den blühenden Theilen
Rheinland-Westphalens, in Berg und Mark, hat er Wurzel gefaßt. Hier sind es
besonders die Kleinschmiede, welche bald das Schicksal ihrer schlesische Brüder
theilen und eine Beute der Gewinnsucht werden dürften. Noch hat die Noth unter
Diesen nicht die Höhe erreicht, wie bei den schlesischen Webern, aber in Folge der
fortwährend erniedrigten Preise ist schon die größerer Hälfte verarmt; kaum will es
ihrem Fleiße und der größten physischen Kraftanstrengung gelingen, die
nothwendigen Bedürfnisse für Kleidung, Nahrung und Wohnung zu erschwingen. Ist
es zu verwundern, daß sich die Gemüther dieser Arbeiter, die in einer so traurigen
Lage sich befinden, und in eine so trostlose Zukunft blicken, eine düstere Unheil
verkündende Stimmung bemächtigt hat. Der Vulkan gährt bereits, und einzelne
Erscheinungen deuten auf möglichen Ausbruch.“
Mit der großen Hungersnot von 1846/47 durchlitt dann Westfalen die letzte große
Krise „alten Typs“ (Ernest Labrousse): Kriege, Epidemien, Missernten und
Teuerungen hatten über Jahrhunderte den Teufelskreis von Not und Unterernährung
in der vorindustriellen Gesellschaft geprägt. Von vielen Zeitgenossen wurde die
„Maschine“ für diesen wirtschaftlichen und sozialen Niedergang verantwortlich
gemacht. Sie genoss nicht nur wegen der zahlreichen Unglücke
(Dampfkesselexplosionen) nur wenig Vertrauen, sondern war vor allem auch ein
Symbol für die Bedrohung der traditionellen Ordnung von Wirtschaft und
Gesellschaft. Der „Pauperismus“ bereitete, wie in der zeitgenössischen Quelle
weitsichtig erkannt, den Nährboden für politische und soziale Unruhen, und die
revolutionären Vorgänge von 1848 erreichten auch Westfalen. Sie sollten ein Jahr
später besonders in Iserlohn hohe Wogen schlagen. Die südwestfälischen
Unternehmer betrachteten die Ereignisse mit großer Sorge. Arnold Gerdes aus
Altena beispielsweise stand in einem regen Briefwechsel mit dem Altenaer Pfarrer
Evertsbusch. Als einer der 20 westfälischen Paulskirchenabgeordneten, der die
Kreise Olpe und Altena sowie die Ämter Balve und Menden in der Franfurter
Nationalversammlung vertrat, unterrichtete dieser „noch unter dem frischen Eindruck
der heute berufenen Verhandlung seinen lieben Vertrauten“ aus erster Hand über die
Inhalte der Beratungen in der Frankfurter Paulskirche. Gerdes, der in Altena
Übergriffe gegen „Fabrikherren“ hautnah zu spüren bekam, war Mitinitiator des
„Altenaer Vereins“, der sich gegen alle „anarchischen und republikanischen
Bestrebungen“ wandte.
Weitsichtige Ökonomen waren ihrer Zeit voraus. Als im selben Jahr der
Nationalökonom Bruno Hildebrand in seinem Standardwerk „Die Nationalökonomie
der Gegenwart und Zukunft“ den Begriff des „Maschinenzeitalters“ prägte, wandte er
sich vor allem gegen die Theorien einer zwangsläufigen Verelendung der Massen,
wie sie Karl Marx und Friedrich Engels im Zusammenhang mit den neu entstehenden
Fabrikbetrieben propagierten. Ganz im Gegensatz dazu Hildebrand: „Darin besteht
eben die nächste weltgeschichtliche Bedeutung der Maschinen, daß sie die
arbeitenden Klassen aus der Trägheit und Unwissenheit herausgerissen und ihnen
mit ihrem Kraftbewußtsein, mit der Beharrlichkeit in der Arbeit und mit dem
Unternehmungsgeiste das Streben nach einem menschlicheren und würdigeren
Lose in der Geschichte erzeugt haben, ohne welches eine gründliche und dauerhafte
Verbesserung ihrer sozialen Lage unmöglich ist.“ Wir wissen heute, dass Hildebrand
mit seiner Einschätzung richtig lag. Die „Maschine“ leitete den Beginn der modernen
Industrie- und Wohlstandsgesellschaft ein und verlor rasch ihr technologisches und
soziales Bedrohungspotenzial.
In Westfalen fand das anbrechende „Maschinenzeitalter“ seinen sichtbaren Ausdruck
in einem rasanten Aufschwung bei Kohle und Stahl. Die Entstehung des
Ruhrgebietes als montanindustriellem Ballungszentrum – die Bevölkerung stieg
zwischen 1818 und der Wende zum 20. Jahrhundert von 220.000 auf knapp 2,6
Millionen Einwohner an – war eine der markantesten Erscheinungen der
Industrialisierung in Deutschland, ja in Europa. 1899 überholte das Ruhrgebiet in der
Roheisenproduktion Frankreich und schließlich 1925 selbst England, das Mutterland
der Industrialisierung. Die moderne Forschung erklärt diesen „Take-off“ (Walt W.
Rostow) mit so genannten Kopplungseffekten, die vom Eisenbahnbau als „leading
sector“ ausgingen. In Preußen betrug die gesamte Streckenlänge 1840 gerade
einmal 185 km. Sie wuchs bis 1860 auf 6.000 km an und ereichte 1879 eine Länge
von 20.000 km. Die Zahl der Lokomotiven betrug 1840 gerade 30 und war bis 1860
auf 1.372 angewachsen. Die Nachfrage nach Kohle als Energieträger und Stahl für
den Schienen- und Waggonbau schien unstillbar.
Um 1900 förderten im Ruhrgebiet 163 Zechen mit 220.000 Beschäftigten (1850:
12.000; 1870: 50.000) 60.000 t Steinkohle (1850: 2.000 t; 1870: 11.500 t). Bis zum
Vorabend des Ersten Weltkriegs sollte sich dieser Wert noch einmal knapp
verdoppeln. Der rasante technische Fortschritt drückt sich nicht allein im Vormarsch
der Dampfkraft aus. Die Leistungsfähigkeit der Dampfmaschinen stieg im
Ruhrbergbau zwischen 1843 und 1912 von 4.500 PS auf 1,2 Mio. PS und der Blick
auf die Veränderung der Produktivität (Förderung/Beschäftigten) zeigt schon
zwischen 1850 und 1888 einen steilen Anstieg von 160 auf 318 Jahrestonnen.
Ähnliche Zahlen lassen sich auch für die Eisen- und Stahlindustrie anführen. Die
Roheisenerzeugung im Ruhrgebiet stieg beispielsweise zwischen 1850 und 1913
von 11.500 t auf 8,3 Mio. t. Mit Krupp in Essen, dem Bochumer Verein, der Deutsch-
Luxemburgischen Bergwerks- und Hütten AG in Bochum, der Dortmunder Union
oder Hoesch in Dortmund entstanden, um nur einige Beispiele zu nennen, in
wenigen Jahren hoch integrierte Großkonzerne, die von der Erz- und Kohleförderung
über die Roheisen- und Rohstahlproduktion bis hin zur Weiterverarbeitung (Waggon-
und Stahlbau) alle Produktionsstufen umfassten und Zehntausende Mitarbeiter
beschäftigten. Mit in der ersten Reihe stand auch der Hörder Verein, eine der
frühesten Montanaktiengesellschaften des Ruhrgebiets, die 1852 aus den alten
Piepenstockschen Unternehmungen hervorgegangen war.
Die Industrialisierung im Märkischen Raum
Auch der Märkische Raum profitierte von dieser Entwicklung und verlor keineswegs
an wirtschaftlicher Bedeutung, was sich schon daran ablesen lässt, dass neben der
1844 in Hagen gegründeten Handelskammer weitere Handelskammern in
Lüdenscheid (1849), Iserlohn (1850/51) und Altena (1873) gegründet wurden. Die
soeben erschienene umfangreiche wissenschaftliche Untersuchung von Andreas
Berger zur Industrialisierung des Hagener Raums zwischen 1815 und 1914 hat aber
herausgearbeitet, dass die Industrialisierung hier einen völlig anderen Verlauf
genommen hat als im benachbarten Ruhrgebiet oder im von der Textilindustrie
geprägten Wuppertaler Raum. Berger setzt sich im Übrigen auch kritisch mit dem
von Gorißen vertretenen Konzept der Protoindustrialisierung auseinander und weist
z. B. darauf hin, dass die wichtigsten Branchen, die Stahl- und Textilerzeugung, hier
nicht als Nebengewerbe eines dominierenden agrarischen Hauptgewerbes betrieben
wurden. Diese akademische Kontroverse kann an dieser Stelle nicht weiter
ausgebreitet werden. Festzuhalten bleibt, dass wir schon zu Beginn des 19.
Jahrhunderts im Märkischen Raum eine gewerblich verdichtete Region mit einer
langen Tradition vorfinden, aus der sich jetzt ohne große Brüche eine klein- bis
mittelbetriebliche Industrielandschaft mit einigen größeren Unternehmen als
Leuchttürmen entwickelte. Anders als das Ruhrgebiet, dessen industrielle
Wachstumsphasen vor allem durch den Übergang zu einer standardisierten
Massenproduktion in immer größeren Betriebseinheiten gekennzeichnet waren, blieb
gerade der Hagener Raum ein Standort, an dem von oft hoch qualifizierten Arbeitern
in kleinen und mittleren Betrieben kleine Serien oder Spezialprodukte mit einem in
der Regel noch hohen Anteil an „Handarbeit“ gefertigt wurden. Wie schon im 18.
Jahrhundert blieb auch während der Industrialisierung das „human capital“ einer der
wichtigsten Erfolgsfaktoren, und die Unternehmerschaft blieb weiterhin vom
„Eigentümerunternehmer“ und weniger vom „angestellten Manager“ geprägt. Aus
diesen Faktoren resultierten auch die hohe technologische Innovationskraft sowie
eine starke Flexibilität beim Produktportfolio.
Doch betrachten wir die einzelnen Branchen, die diesen Wachstumsprozess trugen,
ein wenig näher. Dies waren neben der dominierenden Stahlerzeugung und
Metallverarbeitung vor allem die Textilindustrie, die Papierherstellung und auch die
Elektroindustrie. Innerhalb der Textilindustrie wurde die traditionelle
Wolltuchherstellung seit den 1830er Jahren von der Baumwollverarbeitung abgelöst,
wobei die Hagener Textilindustrie mit vorm. Gebr. Elbers AG, die Tuchfabrik Moll
oder die Fa. Habig in Herdecke besonders hervorzuheben ist. Ebenso wichtige
Impulse gingen aber auch von den Vorsterschen Papiermühlen in Eilpe und Delstern
aus, die etwa zeitgleich mit der Textilindustrie mechanisiert wurden. Der Pro-Kopf-
Verbrauch von Papier lag noch im Jahr 1800 bei 0,5 kg, stieg dann im Laufe des 19.
Jahrhunderts sprunghaft an und betrug zu Beginn des 20. Jahrhunderts über 20 kg.
Flaggschiff der Papierindustrie wurde die 1896 von Emil Hoesch zusammen mit dem
ortsansässigen Holzschliffhersteller Fritz Klagges im Hagener Ortsteil Kabel
gegründete Papierfabrik Kabel GmbH, an der auch der Kölner Verleger Jean Marie
Neven Du Mont beteiligt war. Ihre Geschichte – die Papierfabrik Vorster wurde 1956
übernommen – ist zugleich ein wichtiges Stück früher Globalisierungsgeschichte,
denn 1959 ging das Unternehmen an den Feldmühle-Konzern, der 1990 von dem
schwedischen Konkurrenten Stora Kopperbergs Bergslags übernommen wurde, der
wiederum 1998/99 mit dem finnischen Unternehmen Enso zu Stora Enso fusionierte.
Nicht vergessen werden darf die Elektroindustrie. 1888 wurde von Adolph Müller,
einem Pionier der Branche, die Accumulatorenfabrik (AFA, seit 1962 VARTA)
gegründet, die schon zwei Jahre später in eine Aktiengesellschaft umgewandelt
wurde. Das Unternehmen profitierte vom ersten großen Boom der Elektrotechnik in
Deutschland. Es war die Zeit, als immer mehr Industriebetriebe im Ruhrgebiet die
Dampfkraft durch flexiblere Elektromotoren ersetzten und viele mittlere und größere
Städte eigene Elektrizitätswerke bauten. Neben der AFA in Hagen sind z. B. noch die
Firmen F. W. Busch (gegr. 1879), Scheibe & Söhne (1880) oder Leopold Kostal
(1912) in Lüdenscheid, Kaiser (1904) und Albrecht Jung (1912) in Schalksmühle,
Bender & Wirt in Kierspe (1899), Graewe & Co. in Menden (1909) oder Helios in
Neuenrade (1914) zu nennen. Auch die schon 1783 ursprünglich als Metall
verarbeitender Betrieb gegründete Firma Casp. Arn. Winkhaus in Halver-Carthausen
dehnte später ihre Geschäftstätigkeit auf die Produktion von Schaltern und
Steckdosen aus.
Leitsektor blieb aber die Eisen- und Stahlindustrie, die mit der Stahlverarbeitung und
dem Maschinenbau eine Produktionskette bildete. Seit den 1830er Jahren durchlief
diese Branche einen zweiten Strukturwandel, der vor allem durch technologische
Veränderungen der Stahlproduktion gekennzeichnet war. Zunächst löste das
„Puddeln“ die traditionellen Frischeverfahren ab, Krupp in Essen und Jacob Mayer
beim Bochumer Verein entwickelten das Gussstahlverfahren, und schließlich wurde
mit der Einführung des Bessemer- und des Thomasverfahrens seit 1862/63 bzw.
1879 der Durchbruch zur industriellen Massenproduktion von sog. Flussstahl
vollzogen. Ein Thomaskonverter erledigte die Tagesproduktion eines Puddelofens
nunmehr in zwanzig Minuten. Der Märkische Raum konnte bei der Eisen- und
Stahlerzeugung allerdings aufgrund seiner Standortnachteile mit der bereits
beschriebenen Entwicklung im Ruhrgebiet nicht Schritt halten. Lediglich die Hasper
Hütte, die nach dem Zweiten Weltkrieg zum Klöckner-Konzern kam, entwickelte sich
zu einem voll integrierten Hüttenwerk. Markenzeichen wurde im Märkischen Raum
die Herstellung von Spezialstählen, die sich ähnlich wie die Stahlverarbeitung
(Kleineisenindustrie, Gesenkschmieden, später v. a. Kaltwalzwerke) erfolgreich
Marktnischen erobern konnten. Auch der Märkische Raum profitierte dabei zunächst
vom Eisenbahnbau als „leading-sector“; Eisenbahnobermaterial, Waggonbeschläge,
Räder, Achsen und Schrauben waren seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die
wichtigsten strategischen Produkte. Davon wurde dann vor allem auch der
Maschinenbau begünstigt, der – ebenfalls klein- oder allenfalls mittelbetrieblich
strukturiert – die verstärkte Nachfrage nach entsprechenden Spezialmaschinen
befriedigte. Alles in allem bildeten sich bis zum Ersten Weltkrieg jene wirtschaftlichen
Strukturen heraus, die noch im Wiederaufbau nach 1945 Bestand haben sollten.
Darauf wird noch zurück zu kommen sein.
Zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg
Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges im August 1914 wurde zwar von großen Teilen
der Bevölkerung begeistert begrüßt, zeigte aber schon bald seine wirtschaftliche
Kehrseite: Der dramatische Produktionseinbruch, der mit Kriegsbeginn erfolgte,
leitete einen Prozess zur Spar- und Notwirtschaft ein, der die Kriegslast nicht nur der
Front, sondern zunehmend auch der Heimat aufbürdete. Vor allem die im Zuge der
Mobilmachung entstandenen Transportengpässe und der Arbeitskräftemangel
wirkten sich lähmend aus. Von den in Friedenszeiten täglich im rheinisch-
westfälischen Wirtschaftsgebiet eingesetzten 30.000 Güterwaggons der Reichsbahn
standen jetzt gerade noch gut 3.000 zur Verfügung, und etwa die Hälfte der
Arbeiterschaft wurde zum Kriegsdienst eingezogen. Bereits Ende 1914 wurden
zudem die kriegswichtigen Rohstoffe knapp. Die Eisen- und Stahlindustrie und die
Metallverarbeitung wurden neben der Ernährungswirtschaft zu einem der wichtigsten
kriegswirtschaftlichen Brennpunkte. Der sich zuspitzende Versorgungsnotstand rief
ein ausgeklügeltes System staatlicher Zwangsbewirtschaftung auf den Plan, das
Theodor Heuss 1915 treffend als „Kriegssozialismus“ charakterisierte. Ein
kompliziertes Geflecht von Kriegsämtern, Staats- und Gemeindebehörden sowie
staatlich beauftragten und beaufsichtigten Kriegsgesellschaften sollte den staatlichen
Anspruch auf Wirtschaftshoheit absichern. Bei allen staatlichen Bemühungen konnte
die Schwerindustrie indes ein hohes Maß an Unabhängigkeit bewahren, was sich
auch in der personellen Affinität der Kriegsamtsstelle mit führenden
(Ruhr)Industriellen niederschlug. Dies machte es der Privatwirtschaft zunächst
leichter, den seit Anfang 1915 vollzogenen Übergang zur staatlichen Planung und
Lenkung mit zu tragen.
Das Scheitern des Ende August 1916 aufgelegten „Hindenburg-Programms“ zur
Mobilisierung aller menschlichen und materiellen Ressourcen für den totalen Krieg, in
dessen Folge „zivile“ Industrien zwangsweise geschlossen und das Ruhrgebiet sowie
der wirtschaftlich eng verzahnte Märkische Raum in den Mittelpunkt einer
„Produktionsschlacht“ gerückt wurden, hinterließ jedoch einen tiefen Riss in den
Beziehungen zwischen Staat und Wirtschaft. Die Eingriffe der Behörden in die
Rüstungsindustrie nahmen in dem Maße zu, wie der Misserfolg des Programms
offensichtlich wurde. Mit der Einbindung der Rüstungsbetriebe in das staatliche
Zwangsbewirtschaftungssystem wurden die unternehmerischen Verfügungsrechte
stark eingeschränkt. Hier finden sich jene Anfänge der Sozialisierungsdebatte, die in
den 1920er Jahren zu einer Existenzfrage der Weimarer Republik werden sollte. Die
Kriegswirtschaftspolitik, die einen Raubbau an Menschen, Material und Lagerstätten
getrieben hatte, mündete schließlich in den Zusammenbruch der deutschen
Wirtschaft. Zum schlechten Zustand der Werke kamen die immer rascher
fortschreitende Geldentwertung sowie die politischen Kämpfe hinzu. Die Kriegsfolgen
konnten daher nur allmählich überwunden werden und der Neuanfang wurde immer
wieder durch eskalierende politische Konflikte erschüttert. Im Juli 1919 konnten
Hungerunruhen nur gewaltsam unterdrückt werden und im März 1920 führte ein
Generalstreik, der zur „Rettung der jungen Republik“ als Reaktion auf den Kapp-
Putsch ausgerufen wurde, zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Eine große
wirtschaftliche Belastung und Unsicherheit resultierte darüber hinaus aus dem im
Juni 1919 unterzeichneten Versailler Vertrag, der das Deutsche Reich zu
Reparationsleistungen verpflichtete und für den Fall der Nichterfüllung
Zwangsmaßnahmen vorsah. Deutschland sah sich zwar außerstande, die im Mai
1921 festgelegten Zahlungen in Höhe von 2 Mrd. RM jährlich zuzüglich 26 % der
Exportüberschüsse aufzubringen, nahm aber unter der Drohung massiver
Sanktionsmaßnahmen das Ultimatum an. Eine Herabsetzung der Reparationen
lehnten die Siegermächte, allen voran die französische Regierung, kategorisch ab,
auch auf die Gefahr hin, dass die wirtschaftliche Zwangslage Deutschland in
unabsehbare politische Schwierigkeiten stürzen könnte. Als Deutschland mit der
Lieferung von Kohle und Holz in Rückstand geriet, besetzten französische und
belgische Truppen im Januar 1923 von Duisburg aus das Ruhrgebiet, um sich
„produktive Pfänder“ zu sichern. Der „Ruhrkampf“ hinterließ auch im Märkischen
Raum Spuren.
Die Währung, seit Kriegsende bereits deutlich geschwächt, verlor rasant an Wert, da
kurzerhand immer mehr Geldnoten gedruckt wurden, um die steigenden
Staatsausgaben zu decken, ohne dass gleichzeitig die Gütermenge wuchs.
Entsprach ein Dollar noch im Januar 1923 1.888 RM, so stieg diese Relation
innerhalb der folgenden Monate explosionsartig auf 4,2 Billionen RM. Die
galoppierende Inflation erstickte jede reguläre Geschäftstätigkeit. Die
Lebensmittelversorgung brach zusammen und die Arbeitslosenzahlen stiegen ins
Unermessliche. Die Umstellung von der „Mark“ auf die „Rentenmark“ (später
„Reichsmark", RM) im November 1923 beendete schließlich die Inflation. Sie war bis
heute die auffälligste und kurzfristig erfolgreichste deutsche Währungsreform. Für
eine Billiarde Mark erhielt man eine Reichsmark. Das am 16. August 1924 in London
unterzeichnete Abkommen, das nach dem Plan des amerikanischen Finanzexperten
und späteren US-Vizepräsidenten Charles Gates Dawes die Reparationszahlungen
stärker an die tatsächliche deutsche Wirtschaftskraft band, trat schließlich am 1.
September 1924 in Kraft und leitete das Ende der Krise und den Beginn der
„Goldenen Zwanziger Jahre“ ein, die allerdings bei genauerer Betrachtung so golden
gar nicht waren.
Im Schatten des Hakenkreuzes
Der Münsteraner Historiker Hans-Ulrich Thamer hat in seiner Anatomie der NS-
Herrschaft herausgearbeitet, dass – so widersprüchlich und letztlich konfus die
wirtschaftspolitischen Vorstellungen innerhalb der NSDAP auch waren – die
Parteiführung um die hohe Bedeutung einer wie auch immer erfolgreichen
Bewältigung der wirtschaftlichen Krisensymptome wusste. Besonders die
Entwicklung des Arbeitsmarktes, das war klar, sollte ein früher Gradmesser für die
Anerkennung des neuen Regimes werden. Eine wichtige Rolle übernahm der neue
Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht, mit dem die Nationalsozialisten über einen
auch international angesehenen und in Wirtschaftskreisen akzeptierten
Finanzexperten verfügten, der offenkundig bereit war, sowohl für die
Arbeitsbeschaffung als auch für die Rüstung nahezu jede Summe zur Verfügung zu
stellen. Über die das wirtschaftliche Wachstum stimulierenden Effekte von
Aufrüstung und beginnender Kriegswirtschaft gibt es für das Ruhrgebiet keinen
Zweifel, das von den Nationalsozialisten zur „archetypischen Rüstungskammer“ des
Dritten Reichs erklärt wurde. Die Kapazitätsauslastung der Hochöfen und
Stahlwerke, die in den 1920er Jahren lediglich bei etwa 60% gelegen hatte, stieg auf
80% und bald auf über 90% an, denn unmittelbar mit der Machtübernahme der
Nationalsozialisten begannen die wirtschaftlichen Kriegsvorbereitungen. Bald
herrschte Vollbeschäftigung, die Industrieproduktion überschritt den Höchststand der
Vorkriegsproduktion und das Sozialprodukt pro Kopf der Bevölkerung lag etwa 25%
über dem Niveau der „goldenen Zwanziger Jahre“. 1938 betrug der Anteil der
Wehrmacht an den Gesamtausgaben der öffentlichen Haushalte in Deutschland
bereits über 50%.
Auch die Wirtschaft im Bezirk der Hagener Industrie- und Handelskammer, die mit
der Montanindustrie des Ruhrgebiets eng verbunden war, profitierte von diesem
wirtschaftlichen Aufschwung. Die Arbeitslosenquote im Bezirk des Arbeitsamtes
Hagen ging von über 30% im Jahr 1933 auf 2% im Jahr 1937 zurück. Werfen wir
zunächst einen Blick auf die betriebliche Struktur, wie sie sich in der
Zwischenkriegszeit herausgebildet hatte. Es lässt sich erkennen, dass sich trotz einer
Konzentrationswelle seit Mitte der 1920er Jahre die mittelständische Grundstruktur
weitgehend erhalten hatte: Einzelbetriebe und „Unternehmensformen des
Familienbesitzes“ überwogen nach wie vor, obwohl vor allen Dingen der Dortmunder
Hoesch-Konzern und die Vereinigte Stahlwerke AG in dieser Zeit im Zuge ihrer
expansiven vertikalen Integrationspolitik Eisen und Stahl verarbeitende Betriebe im
südwestfälischen Raum erworben hatten, die durch Mangel an Eigenkapital bzw.
hohe Kreditkosten ihrerseits den Anschluss an die rasante technische Entwicklung
nicht hatten leisten können. Es war in Deutschland die Zeit der ersten großen
Rationalisierungswelle, die nach amerikanischem Leitbild („Taylorismus“,
„Fordismus“) die Senkung der Produktionskosten durch die Optimierung
innerbetrieblicher Prozesse zum Ziel hatte. Im Grunde haben wir es mit einem
Prozess der Strukturbereinigung der Eisen- und Stahlindustrie und ihrer
angeschlossenen weiterverarbeitenden Produktionsstufen zu tun, der durch die
hereinbrechende Weltwirtschaftskrise weiter beschleunigt wurde. Die übrigen
Branchen waren von diesem Konzentrationsprozess weit weniger betroffen.
Schließlich wirkte die nationalsozialistische Wirtschaftpolitik, die im Übergang zur
gelenkten Plan- und Autarkiewirtschaft erklärtermaßen die Klein- und Mittelbetriebe
begünstigte, stabilisierend.
Der Wirtschaftsaufschwung in der Frühphase des Dritten Reiches wurde auch im
Hagener Kammerbezirk zunächst durch den Ausbau der Kraftfahrzeugindustrie, den
Aufschwung der durch Reichskredite angekurbelten Baukonjunktur sowie durch neue
Aufträge der Reichsbahn stärker begünstigt als durch die militärische Aufrüstung im
engeren Sinne. Besonders beachtlich ist der Aufschwung der Kunststoffverarbeitung,
die besonders gefördert wurde, um sich von ausländischen Rohstoffen unabhängig
zu machen (Autarkiepolitik). Auch in der Phase der eigentlichen Kriegswirtschaft, die
spätestens mit dem Vierjahresplan von 1936 eingeleitet worden war, kam es nicht zu
einer Ausdehnung der Rüstungsindustrie im engeren Sinne – in den alliierten
Demontageplänen von 1947 waren nur drei Betriebe des Kammerbezirks als
Rüstungsbetriebe eingestuft –, wenngleich natürlich die regionale Wirtschaft als
Zulieferer durchaus vom Rüstungsboom profitierte. Eine statistische Erhebung der
Gauwirtschaftskammer Westfalen-Süd von 1943 zeigt die überragende Bedeutung
der Eisen und Metall schaffenden und verarbeitenden Industrien, innerhalb derer die
Gruppe Werkstoffverfeinerung klar dominierte. Es folgten die Eisen-, Stahl- und
Blechwarenherstellung vor der Eisen schaffenden Industrie. Die Elektroindustrie –
man denke z. B. nur an die hohe kriegswirtschaftliche Bedeutung der Hagener
Akkumulatorenfabrik z. B. für den U-Bootbau – hatte stark an Bedeutung gewonnen
und zum Maschinenbau aufgeschlossen, während die Gießereien stark an
Bedeutung eingebüßt hatten. Alle übrigen Industriezweige waren mehr oder weniger
unbedeutend, ein Hinweis auf die frühe Verfestigung der industriellen Monostruktur
des Wirtschaftsraumes, auf die im Zusammenhang mit der Strukturkrise noch
zurückzukommen sein wird.
Heute wissen wir, dass der wirtschaftliche Zusammenbruch bereits vor
Kriegsausbruch vorprogrammiert war und die Konjunktur nur vordergründig durch
eine weiterhin überhitzte Kriegsrüstung aufrecht erhalten werden konnte.
Wirtschaftlich konnte Deutschland nur durch die gewaltsame Ausdehnung des
eigenen Wirtschaftsraumes und die Ausbeutung der eroberten Gebiete überleben.
Die Gebote der wirtschaftlichen Vernunft waren längst überschritten und die
„Vergeblichkeit der wirtschaftspolitischen Warnungen und Mahnungen sollte zeigen,
wie weit sich Hitler auch machtpolitisch bereits von den Männern der Wirtschaft
abgesetzt hatte“ (Hans-Ulrich Thamer). Als zwischen dem 13. und 16. April 1945
amerikanische Truppen von Süden her mehr oder weniger kampflos den Bezirk der
Südwestfälischen Industrie- und Handelskammer zu Hagen besetzten, hatten der
Terror der letzten Kriegstage und der Wahnsinn des Durchhaltens ein Ende.
Wiederaufbau und „Wirtschaftswunder“
Nach Kriegsende prägten Not und Elend den Alltag auch im Gebiet der SIHK. Für die
Stadt Hagen liegt eine beeindruckende Dokumentation aus dem Jahre 1948 vor und
jüngere Forschungen haben herausgearbeitet, dass „das „Denken und Handeln der
Menschen vor allem vom Kampf um das eigene Überleben und das der Familie
beherrscht wurde. Das Ernährungsproblem, die Wohnungsnot und der Mangel an
Brand- und Heizmaterial sowie vielen anderen lebenswichtigen Bedarfsgütern, wie z.
B. Bekleidung und Schuhwerk, waren die Probleme, mit denen die Menschen in
Hagen wie auch andernorts im zerbombten Nachkriegsdeutschland tagtäglich zu
kämpfen hatten.“ Besonderes Merkmal war die „Selbstversorgung“, die in größerem
Umfang begann, als die Bahnverbindungen wieder in Gang kamen: „Kaum
vorstellbar ist die Fülle der Menschen, die sich in den damals vorzugsweise
verwendeten Güterwagen, in den Bremserhäuschen, auf den Dächern und
Trittbrettern drängten, auf Umsteigebahnhöfen stundenlang warteten oder mit Sack
und Pack in überfüllten oder halbzerstörten Wartesälen übernachten mussten. …
Diese Selbstversorgung, allmählich vielen in der Form des Tausches von
irgendwelcher Ware oder Gegenständen gegen Lebensmittel zu einer die legitime
Versorgung beeinträchtigenden Gewohnheit geworden, muß man berücksichtigen,
wenn man verstehen will, daß die Großstadtbevölkerung die Jahre nach dem
Zusammenbruch überstehen konnte.“ Soweit eine zeitgenössische Beschreibung der
Verhältnisse aus Hagen aus dem Jahr 1948.
Während der „Schwarze Markt“ Versorgungsinstanz Nr. 1 für den privaten Verbrauch
und die Zigarette zur Ersatzwährung wurde, drohte auch in der Geschäftswelt der
Rückfall in die primitive Tauschwirtschaft. Galt das vorrangige Bemühen der
Unternehmen zunächst der Erteilung eines „Permit“, also einer Betriebsgenehmigung
durch die britische Militärregierung – bis Ende 1945 nahmen in Hagen immerhin 75%
der Unternehmen die Produktion wieder auf –, stoppte der allgemeine
Versorgungsmangel „nachdem die aus der Kriegszeit noch vorhandenen Roh- und
Hilfsstoffe zur Neige gingen“ das erste Wiederaufbäumen der regionalen Wirtschaft
und es „begann die Enttäuschung hierüber den Unternehmungsgeist zu lähmen.“ Die
„Verwaltung des Mangels“ wurde zur vorrangigen Aufgabe der Kammer.
Ein besonderes und schier irreparables Problem schien die Zerrüttung der Währung.
Nach der ungeheuren Geldmengenausweitung während des Krieges und dem
gleichzeitigen Zusammenbruch der industriellen Produktion hatte die Reichsmark
ihre Funktion als Tausch- und Wertaufbewahrungsmittel verloren. Das
Inflationspotential in Deutschland wird heute auf etwa 700 % veranschlagt und neben
den laufenden zivilen Staatsausgaben waren bis Ende 1944 allein für die Wehrmacht
376,57 Mrd. RM ausgegeben worden. Hinzu kommen mindestens noch weitere
84,45 Mrd. RM für „rüstungsbezogene Ausgaben“ der Zivilverwaltung. Diesen
Aufwendungen standen Einnahmen aus Steuern und Zöllen in Höhe von lediglich
185 Mrd. RM gegenüber. Insgesamt türmte sich eine Reichsschuld von rd. 400 Mrd.
RM auf, die nach dem 8. Mai 1945 praktisch uneinbringlich geworden war. Gläubiger
dieses Schuldenberges waren zu 25% die Reichsbank, zu 50% Banken und
Sparkassen sowie zu weiteren 25% Versicherungen und andere Unternehmen,
deren durch Kriegskonjunktur und Konsumstau entstandene hohe Liquidität
„möglichst geräuschlos abgeschöpft wurde.“
Eine Währungsreform war also überfällig. Am 20. Juni 1948, einem Sonntag, traten
in den westlichen Besatzungszonen die „Gesetze zur Neuordnung des Geldwesens“
in Kraft. Danach sollten die RM-Spareinlagen im Verhältnis 10 Reichmark zu 1 DM
umgestellt werden. Auch in Hagen und Umgebung wurden die ersten 40 DM pro
Person ausgezahlt, im August folgten weitere 20 DM. De facto fiel damit das
Umstellungsverhältnis bei Sparguthaben auf 10:0,65, während andere Anlageformen
wie Schuldverschreibungen, Lebensversicherungen oder Bausparkonten im
Verhältnis 10:1 umgestellt blieben. Dagegen wurden Verbindlichkeiten aus sog.
wiederkehrenden Leistungen, also z. B. Löhne oder Mieten, im Verhältnis 1:1
umgestellt. Arbeitgeber erhielten als Grundausstattung an Liquidität 60 DM pro Kopf
der Belegschaft. Die sog. Altsparerentschädigung sollte ein Dauerbrenner der
politischen Diskussion werden. Schon ein flüchtiger Blick in die historischen Akten
der SIHK zeigt, dass mit der Währungsreform keinesfalls quasi per Knopfdruck die
Weichen in ein ungebremstes Wachstum gestellt wurden. Auch in den folgenden
Jahren bestimmten Wohnungsnot, Kreditnot, die Energieversorgung und, nicht zu
vergessen, das Problem der Demontage das Tagesgeschäft. Nachkriegsdeutschland
war also von den Erwartungen eines „Wirtschaftswunders“ weit entfernt. Die
Währungsreform war aber ohne Frage ein wichtiges Initial für den beginnenden
Wiederaufbau.
Die „Fakten“ für den wirtschaftlichen Wiederaufbau der 1950er Jahre liegen auf dem
Tisch und sprechen für sich. Allerdings begegnet die Forschung dem Begriff des
„Wirtschaftswunders“ zunehmend skeptisch, weil das Wirtschaftswachstum in der
Bundesrepublik im Vergleich zu anderen westeuropäischen Volkswirtschaften und
den USA eher unter- als überdurchschnittlich hoch war. Die Jahre 1954 und 1955
waren die „Blütezeit der Investitionen“, wie Ludwig Erhardt in seinem Buch
„Wohlstand für alle“ 1957 meinte: „Mitte 1954 war kaum noch ein Zweifel möglich,
daß wir einer langen Periode der Hochkonjunktur entgegengingen.“ Tatsächlich
zeigten die Wachstumsraten der industriellen Produktion ebenso wie die
Exportzahlen steil nach oben. Bereits im ersten Halbjahr 1950 erreichten die
Verbrauchgüterindustrien das Produktionsniveau von 1939 und besaßen gegenüber
den Grundstoff- und Investitionsgüterindustrien noch einen leichten Vorsprung, der
aber bereits in der zweiten Jahreshälfte mehr als wettgemacht wurde. Die größten
Wachstumssprünge folgten dann zwischen 1954 und 1955, als der Index für die
Gesamtindustrie von 153,4 auf 216,6 zulegte.
Blicken wir in die Wirtschaftsstatistik des Hagener Kammerbezirks und folgen dabei
einer älteren Untersuchung von Wolfgang Köllmann: Das Geschäftsjahr 1949 war
noch – in heutiger Terminologie ausgedrückt – von einer wirtschaftlichen Rezession
geprägt, die erst im vierten Quartal abflaute. Dennoch, die regionalen Leitindustrien
profitierten schon jetzt davon, „dass die öffentlichen Bedarfsträger, in erster Linie
Bundesbahn und Bergbau, die Möglichkeit haben, Aufträge zu vergeben. Wir zählen
in unserem Gebiet allein 275 Bundesbahn- und 175 Bergbauzulieferanten.“ Die
Arbeitsstättenzählung vom 13. September 1950 bildet aus heutiger Sicht eine erste
zuverlässige Bestandsaufnahme über die wirtschaftlichen Strukturen im
Kammerbezirk nach 1945. Danach war die Zahl der Arbeitsstätten besonders im
Handwerk (-25%) und im Baugewerbe (-50%) zurückgegangen, im Einzelhandel
dagegen ebenso wie im Geld-, Kredit- und Versicherungsgewerbe erheblich
gestiegen, während sie in der Industriewirtschaft nahezu konstant blieb. Zwar konnte
der Beschäftigungsstand der Vorkriegszeit noch nicht wieder erreicht werden.
Dennoch blieb die Dominanz der Industriewirtschaft ungebrochen. Springen wir in
das Jahr 1961, so lässt sich erkennen, dass sie diese Position sogar noch weiter
ausbauen konnte. Mehr als zwei Drittel der hinzugekommenen 93.183 Beschäftigten
entfielen auf den industriellen Sektor. Das Handwerk folgte trotz einer Abnahme der
Betriebe um 23% und einem Beschäftigtensaldo von über 27% auf dem zweiten
Rang. Hier war es im Zuge großer struktureller Veränderungen zum Abschied vom
Klein- und Kleinstbetrieb gekommen. Die durchschnittliche Betriebsgröße stieg von
3,8 auf 6,3 Beschäftigte. Die relativ größten Wachstumsraten erzielte der tertiäre
Sektor mit den Banken und Versicherungen an der Spitze, und auch das
Baugewerbe boomte infolge der Wiederaufbauleistungen, des expandierenden
sozialen Wohnungsbaus sowie des allgemein steigenden Lebensstandards. Nach
den Mitteilungen des Statistischen Bundesamtes stieg der Preisindex für die
Lebenshaltung bis 1965 auf 138,5 Punkte (1950=100), während im selben Zeitraum
die Reallöhne eines Industriearbeiters auf 237,4 Punkte kletterten. Auch im
Baugewerbe war der Trend zu größeren Betriebseinheiten nicht zu übersehen. Viele
kleine Unternehmen, die die hohen Investitionen für moderne Baumaschinen nicht
aufbringen konnten, blieben auf der Strecke. Insgesamt nahm die Zahl der Betriebe
von 282 auf 136, also um mehr als die Hälfte ab, während die Beschäftigtenzahl von
rd. 2.800 auf über 4.400 anstieg, was eine Ausweitung der durchschnittlichen
Betriebsgröße von 10,3 auf 35,5 Beschäftigte bedeutete. Dabei bleibt anzumerken,
dass viele Ein-Mann Betriebe, die in der Frühphase der Bundesrepublik die
Schwarzmarktkonjunktur ausnutzten, auf Dauer keinen Bestand hatten.
Im NRW-Vergleich nahm der Bezirk der SIHK mit seiner ausgeprägten
Industrielastigkeit – 77,6% aller Beschäftigten (ohne Handwerk) arbeiteten in
Industriebetrieben – zusammen mit dem bergischen Raum eine Spitzenstellung ein,
wobei im Vergleich zu den Kammerbezirken des Ruhrgebietes Dortmund, Bochum,
Essen und Duisburg die mittelständische Struktur hervorsticht. Diese Dominanz
findet sich mit unterschiedlicher Intensität in allen Teilregionen wieder: Sie betrug (in
% der Gesamtbeschäftigten ohne das Handwerk) in Hagen 69,3%, in Lüdenscheid
76,4%, in Iserlohn 78,3%, in Schwelm 80,8% und in Altena 83,3%. Dennoch stoßen
wir bei genauerer Betrachtung auf unterschiedliche lokale Profile, wie sie aus der
nachfolgenden Tabelle abzulesen sind.
Verteilung der Industriebeschäftigten innerhalb der einzelnen Geschäftsstellen-
bereiche der SIHK auf einzelne Industriezweige im Jahre 1950 (in %)
Industriezweig Hagen Schwelm Iserlohn Altena Lüdenscheid SIHK
Industriebeschäftigte absolut
32.007 34.210 35.831 34.843 12.194 149.085
Eisen und Stahl, Warmwalzwerke
25,3 0,5 3,2 4,7 0 7,4
Schmieden, Press- und Hammerwerke
0,9 1,6 0,1 2,6 0 1,2
Ziehereien, Kaltwalzwerke
1,6 0,3 16,1 10,2 0 6,7
Eisen- und Stahlgießereien
9,0 10,7 3,3 0,3 0,2 5,3
Metallschmelzen, NE-Metallhalbzeugherst.
0 0,9 6,6 13,1 8,6 5,6
Metallgießerei 0,7 0,6 0,9 1,1 0,7 0,8 Maschinenbau 4,6 20,1 9,2 3,3 4,2 8,9 Fahrzeugbau 0,1 3,4 1,2 0,3 0 1,2 Elektrotechnik 7,1 1,0 6,2 11,2 21,3 7,6 ESBM-Industrie* 22,9 40,8 33,6 40,8 51,9 36,1 Sonstige 27,7 20,2 19,5 12,4 13,0 19,2 Gesamt 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0 *Blechwaren, Heiz- und Kochgeräte, Schloss- und Beschlagindustrie, Werkzeugindustrie, Fahrrad- und Kraftradteile, Schneidwaren, Stahlblechverarbeitung u. a. Quelle: Nach Wolfgang Köllmann: Die strukturelle Entwicklung des südwestfälischen Wirtschaftsraumes 1945-1967, Hagen 1969, S. 62.
Trotz der unterschiedlichen industriellen Schwerpunkte lässt sich in allen
Teilregionen eine monostrukturelle Verhärtung feststellen, die im Zuge der
Strukturkrise der Montanindustrie des Ruhrgebietes auch auf die Region der SIHK
zurückwirken sollte. Die „goldenen 1950er Jahre“ gingen zu Ende. Lag der jährliche
Zuwachs an Beschäftigten zwischen 1950 und 1960 durchschnittlich bei knapp 4%
(1955 betrug er in der Spitze 9,3% und war 1958 mit –2,2% erstmals negativ), war er
bis 1967 mit durchschnittlich –2,3 % stark rückläufig. Die absolute Zahl der
Industriebeschäftigten ging nach einem Höchststand von über 197.000 (1960) auf
168.00 (1967) zurück und lag damit nur knapp über dem Niveau von 1954. Der
Trend der „Deindustrialisierung“ sollte sich weiter fortsetzen. Im Jahre 2000 waren
von rd. 280.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten nur noch knapp 130.000
im verarbeitenden Gewerbe tätig.