+ All Categories
Home > Documents > In guter Gesellschaft

In guter Gesellschaft

Date post: 04-Jan-2017
Category:
Upload: vocong
View: 215 times
Download: 0 times
Share this document with a friend
85
Transcript
Page 1: In guter Gesellschaft
Page 2: In guter Gesellschaft
Page 3: In guter Gesellschaft

Chicago Band 23

In guter Gesellschaft

Page 4: In guter Gesellschaft

Pat Connor ist Privatdetektiv im Chicago der zwanziger Jahre. Kein leichter Job und keine gesunde Gegend, um diesem Job nachzugehen. Besonders, wenn die Stadt zwischen dem italienischen Syndikat von ›Il Cardinale‹ Rigobello und dem irischen von ›The Jar‹ O'Malley aufgeteilt ist.

Seine Sekretärin Betty Meyer, meist damit beschäftigt, ihre Fin­gernägel zu lackieren, ist ihm auch keine große Hilfe.

Verlassen kann er sich aber auf seinen väterlichen Freund Bren­don Smith, Reporter bei der Chicago Tribune, der ihm wichtige Infor­mationen besorgt. Und auf Dunky, den Wirt seiner Stammkneipe, in der er sich regelmäßig mit illegalem Bourbon den Frust hinunterspült.

Anlass dazu gibt es genug, nicht zuletzt in Person von Lieutenant Quirrer vom Police Departement und dessen Chef Captain Hollyfield. Jedes Mal, wenn eine Leiche auftaucht, ist für Quirrer zuerst Pat der Hauptverdächtige.

*

An einem Morgen im September betrat ich mein Büro Ecke South Franklin/Monroe Street. Den Abend zuvor war ich bei Dunky einge­kehrt. Die Zeiten waren flau und ich hatte gehofft, bessere einläuten zu können. Doch das einzige Ergebnis war, dass mein Schädel dröhn­te.

Als ich eintrat, stand meine Sekretärin am offenen Fenster. Sie hatte die Arme vorgestreckt, die Knie gebeugt und tat gerade einen tiefen Atemzug.

»Was soll denn das geben?«, knirschte ich. »Ich wappne mich gegen die Erkältungswelle, Chef.« »Aha.« Der Morgen war zu früh, um sich mit Bettys Anfällen aus­

einanderzusetzen. Ich ging zu meinem Schreibtisch, warf die Zeitung darauf, steckte mir eine Lucky an und ließ mich in den Stuhl fallen. Betty schloss das Fenster. Ein Glück für sie. Minuten später brachte sie mir eine Tasse Kaffee. Sie faltete die Tribune vor meiner Nase aus­einander und las mit unheilschwangerer Stimme: »Erkältungswelle legt Chicago lahm.«

4

Page 5: In guter Gesellschaft

»Und?«, fragte ich. »Ich bin fest entschlossen, in diesem Jahr verschont zu bleiben.« »Als Ihr Chef kann ich Ihnen zu dieser Einstellung nur gratulie­

ren«, erwiderte ich trocken. »Und wie wollen Sie das anstellen?« »Frischluft, Vitamine und ich werde mich der Innenstadt fernhal­

ten, bis die Erkältungswelle vorüber ist.« Ich hielt es da doch eher mit althergebrachten Methoden. Ein an­

ständiger Schluck ab und an und allen Bakterien wurde der Garaus gemacht.

»Einen ganzen Monat ohne einkaufen zu gehen?«, fragte ich. »Wie wollen Sie das aushalten? Spätestens nach einer Woche müssten Sie doch einen Kurier zu Marshai Fields schicken, um ihre Vorräte an Nagellack aufzufrischen.«

Meine Sekretärin wandte sich ab. Ihre gesamte Haltung schien zu sagen: Warum spreche ich eigentlich mit Ihnen darüber? Vielleicht lag es daran, dass ich noch einen draufsetzen musste.

»Okay Betty, wenn Sie es wirklich schaffen, in diesem Jahr ohne Erkältung bis Weihnachten durchzukommen, dann zahle ich Ihnen einen Jackson extra zum Fest.« Bettys Interesse war geweckt.

»Ist das Ihr Ernst?«, fragte sie argwöhnisch. »Sicher. Aber Sie werden es nicht schaffen. Seitdem ich Sie ken­

ne, haben Sie jede Erkältungswelle mitgenommen, die über Chicago hereingebrochen ist.«

»Das werden wir ja sehen«, erwiderte sie triumphierend. »Abge­macht, Chef.«

»Aber halten Sie die Fenster geschlossen!« Ich legte die Füße auf den Tisch, holte den Flachmann mit Bourbon aus der Schreibtisch­schublade und vertiefte mich in die Tribune.

*

Ganz im Gegensatz zu meiner Sekretärin machte ich mich am Nach­mittag auf den Weg in die Loop. Da ich momentan keinen Fall am Wi­ckel hatte, hielt ich es für angebracht, mir ein wenig die Zeit zu ver­treiben. In der State Street schlenderte ich durch die Geschäfte. Ich

5

Page 6: In guter Gesellschaft

stattete dem großen Kaufhaus einen Besuch ab und schaute mir die Auslagen an. Danach betrat ich einen Friseursalon, ließ mir die Haare schneiden.

Ich setzte mich mit der Zeitung in den nahe gelegenen Grant Park, genoss das Septemberwetter und schaute der einen oder ande­ren Lady nach, bis mich der Hunger zurück in die Hauptgeschäftsstra­ßen trieb. Ich entschied, etwas essen zu gehen, als aus einem Ge­schäft direkt vor mir ein Mann auf die Straße trat.

Er blickte lachend zurück und prallte mit voller Wucht gegen mich, sodass ich meine Einkäufe und meinen Hut verlor und der Länge nach hinschlug.

»Verdammt noch mal, können Sie nicht...«, fluchte ich und rappel­te mich auf. Doch bevor ich ihn gebührend zusammengefaltet hatte, sagte er: »Pat! Pat Connor! Menschenskind, das gibt es doch gar nicht.« Ich blickte dem Mann überrascht ins Gesicht.

»Miller?«, fragte ich. Da riss er mich auch schon in seine Arme. Gefühlsausbrüche dieser Art waren mir von jeher zuwider. Aber Miller war bereits während unserer Schulzeit ein enthusiastischer Typ gewe­sen. Er ergriff meine Hand und schüttelte sie, als wollte er sie gar nicht wieder loslassen.

»Lass dich anschauen.« Ich trat zurück, dankbar ihm zu entkommen. »Man kann dir immer

noch das Vaterunser durch die Rippen blasen. Seit wann bist du wie­der in Chicago?«

»Seit letzter Woche. Ich schreibe an meiner Doktorarbeit in Me­dizin und bin bei meinen alten Herrschaften untergekommen. Und wen treffe ich auf der Straße? Pat Connor. Ich hatte schon überlegt, wie ich dich ausfindig machen könnte.« Er rieb sich die Hände und rief plötz­lich so laut, dass einige Passanten sich nach ihm umdrehten: »Chica­go, wir kommen!«

»Ich wollte gerade etwas essen gehen«, sagte ich. »Möchtest du mitkommen?«

Lance stimmte begeistert zu. Wir überquerten die Straße und betraten ein nahe gelegenes Restaurant. Ich hatte mich schnell für ein Steak entschieden, während Lance noch die Speisekarte studierte.

6

Page 7: In guter Gesellschaft

»Ich habe gehört, dass deine Eltern gestorben sind, Pat«, sagte er, nachdem wir bestellt hatten. »Wilson hat es mir geschrieben.«

Ich steckte mir eine Lucky an. Trevor Wilson war ein gemeinsamer Klassenkamerad gewesen und die größte Tratschtasche des Jahr­hunderts.

»Stimmt es denn?«, hakte Lance nach. »Sicher.« »Bist du noch bei der Polizei?« Statt einer Antwort hielt ich ihm meine Karte hin. »Privatdetektiv?«, lachte er. »Na, ich muss schon sagen. Das

passt zu dir. Schon früher musste man dir alles aus der Nase ziehen.« Er nahm einen Schluck Kaffee und sagte: »Und die Damen sind hinter dir her wie eh und je, möchte ich wetten.«

»Jetzt nicht mehr, wo du in der Stadt bist«, antwortete ich tro­cken.

Alles in allem hatten Miller und ich uns viel zu erzählen. Als wir endlich aus dem Diner traten, war die Nacht hereingebrochen. Ich verabschiedete mich von ihm und ging gut gelaunt nach Hause.

*

Die nächsten Tage blieb es ruhig. Zu ruhig für meinen Geschmack. Gerade war ich dabei, vor lauter Verzweiflung die Adresskartei auf Vordermann zu bringen, damit Betty sie neu abtippen konnte, als das Telefon klingelte. Betty nahm ab und verband mich wenig später mit Lance Miller.

»Lance, alter Junge, was kann ich für dich tun?«, fragte ich. »Mir eine hübsche Mieze besorgen«, antwortete er. Ich warf einen

Blick zu Betty hinüber, die über irgendeine Zeitschrift gebeugt an ih­rem Schreibtisch saß.

»Ich dachte, das könntest du umgekehrt für mich erledigen.« »Weit gefehlt. Ich sitze ständig zu Hause über meinen Büchern.

Aber zur Sache, Pat. Meine Eltern lassen dich durch mich zum Dinner einladen.«

»Warum nicht. Wann?«, fragte ich.

7

Page 8: In guter Gesellschaft

»Morgen Abend um 7 Uhr.« Ich bedankte mich für die Einladung und legte auf. »Brauchen Sie zufällig eine Begleitung?«, fragte Betty, die den

letzten Teil des Telefonates mit angehört hatte. »In dieser Stadt pas­siert rein gar nichts mehr.« Sie warf melancholisch den Blick an die Decke und klimperte mit ihren langen Wimpern.

Ich sah sie erstaunt an. Man konnte Chicago wirklich nicht als langweiliges Nest bezeichnen. Plötzlich dämmerte es mir.

»Seit wann haben Sie kein Kaufhaus mehr von innen gesehen, Betty?«

»Seit zehn Tagen«, jammerte sie. »Sie haben eine Depression«, stellte ich grinsend fest. »Ja«, gestand sie, den Kopf auf die Ellenbogen gestützt.

*

Um 6 Uhr 30 am nächsten Abend verließ ich meine Wohnung. Ich hat­te mich in meinen besten Anzug geschmissen. In meinem Plymouth fuhr ich in Richtung Lakeview. Ich erreichte die Aldine Avenue kurz vor 7 Uhr, parkte und ging auf die stattliche Villa der Millers zu.

Seit Generationen besaß die Familie eines der nobelsten Herren­bekleidungsgeschäfte der Stadt. Früher war ich hier ein- und ausge­gangen, doch heute stand ich mit einem gewissen Unbehagen vor der weißen Eingangstür. Diese Gegend entsprach weder meiner Gesell­schaftsklasse noch meiner Kragenweite. Woran lag es, dass es mir frü­her nicht aufgefallen war?

Ich betätigte den Klopfer, ein blank geputztes Messingding in Form eines Löwen. Und ich hätte viel darum gegeben, einfach um­kehren zu können. Doch der Klopfer schaukelte bereits, als jemand die Tür öffnete.

»Alice«, rief ich erfreut. Die rundliche Hausangestellte der Millers hatte sich nicht verändert. Ihre weißen Zähne blitzten aus einem Ge­sicht so schwarz wie Schokolade. Sie nahm mir den Mantel ab und sagte: »Die Herrschaften erwarten Sie.«

8

Page 9: In guter Gesellschaft

Da öffnete sich bereits die hohe Schiebetür des Salons und Lance sah heraus. »Da ist er ja! Komm rein, altes Haus.«

Die Ausstattung des Zimmers war dieselbe wie vor 15 Jahren. Öl­gemälde und Regale zierten die Wände und die eine oder andere wert­volle Bodenvase stand herum. In dem wuchtigen Kamin prasselte ein Feuer, denn der Raum war trotz der Jahreszeit beachtlich kühl. Mister Miller senior erhob sich und streckte mir die Hand entgegen.

»Es freut mich, Sie wieder zu sehen, junger Mann. Lance erzählte, er habe Sie vor ein paar Tagen auf der State Street über den Haufen gerannt.«

Arthur Miller war immer noch groß und schlank und ließ ahnen, wie Lance in dreißig Jahren aussehen würde. Seine Frau, Mary, war für ihr Alter eine wirklich gut aussehende Frau. Beinahe hätte ich Lances Bruder Steve übersehen, der sich nun ebenfalls von seinem Sessel erhob. Er begrüßte mich höflich. Als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, war er 14 Jahre alt gewesen. Bereits damals glich er einem kal­ten Fisch.

Doch auch der herzliche Empfang und der exzellente Bourbon konnten mich nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass mein bes­ter Anzug nicht mit denen der Herren Miller konkurrieren konnte. Ich versuchte, mich auf die Gespräche zu konzentrieren, aber alles in al­lem fühlte ich mich wie ein Ackergaul unter Rennpferden.

*

Das Dinner war wirklich nicht von schlechten Eltern. Voller Inbrunst kämpfte ich mich durch vier Gänge und widerstand dem Bedürfnis, den Knopf meiner Hose zu öffnen. Nach dem Essen folgte ich Lance, Steve und ihrem Vater in die Bibliothek. Alice servierte uns Kaffee und Arthur Miller schenkte uns Whiskey ein. So hätte das Leben weiterge­hen können.

»Die Burschen in Washington können das mit der Prohibition nicht mehr lange durchhalten«, erklärte uns Arthur Miller, während er eine dicke Zigarre anpaffte. Ich hatte mir bereits eine Lucky angezündet und mich bequem zurückgelehnt.

9

Page 10: In guter Gesellschaft

Lance grinste, als wollte er sagen: Jetzt geht das schon wieder los. Sein Bruder wirkte nach wie vor teilnahmslos und hörte ohne er­sichtliche Gemütsregung seinem Vater zu, der sagte: »Alles, was die Politiker erreichen, ist, dass das Verbrechen boomt.«

»Für Pat ist das gar nicht schlecht, Dad«, erklärte Lance. »So? Ach ja, ohne Verbrechen wären Sie ja arbeitslos, mein Jun­

ge. Erzählen Sie uns doch ein bisschen! Wie viele Scheidungsfälle be­arbeiten Sie im Monat? Ich habe gehört, dass diese immer noch den Löwenanteil der Detektivarbeit ausmachen.«

»Ich bearbeite grundsätzlich keine Scheidungsfälle, Sir.« »Interessant. Warum nicht, wenn ich fragen darf?« »Generell bedeuten solche Fälle viel Einsatz für verhältnismäßig

wenig Geld.« Mister Miller beugte sich vor und fragte neugierig: »Was war Ihr

interessantester Fall?« »Dad«, sagte Lance. »Meinst du nicht, dass es etwas unhöflich ist,

Pat so etwas zu fragen? Es wäre doch sehr indiskret von ihm, würde er über seine Klienten plaudern.«

»Da hast du wahrscheinlich auch wieder Recht«, lenkte Arthur Miller ein und zuckte mit den Schultern. »Na dann. Cheers.« Erhob sein Glas.

Es war das letzte Mal, dass ich den alten Herrn lebend sah.

*

Ein paar Tage später, am Montag, platzte die Bombe. Die Schlagzeile auf der ersten Seite der Tribune riss mich jäh aus meinem morgend­lichen Dämmer:

»Spektakulärer Mord in Opernloge. Bekannter Chicagoer Herrenausstatter brutal ermordet« Wie vor den Kopf geschlagen, las ich weiter: Der bekannte Chicagoer Herrenausstatter Arthur Miller ist am

Samstagabend Opfer eines hinterhältigen Mordanschlags geworden. Miller saß allein in einer Loge der Oper und verfolgte den zweiten Akt von La Traviata, als ein Unbekannter ihn von hinten erdrosselte. Zum 10

Page 11: In guter Gesellschaft

Tathergang konnten bisher keine Angaben gemacht werden. Zeugen für den Mordfall gibt es nicht. Die Polizei vermutet den Täter im pri­vaten Umfeld des Opfers.

Ich legte die Entfernung vom Zeitungsstand zu meinem Apartment in Rekordgeschwindigkeit zurück, holte meine Autoschlüssel und fuhr hinaus nach Lakeview.

Vor der Aldine Avenue Nummer 7 stand ein Pulk von Reportern. Das hätte ich mir denken können. Ich musste ein ganzes Stück ent­fernt vom Haus parken, da die Wagen der Journalisten die gesamte Straße blockierten. Ich hatte Mühe, durch das Grundstückstor zu kommen. Ein Blitzlichtgewitter fing mich ein, als ich den Klopfer betä­tigte. Welch ein Gegensatz zum letztmaligen Anlass meines Hier seins! Alice öffnete.

»Oh, Mister Pat, es ist so schrecklich«, schluchzte sie. »Sind Ihre Herrschaften im Haus?«, fragte ich. »Mister Lance ist in der Bibliothek. Der Arzt ist bei Madam. Und

der junge Herr ist ins Geschäft gefahren, um mit den Angestellten zu sprechen.«

Sie führte mich zu Lance. Mein Freund saß in dem breiten Sessel, auf dem vor ein paar Tagen noch sein Vater gesessen und über die Lage der Nation philosophiert hatte. Er bot einen erschreckenden An­blick. Sein Gesicht wirkte hager und eingefallen. Seine Augen waren rot und dunkel umschattet. Sein Mund war zu einer gequälten Linie verzerrt und seine sonst so humorvollen Augen hatten jeden Glanz verloren. Es schien, als drücke ihn eine schwere Last nach unten, als er sich jetzt erhob und auf mich zukam.

»Pat, ein Freund tritt ins Haus, wenn alle anderen es verlassen.« Miller hatte von jeher eine theatralische Ader gehabt, die ich ihm unter den gegebenen Umständen jedoch verzieh. Er trat an die Anrichte, auf der sich eine exquisite Auswahl von stärkenden Getränken befand und goss einen Whiskey für mich ein. Ich fühlte mich verdammt hilflos. Er setzte sich wieder und starrte vor sich. Meinen Freund in dieser Situa­tion zu erleben war wirklich nicht einfach für mich. Plötzlich sauste seine Faust auf die Lehne des Sessels und er presste hervor: »Rache! Ich will Rache. Dieser Bastard soll nicht entkommen.«

11

Page 12: In guter Gesellschaft

»Lance...«, sagte ich, doch er fuhr mir über den Mund. »Versuch nicht, mich zu beruhigen, Pat! In was für einer Stadt leben wir, in der ein Mann in einer Opernloge hinterrücks ermordet werden kann? Mit einer Stahlsaite.«

»Mit einer was?«, fragte ich. »Du hast richtig gehört. Mit einer Stahlsaite. Meine arme Mutter.

Sie liegt dort oben. Und wird den Anblick meines toten Vaters nie mehr vergessen können. Und ich werde es auch nicht.« Er begann zu schluchzen, halb aus Wut, halb aus Verzweiflung. Als er endlich auf­blickte, sah er aus wie ein Gespenst.

*

»War die Polizei bereits da?«, fragte ich. Doch noch bevor er mir ant­worten konnte, trat Alice ein und meldete: »Zwei Herren von der Po­lizei, Sir.«

»Führen Sie die Männer in den Salon«, sagte Lance. »Kommst du mit?«, wandte er sich an mich. Ich nickte, obwohl ich bedauerte, mei­nen Whiskey allein lassen zu müssen.

Im Salon erwartete uns kein anderer als Lieutenant Quirrer und ein weiterer Polizist in Zivil. Lance ging auf die beiden zu und gab ih­nen die Hand. Dann stellte er mich vor. Quirrers Gesicht verzog sich beinahe unmerklich. Es war für ihn keine Freude, mich zu sehen. Für mich natürlich ebenso wenig.

»Ihr kennt euch?«, fragte Lance überrascht, nachdem Quirrer und ich uns knapp beim Nachnamen angesprochen hatten.

»Flüchtig«, erwiderte ich und der Lieutenant nickte. Unter norma­len Umständen hätten wir uns einen kleinen verbalen Schlagabtausch geliefert, doch das wäre unter den gegebenen Umständen wohl ein wenig pietätlos gewesen. So hüstelte er lediglich und ich zündete mir eine Zigarette an. Ein Waffenstillstand auf begrenzte Zeit.

Lance wusste von alldem jedoch nichts. Er bot dem Lieutenant ei­nen Sessel an. Und ich stellte mir die Frage, warum bei Arthur Millers Bekanntheitsgrad sich nicht Captain Hollyfield persönlich auf den Weg nach Lakeview begeben hatte.

12

Page 13: In guter Gesellschaft

»Sir, ich habe einige Fragen an Sie«, begann Quirrer. »Bitte, Lieutenant«, sagte Lance. »Ich denke nur, ich werde Ihnen

nicht viel behilflich sein können. Ich bin während der letzten Jahre nur zu Besuch in Chicago und im Haus meiner Eltern gewesen.«

»Aha.« Quirrer machte sich mit wichtiger Miene ein paar Notizen. »Sie sollten mit meiner Mutter sprechen. Aber vor allem mit mei­

nem Bruder. Er führt gemeinsam mit meinem Vater die Geschäfte.« »Die Geschäfte?« »Ja, eines auf der Michigan Avenue und das andere in der Loop,

auf dem West Jackson Boulevard.« »Aha«, machte Quirrer wieder und ich zündete mir eine weitere

Zigarette an. »Meine Mutter ist durch den Tod meines Vaters recht mitgenom­

men und mein Bruder ist im Hauptgeschäft. Er spricht mit den Ange­stellten. Wenn Sie vielleicht später noch einmal wiederkommen möch­ten?«

»Ja«, erwiderte Quirrer ohne rechten Enthusiasmus. »Wir vermu­ten den Mörder Ihres Vaters jedoch in seinem privaten Umfeld.«

Jetzt war es an Lance »aha« zu sagen. Wir starrten den Lieute­nant sprachlos an.

»Wir vermuten eine private Fehde. Gab es irgendwelche Famili­enzwistigkeiten, von denen Sie mir berichten möchten?«

»Berichten möchten...?«, rief Lance und sprang auf. »Beruhigen Sie sich doch, Mister Miller«, sagte Quirrer. »Mich beruhigen? Sie kommen hier herein und behaupten, mein

Vater sei von einem Mitglied seiner eigenen Familie mit einer Stahl­saite ermordet worden?«

»Wir müssen alle Möglichkeiten in Betracht ziehen.« »Ja, das müssen Sie. In der Tat. Mein Vater war Geschäftsmann,

Mister Quizzer. Meinen Sie nicht, dass eventuelle Feinde vielleicht eher in dieser Richtung zu finden sind?«

»Mein Name ist Quirrer«, korrigierte ihn der Lieutenant und ich hätte ihm an den Hals springen können. »Wer erbt das Vermögen Ih­res Vaters?«

13

Page 14: In guter Gesellschaft

Lance drehte sich zu mir um und fragte mit beängstigend ruhiger Stimme: »Ob du vielleicht eine Zigarette für mich hättest, Pat?«

Ich steckte ihm eine an und reichte sie ihm. »Lieutenant Quirrer«, sagte er dann und betonte jede einzelne Sil­

be. »Ich möchte Sie bitten wiederzukommen, wenn unser Anwalt zu­gegen ist. Alice«, rief er und seine Stimme schnappte beinahe über. »Geleiten Sie doch die Herren zur Tür, ja?«

Quirrer und sein Untergebener standen auf, verbeugten sich knapp und gingen. Kaum war die Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen, rief Lance: »Alice, bringen Sie mir einen Drink!« Und zu mir gewandt: »Übernimm den Fall, Pat. Den Mord an meinem Vater. Ich will wissen, wer es war.«

*

Am nächsten Tag erwachte ich mit quadratischem Schädel. Dunky musste wirklich mal den Verschnitt seines Bourbons überprüfen. Ich war bis zum Abend in Lakeview geblieben und hatte dann versucht, die Schatten zu ersäufen, die einen Teil meiner Jugenderinnerungen verdunkelten. Das einzig Gute an der Sache war, dass ich einen neuen Fall in Arbeit hatte. Ich unterzog mich der allmorgendlichen Routine und machte mich auf den Weg ins Büro.

»Brendon hat für Sie angerufen«, empfing mich Betty. »Aha«, erwiderte ich. »Und was wollte er?« Meine Halbtagskraft zuckte die Achseln. Ich verkniff mir das ›wo­

zu-bezahle-ich-Sie-eigentlich?‹ und ließ mich von ihr mit der Tribune verbinden. Ich verabredete mich mit Brendon in Henry's Steak Diner zu einem frühen Lunch und verließ kurze Zeit später das Büro Richtung Süden. Brendon saß bereits an einem der Tische mit den rot-weiß ka­rierten Decken und trank Kaffee.

»Hast du schon gehört?«, fragte ich. »Arthur Miller ist ermordet worden.«

»Wie sollte ich nicht? Die ganze Stadt spricht ja darüber.« »Ich bin mit dem Fall beauftragt.« Brendon blickte mich erstaunt an. »Wie kommst du denn dazu?«

14

Page 15: In guter Gesellschaft

»Indem ich mit Lance Miller zusammen zur Schule gegangen bin.« Fast hätte ich denselben schnippischen Ton angeschlagen wie meine Sekretärin, aber es war besser, Brendon einfach ins Bild zu setzen.

»Traurige Angelegenheit«, meinte er bedauernd, nachdem ich ge­endet hatte. »Arthur Miller galt als feiner Kerl. Wenigstens hat das Ge­schäft einen Nachfolger. So ein Traditionsunternehmen zu verlieren wäre für Chicago ein Verlust. Einen wirklich guten Anzug bekommt man nur bei Miller & Son.«

»Und? Wie viele Anzüge hast du von dort?«, fragte ich. »Nur einen. Mehr kann ich mir nicht leisten.« Es war unnötig zu erwähnen, dass ich keinen einzigen Anzug von

Miller & Son besaß und wahrscheinlich auch nie besitzen würde. »Hast du schon einen Anhaltspunkt?«, fragte Brendon. Ich schüttelte den Kopf. »Bin noch nicht wirklich eingestiegen. Ei­

nes steht fest: Sein Opfer in der Opernloge abzumurksen ist schon ganz schön kaltblütig. Und dann auch noch mit einer Stahlsaite.«

Brendon prustete fast den Schluck Kaffee über den Tisch, den er gerade im Mund hatte. »Bitte?«, fragte er.

»Ja, da staunst du. Habe ich auch.« »Davon stand nichts in der Zeitung.« »Wird wohl auch nicht.« »Warum?«, fragte mein Freund. Ich zuckte die Achseln. Chicagos

korrupte Wege ergründen zu wollen glich der Erforschung eines Amei­senhügels. »Keine Ahnung. Ich war gestern dabei, als Lieutenant Quir­rer die Ermittlungen übernommen hat.«

»Höre ich da eine gewisse Ironie aus deiner Stimme?«, fragte Brendon.

»Du hörst richtig. Er hat mehr oder minder die Familie beschul­digt, dem alten Herrn das Lebenslicht ausgepustet zu haben.«

Brendon schüttelte den Kopf. »Könnte denn etwas dran sein?« »Bitte?«, fragte ich. »Sei mal ehrlich, Pat. So etwas gibt es.« »Und das Motiv?«, fragte ich aufgebracht. »Geldstreitigkeiten, was weiß ich?« »Nun mach mal einen Punkt«, sagte ich.

15

Page 16: In guter Gesellschaft

»Vielleicht hättest du den Fall lieber nicht übernehmen sollen, Pat.«

Das wurde ja immer besser. »Und warum nicht, wenn ich fragen darf?«

»Vielleicht hindert dich deine Freundschaft mit Lance Miller daran, in alle Richtungen zu denken.«

Ich schwieg und biss mir auf die Lippen. Verdammt, vielleicht hat­te Brendon Recht.

»Mag sein. Doch was mir spanisch vorkommt, ist, dass die Polizei vollkommen uninteressiert an einem geschäftlichen Feind zu sein scheint. Falls ich voreingenommen bin, sind es die Cops auf alle Fälle. Und dann diese halbgaren Informationen in der Zeitung.«

Unser Essen kam und ich sagte: »Irgendjemandem muss der alte Herr ganz schön auf die Füße getreten sein.«

»Stimmt. Vielleicht hatte er eine Geliebte?«, spekulierte Brendon. »War nicht der Typ für so etwas«, erklärte ich und nahm einen

Bissen. »Man kann nie wissen. Wir hatten eine Sekretärin in der Verwal­

tung. Sie war pummelig und hatte rotes Haar. Und du wirst es nicht glauben, zwei Kerle haben sich wegen ihr auf dem Parkplatz grün und blau geschlagen.«

»Du meinst, eine fallen gelassene Amazone hat an Arthur Miller grausam Rache genommen?«

»Quatsch«, meinte Brendon. »Was ich meine, ist, dass man den Leuten oft nicht ansieht, was sie in ihrer Freizeit so treiben oder wel­che Gefühle sie in anderen auszulösen in der Lage sind.«

Wo er Recht hatte, hatte er Recht.

*

»Wie wirst du vorgehen?«, fragte mich Lance, als wir uns in der Biblio­thek gegenübersaßen. Gerade wollte ich meinen Schlachtplan zum Besten geben, als Steve ins Zimmer kam. Stoische Ruhe schien sein auffallendster Charakterzug zu sein. Oder lag es an seinem gewiener­ten Äußeren, dass er trotz der Tragödie gefasster wirkte als sein Bru­

16

Page 17: In guter Gesellschaft

der? Ich sprach ihm mein Beileid aus und er nickte knapp. Dann goss er sich einen Drink ein.

»Lance erzählte, du würdest den Fall übernehmen, Pat?«, fragte er.

Ich steckte mir eine Lucky an und sagte: »Ja, wir sprachen gerade darüber. Also, mir wäre eines wichtig.«

»Natürlich bezahlen wir deinen Stundensatz, alter Junge«, unter­brach mich Lance.

»Tagessatz«, korrigierte ich ihn. »Aber darum geht es nicht. Nein, ich frage mich, was geschehen wird, wenn ich den Mörder gefunden habe.«

»Ach, du meinst wegen gestern. Weil ich gesagt habe, ich wolle Rache an dem Bastard nehmen? Das war doch nur so eine Redensart. Ich meine, du weißt doch, wie das ist, Pat. In solchen Situationen sagt man so einiges. Aber trotz alledem ändert es nichts daran, dass ich will, dass der Mörder gefasst wird. Die ganze Familie. Nicht wahr, Ste­ve?«

Sein Bruder blickte ihn an und hob langsam sein Glas an die Lip­pen.

»Sieht nicht so aus, als ob wir von den Cops große Ergebnisse zu erwarten hätten. Mittlerweile kümmert sich unser Anwalt um die Sa­che«, fuhr Lance fort.

»Mister Miller.« Alice trat ins Zimmer. »Draußen wartet ein Herr von der Tribune. Er bittet um ein Interview.«

»Ich kümmere mich um ihn.« Steve stand auf. »Die Reporter wol­len eh nur wissen, wie es mit dem Geschäft weitergehen wird.« Er verließ den Raum und Lance sah ihm nach.

*

Wenig später betraten Lance und ich das Arbeitszimmer des Ermor­deten. Es wurde dominiert durch einen wuchtigen Schreibtisch und einen ebenso wuchtigen Schreibtischstuhl. Die Arbeitsfläche war mit grünem Leder bespannt. Darauf lag kein Stäubchen. Der Raum war so

17

Page 18: In guter Gesellschaft

tadellos, dass ich ohne Zögern von der Erde gegessen hätte. Ich setzte mich und ließ meinen Blick schweifen.

»Also«, sagte ich. »Es wäre gut, wenn wir einen Kalender finden könnten. Vielleicht auch ein Adressbuch. Hast du eine Liste der Ge­schäfte, die mit euch konkurrieren?«

»So etwas darfst du mich nicht fragen.« Er ging zur Tür und rief nach seinem Bruder. Stattdessen erschien Alice und verkündete, dass Steve in die Stadt gefahren sei. Ich fand es merkwürdig, dass Steve so einfach die Kurve kratzte und langsam hatte ich von dem ganzen fei­nen Getue gehörig die Nase voll. Ich musste hier raus. Darum begann ich ohne weitere Umstände mit der Suche. In der untersten Schublade stieß ich auf Gold: einen Kalender des laufenden Jahres mit Adressan­hang.

»Nehme ich mit«, erklärte ich. »Ich melde mich bei dir.« Damit verließ ich das Haus und fuhr zurück ins Büro.

*

Betty war noch da, als ich eintraf und telefonierte mit einer Freundin. Ich hörte gerade noch, wie sie sagte: »So ein Mistkerl! Das ist doch wirklich unglaublich.«

Als ich eintrat, flötete sie: »Oh, Liz, ich muss Schluss machen.« Strahlend blickte sie mir entgegen. »Guten Tag, Chef.«

Ich erwiderte den Gruß, warf Mister Millers Kalender auf meinen Schreibtisch und meinen Hut auf den Kleiderständer. Dann setzte ich mich und schenkte mir einen Bourbon ein.

»Haben wir einen neuen Fall?«, fragte Betty, neugierig auf den Kalender schielend.

»Vielleicht«, antwortete ich. »Worum geht es?« »Wenn ich es Ihnen erzähle, weiß es innerhalb kürzester Zeit jede

Sekretärin der Stadt.« Betty warf mir einen beleidigten Blick zu und ich fuhr fort: »Sie erfahren es noch früh genug.« Damit vertiefte ich mich in den Kalender.

18

Page 19: In guter Gesellschaft

Nachdem ich die Seiten des letzten halben Jahres durchgeblättert hatte, war ich versucht, Brendons Theorie von einer heimlichen Ge­liebten nicht mehr weit von mir zu weisen. In regelmäßigen Abständen fand ich die mysteriöse Abkürzung LSONC. Wofür auch immer diese Abkürzung stand, Arthur Miller hatte viel Zeit mit dieser Person oder an diesem Ort verbracht. Ich ließ mich von Betty mit der Aldine Ave­nue verbinden.

»Wer oder was ist LSONC?«, fragte ich Lance ohne Umschweife. »Taucht im Kalender deines Vaters auf.«

»Keine Ahnung. Klingt nach einer Art Verein oder so etwas. Ich frage Mom und rufe dich zurück.«

Ich legte auf und die Füße auf den Tisch. Nachdem ich eine wei­tere Minute in dem Kalender geblättert hatte, bemerkte ich eine selt­same Spannung im Raum. Als ich aufsah, begegnete ich Bettys Blick.

»Was ist? Habe ich irgendetwas im Gesicht?«, fragte ich. »Bearbeiten wir etwa den Miller-Fall?«, fragte meine Sekretärin

mit vor Aufregung fast tonloser Stimme. Ich stand auf, ging langsam durch den Raum auf sie zu und stütz­

te meine Arme auf ihren Schreibtisch, um ihr in die Augen sehen zu können.

»So ist es, Betty. Und wenn mir zu Ohren kommen sollte, dass Sie diesen Umstand im Träumen oder im Wachen irgendjemandem geflüs­tert haben, wissen Sie, was ich dann mit Ihnen machen werde?«

Betty schüttelte langsam den Kopf, ohne mich aus den Augen zu lassen.

»Dann werde ich Sie zwingen, zur Rushhour in der vollbesetzten Hochbahn ein paar Runden zu drehen. Glauben Sie, dass ich dazu in der Lage wäre?«

Betty nickte. Ich drehte mich um und in diesem Augenblick klin­gelte das Telefon. Sie verband mich mit Lance.

»LSONC steht für Lions Society of Northern Chicago. Es war sein Herrenclub. Du weißt schon, so ein Verein mit ganz elitären Aufnah­mebedingungen.«

»Aha«, sagte ich. »Du musst versuchen, dort Mitglied zu werden.«

19

Page 20: In guter Gesellschaft

»Nein, danke, Pat. Ich halte nichts von diesem elitären Gesell­schaftsquatsch.«

»Willst du den Mord an deinem Vater aufklären oder nicht?« Eine Weile herrschte Schweigen. »Verdammt«, sagte Lance. »Warum muss ausgerechnet ich das

machen?« »Muss ich dir diese Frage wirklich beantworten? Ich habe weder

die nötigen Verbindungen noch das nötige Kleingeld. Es ist eine ein­malige Chance, mehr über die Gewohnheiten deines Vaters heraus­zufinden. Was er zum Beispiel getrieben hat, wenn er nicht zu Hause war.«

»Was willst du damit sagen?«, fragte Lance. »Nichts. Aber wir brauchen Informationen.« »Gut«, sagte er widerstrebend. »Ich kümmere mich darum. Was

planst du als Nächstes, Pat?« »Ich spreche mit Steve. Und ich muss auch mit deiner Mutter ein

paar Worte wechseln.« »Schieb es nicht zu lange auf. Wir werden Mom vorübergehend in

ein Sanatorium bringen müssen. Sie ist wirklich nicht auf der Höhe.« Ich schloss den Kalender im Kontorschrank ein, zu dem ich seit

dem Tod meines Partners den einzigen Schlüssel hatte. Ich nahm mei­nen Hut, die Zigaretten und mein Jackett und machte mich auf den Weg zu Miller & Son in der North Michigan Avenue.

*

Wie immer war auf Chicagos Flaniermeile die Hölle los. Wartende Wa­gen veranstalteten ein Hupkonzert. Busse folgten ihrem Weg. Men­schen strebten auf den Bürgersteigen hin und her. Hohe Gebäude und Wolkenkratzer säumten die Straßen. Die Geschäfte waren geöffnet und die Cafeterrassen überfüllt. Es war ein sonniger Tag, doch wehte eine beständige Brise vom Wasser herüber. Die Windy City machte ih­rem Namen alle Ehre.

Ich ließ den Wagen auf einem bewachten Parkplatz und ging zu Fuß weiter. An einer Kreuzung wartete ich in einem Pulk von Men­

20

Page 21: In guter Gesellschaft

schen. Vor mir stand eine Lady mit beachtlich hübschen Beinen, aber ich wandte schnell den Blick ab, als sie zur Seite sah. Sie hatte ein Profil, das mich an ein Schaukelpferd erinnerte. Was für eine Schande. Ich überquerte die Fahrbahn, als der Polizist sie freigab.

Wenig später betrat ich durch die breiten Glastüren den Herren­ausstatter Miller & Son. Das Innere bestand aus einem einzigen, weit­läufigen Raum mit hoher Decke. In regelmäßigen Abständen standen Kleiderpuppen in der Gegend herum, an welchen das Unternehmen seine Anzüge präsentierte. Es herrschte eine fast andächtige Stille. Der Raum wirkte edel, besonders durch den roten Teppich, der vom Ein­gang ins Innere führte. Doch noch bevor ich diesen betreten konnte, sprach mich ein Herr in einem tadellos sitzenden Anzug an. Er war zu gut ausgebildet, um mich von Kopf bis Fuß zu mustern und fragte: »Kann ich dem Herrn behilflich sein?« Er zeigte mir sein strahlend wei­ßes Gebiss und deutete eine Verbeugung an. Für einen Augenblick war ich sprachlos. Dann brachte ich hervor: »Ich möchte Steve Miller spre­chen. Mein Name ist Pat Connor. Ich bin ein Freund der Familie.«

»Sehr wohl, Sir. Madeleine?« Eine Angestellte, die hinter ihm ge­wartet hatte, huschte sofort nach hinten. Der Lakai sagte zu mir: »Wenn Sie möchten, dann schauen Sie sich doch so lange um, Sir.« Erst jetzt fiel mir die schwarze Binde an seinem Arm auf. Das Haus trug Trauer.

Ich bewegte mich langsam über den roten Teppich in die Mitte des Raumes. Sofort wurde ich von etlichen, weiblichen Angestellten höflich angelächelt, die rundherum hinter verglasten Schau- und Ver­kaufstischen standen. Was wohl geschehen würde, wenn ich eine der Damen um einen Drink gebeten hätte? Eine hübsche Verkäuferin sprach mich an: »Kann ich etwas für Sie tun, Sir?«

»Guten Tag, Pat«, sagte glücklicherweise eine Stimme in diesem Augenblick hinter mir und Steve reichte mir die Hand. »Komm mit ins Büro. Kaffee?«

Ich nickte und folgte ihm. Er gab eine entsprechende Anweisung und mir wurde auf einmal klar, dass er im privaten Umfeld deshalb wie ein Fisch wirkte, weil es hier von ihm erwartet wurde. Wir betraten das Büro. Er bat mich, in einem Ledersessel Platz zu nehmen und forderte

21

Page 22: In guter Gesellschaft

mich dann auf, den Kaffee mit dem Inhalt eines schön geschliffenen Flakons zu präparieren. Wenigstens etwas, dachte ich.

»Was kann ich für dich tun?«, fragte er. Hatte der Mann jegliche Erinnerung verloren? Ich antwortete: »Nun, ich brauchte einige In­formationen über das Geschäft. Hatte dein Vater Konkurrenten, die ihm nach dem Leben hätten trachten können?«

Statt einer Antwort stützte er sein Kinn in die Beuge zwischen Zei­gefinger und Daumen und betrachtete mich. Ich widerstand der Ver­suchung, auf die Lehne meines Sessels zu trommeln. Endlich sagte er: »Pat, ich halte nichts von der Idee, dass du dich an die Fersen des Mörders heftest.« Er bot mir eine Zigarette an. Ich lehnte ab.

»Aha. Und warum nicht?« »Meiner Ansicht nach hat Lance etwas übereilt gehandelt, als er

dich engagierte. Verstehst du, wir haben einen Ruf zu verlieren.« Ich verstand nur zu gut, was er sagen wollte und stand auf.

»Wenn du dieser Ansicht bist, dann kann ich es nicht ändern.« »Versteh mich doch, Pat. Ich denke einfach, dass der Mord an

Dad in die Hände einer richtigen Detektei gehört. Schließlich ist... war Dad eine bedeutende Persönlichkeit.«

Der Ausdruck ›richtige Detektei‹ hallte in mir nach wie eine Kir­chenglocke nach dem Zusammenstoß mit einem Vorschlaghammer. Ich lächelte so höflich ich konnte und machte mich auf den Weg zur Tür.

Er hielt sie mir auf. »Sorry, Pat.« »Sicher«, sagte ich, aber was ich sonst noch gerne gesagt hätte,

verkniff ich mir. Im Sturmschritt durchquerte ich den Laden, vorüber an der jun­

gen Verkäuferin. Die warf mir einen erstaunten Blick zu, als ich an ihr vorbeipreschte, doch das war mir gleichgültig.

*

Ich wanderte auf der East Grand Avenue Richtung Navy Pier. Langsam sortierte ich meine Gedanken. Es stand Steve frei, eine der großen Detekteien der Stadt zu beauftragen. Ich bezweifelte, dass Lance von

22

Page 23: In guter Gesellschaft

der Einstellung seines Bruders wusste und rechnete damit, dass er mich von dem Fall abziehen würde. Damit war dann der Auftrag hin­über.

Ich trat den Rückweg an. Je näher ich der Magnificent Mile kam, desto öfter fielen mir die Plakate auf, die überall angeschlagen waren. Am Sonntag würde auf der Michigan Avenue und dem Navy Pier ein großes Fest stattfinden. Geplant waren ein Umzug und eine Yacht­parade. Bürgermeister William Haie Thompson würde persönlich eine Rede über Chicagos Zukunft halten und jeder Chicagoer war auf­gefordert, an dem Spektakel teilzunehmen.

Solcherlei Dinge interessierten mich herzlich wenig. Saint Patrick's Day war das einzige Fest, bei dem ich aus der Fassung geraten konn­te. Kurz darauf erreichte ich die Michigan Avenue. Es war Feierabend. Die Stadt war noch voller als am Nachmittag und auf den Trittbrettern der Busse standen die Menschen dicht an dicht. Es sah aus, als wür­den sie aus allen Nähten platzen.

»Sir?«, fragte eine Stimme neben mir und als ich mich umwandte, blickte ich in das Gesicht der kleinen Verkäuferin. In diesem Augen­blick gab der Polizist die Fahrbahn frei. Auf der anderen Seite blieben wir stehen. Sie hatte dunkelbraunes Haar, das, wenn mich nicht alles täuschte, einen rötlichen Schimmer aufwies. Sie sah wirklich nicht übel aus.

*

»Miss«, sagte ich und zog den Hut. »Sie hatten es eilig, den Laden zu verlassen«, sagte sie. Zu dieser

Feststellung gehörte nicht viel Scharfsinn. Ich wusste nicht, worauf sie hinauswollte. Doch es konnte nicht schaden, sich mit ihr ein wenig zu unterhalten. Offiziell war ich an dem Fall noch dran.

»Eine kleine Meinungsverschiedenheit mit Ihrem Chef. Mein Name ist Pat Connor. Ich bin Privatdetektiv.«

»Sie sind Privatdetektiv? Mein Name ist Lucy Henley. Bearbeiten Sie den Mord an Mister Miller?«

23

Page 24: In guter Gesellschaft

»Ja«, antwortete ich und musterte sie. »Haben Sie Hunger? Darf ich Sie zum Essen einladen?«

Sie zögerte. »Ich habe nicht viel Zeit. Vielleicht eine Stunde.« »Ist recht«, sagte ich und wir betraten eines der vielen kleinen Lo­

kale in der Loop, das um diese Zeit abendlich gefüllt war. Nachdem wir unser Essen bestellt hatten, fragte ich: »Der Tod von Mister Miller ist eine Tragödie, finden Sie nicht?«

Es war kein sonderlich geschickter Einstieg. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Ich seufzte und reichte ihr mein Taschentuch. Frauen, ob als Zeugen oder Klienten, waren einfach höchst schwierig. Glückli­cherweise fasste sie sich schnell wieder.

»Ja, es war für uns alle ein Schock. Er war so ein kultivierter Mann. Und wirklich ein hervorragender Chef.«

»Sie können mir helfen, den Mörder zu finden.« »Aha«, sagte sie. »Aber Sie haben sich mit Steve Miller gestrit­

ten?« »Sein älterer Bruder hat mich beauftragt. Ihr Chef möchte eher

eine der großen, renommierteren Detekteien am Werk wissen. Ich passe wohl nicht ganz zum Image des Unternehmens.«

»Der Schnösel«, rief Miss Henley aufgebracht. »Er war schon im­mer ein arroganter Snob. Der Seniorchef war da ganz anders! Er hat sich nie etwas auf seinen Erfolg eingebildet.« Sie fuhr sich erschrocken mit der Hand an den Mund. »Was rede ich denn da? Ich sollte aufpas­sen, was ich sage.«

»Ist schon in Ordnung«, beruhigte ich. »Also? Wollen Sie mir hel­fen? Wenn ich den Mörder finden soll, brauche ich dringend Infor­mationen.«

»Was für Informationen?« »Alles Mögliche. Über das Geschäft und so weiter.« Lucy rührte in ihrem Stew. »Ich kann Ihnen wahrscheinlich nicht

viel sagen. Das Geschäft wurde 1865 von dem Großvater der Familie gegründet. Sein Name war Clayton Miller. Zuerst war es in der Lake Street. Doch nach dem großen Brand wurde es in die Michigan Avenue verlegt. Clayton war ein guter Geschäftsmann, doch ein strenger, küh­ler Typ. Das weiß ich von meiner Großmutter. Bereits sie war bei den

24

Page 25: In guter Gesellschaft

Millers angestellt. Ihr ganzes Leben lang.« In Lucys Stimme schwang der Stolz von Generationen.

Ich zündete mir eine Zigarette an und ließ sie erzählen. »Arthur Miller ist als junger Mann in das Geschäft eingestiegen.

Genau wie jetzt Steve. Er muss schon früher bezaubernd gewesen sein, zumindest, wenn man den älteren Angestellten glauben darf.« Bezaubernd, dachte ich. Was musste ein Chef tun, um bezaubernd zu sein?

»Wie steht es mit Konkurrenten der Firma«, fragte ich. »Seit der Gründung hat die Familie einen Konkurrenten, Ogilvie &

Bloomingdale. Doch das sind ehrbare Leute.« Ich holte einen Bleistift aus der Tasche und kritzelte den Namen

auf ein Stück Papier. »Und dann ist da natürlich das große Kaufhaus in der State Street.

Aber es leben so viele Menschen in Chicago. Jeder der Konkurrenten hatte einfach irgendwann seine Stammkundschaft. Für Miller & San waren es die wohlhabenden Leute. Politiker und auch andere, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

Ich nickte. Wahrscheinlich ließen sich die gesamten oberen Zehn­tausend von Miller & Son einkleiden. Es wäre bestimmt interessant, eine Weile dort zu arbeiten, dachte ich. Lucy sprach weiter und ich hatte langsam das Gefühl, mit genau der richtigen Informationsquelle ausgegangen zu sein.

»Als Steve in das Geschäft eintrat, kam es zu den eigentlichen Veränderungen. Zu der Zeit kam noch ein neuer Konkurrent hinzu, Smith & Claxton in der Wabash Street. Steve hatte eine höhere Han­delsschule besucht und kam mit der Idee, eine Kette aus Miller & Son zu machen. Und so hat das Haus jetzt noch eine weitere Filiale in der Loop.«

»Wie funktioniert die Organisation?« »Nun, das Geschäft im West Jackson Boulevard hat eine Ge­

schäftsführerin, Mistress Pschorr. Sie ist sehr nett und verdammt kom­petent. Vorher war sie im Hauptgeschäft. Doch sie hat sich mit Steve häufig gestritten. Wenn es nach ihm gegangen wäre, dann wäre sie wahrscheinlich entlassen worden. Man munkelt, der alte Mister Miller

25

Page 26: In guter Gesellschaft

habe dagegen sein Veto eingelegt. Das passte Steve natürlich über­haupt nicht. Eine Schlappe vor den Mitarbeitern, verstehen Sie?«

»Also hatten sämtliche Mitarbeiter mit Steve Miller ein Problem?« »Das kann man so nicht sagen. Doch für ihn ist nur der Umsatz

wichtig. Arthur Miller hielt es eher mit guter Personalführung.« »Können Sie sich vorstellen, dass irgendjemand den alten Mister

Miller ermorden wollte?« Sie schwieg. »Lucy?«, fragte ich. »Nein. Nein, mir fällt niemand ein.« Ich hatte den Eindruck, dass sie mir etwas verschwieg, doch ich

konnte ihr schlecht die Pistole auf die Brust setzen. Ich verlangte die Rechnung und brachte sie zur nächsten Bushaltestelle. Dann fuhr ich zu Dunky.

*

Der nächste Morgen empfing mich wie ein kalter Umhang. Die Tem­peraturen waren über Nacht gefallen und die Scheiben meines Apart­ments beschlagen. Ich stapfte müde ins Bad. Danach versetzte ich mich mit Kaffee und Zigaretten in den Wachzustand und holte frös­telnd die Tribune vom Zeitungsstand.

Auf der Titelseite wurde viel Aufhebens um das große Event ge­macht, das am Sonntag stattfinden sollte. Es sollten sogar hohe Herr­schaften von außerhalb kommen, unter anderem der Vizepräsident. Was für ein Theater!

Ich fuhr nach Lakeview. Zum Glück oder zum Unglück verriet mir Alice, dass Steve bereits aus dem Haus sei. Lance frühstückte in der Küche und ich hatte nichts dagegen, dass auch für mich etwas abfiel. Nachdem ich auch noch den letzten Krümel von Alice' Pancakes vertilgt hatte, sagte Lance: »Pat, wegen gestern. Ich bin der Ansicht, dass Steve sich nicht richtig verhalten hat. Er hätte vorher mit mir sprechen müssen. Er sagte, du seiest übereilt gegangen.«

Ich zuckte die Achseln. Wann würde Lance endlich zur Sache kommen und mir den Fall entziehen?

»Es ist eure Entscheidung«, sagte ich.

26

Page 27: In guter Gesellschaft

»Es ist mir gleich, was Steve macht. Ich werde dich weiterarbeiten lassen.«

Ich war überrascht. »Recht kompliziert, findest du nicht? Im­merhin wird jeder Verdächtige zwei Mal befragt werden.«

»Das können wir nicht ändern«, erklärte er. »Ich war übrigens gestern Abend im Club und habe mich aufnehmen lassen. Es herr­schen dort recht antiquierte Sitten.«

»Okay, dann musst du jetzt mich einschleusen.« »Einschleusen? Du bist mein Freund. Ich werde dich wohl mit in

den Club nehmen dürfen. Zumindest ins Restaurant.« Lance war wirklich noch naiver, als ich ihn in Erinnerung gehabt

hatte. Wahrscheinlich lag das an den vielen gelehrten Wälzern. Ich überlegte, ob ich eine kleine Wette platzieren sollte. Stattdessen sagte ich nur: »Es wäre gut, wenn ich vorher mit deiner Mutter sprechen könnte.«

Lance verschwand, um das zu veranlassen. Endlich erschien er wieder und führte mich ins Obergeschoss.

*

Mary Miller schien innerhalb der letzten Tage um Jahre gealtert zu sein. Sie schien auch unter irgendeinem Beruhigungsmittel zu stehen und wippte ständig mit dem Kopf hin und her. Wirklich kein schöner Anblick.

»Hier ist Pat. Er möchte dir ein paar Fragen stellen«, sagte Lance. Seine Mutter sah mich an, als blicke sie in grelles Licht. Ich war

mir nicht sicher, ob sie mich erkannte. »Mein Beileid, Mistress Miller«, sagte ich. »Pat, wie lieb, dass Sie sich um den Fall kümmern.« »Ja, Ma'm. Es ist mir eine Ehre.« Augen zu und durch, dachte ich.

»Warum ist Ihr Mann an dem besagten Abend allein in die Oper ge­gangen?«

»Ich war unpässlich. Ich hatte den Eindruck, dass eine Erkältung mich heimsuchen würde. Darum blieb ich zu Hause. Hätte ich es nur

27

Page 28: In guter Gesellschaft

nicht getan. Dann wäre Arthur vielleicht heute noch am Leben oder... wir wären noch beisammen.«

Sie hatte abgehackt gesprochen und die ganze Zeit über hörte sie nicht auf mit dem Kopf zu wippen. Das machte einen schon vom blo­ßen Hinsehen wahnsinnig und ich versuchte mich auf etwas anderes zu konzentrieren. Lance holte eine Frau in Schwesterntracht aus dem angrenzenden Zimmer, die sich um Mary Miller kümmerte und dann marschierten wir wieder nach unten. Den Bourbon, den er mir in der Bibliothek einschenkte, hatte ich bitter nötig.

*

Kurze Zeit später machten wir uns auf den Weg in die Loop. Lance saß am Steuer seines Fords. Ich war heilfroh, aus dem Haus zu sein. Wir erreichten die verstopften Straßen der Innenstadt und ließen den Wa­gen auf einem bewachten Parkplatz stehen. Wir gingen in die East South Water Street und erreichten einen unscheinbar wirkenden Ein­gang zu einem sechsstöckigen Gebäude. Im oberen Teil schienen sich Wohnungen zu befinden. Fünf Stufen führten zu einer messinggefass­ten Glastür, hinter der ein Vorhang den Blick ins Innere versperrte. Auf der obersten Treppenstufe stand ein Mann in Livree. Das Emblem des Clubs, ein lilienumrankter Löwenkopf, prangte in goldener Farbe auf der Mitte der Tür. Der Portier verbeugte sich artig und öffnete sie uns. Auf in den Kampf, dachte ich.

Im Foyer stand ein weiterer livrierter Herr mittleren Alters hinter einem Stehpult. Im Hintergrund konnte ich eine Garderobe erkennen. Der Vorraum war getäfelt und mit dunkelgrünen Teppichen ausgelegt. Fotos in silbernen Rahmen hingen an den Wänden. Zu unserer Linken standen zwei Sessel. Auf einem Tisch in der Mitte lagen Zeitschriften. Eine zweiflügelige Tür führte in den hinteren Teil des Clubs. Rauch und Stimmengewirr drangen heraus. Der Livrierte streckte Lance die Hand entgegen und begrüßte ihn mit Namen.

»Es ist uns eine Ehre, Sie heute begrüßen zu dürfen, Mister Miller.«

»Ich habe einen Freund mitgebracht.«

28

Page 29: In guter Gesellschaft

»Dann gebe ich Ihnen ein Aufnahmeformular, das der Herr aus­zufüllen hat. Mister Norman wird in Kürze bei Ihnen sein.«

»Wozu das?«, fragte Lance. »Wir wollten nur etwas essen.« Der Mann lächelte gequält. »Das ist nicht möglich, Sir. Ich bedau­

re.« »Nicht möglich?« »Der Herr ist nicht Mitglied unseres Clubs.« »Gibt es ein Problem, Gentlemen?«, fragte eine Stimme hinter

uns. Der Mann, der mit ausgestreckter Hand auf uns zukam, sah aus wie der Löwe im Emblem. Er hatte eine grau melierte Mähne und ei­nen Brustkorb wie ein Panzerschrank.

»Mister Norman, ich bin bestürzt zu erfahren, dass es mir nicht möglich zu sein scheint, mit meinem Begleiter im Club zu speisen«, sagte Lance. Es hätte nicht viel gefehlt und ich hätte die Augen zum Himmel geschlagen. Dieses gekünstelte Gequatsche konnte man nur mit einem Drink in der Hand ertragen.

»Mister Miller, leider haben wir strenge Regeln und können auch in Ihrem Fall keine Ausnahme machen. Der Lions Club ist der, der er seit Jahrzehnten ist, weil wir unseren Grundsätzen ausnahmslos treu geblieben sind.«

Das konnte ja heiter werden. Wenn die beiden in diesem Stil mit­einander weiter sprachen, würde ich verzweifeln. Doch es sollte noch besser kommen. Ich glaubte meinen Ohren nicht zu trauen, als Lance sich halb zu mir umwandte und sagte: »Aber bei meinem Freund han­delt es sich um eine bedeutende Persönlichkeit, Sir. Dies ist Doktor Nat W. Busher.«

»Doktor Busher«, Löwenmähne verbeugte sich höflich in meine Richtung. Doch mein Name schien auf ihn ebenso wenig Eindruck zu machen wie auf mich und Lance fuhr fort.

»Ich bin erstaunt, dass Ihnen sein Name nichts zu sagen scheint. Er ist der bekannte Lungenspezialist aus San Francisco.«

Ich glaubte zu träumen. »Es freut mich, dass Sie unsere Stadt beehren. Planen Sie länger

in Chicago zu bleiben, Sir?«

29

Page 30: In guter Gesellschaft

»Sein Forschungsprojekt an der Universität wird in einem halben Jahr abgeschlossen sein«, antwortete Lance für mich. Ich nickte. In meinem Kopf herrschte gähnende Leere.

»Bitte folgen Sie mir ins Büro, damit wir alles für eine temporäre, halbjährliche Mitgliedschaft arrangieren können.«

Normans Büro war ungefähr dreimal so groß wie meines in der South Franklin Street. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und ich machte meine Angaben so gut es ging. Bevor ich unterschrieb, las ich das Kleingedruckte und mir trat der Schweiß auf die Stirn.

»Wie sind die 3000 Dollar an den Lions Club zu entrichten?«, frag­te ich, als handele es sich um eine reine Formalität.

»Ich kümmere mich darum, Nat. Es ist mir eine Ehre«, sagte Miller und zog sein Scheckbuch aus der Tasche. Wir standen auf. Norman schüttelte zuerst mir, dann Lance die Hand.

»Es ist mir eine Freude, Sie in unserem Hause begrüßen zu dür­fen, Doktor Busher. Zögern Sie nicht, sich jederzeit an mich oder das Personal zu wenden, falls wir Ihnen in irgendeiner Form behilflich sein können.« Wir verabschiedeten uns.

Als wir wieder im Foyer standen, sagte ich zu Lance: »Ich habe einige Unterlagen im Wagen vergessen. Ich denke, wir sollten sie ho­len.«

*

»Bist du eigentlich von allen guten Geistern verlassen?«, zischte ich, als wir draußen waren.

»Wieso?«, fragte mein Freund erstaunt. »Ich bin sicher, du kannst den Namen auch französisch aussprechen. Ich habe...«

»Den Namen französisch aussprechen?« »Was regst du dich denn so auf, Pat?«, fragte er gekränkt. »Du

wolltest doch in den Club.« Ich riss hilflos die Arme in die Höhe. »Aber doch nicht als Doktor

Nat W. Busher.« »Sorry, mir ist kein anderer Name eingefallen.«

30

Page 31: In guter Gesellschaft

Seine Begriffsstutzigkeit war unfassbar. »Lance, es geht nicht um den Namen.«

»Nicht?«, fragte er. »Nein«, knirschte ich. Plötzlich schlug er sich mit der Hand an die Stirn. Er klopfte mir

auf die Schulter, trat einen Schritt zurück und musterte mich. »Stimmt, wir müssen dich ja noch einkleiden.« »Lance, es geht nicht um den Namen und es geht nicht um die

Kleidung. Es geht um den Lungenspezialisten.« »Das habe ich nur so dahingesagt. Sozusagen für das Protokoll.

Detektive täuschen doch manchmal Berufe vor. Das habe ich gele­sen.«

»Ja. Aber hast du in deinen Büchern auch gelesen, dass Detektive eine Tarnung wählen, die sie auch aufrechterhalten können? Was ist, wenn ich dort drinnen einem Arzt begegne?«

»Du übertreibst. Komm mit!« Er ging schnellen Schrittes in Rich­tung Parkplatz davon. Kurz bevor er den Wagen erreichte, holte ich ihn ein.

»Steig ein!«, befahl er und mir platzte der Kragen. »Was soll das?«

Ohne mir zu antworten, hielt er mir die Autotür auf. Wir fuhren in Richtung Süden durch die Loop und er pfiff vor sich hin. Kurze Zeit später hielten wir vor einem Geschäft mit dem mir nur allzu bekannten Firmenlogo, Miller & Son.

*

»Oh nein«, sagte ich mit ahnungsvoller Stimme. »Oh doch. Komm schon, Pat. Stell dich nicht so an.« Er ging direkt hinter mir, als sei ich ein Schwerverbrecher, der je-

den Augenblick seinem Wachmann entweichen könnte. Lance grüßte im Vorbeigehen und der Portier verbeugte sich ehrfürchtig.

Im Inneren trat sofort eine mächtige Dame auf uns zu. Sie trug den üblichen Pagenkopf und hatte einen Zwicker auf der Nase. Sie schüttelte Lance erfreut die Hand.

31

Page 32: In guter Gesellschaft

»Mister Miller. Es ist uns eine Ehre. Was können wir für Sie tun?« »Mistress Pschorr, sehen Sie diesen gut aussehenden jungen

Mann hier?« Und er zog mich zwischen sich und die Lady, sodass ich fast mit ihrer ausladenden Oberweite in Berührung kam. Sie trat zu­rück, rückte ihren Zwicker zurecht und betrachtete mich mit Kenner­miene. Wenn sie auf mich zugekommen und mir den Mund aufgerissen hätte, um meine Zähne zu inspizieren, hätte ich mich nicht gewundert.

»Ich wünsche«, sagte Lance, »dass, wenn wir in zwei Stunden das Geschäft wieder verlassen, kein Damenauge bei seinem Anblick trocken bleibt. Wenn Sie verstehen, was ich meine.«

Nicht zwei, sondern vier Stunden lang war ich Objekt der ungeteil­ten Aufmerksamkeit von drei Menschen, die um mich herumtanzten wie um das Goldene Kalb. Mrs. Pschorr schleppte unzählige Anzüge heran. Dazu Krawatten, Taschentücher, Gürtel, Schuhe, Hüte und weiß der Henker was sonst noch alles. Und ich zog alles an, marschierte vor Lance und ihr auf und ab und zog danach alles wieder aus. Irgend-wann bat ich um einen Drink und danach störte mich gar nichts mehr. Als wir endlich wieder auf der Straße waren, hätte ich Miller umbringen können, falls ich dazu die Kraft gehabt hätte.

»Siehst gut aus«, sagte er anerkennend. »Ich habe veranlasst, dass der Rest morgen früh in dein Büro geliefert wird.«

Ich nickte und wankte zum Wagen. Im Club verursachte unser Erscheinen kein weiteres Aufsehen.

Gemessen an den feinen Pinkeln, die dort herumliefen, lag ich mit meinem Gabardineanzug in der unteren Liga. Wir ließen uns im Club­raum an einem Tisch nieder. Drei Kellner bedienten die Gäste, an die ganz offen Alkohol ausgeschenkt wurde.

Einige Herren lasen in der Zeitung, andere saßen in Grüppchen zusammen. Wir bestellten unsere Drinks. Später begutachteten wir das Restaurant, die Bar und die Bibliothek. Das genügte, um sich einen ersten Eindruck zu verschaffen. Morgen würde ich allein wie­derkommen. Mit einem Auftraggeber im Schlepptau ließ sich nicht ver­nünftig arbeiten.

*

32

Page 33: In guter Gesellschaft

Als ich am nächsten Morgen das Büro betrat, waren die Pakete von Miller & Son bereits eingetroffen und stapelten sich auf dem Sofa. Bet­ty inspizierte gerade den Lieferschein.

»Chef, ich...«, sagte sie, als sie mich eintreten hörte. Doch mein neuer Anzug ließ sie verstummen und sie starrte mich mit offenem Mund an.

»Guten Morgen, Betty«, sagte ich, als würde ich mir gar nichts dabei denken. Ich hängte meinen Hut auf den Garderobenständer, mein Jackett über den Stuhl und steckte mir eine Lucky an. »Ist etwas nicht in Ordnung?«

»Nein, Sir«, sagte sie und ich gönnte mir ein Grinsen hinter ihrem Rücken, als sie sich umwandte und wortlos zu ihrem Schreibtisch ging. Ich fühlte, wie sie mich beobachtete, während ich die Zeitung auf­schlug. In der Tribune stand nichts Außergewöhnliches.

Ich wippte auf meinem Bürostuhl hin und her und sprang dann auf die Füße.

»Betty, Sie gefallen mir heute gar nicht. Sie sehen so abwesend aus. Fast ein wenig verstört. Kann ich irgendetwas für Sie tun?«

»Chef... ich meine, Sie, also... Ihre... na...« Sie brach ab, als das Telefon klingelte. »Es ist Brendon«, sagte sie und verband mich mit ihm.

»Was gibt's?«, fragte ich. »Ich wollte fragen, ob du auf die Veranstaltung am Wochenende

willst?« »Du meinst auf das Volkfest?« »Ja. Ich bin Sonntagvormittag noch in der Redaktion. Du könntest

mich gegen Mittag abholen.« »Okay, ich hatte zwar nicht vor hinzugehen, aber vielleicht ist es

ja mal eine Abwechslung.« Kurz darauf verließ ich das Büro Richtung Innenstadt.

*

33

Page 34: In guter Gesellschaft

Doch im Club erwartete mich eine Überraschung. Bereits der Pinguin am Eingang wirkte verstört. Scheint ansteckend zu sein, dachte ich und musste an Betty denken. Als ich durch das Foyer in den Clubraum kam, sah ich, dass sämtliche Mitglieder in Aufruhr waren. Die Männer standen herum, hielten die Tribune in Händen und tuschelten mitein­ander. Da ich noch niemanden kannte, fragte ich den Kellner, als ich mich in einen Sessel des Clubraums pflanzte: »Ist etwas geschehen?«

»Sir, ein Clubmitglied ist gestern Abend tödlich verunglückt. Es steht sogar in der Zeitung.« Ist mir gar nicht aufgefallen, dachte ich. Der Kellner entfernte sich und ich wandte mich an den Herrn neben mir.

»Entschuldigen Sie, ob ich mir wohl Ihre Zeitung einen Augenblick ausleihen dürfte?«

»Sicher, sicher«, sagte er und schob mir das Blatt herüber. Ich überflog noch einmal die ersten Seiten. Auf Seite drei fand ich denn auch einen Artikel über die mangelnde Sicherheit auf Chicagos Groß­baustellen, den ich heute Morgen lediglich überflogen hatte. Jährlich kämen rund 25 Arbeiter ums Leben. Diesmal hatte es den Un­ternehmer selbst getroffen. Er war von einem herabfallenden Stein er­schlagen worden. Pech, dachte ich. Doch kein Grund für die Mitglieder im Club, die Fassung zu verlieren. Ich legte die Zeitung wieder auf den Tisch und steckte mir eine Lucky an.

»Warum sind die Männer so außer sich?«, fragte ich den Herrn neben mir. »Es passiert schon mal, dass jemand stirbt, oder nicht?«

»Das ist sicherlich richtig, junger Mann. Aber es ist das zweite Mal in kurzer Zeit, dass es ein Clubmitglied trifft. Wahrscheinlich müssen bald noch mehr Menschen dran glauben.«

»Wie meinen Sie das?«, fragte ich. Er war ein alter Mann mit wei­ßem Haar, durch das man seine Kopfhaut schimmern sah. Sein Hals war so dünn und faltig wie der eines Truthahns, sein Gesicht runzelig und seine Gestalt vom Alter gebeugt. Er blickte mich scharf an und sagte: »Nur so eine Redensart.«

»Mein Name ist Nat Busher«, stellte ich mich vor. »Elroy McGinty.« Er streckte mir seine knorrige Hand entgegen.

»Sie sind nicht von hier, nicht wahr? Ich habe Sie noch nie gesehen.«

34

Page 35: In guter Gesellschaft

»Westküste. San Francisco.« Er trank einen Schluck Whiskey. »Aber die beiden Fälle hängen doch wohl kaum zusammen. Im­

merhin war der Tod des Bauunternehmers ein Unfall, wenn ich richtig gelesen habe.«

»So steht es zumindest in der Zeitung«, sagte McGinty. »Sie glauben es nicht?«, fragte ich. »William Mercer war ein ehrgeiziger Mann. Und in seiner Branche

herrschen raue Sitten.« Ich ließ diese rätselhafte Bemerkung verstreichen und fragte

dann: »Herrschen unter den Herrenausstattern ebenfalls raue Sitten?« Der Alte blinzelte wie ein Kauz und ich hatte keine Ahnung, wie

ich aus ihm rauskriegen sollte, was er wusste. »Sie haben bestimmt eine Theorie, oder?«, raunte ich ihm deshalb verschwörerisch zu.

McGinty genoss die Unterhaltung sichtlich. »Mein Junge, noch können Sie mir keine Pfeife in den Mund

schieben und mich Sherlock Holmes nennen. Ich weiß nur...« Und da­mit wies er mit seinem Zeigefinger auf seine Augen. »... was ich sehe. Und ich sehe, dass die Männer Angst haben.«

»War die Polizei denn da?«, fragte ich. McGinty schnalzte verächtlich mit der Zunge. »Haben bisher nicht

viel ausgerichtet.« Es war unnötig, sich über die Korruption in der Polizeibehörde

auszulassen. Ich trank meinen Bourbon aus und rauchte meine Ziga­rette zu Ende, dann machte ich mich auf die Suche nach einem Tele­fon, um Lance anzurufen.

*

Im Foyer gab es zwei Telefone. Scheinbar hatten noch mehr Club­mitglieder das Bedürfnis, sich mit Dritten über die Vorfälle auszutau­schen, denn vor den beiden Zellen stand eine lange Schlange. Ich stellte mich an.

35

Page 36: In guter Gesellschaft

»William Mercer war doch immer so übervorsichtig. Ich sage dir, Trevor, es war bestimmt kein Unfall«, sagte ein aufgeschwemmter Mittvierziger vor mir zu seinem Nachbarn.

»Du siehst Gespenster, Lou. Wenn man dir glauben kann, dann würde nach und nach der ganze Club abgemurkst.«

Ich mischte mich in die Unterhaltung ein: »Gestatten? Nat Bus­her.«

Die beiden Männer nickten und stellten sich vor. »Dies ist Lou Fletcher und mein Name ist Trevor Wells.« Wells war

ein kleiner, schweinsgesichtiger Mann mit sandfarbenem, schütterem Haar und einer Fistelstimme.

»Warten Sie auch auf das Telefon?«, fragte ich, da mir nichts an­deres einfiel.

»Ja«, sagte Trevor. »Doch ich habe es nicht eilig.« »Ich bin letzte Woche erst angekommen. Es scheint so, als habe

ich mir den falschen Club ausgesucht«, versuchte ich das Gespräch wieder auf die Todesfälle zu bringen.

»Woher kommen Sie, Sir?« »San Francisco.« Bisher hatte mich niemand nach meinem Beruf

gefragt. Darüber war ich mehr als dankbar. »Dass Sie sich den falschen Club ausgesucht haben, wäre über­

trieben«, beantwortete Trevor meine Frage. »Mister Fletcher sieht Ge­spenster. Wer auch immer Arthur Miller umgebracht hat, es war mit Sicherheit eine private Fehde. Und die Sache mit William Mercer war ein Unfall.«

»Hatten die beiden denn etwas miteinander zu tun?«, fragte ich und die beiden Männer blickten mich sogleich misstrauisch an.

»Nun, sie waren im selben Club, nicht wahr?«, antwortete Trevor. Ihm war es sichtlich unangenehm, mit einem Neuling über die Ange­legenheit zu spekulieren.

»Ich meine, außer, dass sie im selben Club waren.« »Ich weiß nicht, was Sie meinen, Sir«, erwiderte Lou. »Wenn Sie mich entschuldigen. Ich denke, ich versuche es später

noch einmal mit dem Telefonieren«, erklärte Trevor.

36

Page 37: In guter Gesellschaft

»Warte, ich komme mit«, rief Lou und schon waren sie ver­schwunden.

Verdammt, dachte ich. Nicht alle waren so redselig und gesellig wie der alte Mann.

*

Ich schlenderte hinüber zur Garderobe. Die Dame, die sich um die Ausgabe der Mäntel kümmerte, blickte hinter ihrer geschäftsmäßigen Fassade gelangweilt auf das Treiben im Foyer.

»Nicht viel los für Sie um diese Jahreszeit.« »Ach, es gibt immer das eine oder andere Kleidungsstück ab­

zugeben.« Sie war nicht mehr ganz jung, hatte blondes Haar und hübsche

blaue Augen, mit denen sie gewiss einigen Männern in ihrem Leben den Kopf verdreht hatte.

»Nat Busher«, stellte ich mich vor. »Angenehm«, erwiderte sie. »Neu in der Stadt?« Ich nickte. »Man kann in Chicago bestimmt mehr unternehmen als

in San Francisco. Das reinste Nest, sage ich Ihnen.« »Das stimmt. Ich habe eine Schwester dort. Wirklich nicht viel los.

Aber besseres Klima.« »Und? Miss Turner?«, fragte ich, ihren Namen von dem Schild an

ihrem Revers ablesend. »Was empfehlen Sie mir?« »Mistress Turner«, korrigierte sie mich. »Verzeihung.« Doch sie schien meinen Irrtum als Kompliment auf­

zufassen. »Der Club bietet einige Aktivitäten für Mitglieder, Mister Busher.

Wenn Sie Mut haben, dann nutzen Sie die Opernloge.« Ich blickte sie verständnislos an und sie fuhr fort: »Na, die Clubloge in der Oper. Ha­ben Sie noch nicht davon gehört? Vor gut einer Woche ist ein Mitglied in ihr ermordet worden.« Ich starrte sie an und musste mich zu­sammenreißen, um sie vor Aufregung nicht am Arm zu packen.

»Sie meinen, die Loge, in der Mister... wie war doch sein Name, ums Leben gekommen ist, war eine Gemeinschaftsloge des Clubs?«

37

Page 38: In guter Gesellschaft

»Ja. Das ist ja das Tragische. Jeder hätte in der Loge sitzen kön­nen. Seitdem ist niemand mehr dort gewesen.«

»Kein Wunder«, antwortete ich. »Ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen Aufenthalt in Chica­

go.« Damit streckte sie die Arme aus und ich dachte fast, dass sie mich umarmen wollte. Doch sie nahm lediglich den Mantel eines Herrn entgegen, der gerade den Club betreten hatte. Ich hatte es auf einmal eilig. An die Telefone war noch immer kein Herankommen, also verließ ich den Club.

*

Ich fuhr ins Büro. Zum einen um mit Lance zu telefonieren, zum an­deren um die Pakete mit den Kleidungsstücken abzuholen und mit nach Hause zu nehmen. Betty war nicht mehr da und ich ließ mich von der Vermittlung mit der Aldine Avenue verbinden. Alice stellte mich in die Bibliothek und wenig später hatte ich Lance an der Strippe.

»Hast du etwas herausgefunden?«, fragte er aufgeregt. »In der Tat, das habe ich. Aber wir sollten nicht am Telefon darü­

ber sprechen. Am besten ist, ich hole dich etwas später von zu Hause ab und wir fahren gemeinsam in den Club zum Dinner.«

»In Ordnung. Aber musst du mich so auf die Folter spannen?« »Sorry«, sagte ich und legte auf. Ich nahm die Pakete und verfrachtete sie ins Auto. Auf dem Nach­

hauseweg machte ich einen Abstecher zu Dunky. Um diese Zeit war der Laden gewöhnlich so gut wie leer.

»Lange nicht gesehen, Pat«, sagte Dunky. »Und fast nicht wieder erkannt.« Er beäugte mich in meinem neuen Aufzug wie ein Kalb mit zwei Köpfen.

»Waren doch bloß anderthalb Tage, wenn ich mich nicht irre«, grinste ich und setzte mich. Kurz darauf schenkte Dunky mir einen Bourbon ein.

»Was macht das Verbrechen?«

38

Page 39: In guter Gesellschaft

Ich zuckte die Achseln. Obwohl ich seit Anfang des Falles bereits ein paar Mal hier gewesen war, hatte ich mich darüber noch nicht aus­gelassen.

»Was haben ein Herrenausstatter und ein Bauunternehmer ge­meinsam?«, fragte ich ihn.

Dunky kratzte sich am Kopf und sah aus, als höre er den Anfang eines möglicherweise guten Witzes. Ich seufzte und erklärte: »Das ist eine ernst gemeinte Frage.«

»Keine Ahnung.« Er überlegte. »Wenn mich nicht alles täuscht, sind beide tot.«

»Bingo«, sagte ich. »Und beide waren Mitglieder desselben Clubs.«

»Welches Clubs?« »Lions Society of...« »Northern Chicago«, vollendete Dunky den Satz. »Du kennst den Club?« »Klar. Du kriegst einfach zu wenig mit, Pat.« »Na, deshalb komme ich ja zu dir.« Ich legte einen Zehner neben

mein Glas. Der Schein verschwand und Dunky sagte: »Verkehren eini­ge wichtige Leute dort. Die Satzung ist, lediglich Geschäftsleute der oberen Zehntausend aufzunehmen. Die Creme sozusagen. Oder Men­schen mit Verbindungen dorthin.«

»Wie würde man herausfinden, wer alles dort Mitglied ist oder war?«

Dunky zuckte die Achseln. »Auf legale Weise bestimmt nicht. Die halten alles unter Verschluss. Wahrscheinlich geht ein Vorgänger von denen in direkter Linie zurück an die Themse. Und in dem Ruf sonnen sich die Jungs auch.«

»Verbindung zu den Iren?« »Nicht, dass ich wüsste«, sagte Dunky. »Aber zu den Italienern

passen sie noch weniger. Ich denke, sie werden versuchen, so weit wie möglich unabhängig zu bleiben. Wenn, dann spielt die Wirtschaft eine Rolle.«

Ich nippte an meinem Bourbon. Dunky wienerte die Tresenfläche um mich herum. »Wenn du willst, höre ich mich um. Muss ja einen

39

Page 40: In guter Gesellschaft

Grund haben, wenn zwei Mitglieder so kurz hintereinander ein jähes Ende finden.«

»Zuerst dachte ich an eine Fehde in der Herrenausstatterbran­che«, erklärte ich. »Doch nach dem zweiten Todesfall sollte ich mein Augenmerk wohl auch in andere Richtungen lenken.«

»Aber die zweite Sache war ein Unfall, oder nicht?« »Wird aber im Club nicht als solcher angesehen.« Dunky riss die Augen auf. »Im Club?«, wiederholte er. Ich grinste,

stand auf und richtete mir die Krawatte. »Es ist noch nicht an der Zeit, die Preise anzuheben, wenn du mich in den Laden kommen siehst. Ich bin nur vorübergehend die Leiter ein wenig herauf gefallen.«

Dunky sah mir nach. Ich winkte ihm und verließ den Laden.

*

Ich verfrachtete die Pakete mit den Klamotten nach Hause. Dort pack­te ich sie aus. Alles in allem hatte ich Kleidungsstücke im Wert von ungefähr 300 Dollar vor mir liegen. Ein kleines Vermögen, das beinahe alles andere in meiner bescheidenen Hütte im Wert überstieg. Wirklich keine alltägliche Spesenbegleichung. Unbehaglich hängte ich die drei Anzüge in den Wandschrank und beschloss, mit Lance noch das eine oder andere Wort darüber zu wechseln.

Ich warf mir eine Hand voll Wasser ins Gesicht, dann kurvte ich Richtung Lakeview. Ich klingelte und Steve öffnete. Falls ihm mein Outfit auffiel, verzog er keine Miene. Er begrüßte mich, führte mich zu Lance und verschwand.

»Endlich. Ich kann es kaum noch erwarten«, begrüßte mich Miller. »Versprich mir aber, dass du nichts Unüberlegtes tun wirst.« »Das hört sich ja spannend an.« »Also«, sagte ich und nahm einen Schluck aus dem Glas, das er

mir reichte. »Die Loge, in welcher dein Vater ums Leben gekommen ist, gehört dem Club. Es ist eine Gemeinschaftsloge, die jedes Mitglied buchen kann.«

Lance ließ sich in seinen Sessel fallen. Er starrte blicklos vor sich hin, als müsse er sich bemühen, diese Information zu verarbeiten.

40

Page 41: In guter Gesellschaft

Dann sprang er auf, ging einige Male im Zimmer auf und ab und blieb schließlich direkt vor mir stehen: »Was soll das bedeuten?«

»Das bedeutet«, sagte ich langsam, »dass wir zum einen die Liste einsehen müssen, auf der sich die Clubmitglieder für die Nutzung der Loge eintragen. So etwas muss es ja geben. Und zum anderen steht dadurch für mich eindeutig fest, dass der Mörder deines Vaters im Umkreis des Clubs zu finden ist und nirgendwo sonst.«

»Warum?«, fragte Lance und seine Stimme zitterte vor Aufregung. »Und warum wusste ich nichts davon? Meine Mutter, die Polizei. Ich...« Er brach ab.

»Deine Mutter ist zu verstört, um an solche Dinge zu denken. Und was die Polizei angeht, erwartest du von mir doch sicherlich keinen Kommentar.«

»Ja«, sagte Lance bitter. »Und es zeigt vor allem, dass es kein Fehler war, dich zu beauftragen. Der Detektiv, den Steve engagiert hat, klappert seit zwei Tagen sämtliche unserer Konkurrenten in der Herrenausstatterbranche ab. Ohne den geringsten Erfolg, würde ich mal so sagen.« Ich zuckte die Achseln, nicht bereit, mich dazu zu äu­ßern. »Wir sind wohl auf dem richtigen Weg, wie es scheint. Es wäre das Beste, du behältst diese Information vorerst für dich.«

Er nickte. »Wie heißt die Detektei, die Steve beauftragt hat?« »Kingman & Kingman.« Ich pfiff durch die Zähne. Kingman &

Kingman war eine der teuersten Detekteien, die man sich in der Windy City aussuchen konnte. Leider hätte ich keinen einzigen von ihren Spürhunden auf der Straße erkannt. Zum Glück verfolgten sie eine andere und zudem falsche Fährte. Ich hatte keine Lust, ungewollt mit einem Berufskollegen über meine Ergebnisse zu plaudern.

»Was nun?«, fragte mich Lance. »Wir werden in den Club fahren und einen Blick auf diese Liste

werfen.« »Gute Idee.« »Eigentlich würde ich lieber alleine hinfahren, doch ich denke, es

fällt auf, wenn ich als Fremder Einsicht in ausgerechnet diese Liste verlange.«

41

Page 42: In guter Gesellschaft

»Also?« »Also wirst du so tun, als ob du mir in Chicago etwas bieten

möchtest.« »In Ordnung.« Mir war nicht wohl bei dem Gedanken, doch ich sagte kein Wort.

*

Mister Norman blickte uns über seinen Schreibtisch hinweg an. Seine Mähne wirkte heute noch imposanter als am Vortag, doch wenn mich nicht alles täuschte, so spürte ich eine kleine Irritation in seiner Aura, nachdem wir unser Anliegen vorgebracht hatten.

»Ja«, sagte er schließlich im Plauderton, der meiner Halbtagskraft alle Ehre gemacht hätte und mich sofort in Alarmbereitschaft versetz­te. Fehlte bloß noch, dass er mit den Wimpern geklimpert hätte.

»Selbstverständlich können Sie sich für die Opernvorstellungen eintragen. Mister Busher soll ja in der Zeit seines Hier seins etwas ge­boten bekommen. Wir haben auch noch etliche andere Freizeitaktivi­täten für unsere Mitglieder. Zum Beispiel Golf. Wie wäre es mit einem Besuch im Museum für...«

»Ich denke, eine Opernvorstellung ist genau das Richtige. Dan­ke«, sagte ich.

Ohne ein weiteres Wort griff Norman in eine Schublade seines Schreibtischs. »Hier das Programm der Spielzeit und die Liste, Gentle­men.«

Er reichte uns beides und faltete dann seine Hände auf der Tisch­platte. Lance nahm das Programm und die Liste und wies auf die Sitz­ecke im hinteren Teil des Büros.

»Wenn es Sie nicht stört, dann werden Mister Busher und ich dort hinten Platz nehmen.«

»Sicher, sicher«, versetzte Norman und breitete die Arme aus, als wollte er zu einer Arie ansetzen. »Darf ich Ihnen einen Drink an­bieten?« Lance und ich nickten und zogen uns zurück.

Die Liste wurde im Zweiwochenrhythmus geführt. Es gab insge­samt drei Spalten. Eine für die Veranstaltung, die nächste für das Da­

42

Page 43: In guter Gesellschaft

tum und die dritte für den Namen des Mitglieds. Wir mussten eine Sei­te zurückblättern, um zu finden, was wir suchten. Für den Samstag­abend, an dem Lance' Vater in der Opernloge gesessen hatte, hatte sich ursprünglich ein anderer eingetragen. Und der Name dieses ande­ren war bis zur Unkenntlichkeit durchgestrichen worden. Darüber war in akkurater Handschrift ›A. Miller‹ eingetragen worden. Es hätte nicht viel gefehlt und ich hätte durch die Zähne gepfiffen. Darum also das seltsame Gehabe von Norman. Lance trat der Schweiß auf die Stirn und er sprang auf. Doch noch bevor er etwas sagen konnte, fuhr ich ihm über den Mund: »Ich denke, ich werde in diesem Monat die Oper doch nicht besuchen wollen, Lance.« Mit diesen Worten packte ich ihn fest am Arm.

Mein Freund wurde zuerst rot, dann bleich, dann wieder rot. Er nahm das Glas, das Mister Norman ihm reichte, etwas zu hastig entge­gen. Es fiel ihm aus der Hand und zerbrach. Dummerweise bückte er sich, um die Scherben aufzuheben und zerschnitt sich die Hand. Ich schlug die Augen zum Himmel. Lance mitzunehmen war wirklich die dümmste Idee des Jahrhunderts gewesen und ich würde ihn so schnell wie möglich wieder zurück Richtung Lakeview befördern. Ich reichte ihm mein Taschentuch.

Norman blickte Miller fragend an und Lance sagte mit erzwunge­ner Ruhe: »Mister Norman, zufällig ist mein Blick auf den Eintrag des Tages gefallen, an welchem mein Vater die Opernloge genutzt hat. Und wie ich erstaunt feststellen muss, ist an diesem Tag ursprünglich ein anderer Name eingetragen gewesen.«

»Wirklich?«, fragte Mister Norman. Lance und ich tauschten einen Blick aus, während der Clubmanager die Liste zu sich heranzog, als habe er sie das letzte Mal vor drei Monaten gesehen.

Miller knirschte: »Sagen Sie, Mister Norman, wer führt diese Lis­te?«

»Ich, Sir. Sie liegt immer hier im Büro. Aber ich wusste nichts von dem durchgestrichenen Namen.«

»Ist das nicht erstaunlich?«, fragte Lance jetzt beinahe sanft. »Und ist es nicht auch erstaunlich, dass die Polizei diese Liste nicht eingesehen oder mitgenommen hat?«

43

Page 44: In guter Gesellschaft

Norman richtete sich zu seiner vollen Größe auf: »Ja, Sir, das kann ich mir auch nicht erklären. Soll ich mich darum kümmern?«

»Nicht nötig«, quetschte Lance hervor. »Wenn Sie uns jetzt ent­schuldigen. Mister... Busher... wird mir sonst verhungern.«

Ich war noch nie so wenig hungrig gewesen wie in diesem Augen­blick, doch Lance war schon auf dem Weg zur Tür. Ich verabschiedete uns beide und folgte ihm. Doch statt ins Clubrestaurant preschte er aus dem Club, beinahe so schnell wie ich letztens aus dem Geschäft seiner Familie.

*

»Fahr nach Hause!«, sagte ich. Wir waren in Richtung North Columbus Drive die Straße hinuntergegangen. Er blieb stehen. Lance sah aus, als hätte er einen Stromschlag erhalten. Sein Gesicht war gerötet und wies etliche Blutspuren auf, da er sich mit der zerschnittenen Hand hindurch gefahren war.

»Nach Hause?«, keifte er und seine Stimme überschlug sich. »Das werde ich nicht tun. Ich werde Anzeige erstatten. Gegen die ganze Bande.«

»Fahr nach Hause!«, wiederholte ich und er brüllte mich an. »Hast du es nicht mitbekommen, Pat? Der Name war durchgestri­

chen und dieser elende Hurensohn hat es gewusst, so viel steht für mich fest.«

»Kann sein. Aber wir haben noch keine Beweise.« »Beweise? Ich brauche keine Beweise mehr. Ich werde dir sagen,

was ich machen werde. Ich besorge mir eine Tommy-Gun und dann lege ich den ganzen Haufen um. Ich werde...«

»Du wirst jetzt die Klappe halten«, blaffte ich. »Du wirst nach Hause fahren und mich weiter an dem Fall arbeiten lassen. Deine cho­lerischen Anfälle bringen uns keinen Yard voran.«

Er nickte plötzlich wie ein ernüchterter Betrunkener. Wortlos wandte er sich um und ging in Richtung Wagen davon.

»Soll ich dich fahren?«, rief ich ihm nach. Doch er hörte mich nicht mehr.

44

Page 45: In guter Gesellschaft

*

Ich ging zurück zum Club. Ich hoffte, Norman nicht zu begegnen. Und wenn, sollte er mich im Clubrestaurant vorfinden. Ich setzte mich an einen freien Tisch. Er war mit einem weißen Tuch bedeckt und darauf stand ein silberner Kerzenhalter, der wahrscheinlich zwei meiner Ta­gessätze wert war.

Der Kellner brachte mir die Karte. Als ich sie aufschlug, stellte ich fest, dass sie auf Französisch abgefasst war. Ich bemühte mich um einen möglichst intelligenten Gesichtsausdruck und fragte den Pinguin: »Können Sie mir etwas empfehlen?«

»Ja. La truite avec...« »Hört sich doch gut an«, unterbrach ich ihn. Er blickte gekränkt

auf mich hinunter, was mich kein bisschen interessierte. »Welchen Wein darf ich dem Herren dazu servieren? Wir haben ei­

nen wirklich ausgezeichneten Chablis aus dem Jahr...« »Einen Bourbon, bitte.« Der Pinguin machte ein Gesicht, als hätte ich ihm ins Gesicht ge­

schlagen. »Sehr wohl, Sir«, sagte er und verschwand. Was auch immer ich bestellt hatte, bestand aus drei Gängen. Das

begriff ich allerdings erst, nachdem der Kellner mit dem Suppenteller verschwunden war und mir den Fisch servierte. Zwischendurch brachte ich meine Gehirnzellen auf Touren.

Zwei Tote und eine manipulierte Liste. Und ich hatte keine Ah­nung, wie ich weiter vorgehen sollte. Sollte ich Norman noch mal in die Mangel nehmen? Doch es war anzunehmen, dass er auf stur schalten würde. Falls er überhaupt etwas wusste. Falls er wirklich davon ge­wusst hatte, warum hatte er sie dann nicht verschwinden lassen?

Das Restaurant begann sich zu leeren und die Gäste wanderten in den Clubraum und die Bar ab. In der Mitte des Raumes standen runde Tische. An dem, der mir am nächsten stand, saßen vier Männer.

Einer von ihnen war von ähnlicher Statur wie Norman. Seine Hän­de waren so groß wie der Teller, in dem der Kellner mir die Suppe ser­viert hatte und er trug einen Nadelstreifenanzug. Er quatschte die

45

Page 46: In guter Gesellschaft

meiste Zeit und die anderen am Tisch hörten zu. Neben Nadelstreifen wirkten sie alle irgendwie farblos und ich hatte Mühe, mir ihre Gesich­ter einzuprägen.

Schließlich stand die Gruppe auf und verließ den Raum. Ich winkte nach der Rechnung, die wirklich annehmbar war. Wahrscheinlich, weil der Mitgliedsbeitrag des Clubs schon ein Vermögen ausmachte.

Doch für den Kellner würde ich wohl als der schrecklichste Gast in die Geschichte eingehen. Nachdem ich ihm Trinkgeld gegeben hatte, sah er aus, als hätte er einen Besenstiel verschluckt.

Ich betrat den Clubraum. Nadelstreifen hatte sich mit den drei Farblosen an einen Tisch in die hinterste Ecke gesetzt. Sie tranken Whiskey und ich gedachte dasselbe zu tun. Ich gesellte mich zu dem alten Mister McGinty.

*

»Na, junger Mann, genießen Sie das Clubleben?« »Ist ganz in Ordnung. Es dauert wahrscheinlich einige Zeit, bis

man Anschluss findet.« Der Alte nickte und ich sagte beiläufig: »Der Herr dort drüben kommt mir bekannt vor.« Ich wies mit dem Kopf in Richtung Nadelstreifen.

»Das ist Floyd Bacon. Er ist einer der größten Bauunternehmer der Stadt. Der Herr neben ihm im grünen Anzug ist Hank Luxemburg.«

»Ebenfalls aus der Baubranche, nehme ich an«, sagte ich und fand, dass Nadelstreifens Nachname zu ihm passte wie die Faust aufs Auge.

McGinty nickte: »So ist es. Der ganze Tisch. Sind wahrscheinlich immer noch in Aufregung wegen William Mercer. Vor ein paar Tagen hat er noch mit ihnen zusammen gesessen.«

»Und Mister Miller? Hatte auch er mit den Herren zu tun?« McGinty schüttelte den Kopf. »Die Gruppe bleibt meistens für

sich.« Gerne hätte ich ihn noch weiter ausgefragt. Besonders interessiert

hätten mich die Namen der beiden anderen Männer am Tisch, ein Kerl mit Specknacken und einem prall sitzenden grauen Flanellanzug, der

46

Page 47: In guter Gesellschaft

mir den Rücken zuwandte und ein Mann von geradezu erschreckend schlaksiger Erscheinung. Sein Haar war zurückgekämmt und er hatte einen großen Adamsapfel, den er durch ein Seidentuch zu verbergen suchte. Er trug eine goldgeränderte Brille und sah aus wie ein Archi­tekt.

Mister McGinty hüstelte. »Sie werden die Wahrheit herausfinden, nicht wahr?«, fragte er mich, als handele es sich um die normalste Aussage der Welt.

»Die Wahrheit, Mister McGinty? Was meinen Sie damit?« »Warum Arthur Miller sterben musste.« »Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen, Sir«, antwortete ich. McGinty ließ sich nicht beirren: »Finden Sie es heraus, mein Jun­

ge. Sie erweisen damit Chicago einen Dienst. Arthur Miller war einer der feinsten Menschen, die mir je begegnet sind.« Er richtete sich mühsam auf, indem er sich auf seinen Stock stützte. »Zeit für einen alten Mann, sich davonzumachen.« Er trabte zur Tür.

Nachdenklich blickte ich in meinen Bourbon. Entweder musste ich noch üben oder der Alte war ein Hellseher.

*

Der nächste Tag war Sonntag. Um die Mittagszeit machte ich mich auf den Weg Richtung Innenstadt. Ich ließ Brendon durch die Dame am Empfang ausrichten, dass ich vor dem Tribune Tower auf ihn wartete. Ich bereute diese Verabredung bereits. Der nördliche Teil der Loop war ein Hexenkessel. Überall drängelten und schoben sich Menschen durch die Straßen. Über die Michigan Avenue zog eine Parade. Ich hat­te über eine Viertelstunde gebraucht, um zu Fuß über die Brücke zu kommen. Brendon erschien und wir marschierten nordwärts. Wir er­reichten die East Illinois Street, die hinunter zum Pier führte und schlenderten darauf zu.

Direkt vor dem Pier war das Podium aufgestellt, von dem aus Bür­germeister Big Bill Thompson seine Rede halten würde.

Als Big Bill das Podium betrat, sagte Brendon: »Ich will näher ran.«

47

Page 48: In guter Gesellschaft

»Muss das sein?«, fragte ich. »Du bist doch Sportreporter und au­ßerdem hast du heute frei.« Doch er war schon auf dem Weg zum Podium, um das die Menschenmenge wogte wie ein Meer.

»Liebe Bürgerinnen und Bürger unserer schönen Stadt«, begann Big Bill. »Unser Land ist ein schönes Land. Doch schöner als alles, was ich bisher gesehen habe, ist unsere Stadt.« Er erntete tosenden Beifall.

Bürgermeister Thompson sprach lange - über die Vorzüge Chica­gos, über seine bescheidenen Anfänge, die North-Side, die South-Side und kam dann schließlich auf seine ehrgeizigen Pläne zu sprechen, die das eigentliche Thema seiner Rede waren.

Ich fragte mich, wann Thompson endlich fertig sein würde oder Brendon genug gehört hatte. Doch Big Bill schien jetzt erst richtig in Fahrt zu kommen. Chicago solle noch größer, noch bedeutender wer­den. Und vor allem sollte seine Skyline der in New York in nichts mehr nachstehen. Ich atmete auf, als Big Bill endlich fertig war.

»Es kommen noch zwei Redner. Die brauche ich nicht mehr zu hö­ren«, sagte Brendon zu mir. »Pat?«

»Ich habe keine Zeit mehr. Wir müssen uns trennen. Ich meine, wir sehen uns später.«

»Bist du krank?«, fragte Brendon entgeistert. Nein, ich war nicht krank. Ich hatte nur etwas Interessantes beobachtet. Thompson war vom Podium heruntergestiegen und schüttelte unten angekommen ei­ner ganzen Reihe von Leuten die Hand. Und wer stand da, mit einem erfreuten Grinsen im Gesicht? Nadelstreifen mit seiner farblosen Cli­que. Ich glaubte, meinen Augen nicht zu trauen.

Ich blickte zu Brendon. »Ich habe zu tun. Wegen meines Falls. Wir sehen uns später.« In diesem Moment löste sich die Clique auf. Ich musste mich dranhängen. Floyd Bacon marschierte mit Hank Luxem­burg den Streeter Drive hinunter Richtung Süden, während Speckna­cken und der Architekt Richtung Navy Pier Park davongingen. Ich folg­te Nadelstreifen, was in Anbetracht der vielen Menschen gar nicht so einfach war.

*

48

Page 49: In guter Gesellschaft

Bereits nach ein paar Yards fragte ich mich, ob ich mich richtig ent­schieden hatte. Vielleicht wollte Bacon einfach nur den Gateway Park umrunden. Ich blieb stehen. Plötzlich sah ich Menschen aufgeregt in die entgegensetzte Richtung rennen. In der Ferne hörte ich Sirenen heulen. Die Menge drängte in Richtung Navy Pier Park. Sollte ich um­kehren? Plötzlich hatte ich das Gefühl, einen Fehler gemacht zu haben. Ich wandte mich um. Je näher ich dem Navy Pier Park kam, desto schwieriger war es voranzukommen. Schließlich kam ich zu einem Kreis, der von Polizisten umstanden war. Die Cops hielten die Men­schen zurück und ich verrenkte mir fast den Hals.

»Was ist passiert?«, fragte ich einen Mann neben mir. »Ein Toter, Sir. Ich habe gehört, er sei erstochen worden.« »Gehen Sie weiter! Gehen Sie bitte weiter!« Ein Polizist mit ausge­

streckten Armen bahnte sich einen Weg durch die Menge und ich warf mich nach vorn, um näher an die Absperrung zu kommen. Ich musste wissen, wer der Tote war. Und da lag er. Das schweinsnackige Mitglied der Bauclique. In seinem Rücken steckte ein Messer. Der dritte Todes­fall eines Clubmitglieds und zweifelsfrei ein Mord.

Wie betäubt ließ ich mich von der Menge zurücktragen und blieb in einiger Entfernung stehen. Ich zündete mir eine Lucky an. Ich hatte den Falschen verfolgt. Wenn ich auch den Mord nicht hätte verhindern können, so hätte ich vielleicht den Täter beobachten können. Ich machte mich langsam auf den Weg zurück Richtung Michigan Avenue.

»Pat«, sagte eine Stimme hinter mir. Es war Brendon. »Wen hast du verfolgt? Und hast du schon gehört? Dort hinten ist jemand umge­bracht worden.«

»Los«, sagte ich. »Lass uns von hier weg. Ich kann die Massen nicht mehr ertragen und außerdem brauche ich einen Drink.«

Schweigend wanderten wir zurück und gingen in ein kleines Spea­keasy in der Nähe des Verlags. Augenscheinlich ein Geheimtipp der Redakteure. Der Laden war bereits gut gefüllt. Ich zog Brendon in eine leere Nische. Wir erhielten unsere Drinks und ich raunte: »Scheiße, Brendon, das ist schon der Dritte.«

»Der dritte was? Drink?« »Halt die Klappe!«, zischte ich. »Der dritte Tote. Aus dem Club.«

49

Page 50: In guter Gesellschaft

»Was für ein Club?« Ich hatte ganz vergessen, dass ich Brendon seit Tagen nicht mehr

gesehen hatte. »Sorry, alter Junge«, sagte ich. »Du bist ja gar nicht auf dem Lau­

fenden.« »Das will ich meinen«, sagte Brendon. Ich berichtete und als ich

fertig war, pfiff er durch die Zähne. »Da ist was faul. Das ist der zweite Tote aus dieser Bauclique, sagst du? Doch was hatte Arthur Miller da­mit zu tun?«

»Weiß ich noch nicht. Finde ich heraus.« Wir zahlten. Wenig spä­ter standen wir wieder auf der Straße und ich brachte ihn zum Tribune Tower. Dann ging ich zu meinem Wagen und fuhr nach Hause.

*

Am nächsten Morgen kam ich verhältnismäßig leicht in die Senkrechte. Ich sortierte meine Sinne, wusch und rasierte mich und marschierte danach zum Zeitungsstand an der Ecke. Doch anders als erwartet, prangte der Mord nicht auf der Titelseite der Zeitung. Der Bericht über das Fest schien dem Herausgeber das Wichtigste zu sein und Big Bills Rede war fast vollständig abgedruckt worden. Erst auf Seite zwei fand ich die Meldung, dass der Bauunternehmer Benjamin White von einem unbekannten Täter erstochen worden war. Des Weiteren war der Zeit­punkt der Beerdigung angekündigt.

Weder erwähnte die Tribune Whites Mitgliedschaft im Club, noch dass dies der dritte Todesfall im Umfeld des Clubs war. Warum wurden die Hintergründe nicht weiter erwähnt? Der oder die Täter mussten einflussreiche Verbindungen haben. Mir fiel wieder die Szene zwischen Big Bill und Floyd Bacon ein, die ich gestern beobachtet hatte. Na­delstreifen wurde immer verdächtiger.

Ich fuhr ins Büro. Betty war bereits da. Ihre Nase war gerötet und ihre Augen tränten. Sie näselte: »Morgen, Chef.«

»Ist etwas Schlimmes geschehen?«, fragte ich und täuschte Be­troffenheit vor. Betty verzog das Gesicht.

»Nein«, erwiderte sie.

50

Page 51: In guter Gesellschaft

»Nein?« »Mein Gott, Chef, Sie sehen doch, dass es mich erwischt hat.« »Und Sie sind keiner Menschenansammlung zu nahe gekommen?« »Nein, noch nicht einmal auf die Veranstaltung bin ich gestern ge­

gangen.« Ich holte den Flachmann mit Bourbon aus der Schublade, schenk­

te zwei Gläser ein und stellte fest: »Dann hätten Sie also in den letzten Tagen auch unbeschadet einen Einkaufsbummel machen können.«

Betty sah aus, als ob sie am liebsten einen x-beliebigen Gegens­tand durch das Büro in meine Richtung befördert hätte. Stattdessen bekam sie einen Niesanfall.

»Es muss am Stress gelegen haben«, spekulierte ich. Ich ging zu meiner geplagten Halbtagskraft hinüber und reichte ihr ein Glas. Betty nippte daran und begann zu husten. Ganz rot im Gesicht verzog sie sich hinter ihren Schreibtisch und ihre Pein wurde umso größer, als in diesem Augenblick das Telefon klingelte. Ich nahm ab und hatte kurz darauf Alice an der Strippe, die mir ausrichtete, dass Lance mich in der Aldine Avenue erwartete. Ich sagte zu und stand auf. »Gehen Sie nach Hause und kurieren Sie sich aus, Betty.«

Sie packte wortlos ihre Sachen zusammen. Ich machte mich auf den Weg nach Lakeview.

*

Auch meinen Freund hatte die Erkältungswelle erwischt. Das war mir unter den gegebenen Umständen ganz recht. Würde es ihn doch da­von abhalten, mit mir in den Club zu fahren. Nach seinem letzten Auf­tritt war ich froh, wenn er aus der Schusslinie war. Er lag auf der über­dachten Terrasse in einem Liegestuhl. Eine Decke lag über seinen Bei­nen und er hatte eine Tasse mit irgendeinem ekelerregenden Inhalt neben sich. Der Zustand seiner Nase war dem von Betty nicht unähn­lich. Er begrüßte mich prustend.

»Komm mir nicht zu nahe, Pat.« Was auch immer er noch hatte hinzufügen wollen, ging unter. Erschöpft lehnte er sich zurück und fluchte: »Verdammt noch mal. Das kann ich jetzt wirklich nicht ge­

51

Page 52: In guter Gesellschaft

brauchen. Steve will Mom heute ins Sanatorium bringen. Ich wollte ei­gentlich dabei sein.«

»Was macht die Hand?«, fragte ich und wies auf seinen Verband. Er zuckte die Achseln. »Ein paar Schnittwunden. Nichts Ernstes. Nun spuck schon aus! Was gibt es Neues?«

»Könnte ich einen Kaffee bekommen?«, fragte ich. »Alice!«, brüllte Lance, was ihm sofort einen Hustenanfall be­

scherte. Nachdem ich meine Tasse vor mir hatte, berichtete ich ihm über

die gestrigen Ereignisse. »Der Fall ist doch sonnenklar«, sagte er, als ich geendet hatte.

»Der Mord an Dad hat etwas mit diesen Bauheinis zu tun. Es kann doch kein Zufall sein, dass jetzt schon der zweite von diesen Typen dran glauben musste. Und dann diese unscheinbare Meldung in der Tribune. Da stimmt doch etwas nicht. Was wirst du unternehmen, Pat?«

»Ich fahre in den Club. Und du bleibst hier!«, sagte ich, als er die Decke zurückschlagen wollte. »Ich rufe dich an.«

»Viel Glück«, rief er mir nach. Das Letzte, was ich von ihm hörte, bevor ich das Haus verließ, war sein bellender Husten.

*

Ich erreichte den Club zur Lunchzeit und aß ein Sandwich. Danach ließ ich mich neben dem alten Mister McGinty nieder. Vielleicht würde ich noch ein paar Informationen aus ihm herauslocken können.

»Hat Sie die Grippe noch nicht erwischt?«, fragte er, als ich auf ihn zukam und ihm die Hand schüttelte.

»Nein, noch nicht. Und Sie?« »Ich war seit über zwanzig Jahren nicht mehr krank. Wahrschein­

lich machen die Bakterien einen großen Bogen um mich. Zu viel Whis­key im Blut.«

»Mein Reden«, lachte ich. »Haben Sie schon von dem dritten To­desfall gehört?«

52

Page 53: In guter Gesellschaft

Der Alte warf mir einen spöttischen Blick zu: »Wie sollte ich nicht? Die Männer laufen durch den Club wie verängstigte Mäuschen. Sie sind alle nicht in der Lage, zwei und zwei zusammenzuzählen.«

»Wie meinen Sie das?« »Na!« Er beugte sich vor und raunte: »Wenn der Täter es wirklich

auf sämtliche Mitglieder des Clubs abgesehen hätte, wäre er doch schon längst um die Mittagszeit mit einer Tommy-Gun herein gelau­fen.«

»Vielleicht kommt das noch«, meinte ich, doch der Alte schüttelte den Kopf.

»Nein«, sagte er. »Der oder die Täter müssen ein anderes Motiv haben. Wenn zwei der Opfer aus ein und derselben Branche kommen, dann brauche ich meine alte Kiste hier oben nicht mehr besonders an­zustrengen.« Er wies mit seinem Zeigefinger auf seine weißhaarige Schläfe.

»Aber was ist mit Arthur Miller?«, fragte ich. »Diesbezüglich setze ich immer noch großes Vertrauen in Sie.« »Woher wollen Sie wissen, dass ich den Fall lösen will?« Er blickte mich an, als wollte er sagen: Junge, mich täuschen Sie

nicht. Dann erklärte er: »Sie tauchen hier auf und löchern einen alten Uhu wie mich mit Fragen. Und wenn Sie sich unbeobachtet fühlen, schauen Sie um sich wie eine Raubkatze auf einem Felsvorsprung. Vielleicht bin ich schon zu lange auf der Welt, doch von gestern bin ich nicht.«

Ich beugte mich zu ihm und sagte: »Verraten Sie mich nicht.« Statt einer Antwort klopfte er mir auf die Schulter.

Ich machte mich auf den Weg in die Bar und hatte den Raum kaum betreten, als ich Nadelstreifen ausmachte, der sich einen Whis­key an der Bar genehmigte. Ich setzte mich neben ihn. Er nickte mir zu und blickte dann weiter geradeaus.

»Schlimme Sache, nicht wahr?«, begann ich das Gespräch. Er zuckte zusammen.

»Wie meinen?«, fragte er. »Na, die Todesfälle hier im Club. Darf ich mich vorstellen? Nat W.

Busher. Ich komme aus San Francisco.«

53

Page 54: In guter Gesellschaft

»Angenehm. Floyd Bacon. Sind Sie für länger in der Stadt?« »Nur für ein halbes Jahr. Ich arbeite an einem Forschungsprojekt.

Ich bin Lungenspezialist.« »Interessant«, sagte McKinney. »Ich bin Bauunternehmer.« »Gefährliche Branche, jedenfalls in letzter Zeit, was man so hört.« »Sie meinen, weil es schon zwei von uns erwischt hat? Ja, keine

schöne Sache. Einige Leute munkeln, jemand habe es auf den ganzen Lions Club abgesehen.«

»Ich hörte, Sie seien mit zwei der Toten bekannt gewesen.« Nadelstreifen wandte langsam den Kopf in meine Richtung. »Haben Sie eine Vermutung, wer es gewesen sein könnte?«, frag­

te ich mit dem Tonfall des Ahnungslosen, der zum ersten Mal einem Meisterdetektiv gegenübersitzt. Bacons große Hand stellte das Glas ab. Seine Augen sahen aus wie zwei übergroße grüne Oliven unter mächti­gen Brauen, die mich unverwandt anstarrten. In meinem Inneren be­gann durchdringend eine Alarmglocke zu läuten.

»Wie sollte ich, Mister Busher? Wenn ich eine Ahnung hätte, dann würde ich doch wohl kaum hier sitzen und mich voll laufen lassen, oder?«

Nadelstreifen konnte mich nicht täuschen. Einer Nonne in Strap­sen hätte ich mehr Vertrauen geschenkt. In diesem Augenblick ge­schah es - das Unfassbare. Lieutenant James Quirrer betrat die Bar des Clubs. Zwei Polizisten im Schlepptau.

Scheinbar war die Polizei doch nicht bereit, die Ermittlungen gänz­lich schleifen zu lassen. Ich drehte der Tür den Rücken zu. Es gab kei­ne Möglichkeit zu entkommen. Zumindest keine, die nicht Auf­merksamkeit erregt hätte. Vielleicht würde Quirrer lediglich eine Runde durch den Raum drehen und dann wieder verschwinden, doch ich hat­te Pech. Er kam genau auf uns zu. Wahrscheinlich, um mit Bacon zu plaudern. Und ich hatte mich nicht geirrt.

»Mister Bacon? Wie Sie vielleicht wissen, ist Benjamin White ges­tern nahe dem Navy Pier ermordet worden. Wir haben gehört, dass Sie das Opfer näher kannten und haben einige Routinefragen an Sie.«

»Sicher. Meine Herren«, damit stand er auf und wies auf die Tür zum Clubraum. »Lassen Sie uns eine Sitzgelegenheit finden. Ich darf

54

Page 55: In guter Gesellschaft

mich dann verabschieden?« Er streckte mir die Hand entgegen. Ich wollte sie schütteln, ohne mich umzudrehen, doch gerade das schien Quirrers Aufmerksamkeit zu erregen.

»Und Ihr Name, Sir?«, fragte er. Es gab nur eins. Ich musste dar­auf setzen, dass Quirrer wenigstens einmal unsere Querelen beiseite lassen und mir behilflich sein würde. Ich drehte mich um, doch noch bevor ich etwas sagen konnte, rief er: »Na, das ist ja eine Überra­schung. Pat Connor. Was machen Sie denn hier?«

Ich hätte Quirrer an den Hals springen können. Ein Blick auf ihn verriet mir, dass er die Situation vollkommen erfasst hatte und genau wusste, dass er mich in Schwierigkeiten gebracht hatte. Doch es war zu spät. Nadelstreifen bohrte seine Augen in mich wie einen Dolch. Es wäre zwecklos gewesen, mich zu verstellen. Also verabschiedete ich mich hastig, bevor Quirrer auf die Idee kommen konnte, mir weitere Fragen zustellen. Eilig verließ ich den Club.

*

Wütend stapfte ich zu meinem Plymouth und fuhr über die Michigan Bridge. Dort parkte ich und ging zum Tribune Tower. Von einem Te­lefon in der Halle rief ich Brendon an. Ich musste unbedingt mit je­mandem reden.

»Wo bist du?«, fragte mein Freund. »Unten in der Eingangshalle. Gehst du mit mir etwas essen?« »Später. Ich hätte dich sowieso noch angerufen.« Wir verabredeten uns für sechs Uhr bei Henry's. Ich hatte einige

Zeit totzuschlagen und mir ein paar Gedanken zu machen. Meine Tar­nung war restlos aufgeflogen. Ich kannte das Netzwerk im Club zu wenig, um zu wissen, wie schnell die Neuigkeit die Runde machen würde. Doch ich konnte nicht riskieren, noch einmal dort gesehen zu werden. Ärgerlich. Warum hatte Quirrer ausgerechnet in diesem Mo­ment auftauchen müssen? Gerade als ich Bacon zu meinem Hauptver­dächtigen erkoren hatte. Ich brauchte Informationen über Nadelstrei­fen und da der Club ausfiel, musste ich auf Altbewährtes zurückgrei­fen, Brendon und Dunky.

55

Page 56: In guter Gesellschaft

Falls Bacon wirklich etwas mit den Todesfällen zu tun hatte, was waren seine Motive? Und nach wie vor erzeugte der Tod Arthur Millers in meinem Kopf ein großes Fragezeichen. Hatten er und Bacon sich näher gekannt? Eine Frage, die mir, wenn überhaupt, nur Mrs. Miller beantworten konnte und die war auf dem Weg ins Sanatorium.

Ich betrat einen Coffee-Shop und hängte mich ans Telefon. »Alice, ist Mistress Miller bereits abgereist?«, fragte ich. »Madam hat vor einer Stunde das Haus verlassen, Mister Pat.« »Wohin ist sie gebracht worden?« »In ein Sanatorium in Kenosha, Wisconsin, Sir.« Ich bedankte mich bei Alice und legte auf. Es machte keinen Sinn,

Lance nach dem Verhältnis zwischen Arthur Miller und Floyd Bacon zu fragen. Um seine Mutter zu interviewen, musste ich abwarten, bis sie in Kenosha angekommen und in der Lage sein würde, einen Te­lefonhörer zu halten.

Ich befand mich auf der Michigan Avenue und starrte in die Aus­lagen eines Geschäfts, ohne diese wirklich wahrzunehmen, als mir auffiel, dass ich vor Miller & Son stehen geblieben war. Gerade wollte ich mich auf den Weg zu meinem Wagen machen, als ich Lucy auf mich zukommen sah.

»Wie geht es Ihnen, Lucy?«, fragte ich und lüftete den Hut. »Gut so weit«, erklärte sie. »Wie kommen Sie mit dem Fall vor­

an?« Ich zuckte die Achseln. Ich überlegte, ob es Sinn machte, noch

einmal mit ihr zu sprechen. Was würde sie mir schon sagen können? Aber vielleicht war es einen Versuch wert.

»Nicht, wie ich es mir wünschen würde. Mir fehlen scheinbar im­mer noch Informationen.«

»Was für welche?«, fragte sie. »Nun, inzwischen sind noch mehr Menschen ums Leben gekom­

men. Und ich kann einfach nicht erkennen, was Arthur Miller mit ihnen zu tun hatte.« Ich betrachtete sie nachdenklich. »Vielleicht darf ich Ihnen noch ein paar Fragen stellen?«

»Wenn Sie meinen, dass ich Ihnen weiterhelfen kann. Nur jetzt habe ich keine Zeit. Holen Sie mich gegen sechs Uhr hier ab.«

56

Page 57: In guter Gesellschaft

Wir verabschiedeten uns. Erst als ich sie durch die Glastür ver­schwinden sah, stellte ich fest, dass ich zwei Verabredungen für die­selbe Uhrzeit getroffen hatte. Ärgerlich über mich selbst machte ich mich erneut auf die Suche nach einem Telefon. Die Verabredung mit Brendon würde dran glauben müssen. Er war jedoch unterwegs. Und so hinterließ ich eine Nachricht bei der Sekretärin der Sportredaktion, nicht sicher, ob er sie rechtzeitig erhalten würde.

Danach machte ich mich auf den Weg in die Bibliothek, um ein wenig in alten Ausgaben der Tribune zu blättern. Nadelstreifen war ein bekannter Geschäftsmann. Sicher war der eine oder andere Artikel über ihn in den letzten Jahren veröffentlicht worden. Ich quälte mich durch das Kartensystem. Wirklich keine angenehme Beschäftigung. Endlich stieß ich auf die Karte mit Bacons Namen und einen Verweis auf eine Maiausgabe des letzten Jahres:

Millionenauftrag - Floyd Bacon erhält Zuschlag Chicago wächst und wächst. Die ehrgeizigen Ziele der Städtepla­

ner werden in den kommenden Jahren Chicago erheblich verändern. »Dies schafft Arbeitsplätze und sorgt für eine gesunde Konkurrenz in der Baubranche«, so Bürgermeister Thompson.

Nach langen und harten Ausschreibungskämpfen erhielt gestern Floyd Bacon, der Besitzer der bekannten Chicagoer Firma All Star Construction, den Zuschlag.

»Ich war mir von Anfang an sicher, dass All Star Construction das Rennen machen würde«, sagte Bacon in einem Interview.

Es fiel mir nicht schwer, mir Nadelstreifens Gesicht bei dieser Aus­sage vorzustellen. Ich las weiter und stieß auf eine andere interessan­te Passage:

»In der Branche weht ein rauer Wind«, so Benjamin White, Besit­zer von Buildings Unlimited, das von ihm im letzten Jahr gegründet wurde. »Doch wir arbeiten alle an derselben Sache: Chicago weit rei­chenden Glanz zu verleihen.«

Ich notierte mir den Namen des Redakteurs. Vielleicht konnte Brendon für mich ein Treffen arrangieren. Benjamin White hatte das Business unterschätzt. Der Wind in der Branche hatte ihn umgepustet.

57

Page 58: In guter Gesellschaft

*

Gegen 6 Uhr postierte ich mich in einiger Entfernung vom Eingang vor Miller & Son. Lucy erschien. Sie verabschiedete sich von einigen Kolle­ginnen und kam auf mich zu. Und als sie mich fast erreicht hatte, ge­schah das Unfassbare. Und es geschah viel zu schnell. Der Motor eines Wagens heulte auf. Ich sah das Mündungsfeuer der Tommy-Gun, be­vor ich die Schüsse hörte. Instinktiv warf ich mich nach vorn, schnapp­te mir im Fallen Lucy und landete mit ihr der Länge nach hinter der Reihe parkender Wagen am Straßenrand. Die Fensterscheiben von Miller & Son gingen zu Bruch, als die Kugeln einschlugen. Das Auto fuhr davon und Passanten rannten durcheinander. Zwei Polizisten ka­men auf uns zu. Ich stand auf und blickte hinunter. Lucy bewegte sich nicht.

»Einen Arzt«, brüllte ich. »Hol irgendjemand einen Arzt!« Einer der Polizisten packte mich und ich schrie ihn an. »Rufen Sie

doch einen Arzt, Mann!« »Er ist unterwegs, Sir. Fassen Sie sich!« Ich riss mich von ihm los und blickte auf Lucy. Ihre gelbe Bluse

war mit zwei roten Einschusslöchern verziert. Ich beugte mich über sie und blickte in ihr Gesicht. Es sah nicht gut aus und sie wusste es. Ich sprach ein paar beruhigende Worte. Sie wurde bewusstlos. Die Polizis­ten hielten die Menschen zurück, die uns umstanden. Endlich erschien der Krankenwagen. Blitzschnell wurde Lucy auf die Liege verfrachtet und davongefahren.

»Sir, es tut mir Leid«, sagte der Polizist. »Ich muss Sie bitten, mit auf das Revier zu kommen. Wir brauchen Ihre Aussage.«

»In welches Krankenhaus wird man sie bringen?«, fragte ich, oh­ne auf ihn einzugehen.

»Natürlich ins Passavant Memorial, Sir. Das liegt am nächsten. Kommen Sie bitte mit.« Er nahm mich am Arm, doch ich machte mich los.

»Jetzt nicht. Später«, sagte ich und entfernte mich. »Sir, das geht nicht. Bleiben Sie stehen!«

58

Page 59: In guter Gesellschaft

Ich drehte mich um und rannte. Ich hetzte durch die Straßen. Die Michigan Avenue hinunter, über die Brücke und in die East South Wa­ter Street. Ich erreichte den Eingang des Lions Clubs und fuhr den Portier an, der mir einen guten Abend wünschen und die Tür öffnen wollte. Mir hing das ganze edle Getue endgültig zum Hals heraus.

Im Foyer starrten mich die Umstehenden an. Wahrscheinlich sah ich wie ein Wahnsinniger aus und ich fühlte mich auch so. Zum Glück wagte niemand, mir in den Weg zu treten, ich hätte ihn einfach über den Haufen gerannt. Ich marschierte durch den Clubraum, vorüber an dem alten Mister McGinty und in die Bar. Und dort saß die dezimierte Bauclique in einer Ecke. Die Gespräche an den angrenzenden Tischen verstummten, als ich mich vor den Herren aufbaute.

»So, ihr zigarrepaffenden Mistkerle. Ich sage euch: Wer auch im­mer der Schuldige sein mag, dem werde ich höchstpersönlich den Weg in die Hölle pflastern. Das ist ein Versprechen.«

Die drei Männer starrten mich ausdruckslos an und Nadelstreifen sagte zu Mister Norman, der gerade hinter mir erschien: »Mister Con­nor möchte gehen.«

Norman stand mit zwei Pinguinen hinter mir, um mich nach drau­ßen zu begleiten. Doch ich raunzte: »Aus dem Weg!« Die Herren tra­ten zurück, scheinbar nicht sicher, was ich als Nächstes tun würde. Ein Glück für sie, denn ich hätte es selbst nicht gewusst.

*

Ich machte mich auf den Weg zurück zu meinem Wagen. Der Mord­anschlag hatte mir gegolten, so viel stand fest. Scheinbar war ich den richtigen Leuten auf die Füße getreten. Und die kleine Verkäuferin würde es wohl mit ihrem Leben bezahlen müssen. Doch wie sollte ich Bacon überführen? Ich würde ihn beobachten müssen. Ich würde an ihm kleben wie eine Klette.

Nach über 20 Minuten erreichte ich endlich den Parkplatz und hat­te mich ein wenig beruhigt. Zuerst würde ich den Cops einen Besuch abstatten. Es war nicht gut, sich so sang- und klanglos vom Gesche­hen zu verabschieden. Außerdem musste ich Lance kontaktieren. Ich

59

Page 60: In guter Gesellschaft

fuhr zum Polizeipräsidium und gab dort den Tathergang zu Protokoll. Danach rief ich Lance an und informierte ihn.

»Es sieht also ganz so aus, als ob dieser Bacon hinter alldem steckt?«, näselte Miller aufgeregt. »Doch was hast du mit Lucy Henley zu schaffen?«

»Ich habe sie neulich nur ein wenig befragt.« »Befragt?« »Ja, nachdem ich im Laden gewesen war.« »Und? Wie steht es um sie?« »Ich fahre später ins Passavant Memorial, um nach ihr zu sehen.« Lance hustete. »Sag dem Doc, dass Miller & Son für die Kranken­

hausrechnung aufkommen wird. Wenn Steve morgen wiederkommt, wird er sich um alles kümmern.«

»Falls sie so lange überlebt. Sie hat zwei Kugeln abgekriegt.« »Was für eine Schande. Und nun?« »Keine Ahnung. Der Anschlag hat mir gegolten, aber ich blicke

überhaupt noch nicht durch. Eigentlich hatte ich vorgehabt, noch ein­mal mit deiner Mutter zu sprechen. Vielleicht weiß sie von einer Ver­bindung zwischen deinem Vater und Bacon.«

»Klingt unwahrscheinlich«, erklärte Lance. »Meinst du, wir werden für die falschen Angaben im Club belangt?«, fragte er.

»Soweit ich weiß, ist es nicht verboten, einen Privatdetektiv zu beauftragen, oder? Und außerdem haben einige Leute im Club Dreck am Stecken. Ich denke, das ist für die Brüder Grund genug, keinen Staub aufzuwirbeln. Über kurz oder lang werde ich herausfinden, was los ist.«

»Am besten ist, wir lassen uns dort nicht mehr blicken«, meinte Miller und nieste.

»In deinem Zustand gehörst du sowieso in Quarantäne.« Ich legte auf und fuhr ins Passavant Memorial Hospital.

*

Das Passavant Memorial war nach seinem Gründer benannt und be­fand sich Ecke West Superior und LaSalle Street. Es platzte aus allen

60

Page 61: In guter Gesellschaft

Nähten und ich hatte Mühe, einen Arzt zu erwischen, der mir Auskunft über Lucys Zustand geben konnte. Eine Schwester bat mich, Platz zu nehmen und zu warten. Kurze Zeit später erschien ein kleiner, weiß gekleideter Mann mit einer Halbglatze, die ebenso glänzte wie der Fußboden. Auf seinem makellosen Kittel war sein Name eingestickt und er trug ein Stethoskop um den Hals. Ich konnte mir nicht helfen, Doktor Holland glich einem Ei.

»Sind Sie ein Angehöriger?«, fragte er. Ich schüttelte den Kopf. »Nein, mein Name ist Pat Connor. Ich war mit ihr zusammen, als es passierte.«

Er musterte mich, dann sagte er: »Es sieht nicht gut aus, Mister Connor. Eine Kugel steckt in der Nähe des Herzens und die Milz ist angerissen. Ich denke, Sie wissen, was das bedeutet. Wir werden un­ser Möglichstes tun. Doch ob Miss Henley überleben wird, entscheiden die nächsten 48 Stunden. Zudem hat sie sehr viel Blut verloren.«

Mich deprimierte diese Nachricht. Ich richtete dem Arzt aus, dass Miller & Son für alle entstehenden Kosten aufkommen und dass sich morgen jemand der Sache annehmen würde.

»Hat sie Familie hier in Chicago?«, fragte der Arzt. »Sie sollte be­nachrichtigt werden.«

Da ich keine Ahnung hatte, gab ich ihm Lance' Nummer und ver­abschiedete mich.

*

Als ich aus dem Krankenhaus trat und auf die Uhr blickte, war es bei­nahe Mitternacht. Erst jetzt spürte ich die Erschöpfung. Ich entschloss mich, auf der Superior Street hinunter zum Wasser zu fahren, um ein wenig frische Luft zu tanken. Ich fuhr durch die abendlichen Straßen. Meine Nerven beruhigten sich, als ich meinen Plymouth dahinsurren hörte.

Ich passierte die North Michigan Avenue und kurz darauf kam der Lake Shore Drive in Sicht. Ich fuhr in nördlicher Richtung am dunklen See entlang. Im Vorbeifahren beobachtete ich die Brandung und ver­suchte abzuschalten. Gerade überlegte ich, ob ich an einer der nächs­

61

Page 62: In guter Gesellschaft

ten Haltebuchten aussteigen sollte, als hinter mir die Lichter eines Wa­gens auf der sonst leeren Straße auftauchten, die schnell näher ka­men.

Ich ahnte nichts Gutes. Ich hätte es mir denken können. Das To­desgeschwader hatte mich das erste Mal verfehlt. Dies hier war der zweite Versuch. Ich trat aufs Gas und der Motor meines Plymouth heulte auf. Ich sauste auf der nächtlichen Straße dahin, doch meine alte Kiste konnte scheinbar nicht mit der meiner Verfolger konkurrie­ren. Der Wagen kam näher. Es schien sich um einen Ford zu handeln. Da hörte ich schon das Geknatter der Tommy-Gun. Ich duckte mich und raste weiter. Mein 38er lag trocken und sicher in der Schublade meines Schreibtisches im Büro. Aber viel genutzt hätte er mir sowieso nicht.

Wieder wurde eine Salve abgefeuert. Die Kugeln trafen das Heck meines Plymouth. Zum Glück hatten die Kerle es noch nicht geschafft, mich zu überholen oder meine Reifen zu treffen. Direkt vor uns kam eine scharfe Kurve in Sicht und ich legte eine Vollbremsung ein, die mich ins Schleudern brachte. Der Fahrer des Ford, der mein Manöver nicht schnell genug durchschaut hatte, zog an mir vorüber und der Wagen schoss über die Fahrbahnbegrenzung. Es hörte sich so an, als ob er sich mehrmals überschlug. Sehen konnte ich jedoch nichts. Ich atmete aus.

Am liebsten hätte ich den Gang eingelegt und wäre einfach wei­tergefahren. Aber ich wollte die Chance nicht versäumen herauszufin­den, wer die Kerle in dem Wagen überhaupt auf mich angesetzt hatte. Ich stieg aus und überkletterte die Begrenzung. Langsam ging ich auf den Wagen zu, den ich schließlich als schwarzen Schatten vor mir er­kennen konnte. Doch es hatte keinen Zweck. Die Sicht war einfach zu schlecht. Außerdem wollte ich nicht riskieren, dass einer der Kerle mich aus dem Hinterhalt erledigte.

Ich blieb unschlüssig stehen und lauschte. Es war nichts zu hören. Nicht einmal das Stöhnen eines Verletzten. Wer auch immer in dem Wagen saß, war entweder tot oder bewusstlos. Und ich hatte keine Lust, für die Kerle Sanitäter zu spielen. Also machte ich kehrt, startete den Plymouth und fuhr nach Hause.

62

Page 63: In guter Gesellschaft

*

Der nächste Tag begann für mich um 11 Uhr 30. Ich kroch gerädert aus den Federn, brühte mir einen Kaffee auf und versuchte meine Ge­danken zu sortieren, bevor ich in den ohnehin späten Tag startete. Eine mittlerweile wahrscheinlich verschiedene junge Frau und zwei Mordanschläge auf meine Person - das Ergebnis des gestrigen Tages konnte sich wirklich sehen lassen. Ich telefonierte mit dem Passavant Memorial und erfuhr, dass sich Lucys Zustand stabilisiert hatte. We­nigstens etwas.

Als Nächstes würde ich ins Büro fahren und sehen, dass ich den Redakteur an die Strippe bekam, der den Artikel über den Millionen­auftrag geschrieben hatte. Möglicherweise konnte er mit Informatio­nen aufwarten, die halfen, Bacon zu überführen. Danach würde ich Nadelstreifen beschatten. Gerne hätte ich mit den zwei übrigen Mit­gliedern der Clique das eine oder andere Wort gewechselt. Nachdem William Mercer und Benjamin White das Zeitliche gesegnet hatten, waren nur noch Hank Luxemburg und der spindeldürre Kerl übrig, der aussah wie ein Architekt. Und wenn mich nicht alles täuschte, konnte auch ein Besuch bei Dunky nichts schaden. Der Tag war voll verplant und bereits halb vorüber. Nach zwei Luckys brachte ich meinen Körper mit Wasser in Berührung, rasierte mich, holte die Tribune vom Zei­tungsstand und fuhr ins Büro. Bettys Gesundheitszustand befand sich scheinbar auf dem Wege der Besserung. Zwar trug sie eine wollene Stola um die Schultern, sah blass aus und hustete wie ein krankes Kalb, doch sie war dabei, eine frische Schicht Nagellack aufzutragen ­ein untrügliches Zeichen für ihre fortschreitende Genesung.

»Brendon hat für Sie angerufen«, begrüßte sie mich mit rauer Stimme.

»Wann?«, fragte ich. »Vor ungefähr einer halben Stunde. Er meldet sich später wie­

der.« »Dann machen Sie mir bitte einen Kaffee.« »Mit oder ohne Bakterien?«, fragte sie.

63

Page 64: In guter Gesellschaft

»Ich bin immun, Betty. Das wissen Sie doch.« Kurze Zeit später durchzog Kaffeeduft den Raum. Ich holte mei­

nen 38er aus der Schublade. Für den Fall, dass jemand den dritten Versuch starten würde, mich umzulegen, wollte ich nicht wehrlos auf meinem Bürostuhl hocken.

Betty kam herüber und stellte die Kaffeetasse direkt neben den Revolver. Ihre Augen kullerten beinahe aus ihrem bleichen Gesicht, als sie fragte: »Chef, gibt es irgendetwas, was ich wissen müsste?«

»Außer, dass Sie die Sekretärin eines Privatdetektivs sind und nicht die Empfangsdame eines Schönheitssalons, eigentlich nicht.«

Zu meiner Überraschung blickte sie mich nicht wütend an, son­dern hatte Tränen in den Augen.

»Bin ich wirklich eine so schlechte Sekretärin, dass Sie den lieben langen Tag auf mir herumhacken müssen?«, fragte sie, begann zu husten und führte ein Taschentuch an ihre wunden Nasenflügel. Die Erkältungswelle schien sich auch auf ihre Gemütsverfassung auszuwir­ken.

»Nein, Betty, das sind Sie nicht. Der Miller-Fall ist ein wenig eska­liert und ich wollte lediglich vorsorgen«, beruhigte ich sie.

Warum sollte ich ihr erzählen, dass möglicherweise ein Fremder hereinspazieren könnte, um mich umzupusten? Das Telefon klingelte und Betty verband mich mit Brendon.

»Wo bist du gewesen? Ich habe gestern Abend über anderthalb Stunden auf dich gewartet«, sagte er.

Anscheinend war ihm nicht ausgerichtet worden, dass ich den Ter­min abgesagt hatte. Nachdem Brendon sich beruhigt hatte, setzte ich ihn über die Ereignisse in Kenntnis. Als ich geendet hatte, pfiff er durch die Zähne. »Ich habe wirklich einen langweiligen Job im Ge­gensatz zu dir. Schade, dass du deine Verfolger nicht ausquetschen konntest.«

»Was viel wichtiger ist, ist die Frage, ob du mich mit einem deiner Kollegen verbinden könntest. Er hat im Mai letzten Jahres einen Artikel über die Bauprojekte der Stadt geschrieben. Sein Name ist Tom Sulli­van.«

64

Page 65: In guter Gesellschaft

»Tom Sullivan aus der Lokalredaktion? Moment, ich schau mal, ob ich dich durchstellen kann. Bis dann.« Es knackte in der Leitung und kurz darauf meldete sich der Redakteur.

»Mister Connor, ich habe im Augenblick keine Zeit für Sie. Aber wenn Sie herkommen möchten? Ungefähr in einer Stunde kann ich mich für eine Weile frei machen.«

Ich dankte ihm, legte auf und steckte den Revolver ein.

*

Auf dem Weg zum Tribune Tower kehrte ich in einem kleinen Diner ein und nahm ein reichlich verspätetes Frühstück zu mir. Zur verabredeten Zeit betrat ich das imposante Redaktionsgebäude und ließ Sullivan durch die Dame am Empfang ausrichten, dass ich im Hause sei. Kurze Zeit später kam er durch die Lobby auf mich zu. Er war ein Mann um die fünfzig von Brendons Statur. Er hatte blondes Haar und wirkte wie ein gealterter und etwas aus der Form geratener Tennisspieler. Er schüttelte mir kräftig die Hand und sagte: »Wie ich höre, kennen Sie Brendon Smith seit etlichen Jahren?«

»Ein Freund der Familie«, sagte ich. »Kommen Sie. Wir gehen in der Kantine einen Kaffee trinken.« Als

wir uns gegenübersaßen, fragte er: »Was kann ich für Sie tun?« »Sie haben im Mai letzten Jahres einen Artikel über die Vergabe

eines Millionenauftrags der Stadt geschrieben. Können Sie sich daran erinnern?«

»Dunkel. Sie meinen ein Bauprojekt?« Ich nickte. »Ja, der Artikel berichtete, dass der Besitzer von All

Star Construction, Floyd Bacon, den Zuschlag erhalten hatte.« »Was genau interessiert Sie?« »Floyd Bacon persönlich. Vielleicht hat Brendon Smith Ihnen er­

zählt, dass ich Privatdetektiv bin. In der Ermittlung mehrerer Todes­fälle taucht Bacons Name immer wieder auf. Mir fehlen Informatio­nen.«

»Todesfälle?«, fragte Sullivan und ich hatte den Eindruck, dass er sich dumm stellte.

65

Page 66: In guter Gesellschaft

»Ja, ein Herrenausstatter und zwei Bauunternehmer.« Sullivan wiegte den Kopf und sagte sarkastisch: »Der gute Ba­

con.« »Können Sie mir mehr über ihn erzählen?« »Nun, Sie haben es mit einem gerissenen Menschen zu tun. Das

kann ich Ihnen versichern. Es steht mir nicht zu, über seine Beteili­gung an irgendwelchen Todesfällen zu spekulieren. Doch so viel kann ich Ihnen sagen: Er ist nicht der Mann, der Kompromisse macht, wenn es um seinen Vorteil geht. Er hat einige seiner Konkurrenten ganz schön ausgebootet.«

»Sie meinen geschäftlich? Auf legale oder illegale Weise?« »Niemand konnte ihm bisher etwas nachweisen«, erklärte Sullivan

diplomatisch. »Sagen Ihnen die Namen Benjamin White, William Mercer und

Hank Luxemburg etwas? Sie hängen alle beständig um Bacon, wie Küken um eine Glucke.«

»Alles Unternehmer in der Branche. Mehr oder minder erfolgreich. Und zwei von ihnen mittlerweile verschieden, wenn ich mich nicht ir­re.«

»Finden Sie diesen Umstand nicht verdächtig?« »Sehr. Doch was soll's. Jeder ist für sich selbst verantwortlich.

Wenn ich den Bauunternehmern einen Rat geben sollte, würde ich ihnen raten, sich von Bacon fernzuhalten. Ihnen würde ich übrigens dasselbe sagen.«

Ich rührte desillusioniert in meiner Kaffeetasse. Sullivans Aussa­gen waren zu schwammig und lieferten mir keinen Anhaltspunkt. Und ich hatte das untrügliche Gefühl, dass er das wusste.

»Sorry, ich denke, ich kann Ihnen nicht wirklich weiterhelfen.« »Nur noch zwei Fragen: Wie heißt die Baufirma von Hank Luxem­

burg? Und dann brauchte ich noch den Namen eines dürren Typen, der sich ebenfalls ständig in Bacons Schlepptau befindet.«

»Sie meinen Bill Eathon. Er ist Architekt. Hat die Pläne für einige große Gebäude in der Stadt entworfen. Hank Luxemburg ist Ge­schäftsführer von New Town Unlimited.«

»Interessant«, sagte ich. »Wie würde ich...«

66

Page 67: In guter Gesellschaft

»Mister Connor«, unterbrach er mich. »Diese Unterhaltung ist nicht gerade einfach für mich.«

Falls er durch diese Aussage mein Mitleid erheischen wollte, so stieß er damit auf taube Ohren.

»Und soll ich Ihnen sagen, was für mich nicht einfach ist? Mittler­weile sind drei Menschen getötet worden. Gestern hat man zwei Mord­anschläge auf mich verübt und dabei ist eine junge Frau lebens­gefährlich verletzt worden. Ich sage Ihnen, wenn Sie mir in diesem Fall behilflich sind, wird es niemand erfahren.«

Sullivan inspizierte die Tischplatte, als könne sie ihm eine Antwort geben. »Okay«, sagte er schließlich widerstrebend. »Was wollen Sie wissen?«

»Hintergründe. Wie viele Aufträge haben die einzelnen Firmen und vor allem, wo befinden sich die Baustellen? Oder wissen Sie von einem öffentlichen Register, wo ich diese Informationen einsehen kann?«

»Kommen Sie mit«, sagte Sullivan und stand auf.

*

Wir nahmen den Fahrstuhl, den wir im zehnten Stock verließen. Sulli­van schloss ein kleines Zimmer auf, das von außen aussah wie eine Utensilienkammer. Der Raum war schlecht gelüftet und warm. Wahr­scheinlich lag es an den Papieren, die in losen Haufen und Stapeln von Akten ein Öffnen des Fensters unmöglich machten.

»Dies ist nur mein Aktenzimmer«, erklärte er. »Mein Büro ist ne­benan.« Ich blickte ihn fragend an. »In diesem Aktenschrank finden Sie alles, was Sie brauchen.« Er klopfte auf die Oberfläche eines höl­zernen Monstrums mit Rollladen. Er steckte einen Schlüssel ins Schloss und die Lamellen sausten nach unten. Er nahm etliche Akten heraus und schloss den Schrank wieder ab.

»Nehmen Sie nichts mit und fragen Sie mich nichts. Für mich sind Sie nie hier gewesen. Alles Gute.« Damit verschwand er und ließ mich entgeistert zurück.

Was ich zu sehen bekam, war jedoch besser als jedes öffentliche Register. In den Ordnern befanden sich sämtliche Informationen, die

67

Page 68: In guter Gesellschaft

Sullivan in den letzten Jahren über die Geschäfte in der Baubranche zusammengetragen hatte. Nach zwei Stunden fühlte ich mich wie ein waschechter Bücherwurm. Schon lange hatte ich meinen Hut abgelegt, das Jackett ausgezogen und hätte mein Leben dafür gegeben, das Fenster öffnen zu können. Doch für jegliche Unbill wurde ich mit inte­ressanten Informationen belohnt.

Wie es aussah, waren rund 50 große Gebäude in den letzten Jah­ren von dem einen oder anderen Bauunternehmen hochgezogen wor­den. Der Hauptteil in der Loop, die restlichen entlang der Magnificent Mile. Es schien so, als habe All Star Construction die meisten Zuschlä­ge erhalten. Als Letztes hielt ich einen Ordner mit der Aufschrift ›Be­sitzverhältnisse‹ in Händen, auf dem das laufende Kalenderjahr stand. Als ich ihn durchblätterte, musste ich mich zwingen, Sullivans Wunsch nachzukommen, keine Unterlagen mitzunehmen. Angelegt wie ein Stammbaum, konnte ich erkennen, dass fast jeder Unternehmer in einem Abhängigkeitsverhältnis zu All Star Construction stand. Hank Luxemburgs Firma New Town Unlimited war eine direkte Tochter. Und All Star war zu je 25 Prozent an den Firmen von Benjamin White und William Mercer beteiligt gewesen, Illinois Construction and Chicago Enterprises. Ich klappte die Ordner zusammen und verließ den Tribune Tower.

*

Auf der Straße blieb ich stehen und überlegte. Dichter Feierabendver­kehr kurvte über die Michigan Avenue. Ich würde mich heute Abend in der Nähe des Clubs postieren. Doch dafür war es noch zu früh. Ich wanderte über die Michigan Avenue in Richtung meines Wagens. Die Hochhäuser wurden von einem abendlich blauen Septemberhimmel überspannt, über den weiße Wolken zogen. Der Wind pfiff durch die Straßenschluchten. Ich entschloss mich, Dunky einen Besuch abzustat­ten. Vielleicht hatte er noch ein paar Informationen für mich.

Bei Dunky herrschte ebenfalls Feierabendverkehr. Hätte ich mir denken können. Dennoch segelte ohne Verzögerung eine Serviette vor meine Nase, auf der er ein Glas für mich abstellte. Ich platzierte einen

68

Page 69: In guter Gesellschaft

Lincoln und wartete. Zeit hatte ich ja genug. Ich qualmte eine Lucky nach der anderen, dann tauchte Dunkys Mondgesicht vor mir auf, um Gläser zu polieren. Augenscheinlich waren gerade alle Gäste versorgt. Der Fünfer verschwand und Dunky fragte: »Was brauchst du?«

»Was hast du, ist wohl eher die Frage, wenn mein Lincoln ver­schwindet.« Dunky wischte sich mit seinem Taschentuch über die Stirn, die noch öliger wirkte als sonst.

»Sorry«, sagte er und wandte sich ab um sich die Nase zu putzen. »Ist nicht dein Ernst! Sag nicht, dass du erkältet bist.« »Quatsch«, brummte Dunky unwirsch. »In der Hölle hier hält sich

doch keine Bakterie.« Ich war mir da nicht so sicher. »Also?«, fragte ich. »Deine zwei abgemurksten Unternehmer sind in einer echt gefähr­

lichen Branche tätig.« Es hätte nicht viel gefehlt und ich hätte gegähnt. »Du musst schon

mit etwas Neuem aufwarten.« Dunky ging von dannen, um ein paar Gäste mit Getränken zu be­

glücken. Das konnte ja heiter werden. Doch er erschien verhältnis­mäßig schnell wieder.

»Was du wahrscheinlich noch nicht weißt, ist, dass es nicht die Ersten sind.«

»Nicht die Ersten?«, fragte ich. »Nicht die ersten Toten.« »Dunky, ich verstehe nur Bahnhof.« »Im letzten Jahr waren es vier.« »Du meinst, im letzten Jahr sind vier Bauunternehmer verstorben?

Ist nicht dein Ernst. Woher weißt du das?« »Du weißt doch, ich habe meine Informationsquellen.« »Aha«, kriegte ich zustande und es hätte nicht viel gefehlt und

Dunky hätte gegrinst. Stattdessen wandte er sich wieder ab, um sich die Nase zu putzen.

»Und wie sind sie ums Leben gekommen?«, fragte ich. »Zwei Selbstmorde, das andere Unfälle.« »Du meinst Steine, die aus unerfindlichen Gründen die Höhenlage

gewechselt haben?«

69

Page 70: In guter Gesellschaft

»So oder so ähnlich.« Ich nahm einen Schluck und Dunky nahm die Serviette hoch, um

die Tresenfläche abzuwischen. »Sagt dir der Name Floyd Bacon etwas?« »Nicht wirklich, aber vielleicht solltest du dich mit meiner Informa­

tionsquelle noch einmal persönlich unterhalten.« Ich drehte mich um. Gerade hatte ein großer, schwergewichtiger

Typ das Speakeasy betreten. Er hatte einen Gang wie ein Seemann. In Ermangelung eines Platzes am Tresen nahm er an einem Tisch in der Ecke Platz. Dunky brachte ihm einen Whiskey. Und ich sah zu, dass ich mich zu dem Kerl hinübergesellte, bevor er sich anderweitig un­terhalten konnte.

*

Netterweise stellte Dunky mich vor. Die Haut des Mannes war wie Le­der. Er trug einen Anzug, der viel zu eng wirkte und schob sich seinen schwarzen Hut in den Nacken, als ich ihm eine Lucky anbot. Sein Na­me war James Taylor, von Beruf Zimmermann.

»Also, Mister Connor, was kann ich für Sie tun?«, fragte er. »Ich brauche Informationen über die Baubranche.« »Sie wollen bauen?«, fragt er und betrachtete abschätzend mei­

nen teuren Anzug. Ich schüttelte den Kopf. Ich wusste nicht, inwieweit ich ihn einweihen konnte, ohne dass er dichtmachen würde.

»Nein, ich bin Privatdetektiv. Der Vater eines Freundes von mir ist ums Leben gekommen und alle Hinweise führen mich zum Baugewer­be.«

Er nahm einen Schluck. Seine Augen waren nicht mehr als Schlit­ze. Er beobachtete mich schweigend und ich fragte: »Für welche Firma arbeiten Sie?«

»Ich gehöre zu einem Konstruktionsteam. Zwei Maurer, zwei Zim­merleute, zwei Schweißer.«

»Aha«, sagte ich. »Also ziehen Sie von Baustelle zu Baustelle.« »Kann man so sagen.« »Sagt Ihnen der Name All Star Construction etwas?«

70

Page 71: In guter Gesellschaft

Er lachte und zeigte mir seine vom Priemen gelben Zähne. »Sir, um die Firma kommen Sie noch nicht mal herum, wenn Sie in Chicago eine Hundehütte errichten möchten.«

»So? Und kennen Sie auch den Besitzer? Floyd Bacon?« »Vielleicht«, sagte Taylor vorsichtig. Ich zauberte einen Jackson

hervor, froh, dass Lance mir die Spesen erstatten würde. Der Jackson wechselte den Besitzer und mein Gegenüber sah schon viel freund­licher aus.

»Mir ist zu Ohren gekommen, dass im letzten Jahr insgesamt vier Bauunternehmer ums Leben gekommen sind.«

»Ist richtig. Zwei waren Selbstmorde. Angeblich. Das andere Un­fälle.«

»Wieso angeblich?«, fragte ich. »Nun, es ist schon komisch, wenn nach und nach ein paar Lichter

ausgehen, finden Sie nicht?« »Und Floyd Bacon, warum ist bei dem noch nicht das Licht ausge­

gangen?« »Na, der ist so sicher wie in Abrahams Schoß. Sie müssen nur die

richtigen Verbindungen haben.« »Wie meinen?«, fragte ich. »Bacon ist mit einer Cousine von Big Bill verheiratet.« Ich zog vor Überraschung die Augenbrauen hoch. »Was Sie nicht

sagen.« Ich kratzte mich am Kopf und zog nachdenklich an meiner Lucky. Taylor stand auf.

»War mir ein Vergnügen, Mister.« »Warten Sie«, sagte ich und bedauerte, dass ich den Jackson

nicht in Etappen ausgespuckt hatte. Er wiegte den Kopf. »Sir, ich habe Ihnen nicht mehr viel zu sagen.

Und Sie werden es nicht nur bei mir schwer haben weiterzukommen. Eines steht fest.« Er beugte sich zu mir. »Auf dem Gelände, das Sie betreten, würde ich immer schön nach oben gucken.«

Er ging hinüber an die Bar, an der ein Platz frei geworden war. Ich starrte ihm ratlos nach. Das habe ich auch schon gemerkt, dachte ich. Langsam musste ich überlegen, wie ich heil aus der Sache rauskom­men sollte. Ich zahlte und verließ das Speakeasy.

71

Page 72: In guter Gesellschaft

*

Da ich immer noch genügend Zeit totzuschlagen hatte, fuhr ich in die Aldine Avenue. Lance war immer noch nicht ganz auf der Höhe und fristete im Wintergarten sein freudloses Dasein. Zwar sah seine Nase menschlicher aus, doch er hatte immer noch diesen hohlen Husten, der die Wände zum Erzittern brachte.

»Sag Alice, Sie soll mir einen Drink machen. Diese Erkältung kann man nur mit Alkohol ertragen«, jammerte er. Ich holte ihm den Drink selbst und erstattete Bericht.

»Sieht ganz so aus, also ob dieser Bacon hinter allem steckt«, er­klärte ich ihm. »Ich fahre jetzt los, um ihn zu beschatten. Morgen früh weiß ich mit Sicherheit mehr.«

»Du meinst, er hat Dad auf dem Gewissen?« »Sieht so aus. Nur weiß ich noch nicht warum.« »Sei vorsichtig, Pat. Bist du sicher, dass du allein fahren solltest?

Ich mache mir wirklich Sorgen. Wenn du die Fakten richtig zusam­mengetragen hast, ist Bacons Weg mit Leichen gepflastert.«

Ich zuckte die Achseln. »Am liebsten würde ich mit einem seiner verbliebenen Freunde plaudern. Vielleicht ist eine Aussage drin, die Ba­con stoppen kann.«

»Pat, ich weiß nicht. Bacon hat scheinbar Deckung von ganz o­ben.«

»Willst du etwa, dass ich die Sache fallenlasse? Den Mord an dei­nem Vater nicht aufkläre?«

»Ich weiß nicht. Ich weiß nur, dass ich nicht noch einen weiteren Toten betrauern möchte.«

»Ich kann jetzt nicht mehr zurück, Lance. Wer auch immer da­hinter steckt, wird nicht locker lassen, bis ich nicht mehr sprechen kann. Derjenige hat Angst und ich stelle eine Gefahr für ihn dar. Also werde ich auch etwas ausrichten können.«

Lance hustete so lange und anhaltend, dass ich dachte, er würde gar nicht wieder aufhören. »Okay«, sagte er. »Ich fühl mich zwar nicht

72

Page 73: In guter Gesellschaft

wohl bei der Sache, aber du scheinst ja nicht davon abzubringen zu sein.«

»Ich melde mich morgen«, sagte ich und stand auf. Auf dem Weg aus dem Wintergarten begegnete ich Steve. Wir grüßten einander im Vorübergehen. Dann verließ ich das Haus.

*

Ich fuhr auf der Dearborn Richtung Süden. Die Dunkelheit war herein­gebrochen und um diese Zeit war es nicht mehr so schwer, einen Parkplatz in der Loop zu finden. Ich stellte den Wagen in unmittelbarer Nähe des Clubs in der East South Water Street ab und postierte mich im Hauseingang gegenüber. Doch ich führte mir eine Lucky nach der anderen an die Lippen, ohne dass sich am Eingang etwas getan hätte. Endlich öffnete sich die Tür und eine mir nur allzu bekannte Gestalt er­schien. Mister McGinty wechselte ein paar Worte mit dem Türöffner und ich hörte, wie er sagte: »Ich nehme mir unterwegs ein Taxi, dan­ke. Für einen alten Mann ist es gut, ein paar Schritte zu Fuß zu ge­hen.« Er ging langsam die Stufen hinunter und in Richtung Michigan Avenue davon. Ich trat aus dem Schatten des Eingangs und lief ihm nach.

»Mister McGinty«, sagte ich, als ich ihn eingeholt hatte. Der Alte wandte sich erschrocken um und hob instinktiv den

Stock. Nachdem er mich erkannt hatte, verzog er das Gesicht zu einem Grinsen.

»Mein Junge, haben Sie mich erschreckt. Ich habe Sie eine Weile nicht zu Gesicht bekommen.«

»Kein Wunder.« Ich erklärte kurz, was geschehen war und stellte mich dann vor: »Mein wirklicher Name ist Pat Connor.«

»Angenehm. Also hatte ich Recht. Sie sind dem Mörder von Arthur Miller auf der Spur. Haben Sie denn schon irgendwelche Anhalts­punkte?«

»Ich glaube, dass Floyd Bacon hinter allem steckt. Aber ich habe keine Ahnung, wie ich an ihn herankommen soll. Meine Tarnung im

73

Page 74: In guter Gesellschaft

Club ist zu schnell aufgeflogen, als dass ich hätte mit den beiden übri­gen Mitgliedern der Clique ein Wort wechseln können.«

»Vielleicht sollten Sie ihm einfach folgen«, schlug er vor. »Da ist er.« Und in der Tat war Bacon die Stufen zum Club heruntergekom­men und kam mit dem spindeldürren Architekten im Schlepptau auf uns zu. Ich wandte mich rasch ab, sodass ich nicht erkannt werden konnte. Nachdem die beiden uns passiert hatten, verabschiedete ich mich hastig von Mister McGinty und rannte zu meinem Wagen. Ich startete und fuhr den Männern hinterher. Sie stiegen in einen Wagen und fuhren Richtung Michigan Avenue davon. Ich folgte. Sie hielten sich nordwärts, überquerten die Brücke und bogen in die East Huron Street ab.

*

In der East Huron Street stiegen sie aus dem Auto. Ich parkte in ei­niger Entfernung und beobachtete, wie die beiden auf einen hölzernen Bauzaun zugingen. Sie fummelten eine Weile an der Tür herum und verschwanden schließlich dahinter. Ich postierte mich auf der anderen Straßenseite und sah nach oben. Ganz wie es mir Taylor geraten hat, dachte ich ironisch. Ich fühlte nach meinem 38er. Meine kleine Le­bensversicherung. Der Zaun trennte einen Wolkenkratzer von der Straße. Er befand sich noch in der Bauphase und seine oberen Stock­werke verloren sich im dunklen Himmel über der Stadt. Es half nichts. Wenn ich wissen wollte, was Bacon als Nächstes ausbrütete, musste ich da hinein.

Ich überquerte die Straße. An dem Zaun waren in regelmäßigen Abständen Schilder angebracht, auf denen ›New Town Unlimited, H. Luxemburg‹ stand. Darunter war eine Adresse auf der North-Side und eine Telefonnummer angegeben. Interessant, dachte ich. Was hatten Bacon und der spindeldürre Vogel am späten Abend auf einer Bau­stelle von New Town Unlimited zu suchen? Ob sie sich hier mit Lu­xemburg treffen wollten? In Anbetracht dessen, was ich heute erfah­ren hatte, ein gefährliches Vorhaben für ihn.

74

Page 75: In guter Gesellschaft

Doch falls Luxemburg wirklich auf dem Weg hierher war, musste ich mich beeilen. Leise schob ich mich durch die Tür, doch ich konnte nicht verhindern, dass die Kette mit dem Vorhängeschloss rasselte, als ich sie hinter mir wieder zuzog. So schnell ich konnte, ging ich in De­ckung und duckte mich in den Schatten des Zauns. Von hier aus beo­bachtete ich das Gelände. Das Licht zweier fahler Lampen beleuchtete das übliche Baustellenchaos von Maschinen, Gerätschaften und Mate­rialien. Von den beiden Männern war nichts zu hören und vor allem nichts zu sehen. Langsam bewegte ich mich am Zaun entlang. Ir­gendwo mussten Bacon und Eathon doch stecken. Ich gelangte zu einer Bretterbude, deren Fenster erleuchtet waren und rannte vom Zaun hinüber zu einem Betonpfeiler. Als ich daran hinauf schaute, sah ich eine Betondecke rund 30 Fuß über mir. Ich sah wieder zur Bretter­bude. Auf der Tür stand in weißer Farbe:

Bill Eathon Planungsbüro Fast hätte ich durch die Zähne gepfiffen. Ich sauste zurück zum

Zaun und drückte mich von dort an der Außenwand der Bude entlang bis zu einem der Fenster. Ich presste mich an die Wand und wandte dann langsam den Kopf. Niemand war im Inneren zu sehen. Ich blickte in ein winziges, erleuchtetes Büro, auf dessen einer Seite sich eine provisorische Küchenzeile befand. In der Mitte des Raumes stand eine große, schräge Holzplatte auf Böcken. Sie war mit Papierrollen über­säht. Erst jetzt sah ich, dass der Raum eine Tür zu einem Neben­zimmer hatte. Ich zog den Kopf zurück, als Bacon den Raum betrat. Doch gleich darauf beugte ich mich wieder vorsichtig vor, denn etwas war merkwürdig an seinem Auftritt. Er zog etwas hinter sich her und dieses Etwas war ein Mensch. Bill Eathons schlaffer Körper hing in Ba­cons Armen wie ein nasser Sack. Bacon warf den Architekten auf die schräge Holzplatte. Und die Art, wie dieser langsam herunter­zurutschen drohte, ließ keinen Zweifel übrig: Bill Eathon war eine Lei­che.

Es dauerte eine Weile, bis Bacon den Toten so positioniert hatte, dass er nicht mehr auf Wanderschaft ging. Dann blieb er in der Mitte des Raumes stehen. Ich fuhr zurück, als es so aussah, als ob er zum

75

Page 76: In guter Gesellschaft

Fenster wollte. Ich wartete einige Atemzüge und blickte dann wieder ins Zimmer. Direkt in Bacons Gesicht.

*

Mit einem Satz verließ ich meinen Posten. Doch anstatt den Weg am Zaun entlang zu nehmen, setzte ich auf Schnelligkeit und preschte über den Platz in Richtung Straße. Ich hörte, wie die Tür der Bretter­bude aufgerissen wurde und dann krachte ein Schuss. Ich spürte ein seltsames Brennen in meinem Unterarm. Doch ich lief weiter, wie von Hunden gehetzt. Ich streckte schon den Arm aus, um die Kette zu er­reichen, da packte mich eine Hand an der Schulter und riss mich mit solcher Macht herum, dass mein Kopf gegen den Bretterzaun donner­te. Ich ging zu Boden. Und fühlte, wie mir das Blut aus einer Wunde am Kopf über das Gesicht lief. Beinahe gleichzeitig setzten die Schmer­zen in meinem Arm ein. Bacons Suppenschüsselhand drückte meinen Kopf nach unten, sodass ich kaum Luft bekam und ich hätte schreien können vor Wut, als er mich abtastete und den 38er fand. Mit einem dumpfen Laut schlitterte die Waffe auf hartem Untergrund in die Dun­kelheit. Ade, dachte ich. Wie hatte ich nur so blöd sein können.

*

»Mister Connor, ich hätte mich Ihrer sowieso noch persönlich ange­nommen. Doch nun haben Sie sich selbst auf den Weg zu mir ge­macht. Willkommen.« Damit zog er mich vom Boden hoch und ich lehnte mich schwer an den Zaun. Mein Schädel dröhnte, als ob die Hochbahn an meinem Ohr vorüberbrettern würde. Ich wischte mir das Blut aus dem Gesicht, doch das war das geringste Problem. Meinen Arm amputieren zu können, damit die Schmerzen aufhörten, hätte mir wirklich weitergeholfen. Und ich hätte mich außerdem minütlich ohr­feigen können, dass ich nicht gleich selbst geschossen hatte.

»Warum wollten Sie sich um mich persönlich kümmern? Weil Ihre Handlanger mich zweimal verfehlt haben?«, stöhnte ich.

76

Page 77: In guter Gesellschaft

»Ja. Wie es scheint, sollte man auch an solchen Dingen nicht spa­ren. Vielleicht hätte ich noch ein, zwei Grants drauflegen müssen. Doch nun sind Sie ja da.«

Er hielt plötzlich einen kleinen, glänzenden Revolver in der Hand, mit dem er auf die Baustelle wies. »Und genau zur rechten Zeit. Vor­wärts.« Ich stolperte in die Mitte des Vorplatzes und dachte, er wolle mit mir zu der Bretterbude, in der die Leiche des Architekten lag. Doch er schubste mich in das Erdgeschoss des Wolkenkratzers. Ich konnte kaum etwas erkennen. Während ich vor ihm herging, versuchte ich, meinen Arm zu bewegen. Es schien lediglich eine Fleischwunde zu sein, doch sie blutete erheblich.

»Stehen bleiben!«, befahl er. Ich drehte mich zu ihm um. Die fun­zelige Beleuchtung reichte gerade aus, um sein Gesicht und die Na­delstreifen auf seinem Anzug auszumachen. »Und nun schön den He­bel zu Ihrer Rechten herunterziehen.«

Bacon sollte glauben, ich sei schwerer verletzt, als ich es eigent­lich war. Darum ließ ich den Arm schlaff herunterhängen und betätigte mit der Linken den Hebel. Wir standen vor einer Art Kamin aus Stahlstreben, der durch die Betondecke über uns führte. Ich verstand erst, als sich surrend und scheppernd eine Fahrgastkabine näherte. Ein Baufahrstuhl.

»Ziehen Sie die Türen auf! Und dann einsteigen!« Ich hatte Mühe, die Fahrgastkabine mit einem Arm zu öffnen. Ba­

con schubste mich hinein und schon setzte sich der Fahrstuhl in Bewe­gung. Plötzlich fühlte ich Panik in mir aufsteigen. Meine Chancen, die­sen Ausflug zu überleben, standen höchstens 20 zu 80.

»Sind Sie wahnsinnig? Sie müssen wahnsinnig sein«, rief ich. »Halten Sie die Klappe, Connor.«

*

Das Rattern des Fahrstuhls übertönte fast unsere Worte. Nachdem wir etliche Etagen passiert hatten, erkannte ich, dass Bacon mir nicht den zweiten Stock zeigen wollte. Wir fuhren und fuhren. Irgendwann ende­ten die Betondecken der Geschosse und machten Bretterböden Platz,

77

Page 78: In guter Gesellschaft

die an uns vorüber zogen. Und statt auf Seitenwände, blickte ich auf das Lichtermeer der Windy City, die wir von Stockwerk zu Stockwerk aus einer neuen Vogelperspektive zu sehen bekamen. Mir wurde schwindelig. Endlich endete die Fahrt und ein kalter Wind erfasste uns. Er rüttelte an dem Fahrstuhl wie an einem Käfig.

»Stockwerk 23. Bitte aussteigen«, rief Bacon im Ton eines Lift­boys.

»Soll ich Ihnen ein Trinkgeld geben?«, fragte ich sarkastisch. »Öffnen Sie die Tür!«, knirschte Bacon. Ich rührte mich nicht. »Öffnen Sie! Oder Ihr anderer Arm wird

dran glauben müssen.« Ich öffnete die Tür und trat aus der Fahrgast­kabine.

*

Der Wind ergriff mich wie eine kalte Klammer. Und der stählerne Turm schwankte. Ich glaubte, mich postwendend auf den Boden werfen zu müssen, wenn man ihn denn als solchen bezeichnen durfte. Er be­stand lediglich aus dünnen Platten, die nur locker über den Stahl­trägern lagen und sich bei jedem Schritt bogen. Und als einzige Be­grenzung zum Nichts sah ich Träger wie schwarze Finger aufragen.

Das Nichts jedoch war zweifellos sehenswert. Zu unserer Rechten erstreckte sich der nächtliche Lake Michigan wie eine schwarz glän­zende Fläche aus Onyx. Und die City lag unter uns wie eine Frau in einem strassbesetzten Abendkleid. Glitzernde Linien führten zu allen Seiten zu unserem Standpunkt hin und davon weg und verbanden sich zu einem schillernden Netz, das sich in der Ferne verlor. Ich war be­eindruckt. Doch mir wurde speiübel, als eine Windböe die Plattform erfasste und mir bewusst machte, dass der schwarze Samt rund 300 Fuß unter uns lag und mir keine weiche Landung bescheren würde.

Vollkommen von meiner Umgebung und meinen Wahrnehmungen eingenommen, dachte ich erst jetzt wieder an Bacon. Als ich mich nach ihm umsah, stand er als schwarzer Schatten an einen der Träger gelehnt. Die Waffe glänzte in seiner Hand.

78

Page 79: In guter Gesellschaft

»Schöne Aussicht, nicht wahr, Mister Connor?« Er beobachtete mich. »Treten Sie doch näher!«

Ich folgte seiner Anweisung, da ich um meinen zweiten Arm fürch­tete. Die Schmerzen waren mittlerweile noch unerträglicher. Doch ich musste all das beiseite schieben. Denn ich würde dieses schaukelnde Fleckchen irdischer Erde nicht lebend verlassen, wenn ich nicht bald mit einem glasklaren Plan aufwarten konnte.

»Schauen Sie nur«, sagte Bacon und wies nach unten. Ich stand jetzt direkt am Rand der Plattform. Tief unter mir konnte ich die funze­lige Beleuchtung der Baustelle erkennen. Sie schien von mir wegzurü­cken und wieder heranzusausen. Bemüht, mich nicht zu übergeben, wandte ich mich ab und trat einen Schritt zurück. Warum hatte Bacon mich nicht in diesem Augenblick erledigt? Ein kleiner Stoß und ich hät­te Mutter Erde einen Besuch als Flunder abgestattet. Scheinbar hatte er noch etwas anderes mit mir im Sinn. Doch er hatte einen Fehler gemacht. So einfach würde ich es ihm nicht noch einmal machen.

»Warum haben Sie den Architekten umgebracht?«, fragte ich. »Ich dachte, Sie hätten bereits so viel über mich herausgefunden,

dass Sie sich diese Frage selbst beantworten könnten, Mister Connor«, antwortete Bacon.

»Einiges weiß ich, anderes noch nicht. Aber es ist ja nie zu spät, den Wissenstand zu erweitern.«

»In Ihrem Fall ist es fraglich, ob Sie noch viel mit Ihrem Wissen anfangen werden«, sagte er bedauernd. »Schade eigentlich. Sie schei­nen ein kluger Kopf zu sein.«

»Kommt drauf an. Also? Warum musste der Architekt dran glau­ben? Und die Bauunternehmer? Hatte es mit den Firmenanteilen zu tun?«

Bacon pfiff durch die Zähne. Wieder schwankte das Gerüst. Er schien es gar nicht zu bemerken. »Firmenanteile?«, fragte er süßlich.

»Ja. Sie hatten Anteile an den Firmen Ihrer Freunde.« Bacon lachte schallend auf. »Freunde ist gut. Diese so genannten

Freunde wollten mich umbringen, Mister Connor. Ich habe lediglich für Gerechtigkeit gesorgt.«

79

Page 80: In guter Gesellschaft

Diese Aussage verwirrte mich. Bacon musste den Verstand verlo­ren haben. Ich fragte: »Und Arthur Miller? War er auch an dem Kom­plott gegen Sie beteiligt oder ist er Ihrem Ehrgeiz in die Quere ge­kommen?«

»Der alte Sack«, wieherte er. »All die Bonzen im Lions Club mit ih­rer guten Herkunft und dem ganzen exklusiven Getue. Ich bin von ganz unten gekommen, Mister Connor. Mein Vater ist gestorben, als ich zwölf Jahre alt war. Mit dreizehn Jahren habe ich angefangen, auf den Höfen und in den Docks zu schuften. Ich hatte fünf Geschwister, die sich nicht ihr Brot verdienen konnten. Alle sind gestorben bis auf eine Schwester. Aber ich habe diese Jahre überlebt, Mister Connor.« Er schwieg einen Moment und blickte auf die glitzernde Lichterfläche unter uns.

»All Star Constructions«, fuhr er schließlich fort, »ist die größte Baufirma im Gebiet von Chicago. Augenblicklich unterhalte ich zehn Großbaustellen mit über fünfhundert Arbeitern. Und Leute wie Ihr Mis­ter Miller mit seiner Stoffballensammlung und seinem liberalen Ge­quatsche, solche Menschen wissen gar nicht, was Arbeit wirklich heißt. Wenn man nicht weiß, ob die Kälte einen mehr quält als der Hunger oder der Vorarbeiter. Wissen Sie, was es bedeutet, der Jüngste zu sein unter diesen Bedingungen?«

Er stellte diese Frage mit einem Unterton, der mir die Haare zu Berge stehen ließ.

»Jeden Tag wünschen Sie sich zu sterben. Und irgendwann hören Sie auf, etwas zu fühlen. Und dann wissen Sie, dass nur ein Gesetz auf der Welt wirklich zählt: Sie oder die anderen.«

Er schien darauf glücklicherweise keinen Kommentar zu erwarten. Während er über seine Vergangenheit Vorträge hielt, überlegte ich. Es gab nur eine Chance: Ich musste Bacon auf eine Reise Richtung Erd­boden schicken. Bacon hielt in seiner Erzählung inne. Er schien meine Gedanken erraten zu haben, denn er lachte leise auf.

»Geben Sie sich keine Mühe, Mister Connor. Ich habe Ihren Tod bereits geplant. Sie müssen nicht weiter nachhelfen.«

»So?«, fragte ich.

80

Page 81: In guter Gesellschaft

»Ja, Sie haben Eathon umgebracht. Wahrscheinlich um ihm ein Geständnis abzuringen. Vielleicht, weil Sie um Ihren Ruf als Privat­detektiv fürchteten. Ich habe Sie überrascht, entwaffnet und Sie dann hier oben gestellt. Und dann... sind Sie leider abgestürzt.«

Ich ging nicht weiter darauf ein, sondern sagte: »Ich verstehe noch nicht ganz. Mit Chicagos Baubranche geht es steil nach oben. Für jeden Unternehmer wäre doch ein gutes Stück vom Kuchen abgefallen. Warum mussten Sie und Ihre... Feinde sich dann ans Leder?«

Bacon wiegte den Kopf. »Ich wollte ganz nach oben, Mister Con­nor. Ganz einfach. Seitdem ich in die Baubranche eingestiegen bin, weht darin ein anderer Wind. Die Aufträge werden von Jahr zu Jahr lukrativer. Und ich verstehe es zu kämpfen. Durch meine Heirat bin ich noch weiter vorangekommen. Und je erfolgreicher ich wurde, desto mehr hielt ich die Fäden der Branche in der Hand. Das passte natürlich nicht jedem. Und so wurden Geschäftspartner zu Konkurrenten und Freunde zu Feinden.«

Ich fragte mich, ob ihn das wirklich wunderte. Doch er fuhr fort: »Diese Feinde hätten nichts lieber gesehen, als ohne mich Geschäfte zu machen. Doch sie sind durch mich überhaupt erst nach oben ge­kommen. Das hatten sie vergessen. Ohne mich geht nichts.«

Das ist Größenwahn, dachte ich. Und ich musste Zeit gewinnen. »Aber Sie können doch Chicago nicht alleine hochziehen.« »Nicht? Arbeiter gibt es wie Sand am Meer. Und es gibt genug Un­

ternehmer, die noch an den Start möchten.« »Und Sie würden wieder Firmenanteile an ihren Unternehmen er­

werben und das ganze Spielchen ginge von vorne los.« Mir lief es kalt über den Rücken. »Sie sind ein pathologischer Killer, Bacon.«

Er brüllte los vor Lachen. Ein Lachen, so unheimlich, dass ich mich am liebsten gleich selbst hinuntergestürzt hätte, nur um nicht mehr in seiner Nähe sein zu müssen.

»Nennen Sie es, wie Sie wollen, Mister Connor. Ich nenne es Ü­berleben. Das einzig gültige Gesetz der Welt.«

Ich war für einen Moment sprachlos. Dann fragte ich: »Ich habe immer noch nicht verstanden, warum Arthur Miller sterben musste. Sie

81

Page 82: In guter Gesellschaft

wollten doch wohl kaum in die Herrenausstatterbranche einsteigen, oder?«

»Nun, ich bekam Wind von dem Mordkomplott gegen mich. Lu­xemburg und Konsorten hatten einen Killer beauftragt. Ich sollte in der Oper mein Leben aushauchen. Also habe ich den Logenplatz für den besagten Abend dem alten Mister Miller aufs Auge gedrückt und mei­nen Namen aus der Liste ausgestrichen. Was meinen Sie, wie die ge­guckt haben, als ich am nächsten Tag wohlbehalten im Club auf­tauchte und dafür die Meldung durch die Presse ging, es habe den alten Miller in der Oper erwischt.« Er lachte jetzt so laut und schallend, dass ich dachte, der Verkehr auf den Straßen unter uns musste zum Stillstand kommen.

»Sie haben was?«, fragte ich fassungslos. Bacon hörte auf zu la­chen und blickte mich überrascht an.

»Sie haben diesen alten, ehrwürdigen Herrn wie eine Puppe in den Opernstuhl gesetzt, der eigentlich für Sie bestimmt gewesen ist?«

»Richtig, Mister Connor. Soll ich es noch mal für Sie aufschreiben? Das ist doch wohl nicht so schwer zu verstehen. Überleben, Mister Connor, das einzige...«

»Du Schwein!« Blinde Wut packte mich und ich stürzte mich auf ihn. Mein Zorn verlieh mir ungeahnte Kräfte. Bacon ging zu Boden. Aber ich ließ ihm keine Zeit zu reagieren. In mir kochte ein Wunsch hoch, den ich noch nie im Leben gefühlt hatte: der Wunsch zu töten.

In Sekundenschnelle war ich über ihm und bearbeitete sein Ge­sicht mit den Fäusten wie ein Wahnsinniger. Ich hörte seine Knochen brechen, doch ich ließ nicht von ihm ab. Ich spürte, wie er versuchte die Waffe auf mich zu richten, die er noch in der Hand hielt. Doch ich ergriff seinen Arm und schmetterte ihn mehrmals mit solcher Wucht gegen den Eisenträger, dass seine Handknochen splitterten und er sie losließ.

Er stieß gurgelnde Laute aus, die wahrscheinlich von dem Blut herrührten, das sich in seinem Mund ansammelte und ihn am Atmen hinderte. Es war mir gleich, ob er an den Zähnen ersticken würde, die ich ihm eingeschlagen hatte. Ich zog ihn vom Boden hoch und schubs­te ihn in Richtung Fahrstuhl.

82

Page 83: In guter Gesellschaft

Bacon torkelte vor mir her. Und ich wünschte nichts sehnlicher, als dass er einen Schritt zu viel machen und auf Nimmerwiedersehen ver­schwinden würde. Schwankend kamen wir zum Stehen. Ich wischte mir mit der Hand über das Gesicht.

In diesem Augenblick hörte ich neben mir aus dem Dunkel eine Stimme. Eine düstere, ruhige Stimme, die mir augenblicklich die Haare zu Berge stehen ließ. Und sie raunte: »Sag auf Wiedersehen.«

Eine Hand fuhr aus dem Dunkel und dann fiel Bacon. Lautlos. Ent­setzt trat ich an den Rand der Plattform und blickte ihm nach. Ich sah seinen Körper immer kleiner und kleiner werden. Und schloss die Au­gen, bevor er unten aufschlagen konnte.

Erst in diesem Augenblick machte ich einen Satz und verlor das Gleichgewicht. Wild ruderte ich mit den Armen und versuchte mich zu halten. Ich sah die Lichterfläche um mich schwanken und stieß einen Schrei aus. Pat Connor schwebte über dem Abgrund. Da packte mich jemand und riss mich zurück.

»Pat, ich bin es. Steve«, zischte die Stimme. Ich verlor das Be­wusstsein.

*

Ich kam auf der Plattform liegend zu mir. Jemand verpasste mir Ohr­feigen und ich dachte: Noch eine und ich schlage zurück.

»Schon gut«, quetschte ich hervor. »Gott sei Dank, Pat. Ich dachte schon, du würdest gar nicht wie­

der aufwachen.« »Steve! Wie kommst du hierher?« »Ich bin dir von Lakeview aus gefolgt.« »Aha«, machte ich. Ich versuchte aufzustehen. Mein Unterarm

war eine einzige schmerzende Fläche und außerdem schien ich mir etliche Finger gebrochen zu haben. Ich stöhnte: »Bring mich zu einem Arzt oder erschieß mich!«

Es war das erste Mal, dass ich Steve lachen hörte und er sagte: »Komm, wir fahren nach unten.«

83

Page 84: In guter Gesellschaft

*

Ich lag im Bett einer Krankenstation des Passavant Memorial. Dank meiner Bekanntschaft mit den Millers war ich in einem der wenigen Einzelzimmer untergebracht. Durch den Raum raschelte eine Ordens­schwester. Ich hätte alles für einen Drink gegeben. Die Schwester ver­schwand und Lance sagte: »Du kannst bald hier raus. Sie wollen dich nur beobachten, weil die Schusswunde nicht so gut aussieht.«

»Ich bin nicht gerade undankbar über mein Hier sein. Aber könnt ihr mir vielleicht einen Drink besorgen?«

Die beiden schüttelten den Kopf. Ich blickte Lance wütend an und sagte: »Wie bist du eigentlich hier hereingekommen? Gehörst du nicht immer noch in Quarantäne?«

»Ist nicht mehr ansteckend«, grinste er. Es half nichts. Ich würde mit Betty telefonieren müssen. »Erzähl

weiter, Steve«, sagte ich. »Ja und als ich erschien, warst du mit dem Kerl schon im Baufahr­

stuhl. Und da dachte ich, es muss doch noch einen anderen Weg nach oben geben.«

Lance schüttelte den Kopf. »Du bist die Stahlleitern bis in den 23. Stock hinaufgeklettert?«

Steve nickte. »Sollte ich Pat im Stich lassen?« Wir schwiegen und ich dachte: Lance hatte von Rache gesprochen

und Steve hatte sie ausgeführt. Nun würde der alte Mister Miller in Frieden ruhen können.

*

Die kleine Verkäuferin kam wieder auf die Beine und arbeitet heute wieder bei Miller & Son. Arthur Miller erhielt ein stattliches Begräbnis, von Familie, Freunden und Angestellten gleichermaßen betrauert. Lan­ce' und mein Auftreten im Club blieb ohne Folgen.

Die Millers zahlten mir eine stattliche Summe für die Aufklärung des Falles. Mein Urlaub in Green Bay war bereits gebucht, als auch

84

Page 85: In guter Gesellschaft

mich die Erkältungswelle heimsuchte. Sehr zum Vergnügen meiner Sekretärin.

Ende

85


Recommended