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Im Schatten des Ruhms

Date post: 03-Jan-2017
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Chicago Band 14

Im Schatten des Ruhms

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Die wilden Zwanziger. In den USA herrscht Prohibition, doch eine ›tro­cken gelegte‹ Nation konsumiert mehr Alkohol als jemals zuvor. Für den Nachschub sorgen gut organisierte Gangsterbanden, gegen die die Polizei einen vergeblichen Kampf führt. Nicht zuletzt, weil auch sie oft mit am Alkoholschmuggel verdient. Die Sitten sind rau und ein Men­schenleben zählt wenig, wenn es um viele Dollars geht. Die Gangster­bosse unterhalten ihre Privatarmeen von Killern und leben selbst wie Könige.

In Chicago versucht der Privatdetektiv Pat Connor, nicht zwischen die Fronten zu geraten und trotzdem der Gerechtigkeit Geltung zu ver­schaffen. Um aber in diesem Haifischbecken zu überleben, muss man selbst auch die Zähne zeigen.

*

Das Gute an Brendons Vorschlag war, dass er als Treffpunkt den Jack­son Park vorgeschlagen hatte. Das war an diesem drückend heißen Sonntag bestimmt einer der angenehmeren Aufenthaltsorte, die Chi­cago zu bieten hatte. Das Schlechte daran war, dass ich, um dort hin­zukommen, endlos lange Richtung Süden fahren musste und mir auf dem kochenden Asphalt in meinem angejährten Plymouth vorkam wie ein Hummer in einem Kochtopf. Der South Lake Shore Drive führte direkt am Michigansee entlang, aber auch vom Wasser her wehte nicht die leiseste Brise.

Über dem See lag schon am Vormittag dieselbe graublaue Dunst­glocke wie über der Stadt und obwohl ich alle Fenster herunterge­kurbelt hatte, kam nicht einmal eine Andeutung von Fahrtwind zustan­de. Das Hemd klebte mir bald wie ein feuchter Lappen am Körper. In meinem Schädel herrschten ganz ähnlich diesige Verhältnisse, denn für meinen ausgewachsenen Kater war dieses Wetter Gift. Wieder einmal hatte ich den Eindruck, dass nichts sinnloser war als so ein Sonntag­vormittag, der sich in einem ebenso öden Nachmittag verlieren würde.

Jetzt tauchten immerhin schon Schilder auf, die den Weg zur Uni­versity of Chicago wiesen. Ich musste aber noch ein Stück weiter fah­ren. Ich hoffte, dass Brendons Laune besser sein würde als vorhin am

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Telefon. Er war Sportreporter bei der Chicago Tribune, aber alles, was nicht mit Baseball oder Boxen zu tun hatte, interessierte ihn nicht son­derlich. Schon gar nicht dieses Tennisturnier, das heute draußen beim Jackson Park stattfand.

Ein langweiliger Sport für langweilige reiche Pinkel, so sah Bren­don das sportliche Ereignis, zu dem Tenniscracks aus aller Welt ange­reist waren. Einen dieser Helden mit dem Racket sollte Brendon in­terviewen und er hatte erklärt, dieser Aufgabe nur mit der Aussicht auf einen anschließenden Drink gewachsen zu sein. Und da auch mir aller Erfahrung nach nur ein ordentlicher Schluck aus dem Nebel der letzten Nacht heraushelfen würde, hatte ich dem Treffen zugestimmt.

Als ich auf der Höhe des Washington Park war, verließ ich den South Lake Shore Drive, bog rechts in den Hyde Park Boulevard ein und fuhr dann am östlichen Rand des Washington Park entlang. Im­mer wieder kreuzten Reiter meinen Weg, bis ich zum Midway Plaisance kam. Rechts und links dieser breiten Straße befanden sich jede Menge Tennisplätze.

Rund um den Jackson Park war in den letzten Jahren ein Viertel entstanden, das als eine der besten Wohngegenden der Stadt galt und die betuchten Bewohner fanden in unmittelbarer Nachbarschaft alles, was sie brauchten, um ihren standesgemäßen sportlichen Betätigun­gen nachzugehen.

Ein Hauch von Merry Old England lag in der Luft, was mir un­willkürlich ein Grinsen entlockte. Ich parkte den Wagen und schlen­derte dann zum vereinbarten Treffpunkt, vorbei an Grüppchen, die rund um riesige Picknickkörbe auf dem Rasen lagerten. Ich hatte den Eindruck, auf eine Freilichtbühne geraten zu sein, auf der ein altmo­disches Theaterstück aufgeführt wurde und verstand Brendons Ab­neigung gegen seinen heutigen Auftrag.

Er hatte mir gesagt, er würde an der Kasse ein Ticket für mich hinterlegen. Aber ich stellte mir vor, welch brütende Hitze auf den Rängen des Tennisplatzes herrschen musste und deshalb zog ich es vor, die Anlage nicht zu betreten. Von einer Bank im Schatten aus hat­te ich den Eingang gut im Blick, auch Brendon musste mich dort ent­decken.

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Ich schob meinen Hut etwas zurück, lockerte die Krawatte und er­innerte mich dann auch des Flachmanns, den ich in weiser Voraussicht eingesteckt hatte. Schon nach dem ersten Schluck überkam mich eine angenehme Schläfrigkeit, in die das regelmäßige Aufschlagen der Bälle auf dem nahen Tenniscourt bald nur noch wie aus weiter Ferne drang.

Irgendwann schlief ich wohl richtig ein. Jedenfalls hatte ich nicht bemerkt, dass sich jemand neben mich auf die Bank gesetzt hatte. Ich kam wieder zu mir, als mein Kopf nach vorn auf die Brust sackte.

»Hier draußen kann man wenigstens atmen.« Der Typ neben mir schien nur darauf gewartet zu haben, dass ich die Augen aufschlug. »Eigentlich bin ich Hitze gewöhnt. Aber nicht so einen stickigen Dampf.«

Ich riskierte einen schrägen, bewusst unfreundlichen Blick. Wieso ließ er mich nicht einfach in Ruhe? Zuerst fielen mir seine ungleichen Schuhe auf - im linken steckte offenbar kein Fuß, sondern eine Pro­these. Also ein Kriegsinvalide, schloss ich und ließ meinen Blick an ihm höher wandern. Auf Anfang vierzig schätzte ich ihn, seine aschefarbe­nen Haare lichteten sich bereits. Er hatte ein breites Gesicht, zu des­sen Biederkeit es passte, dass er sich ständig mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn tupfte. Seine Hände waren auffallend schlank und sie wirkten so beweglich, als verfügten sie über ein Ei­genleben.

Er war so betont ordentlich gekleidet, wie es nur Leute tun, die damit von einer gewissen Ärmlichkeit ablenken wollen. Spiegelblank polierte Schuhe, ein mittelblauer Sergeanzug, der an einigen Stellen verdächtig glänzte. Trotz der Hitze hatte er nicht auf eine Weste ver­zichtet, auch die Krawatte war zugezogen bis zum Anschlag. Sein Strohhut war stellenweise löchriger, als es die ursprüngliche Flechtung vorsah. Ich war nach diesem kurzen Seitenblick auf ihn sofort davon überzeugt, einen Provinzler vor mir zu haben, auf jeden Fall keinen, der in Chicago zu Hause war.

Er setzte auch schon zu einem Klagelied an, das meinen Verdacht bestätigte. »Ich bin mit der South-Side-Hochbahn hier raus gekom­men. Aber fragen Sie nicht, wie kompliziert das war! Und dann bin ich

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auch noch zu spät ausgestiegen. Diese Stadt ist einfach zu groß. Und auch zu gefährlich.«

Merkte das Landei denn nicht, dass ich meine Ruhe haben wollte? Aufgeregt schilderte er, wie er am Vorabend in einem Diner gegessen habe und anschließend auf dem Weg ins Hotel Zeuge einer Schießerei geworden sei.

»Aus einem Auto heraus, das glauben Sie nicht! Und keine Polizei weit und breit. So was wäre bei uns zu Hause nicht möglich.«

Sein etwas näselnder Singsang ließ keinen Zweifel daran, dass ich einen Südstaatler vor mir hatte.

»Charles Craydon, aus New Orleans«, stellte er sich vor, wobei er den Hut und auch seine Sitzfläche etwas lüftete.

Obwohl er mich erwartungsvoll ansah, hielt ich es nicht für nötig, ihm nun auch meinen Namen zu nennen. Ich brummte nur etwas, das er hoffentlich als Aufforderung nehmen würde, endlich den Mund zu halten. Auf den Rängen der Tennisanlage wurde jetzt Beifall ge­klatscht. War das Spiel endlich zu Ende? Es gab auch eine Lautspre­cherdurchsage, aber die verstand ich nicht. Weil nämlich Mr. Charles Craydon schon wieder glaubte, Konversation machen zu müssen.

»Leben Sie schon lange in Chicago? Also, für mich wäre das nichts. Ich bin froh, wenn ich hier bald wieder weg kann. Ehrlich ge­sagt, ich hatte mir das alles viel einfacher vorgestellt.«

Obwohl ich meine Ohren auf Durchzug stellte, drang einiges von seinem Klagelied doch zu mir durch. Das Wichtigste jedenfalls - er schien nach jemandem zu suchen. Angesichts der etwa drei Millionen Einwohner der Stadt war das kein leichtes Unterfangen, zumal, wenn einer hier fremd war.

Jetzt strömten bereits die ersten Menschen von der Tennisanlage, anscheinend war das Turnier wirklich beendet. Ich musste nun aufpas­sen, um Brendon nicht zu verpassen. Zugleich ging mir durch den Kopf, dass sich während der letzten Woche kein einziger Klient in mein Büro verirrt hatte und ein kleiner Geistesblitz erleuchtete mich. Ich stand auf und griff dabei nach einer Visitenkarte. Die drückte ich dem sichtlich verblüfften Mr. Craydon in die Hand.

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»Falls Sie professionelle Hilfe brauchen bei Ihrer Suche«, ließ ich ihn wissen, »mein Büro ist wochentags zu den üblichen Zeiten geöff­net.«

»Ein Detektiv!«, murmelte Craydon beeindruckt und studierte die kleine Karte so lange, als sei darauf ein Fortsetzungsroman gedruckt. Bestimmt hatte ich ihn dank meines Berufs in einem weiteren Vorurteil über Chicago bestätigt - wer lebte hier schon außer Gangstern und Detektiven?

Ich stellte eine erfreuliche Aufhellung meiner Stimmung fest, als ich zum Eingang der Tennisanlage schlenderte. Ja, den Seinen gab der Herr bisweilen sogar Aufträge im Schlaf. Schon jetzt war ich ganz si­cher, in Craydon demnächst einen Klienten zu bekommen.

»Alter Knabe, da steckst du also!« Brendon hatte mich entdeckt, er schwitzte erbärmlich und war ganz rot im Gesicht. »Lass uns bitte ganz schnell verschwinden von hier. Ich möchte statt all des teuren Parfüms endlich einen anderen Geruch in die Nase kriegen, wenn du weißt, was ich meine!« Er lachte dröhnend und natürlich wusste er, wo wir ganz in der Nähe unverzüglich etwas gegen unseren Durst unter­nehmen konnten.

*

In der Nacht war ein Gewitter niedergegangen und so wirkte die Stadt wie frisch geduscht, als ich am nächsten Morgen von meiner Wohnung in der North Clark Street zu meinem Büro südlich des Chicago River am Rand des Businessdistrikts fuhr. An der Ecke South Frank­lin/Monroe Street schien sogar das sechsstöckige Sandsteingebäude, in dessen zweiter Etage sich mein Büro befand, heller zu leuchten als sonst. Ich stellte den Wagen auf dem Hof ab und atmete ein paar Mal tief durch. Im Büro oben war die Luft garantiert noch immer stickig.

Ich rechnete nicht damit, meine Halbtagskraft Betty Meyer um diese relativ frühe Stunde schon anzutreffen. Sie hielt sich nämlich für chronisch unterbezahlt, was sie damit ausglich, dass sie es mit ihren Arbeitszeiten nicht allzu genau nahm. Umso überraschter war ich, schon vor der Tür lebhafte Stimmen zu hören.

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»Es hat wirklich keinen Sinn, dass Sie noch länger warten«, hörte ich Betty sagen. »Scheidungssachen nehmen wir prinzipiell nicht an.«

Ich beeilte mich, die Tür zu öffnen. War die gute Betty wahnsinnig geworden? Hatte sie vergessen, wie ereignislos die letzte Woche ver­laufen war? Grundsätze waren gut und schön, aber gelegentlich muss­te man sie auch über den Haufen werfen. Unter solchen Umständen schickte man doch keinen weg, ganz egal, was er wollte!

»Morgen, Betty.« Ich hatte nur einen flüchtigen Blick für sie und einen schneidigen Tonfall. Wie üblich wollte ich meinen Hut auf das Sofa rechts von der Tür werfen. Aber genau dort saß jemand.

»Endlich, Mister Connor!« Er lächelte mich an wie einen guten al-ten Bekannten und wieder fielen mir Charles Craydons feingliedrige Hände auf, die sich im Moment am Strohhut festhielten. »Ich hab Ih­rer Sekretärin schon gesagt, dass alles seine Ordnung hat. Aber sie wollte partout nicht...«

»Schon gut«, fiel ich ihm ins Wort. Auch wenn Betty natürlich ei­nen Fehler gemacht hatte, indem sie ihn wegschicken wollte, war das jetzt nicht der Moment, um das breitzutreten. »Kommen Sie doch ein­fach zur Sache.«

Betty sah erst mich beleidigt an, dann ihre Fingernägel. Vermutlich hatte Craydon sie mitten in ihrer täglichen Maniküre gestört. »Wie wä­re es mit Kaffee?«, gab ich ihr einen diskreten Hinweis, allmählich doch ihren Arbeitstag zu beginnen.

Sie ließ erst ein paar zähe Sekunden verstreichen, bevor sie sich wie in Zeitlupe erhob.

Ich öffnete indessen ein Fenster, um die stickige Luft raus zu las­sen. Dann schob ich einen Stuhl vor meinen Schreibtisch, gab Craydon ein Zeichen, sich dorthin zu setzen und legte dann endlich meinen Hut auf dem Schreibtisch ab und die Beine gleich daneben.

Craydon trug denselben mattblauen Anzug wie gestern, dieselbe gelb und weiß gestreifte Weste, aber offenbar ein frisches Hemd. Ich fand den Blick aus seinen eher schmalen, blassblauen Augen unerträg­lich zutraulich, das hatte fast etwas von einem Hund. Insofern verstand ich Bettys Abneigung gegen ihn. Aber als Bettys Arbeitgeber konnte ich mir solche Antipathien derzeit einfach nicht leisten. Von

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irgendwoher musste ihr Gehalt schließlich kommen. Wieso nicht von einem aus den Südstaaten?

Craydon klagte schon wieder, wie kompliziert es gewesen sei, den Weg zum Büro zu finden. Und dass in der Hochbahn jemand versucht habe, seine Brieftasche an sich zu nehmen. Sobald zwischen meinen Lippen eine Lucky brannte, fiel ich ihm ins Wort. »Wen suchen Sie denn nun eigentlich? Auch der Grund würde mich interessieren.«

»Ja, der Grund, das ist so eine Sache!« Er seufzte und warf den Kopf zurück, mit einer Miene, als liege ein Wochen alter Hering unter seiner Nase. »Es ist eher so ein Gefühl, verstehen Sie? Ein Gefühl, dass da etwas nicht stimmt. Ich kenne Doreen doch schon so lange und sie war immer so zuverlässig.«

»Doreen also«, knurrte ich und zog den Notizblock zu mir heran. »Und wie weiter?«

Er brauchte einen Moment, bis er meine Frage verstand. »Sim­mons, Doreen Simmons«, sagte er dann. »Mindestens einmal pro Mo­nat hat sie mir geschrieben. Es ist jetzt ein Jahr her, dass sie nach Chicago gegangen ist. Ich hab ihr ja immer davon abgeraten. Sie war meine beste Schülerin, müssen Sie wissen. Ein sehr seltenes Talent, mit dem absoluten Gehör, wenn Sie wissen, was ich meine.«

Betty hatte endlich Kaffee gekocht und füllte mir eine Tasse. Be­vor sie dasselbe auch für Craydon tat, schenkte sie sich selbst ein.

»Ich weiß nur, was Sie mir sagen«, beschied ich Craydon. »Was haben Sie Doreen Simmons denn beigebracht?«

Betty hielt es für angebracht, anzüglich zu kichern. Ziemlich vorwurfsvoll sah Craydon mich an. »Aber das hab ich Ih­

nen doch schon gestern gesagt! Früher war ich Musiker, inzwischen gebe ich Unterricht. Klavier. Und wie gesagt, Doreen war meine beste Schülerin. Sie hätte Karriere machen können, mit ein bisschen Glück...« Er verstummte für einen Moment und wirkte verlegen. Dann legte er sein linkes Bein über das rechte und begann mit der Prothese im Schuh nervös zu wippen. »Seit zwei Monaten ist jetzt kein Brief mehr von Doreen gekommen«, fuhr er fort.

»Sie wird jemanden kennen gelernt haben«, ließ sich Betty schnippisch vernehmen. »Vielleicht ja einen Lehrer, der mehr kann als

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Sie?« Ihr Lächeln für Craydon pendelte zwischen Mitleid und Verach­tung.

»Nein, so ist Doreen nicht«, beteuerte er kopfschüttelnd. »Meinen Sie, ich hätte die weite Reise ohne einen triftigen Grund auf mich ge­nommen?« Vorwurfsvoll sah er Betty an, dann wieder mit diesem un­angenehm hündisch ergebenen Blick mich. »Ich spüre, dass da was nicht in Ordnung ist.«

»An welche Adresse haben Sie denn die Briefe an Doreen ge­schickt?«, wollte ich wissen und zückte den Stift noch einmal.

»Moment.« Umständlich fingerte er ein kleines Notizbuch aus der Innentasche seines Jacketts. Er nannte mir die Adresse. »Das liegt auf der South-Side«, glaubte er mich belehren zu müssen. »Dort war ich natürlich schon. Aber man hat mir gesagt, dort wohne sie nicht.« Sei­ne rechte Hand bewegte sich auf der Krempe des Strohhuts, als befän­den sich dort die Tasten eines Klaviers. »Das gibt es doch nicht, dass jemand spurlos verschwindet!«

»Eher selten«, räumte ich ein. Dann nannte ich ihm mein übliches Honorar. »Fünfundzwanzig Dollar pro Tag. Spesen extra. Und die Zah­lung sollte im Voraus erfolgen.«

»Ja, natürlich.« Genauso umständlich wie zuvor das Notizbuch be­förderte er einige zerknitterte Scheine aus seiner Innentasche.

»Was hat Doreen Ihnen denn zuletzt geschrieben? Wovon lebt sie?«

»Ja, das war ja auch schon so merkwürdig.« Er schlug die Beine andersherum übereinander. »Dass es ihr gut geht, hat sie geschrie­ben. Aber sonst nichts Genaues.«

Sie wird in irgendeiner Fabrik auf der South-Side arbeiten, vermu­tete ich. Wo sonst fanden mittellose Frauen aus dem Süden hier schon einen Job? Und dort arbeitete sie vermutlich so hart, dass ihr die Träu­me von einer Karriere als Pianistin längst vergangen waren.

»Die wollte Sie einfach abwimmeln«, gab Betty mal wieder ihren Kommentar dazu.

»Nein, das glaube ich nicht.« Charles Craydon stand auf. »Das würde Doreen niemals tun! Ich war ja fast wie ein Vater für sie.«

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Betty Mundwinkel zuckten ironisch, während Craydon sich den Hut aufsetzte und dann zur Tür ging. Er kam mit der Prothese sehr gut zurecht, nur ein ganz kleines bisschen zog er den linken Fuß nach.

»Moment!«, stoppte ich ihn. »Sie haben mir die Lady noch gar nicht beschrieben. Ein Foto haben Sie nicht zufällig von ihr?«

»Doch, aber...« Er stockte und sah mich an, als hätte ich ihm ei­nen unsittlichen Antrag gemacht. »Ich habe nur dieses eine Foto von ihr. Und ich trage es immer bei mir.«

»Sie kriegen es ja wieder«, ermunterte ich ihn. Es kostete ihn sichtlich einige Überwindung, meiner Bitte nach­

zukommen. Betty war aufgestanden und zu ihm gegangen und mit ei­nem nicht sehr freundlichen Grinsen entriss sie ihm das Foto.

Rückwärts ging Craydon die letzten Schritte zur Tür, den Blick un­verwandt auf das Foto in Bettys Hand gerichtet. »Dann also bis mor­gen!«

»Oh nein!«, entfuhr es Betty, während die Tür hinter ihm zufiel. »Nun schauen Sie sich das nur an!« Sie legte das Foto auf meinen Schreibtisch, als sei es eine tote Ratte. »Das ist ja noch viel schlimmer, als ich gedacht hatte!«

Das Foto zeigte eine junge Frau, die auffallend hübsch war. Und schwarz. Damit hatte auch ich nicht gerechnet.

»Der sucht nach 'ner entlaufenen Sklavin!«, rief Betty entsetzt. »Von wegen, seine beste Schülerin! Kein Wunder, dass so einem Chi­cago nicht gefällt. Dort unten im Süden tun sie doch so, als hätten sie von der Aufhebung der Rassentrennung noch nie was gehört. Und dazu wollen Sie sich missbrauchen lassen?«

Ich sagte gar nichts. Auch nicht, dass es mit der Befolgung dieses Gesetzes auch bei uns in Chicago nicht allzu weit her war. Auch bei uns traten Schwarze nur als Dienstboten oder billigste Arbeiter in Er­scheinung.

»Ich hab doch gleich gerochen, dass mit dem was nicht stimmt!«, plusterte Betty sich auf. »Hätten Sie ihn mich nur wegschicken lassen. Das ist ja noch viel schlimmer als 'ne Scheidung! Ich kann mir schon denken, wieso so einer so wild darauf ist, seine entlaufene Schwarze wiederzuhaben! Wetten, dass die ihm nicht bloß den Haushalt ge­

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macht hat?« Betty machte eine so ordinäre Geste, dass ich mich frag­te, woher sie so etwas kannte. »Geben Sie sich wirklich für so was her?« Die Arme in die rundlichen Hüften gestemmt, sah sie mich mit flammenden Augen an.

»Auftrag ist Auftrag«, versetzte ich knapp. »Ich vermute, Sie wol­len doch auch diese Woche bezahlt werden? Dann tun Sie jetzt endlich was dafür und lassen Sie mich meinen Job erledigen.«

Mein Hinweis auf die finanzielle Flaute tat seine Wirkung. Betty setzte sich an ihren Platz, spannte ein Blatt Papier in die Schreibma­schine und betrachtete dann beleidigt ihre Fingernägel.

Ich riss die Seite mit den kärglichen Angaben über Doreen Sim­mons aus dem Notizblock und steckte sie zusammen mit dem Foto in meine Jackentasche. Allzu schwer dürfte es nicht sein, sie zu finden. Jemand, der so schwarz war wie sie, hinterließ auch hier in Chicago unweigerlich Spuren. Mit den richtigen Fragen konnte ich davon aus­gehen, auf der South-Side rasch fündig zu werden. Rasch genug, um mir zuvor noch die Zeit zum Mittagessen zu nehmen.

*

Weil ich nicht damit rechnete, dass Brendon mir in Henry's Steak Diner Gesellschaft leisten würde, besorgte ich mir zuvor noch eine Zeitung. Wie die Schlagzeile verkündete, gab es neue Arbeit für Captain Morgan C. Hollyfield und seine Leute. Es war schon die dritte Leiche innerhalb von etwa zehn Tagen. Und nicht irgendeine Leiche. Auch diesmal hatte es einen angesehenen Bürger unserer Stadt erwischt.

Ich bestellte mir erst ein Steak und ließ mir einen Whiskey geben, bevor ich mir die Einzelheiten zu Gemüte führte. Sie waren fast er­schreckend monoton. Wieder war alles genauso wie bei den letzten beiden Malen. Ein einflussreicher Mann, der tot auf einem belebten Platz gefunden worden war. Und zwar so übel entstellt, dass er nur anhand seiner Kleidung und des Inhalts seiner Brieftasche hatte identi­fiziert werden können. Rätselhaft war auch diesmal das Motiv, denn um Raubmord handelte es sich eindeutig nicht. Man hatte auch dem jüngsten Opfer weder den Siegelring noch die goldene Uhr abgenom­

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men, auch war niemand am Inhalt der gut gefüllten Brieftasche inte­ressiert gewesen.

Mehr war dem Artikel nicht zu entnehmen. Ich erlaubte mir etwas Schadenfreude im Gedanken an Hollyfield. Der Leiter der Mordkommis­sion war bestimmt nicht wenig nervös angesichts dieser Mordserie. Ei­ner wie Hollyfield stand ja von allen Seiten unter Druck - es konnte für ihn ebenso übel ausfallen, wenn er den Schuldigen fand, wie wenn er noch länger im Dunkeln tappte. Die Art und Weise, wie man die drei Toten gefunden hatte, verriet einen ziemlich ausgeprägten italieni­schen Akzent. Was einmal ihre Gesichter gewesen waren, sah so aus, als habe sie jemand mit Schießscheiben verwechselt. Hollyfield konnte sich da eigentlich nur in die Nesseln setzen.

Mein Mitleid mit ihm hielt sich allerdings in engen Grenzen und wieder einmal war ich ganz froh, nicht mehr in seinem Klub spielen zu müssen. Es hatte schon seine Vorteile, sich selbst aussuchen zu kön­nen, welchen Job man annahm und welchen nicht. Betty hätte jetzt bestimmt auf meinen aktuellen Auftrag hingewiesen und höhnisch ge­grinst. Aber Betty war ja zum Glück nicht da und so gab es nichts, was mir den Appetit auf mein Steak verdarb.

Ich spülte mit einem weiteren Glas nach und wollte mir noch mal die Zeitung vornehmen. Zum Beispiel um zu sehen, was Brendon aus seiner Begegnung mit dem Tenniscrack gemacht hatte. Aber da er­schien er selbst.

Er war nicht allein, einige Kollegen begleiteten ihn. Aber er kam doch kurz an meinen Tisch. »Gut, dass ich dich sehe«, begrüßte er mich. »Aus dem Konzert heute Abend wird nämlich nichts.«

Tatsächlich hatte ich es fast schon vergessen, dass er gestern vorgeschlagen hatte, mit ihm zu einer Jazzveranstaltung auf der South-Side zu gehen. Dort eröffneten derzeit täglich neue Klubs und ständig machten neue Musiker von sich reden.

»Die haben seit Wochen ausverkauftes Haus und dann sagen sie den Termin heute einfach ab«, schimpfte Brendon. »Diese Schwarzen verkraften einfach den Erfolg schlecht.« Er grinste treuherzig. »Dabei sind die Jungs richtig gut. Und ihre Sängerin soll spitze sein. Na, das

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holen wir nach.« Er sah zu, dass er zu seinen Kollegen kam, die in kluger Voraussicht schon einen Drink für ihn mitbestellt hatten.

Kurz darauf zahlte ich und ging, um mich auf die Suche nach Do­reen Simmons zu begeben. Draußen war es inzwischen so heiß, dass wieder mal eine diesige Glocke über der Stadt hing.

Die Adresse, die auf Miss Simmons' Briefen an Charles Craydon gestanden hatte, befand sich ziemlich weit unten im Süden, in einer kleinen Straße hinter den Stock Yards. Wenn ich das bedacht hätte, wäre ich vermutlich nicht so frohgemut losgefahren.

Schon bald aber stieg mir der Schlachthofgeruch unangenehm in die Nase. Ich verzichtete auf das bisschen Fahrtwind und kurbelte lie­ber die Fenster hoch und wieder einmal fragte ich mich, wie abge­stumpft man sein musste, um in solch einem Gestank tagaus tagein zu arbeiten. Klar, das tat nur, wer sonst keine Arbeit fand, größtenteils waren es derzeit Polen, die sich dort verdingten.

Die meisten Einwanderer begannen ihr Leben in Chicago mit ei­nem Job in den Schlachthöfen und für die meisten führte auch kein Weg mehr heraus. Aber immerhin, diese Leute konnten sich doch Ar­beiter nennen und waren zudem gewerkschaftlich organisiert. Es gab aber eine Gruppe, die noch tiefer rangierte. Das waren die Schwarzen, die ihren Lebensunterhalt als Laufburschen, Küchenhilfen oder Schuh­putzer verdienen mussten und was es sonst noch an schlecht be­zahlten Jobs gab.

Irgendwelche einklagbaren Rechte hatten sie natürlich nicht. Sie lebten in Chicago, aber keiner nahm sie wirklich wahr. Ausgenommen davon waren höchstens die schwarzen Musiker und Tänzer in den Nachtklubs, aber auch die wurden nicht mehr zur Kenntnis genommen, sobald sie die Bühne verließen.

Auf welche Weise mochte sich wohl Doreen Simmons durchs Le­ben schlagen? Ich parkte meinen Wagen auf der Schattenseite der Straße und sah mich um. Einladend sah es hier wirklich nicht aus. Der Putz blätterte an den meist dreistöckigen Häusern, schmutzige Kinder und Hunde trieben sich rudelweise herum. Es gab fast in jedem Haus unten einen Laden und was dort zu haben war, war billig. Auch Knei­

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pen gab es reichlich, eine befand sich in dem Haus, in dem Miss Sim­mons einmal gewohnt hatte.

Dass tatsächlich eine alte Schwarze dort den schmierigen Boden mit trübem Wasser und einem schmutzstarrenden Lappen bearbeitete, stimmte mich hoffnungsvoll. Bis ich am Tresen stand, wusste ich auch schon, wie ich meine Frage am besten verpackte. Der Typ hinter dem Schanktisch, ein kastenförmiger, nicht allzu großer Mann ohne jedes Haar auf dem Kopf, musterte mich argwöhnisch.

»Wir haben noch geschlossen«, ließ er mich nuschelnd wissen. Zum Glück hatte ich gar nicht vor, in der Kaschemme etwas zu

trinken. Was hier als trinkbar galt, war garantiert nur geeignet, einem ein Loch in den Magen zu ätzen. »Komm bloß wegen Doreen«, ließ ich den Kasten wissen. »Hab 'ne Nachricht für sie. Könnt wichtig sein für sie.«

»Doreen wer?«, wollte der Kasten wissen. »Doreen Simmons, Sie wissen schon.« Ich improvisierte auf gut

Glück, was sonst blieb mir übrig, wenn ich nicht ebenso erfolglos sein wollte wie Charles Craydon.

»Und wenn ich nicht weiß?«, nuschelte er und flößte sich etwas aus einer schmutzigen, henkellosen Tasse ein.

»Dann wissen Sie ja vielleicht, wer was weiß.« Ich fuhr mit der Hand über das rissige Holz der Theke und wie zufällig lag dann die Fünfdollarnote dort. Mehr, so hoffte ich, dürfte eigentlich nicht nötig sein.

Er stellte seine Tasse neben dem Schein ab und gleich darauf war er verschwunden. »Kann nicht jeden kennen«, maulte er dabei.

»Jeder ist auch nicht nötig«, konterte ich. »Bloß einen, der weiß, wie ich ihr diese Nachricht zukommen lassen kann.« Je länger ich dort stand, umso durchdringender stach mir der Geruch in die Nase, eine Mischung aus billigem Fusel, abgestandenem Rauch und einem ziem­lich scharfen Putzmittel, das die Alte mit ihrem Lappen im Raum ver­teilte. Ich verdoppelte meinen Einsatz, um möglichst schnell hier raus zu kommen. Auch diesmal nahm der Kasten den Schein so geschickt wie unauffällig an sich. »Vielleicht weiß jemand im Butterfly was«,

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brummte er endlich. »Zwei Blocks weiter. Das Haus mit der roten Lampe über der Tür.« Er grinste so flüchtig wie schmierig.

»Na also.« Die beiden Wörtchen mussten ihm als Dank und Ab­schied genügen. Ich sah zu, dass ich wieder auf die Straße kam. Dort verprügelten sich zwei höchstens zehnjährige Kinder, angefeuert vom Gejohle anderer sowie dem Gebell der Hunde. Auf manchen der Trep­pen zu den Hauseingängen kauerten Männer, die so alt und hinfällig wirkten, dass ich mich wunderte, wie sie überhaupt noch ihre Zigaret­ten festhalten konnten. Ansonsten waren nur Wesen unterwegs, die ich einzig durch ihre Kleidung als weiblich identifizierte. Weder Alter noch Herkunft war ihnen anzusehen, auch nicht, dass sie vielleicht irgendwann einmal irgendwelche Reize besessen hatten. Um nicht depressiv zu werden, vermied ich es, sie anzusehen. Und auch ich schien für sie Luft zu sein.

Butterfly - ich hatte gleich vermutet, dass sich dahinter ein Puff verbarg. Bald sah ich auch die Frauen, die vor dem Haus zwei Blocks weit auf und ab flanierten, grotesk geschminkt und gekleidet. Gleich­zeitig richteten alle ihre taxierenden Blicke auf mich und sie brachten sich tatsächlich auch alle gleichzeitig in Positur.

Bis auf eine, die etwas abseits stand. Vermutlich tat sie das nicht freiwillig. Sie war fraglos hübscher als die anderen, aber schwarz. Und deshalb wurde sie von den anderen wohl nur in diesem Abstand gedul­det. Sie also musste ich ansprechen. Natürlich gab es böses Getuschel in meinem Rücken, als ich es tat. Das noch ziemlich junge Ding sah mehr als erschrocken aus und wollte weglaufen.

Ich vertrat ihr den Weg. »Doreen Simmons.« Um es ihr leichter zu machen, schaute ich an ihr vorbei. »Wo finde ich sie? Hab ihr was aus­zurichten, was Wichtiges.«

Auch die Schwarze sah an mir vorbei, voller Angst. Den Blick auf ihre hellhäutigen Kolleginnen gerichtet, begann sie rückwärts zu ge­hen. »Weiß nich«, hörte ich sie murmeln. »Kenn ich nich, kenn kei­nen.«

»Falls doch, ruf mich an, ja?« Sie riss erschrocken die Arme hoch, als ich ihr meine Karte zu­

schob, die ich in eine Dollarnote gewickelt hatte, ganz so, als befürch­

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tete sie, ich wolle sie schlagen. Dann vollführte sie eine abrupte Kehrt­wendung und rannte so schnell davon, dass ich sie gleich darauf nir­gends mehr entdecken konnte. Ihre weißen Kolleginnen stimmten ein gackerndes Gelächter an und riefen mir allerlei Unflätigkeiten hinter­her. Deshalb beschloss ich, auf einem anderen Weg zu meinem Wagen zurückzugehen. In diesem Moment war ich geneigt, meinen Besuch hier als Fehlschlag zu verbuchen. Dass die verängstigte Schwarze mich wirklich anrufen würde, war mehr als unwahrscheinlich.

Aber ich hatte immerhin versucht, Craydons Auftrag zu erfüllen. Mehr konnte er für seine paar Kröten nicht erwarten. Eine Erfolgsga­rantie hatte ich ihm schließlich nicht gegeben. Und die nächsten Tage, in denen ich auf den todsicher ausbleibenden Anruf warten würde - die würde ich ihm nicht berechnen. Mit diesem Vorsatz, so schien mir, war dem Anstand mehr als Genüge getan. Ich war richtig froh, als ich end­lich im Auto saß und diese trübselige Gegend hinter mir lassen konnte. Gut möglich, dass vor Gott alle Menschen gleich waren, egal, welche Hautfarbe sie hatten. Aber da sich das hier unten bei uns doch noch nicht herumgesprochen hatte, war ich dem Zufall in Gestalt meiner El­tern doch ausgesprochen dankbar, der mir eine weiße Haut samt den rötlichen Haaren beschert hatte.

*

Der Nachmittag im Büro verlief so ereignislos, dass ich mir auf dem Weg nach Hause einen Drink spendierte. Ich verspürte das Bedürfnis, noch ein bisschen unter Menschen zu sein und so steuerte ich am nördlichen Rand der Loop eines jener Lokale an, in denen sich um die­se Zeit die Angestellten von Banken und Versicherungen einen hinter die Binde zu kippen pflegten. Da es ganz in der Nähe auch einige Ho­tels gab, mischten sich häufig auch Touristen unter die Gäste, begierig darauf, endlich mal auch ein paar Einheimische kennen zu lernen.

Es amüsierte mich, den Gesprächen zu lauschen, die fast immer demselben Muster folgten. Denn im Unterschied zu den Einheimischen waren die Reisenden aus aller Welt immer unglaublich gut informiert über unsere Stadt. Was bedeutete, dass sie einen Superlativ nach dem

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anderen auf zählten, angefangen von der Schwindel erregenden Höhe des neuesten Wolkenkratzers, den dabei verbauten Massen an Stahl und Beton, über die Länge der Highways bis hin zur Zahl derer, die in dieser Stadt täglich ihr Leben verloren. Für die Fremden war es an­scheinend gleich, worauf sich all diese Zahlen bezogen, Hauptsache, sie waren eindrucksvoll. Und die Einheimischen pflegten mit etwas aufgesetzter Ungläubigkeit zuzuhören.

»Ist das wirklich so? Bei mir in der Straße krieg ich davon nichts mit.« So ungefähr lautete der übliche Kommentar. Sich möglichst ab­gebrüht zu geben, war für jeden Chicagoer Ehrensache. Jeder, der sich hier über Wasser hielt, hatte frühzeitig vor allem eines lernen müssen - die Augen und Ohren nicht allzu weit aufzusperren und sich tunlichst um nichts zu kümmern, was einen nicht unmittelbar anging.

Nach drei Gläsern und etlichen Luckys war mein Bedürfnis nach Gesellschaft gestillt. Ich zahlte und als ich auf die Straße trat, wehte vorn Michigansee eine angenehme Brise herüber. Das machte die Hit­ze, die sich zwischen den Häusern tagsüber angestaut hatte, halbwegs erträglich. Ich schlenderte zu einer Baulücke, die im Moment noch als Abstellplatz für allerlei Gerümpel und auch als Parkplatz genützt wur­de. Dort hatte ich den Plymouth geparkt. Ich freute mich darauf, mich ein paar Blocks weiter der Länge nach auf meinem Bett ausstrecken zu können, bei einem letzten Schlummertrunk vielleicht.

Aber dann sorgte jemand dafür, dass dieser Wunsch nicht so schnell in Erfüllung ging. Ich hatte die Wagenschlüssel schon in der Hand, als ich rechts von mir den Luftzug wahrnahm. Gleich darauf schoss das Projektil über das Dach meines Autos hinweg und versenk­te sich scheppernd in einem ausrangierten mannshohen Metallkasten.

Mein erster Gedanke war, dass mich hier jemand mit einem ande­ren verwechselte. Der zweite sagte mir, dass die Beleuchtung hier nicht gerade günstig war, um das Missverständnis rasch auszuräumen. So hechtete ich über die Motorhaube hinweg auf die andere Seite mei­nes Plymouth und ging dort in Deckung. Meine Augen bohrten Löcher in das Zwielicht, als sei es ein Schweizer Käse. Ich glaubte Schritte zu hören, sah aber niemanden. Alles in allem war das kein gutes Gefühl. Ich wusste nicht einmal, mit wie vielen ich es zu tun hatte. Aus min­

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destens zwei Richtungen drang das Scheppern von Blechdosen. Konn­te ich es wagen, ins Auto zu steigen und einen Kavaliersstart hinzule­gen? Oder sah ich mich besser nach einem anderen Fluchtweg um?

Ich war noch zu keinem Ergebnis gekommen, das mich überzeugt hätte, als sich mir etwas in den Rücken bohrte. Ich tippte auf einen 38er. Wer immer der Meinung war, mich mit dem Ding streicheln zu müssen, er stank nach Knoblauch und billigem Fusel. Meinte der wirk­lich mich?

»Wo steckt dieser Affe aus den Südstaaten?« Er sprach zischelnd, ohne die Zähne auseinander zu nehmen.

Das gefiel mir ebenso wenig wie die Revolvermündung in meinem Rücken. Während ich immer noch in Hockstellung war, stand er. Die Chancen waren also mehr als unangenehm ungleich verteilt. »Wen meinen Sie?«

»Stell dich nicht blöd!« »Kann ich nicht aufstehen? Meine Beine schlafen ein.« »Keine Mätzchen, hörst du? Sag mir, wo der Typ steckt und zwar

'n bisschen dalli!« Da er etwas von mir wollte, was er nur haben konnte, solange ich

lebendig war, riskierte ich es, mich langsam aufzurichten. »Der soll hier nicht seine Nase in Sachen stecken, die ihn nichts

angehen!«, raunzte der Typ hinter mir. Er war einen Kopf kleiner als ich, wie ich nun feststellen konnte.

Außerdem sagte mir ein Gefühl, dass das Risiko kalkulierbar sei. Ich sorgte zunächst für ein bisschen Ablenkung, indem ich meine Wagen­schlüssel auf die andere Seite des Autos warf und als ich daraufhin spürte, wie seine Hand mit der Waffe prompt leise zuckte, holte ich, bei gekrümmtem Ellbogen, mit dem rechten Arm aus. Während mein Ellbogen ihn wie erwartet an der Stirn traf, schlug ich ihm mit der Rückhand die Waffe aus der Hand. Schwungvoll genug, dass sie einige Meter weit flog.

Die Folge war, dass der Angreifer gotterbärmlich fluchte und sich mit einem Satz in die Richtung entfernte, in die ich seinen Revolver be­fördert hatte. Er war sofort von der Dunkelheit verschluckt und ich beschloss, dass es mich nicht weiter interessieren musste, was er nun

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tat - solange er nur mich endlich ins Auto steigen ließ. Ich huschte also auf die andere Seite, wühlte ein bisschen im Dreck, bis ich die Schlüs­sel gefunden hatte und gleich darauf saß ich im Wagen und preschte davon.

Eine Lucky half mir, meine Nerven wieder auf Normalspannung zu bringen. Und während ich dann die paar Blocks bis nach Hause fuhr, hatte ich zum ersten Mal den Eindruck, dass ich meinen neuen Klien­ten vielleicht doch ernst nehmen musste, auch wenn er aus den Süd­staaten kam. Wieso gefiel es jemandem in dieser Stadt nicht, dass er hier war? Verdarb Craydon gar jemandem das Geschäft?

So harmlos und bieder er auch aussah - vielleicht war das nur eine Maske und tatsächlich war er Doreens Zuhälter? Nach meinem Ausflug auf die South-Side am Vormittag konnte ich mir durchaus vorstellen, dass sich Doreen Simmons in diesem Gewerbe durchschlug. Und dass es nicht selbstlose Sorge war, die Craydon die junge Schwarze vermis­sen ließ, sondern ganz handfestes Eigeninteresse.

*

Auch am nächsten Tag war Betty schon vor mir im Büro. Ich vermu­tete dahinter weniger etwas wie Arbeitseifer, sondern eine Demonstra­tion, wie mau die Auftragslage sei.

Ich bin hier. Und wo ist die Arbeit? Diese Frage las ich in ihrem spöttischen Blick, mit dem sie mich empfing. »Kaffee gibt es auch schon.« Sie trug wirklich dick auf.

Ich gab mich ungerührt. »Und sonst?« »Sonst hab ich hier die Post. Hauptsächlich Rechnungen.« Sie

wies auf einige schon aufgeschlitzte Briefe. »Außerdem das hier. Ano­nym. Ich wollt das eben wegwerfen.«

»Moment mal.« Ich hatte den Hut noch nicht abgelegt, als ich verhinderte, dass sie den Brief in den Papierkorb warf.

»Ich denke, mit so was geben wir uns nicht ab?«, giftete sie. »Steht sowieso nicht viel drin.«

Auch diesen Brief hatte sie, ganz pflichtbewusste Sekretärin, be­reits geöffnet. Die Adresse war in unbeholfener, krakeliger Schrift ge­

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schrieben, sogar mit einem Fehler - Connor nur mit einem n. Auf dem Zettel in dem Umschlag stand genauso krakelig wiederum nur eine Ad­resse. Kein Name, nur Straße und Hausnummer. Das sagte mir gar nichts.

Ich entledigte mich endlich des Hutes, auch mein Jackett zog ich aus und lockerte den Schlips. Bevor ich mich setzte, suchte ich im Schrank nach dem Stadtplan.

»Als Kinder haben wir so was manchmal gemacht«, höhnte Betty. »Schnitzeljagd. Hätte nicht gedacht, dass so was nach Ihrem Ge­schmack ist.«

»Wie wär's mit Kaffee?«, knurrte ich. An Tagen wie diesem fragte ich mich ernsthaft, wieso ich Betty überhaupt beschäftigte.

»Ist ja schon gut«, brummte sie und bequemte sich, mir eine Tas­se Kaffee zu bringen. »Und was mach ich mit den Rechnungen?«

Ich hatte keine Lust, mich noch länger von ihr ärgern zu lassen. Erst einmal interessierte mich, wo sich diese Straße befand. Am nördli­chen Stadtrand wurde ich endlich fündig. Das war schon fast nicht mehr Chicago. Nie im Leben war ich da draußen gewesen. Aber was sprach dagegen, mal wieder meinen Horizont zu erweitern? Zumal ja sowieso nichts anderes zu tun war.

Ich bat Betty, an die Absender der Rechnungen die üblichen Flos­keln zu schreiben, die meine prinzipielle Zahlungswilligkeit zum Aus­druck brachten und mir etwas Aufschub verschaffen würden. Außer­dem prägte ich mir den Stadtplan ein, um diese Straße im Norden nicht lange suchen zu müssen. Ansonsten wartete ich nur. Und zwar auf Charles Craydon.

Hatte er nicht angekündigt, sich heute wieder blicken zu lassen? So, wie sich die Dinge mittlerweile entwickelt hatten, müsste er allein schon deshalb kommen, um das Honorar aufzustocken. Schließlich war nur seinetwegen gestern Abend ein Revolverlauf mit meinem Rücken auf Tuchfühlung gegangen. Das musste ich mir bezahlen lassen.

Betty hämmerte wie eine Furie auf ihrer Schreibmaschine herum. So lange, wie sie das tat, hatte ich den Verdacht, dass sie jeden Brief mindestens zweimal schrieb. Ruhe kehrte erst ein, als dabei einer ihrer

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Fingernägel abbrach. Sie fluchte und dann war nur noch das Geräusch ihrer Nagelfeile zu hören.

Sonst geschah nichts, wie eine Legion müder Söldner zogen die Minuten vorbei. Betty hatte schon zum Nagellack gegriffen, um ihr Werk zu vollenden, als das Telefon schrillte.

»Passt gerade gar nicht«, murmelte sie und sah mich an, sämtli­che Finger gespreizt. »Können Sie nicht mal rangehen?«

Einen Teufel würde ich tun, wozu bezahlte ich sie! Als das Telefon zum ungefähr zehnten Mal klingelte, sah sie ein, dass sie keine Chance hatte und griff zum Hörer. Sie schaffte es, sich so rasselnd zu melden, als ersticke sie in einem Berg von Arbeit.

»Hallo, wer ist denn da?« Sie runzelte unwillig die Stirn. »Das Te­lefon ist eine Einrichtung, die auf die menschliche Stimme angewiesen ist. Das dürfte inzwischen bekannt sein.« Nach einer Pause bellte sie noch einmal ihr Hallo, dann legte sie den Hörer auf die Gabel. An­schließend wischte sie sich die Hand an ihrem Rock ab.

»Wer war das denn?«, fragte ich, als sie sich wieder dem Nagel­lack zuwandte.

»Woher soll ich das wissen?« Sie hatte heute wirklich ihren schnippischen Tag. »Da wollte jemand nichts sagen. Keine Ahnung, wieso er das mit dem Telefon in der Hand tat.«

Ich beschloss, Betty ebenso zu ignorieren wie die Ereignislosigkeit einer weiteren halben Stunde. Dann machte mein Magen mich darauf aufmerksam, dass es irgendwie doch wieder einmal Mittag geworden war. Höchste Zeit, dass ich etwas essen ging. Und dann vielleicht bei Brendon vorbeischaute, in der Chicago Tribune. Ziemlich vieles ging mir durch den Kopf, wobei mir nicht klar war, was davon brauchbar war und was nicht. Aber hatte mich ein Besuch bei Brendon in der Redaktion nicht schon manches Mal weitergebracht?

»Und was sag ich Craydon, falls er doch noch kommt?« Bettys Stimme klang vorwurfsvoll, während sie mir zusah, wie ich Jacke und Hut anzog.

»Soll sich morgen wieder hier blicken lassen«, beschied ich meine Halbtagskraft knapp. »Und das Honorar nicht vergessen.«

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Als ich die Tür hinter mir zuzog, kam jemand aus dem Büro des Immobilienmaklers, das sich gleich gegenüber befand. Es war eine auffallend attraktive Frau mittleren Alters, die mich mit einem kühlen Lächeln musterte.

»Nach Ihnen, Lady«, knurrte ich und deutete etwas wie eine Ver­beugung an.

Während sie dann vor mir die Treppe hinunterging, hatte ich Ge­legenheit, ausgiebig ihre Rückfront zu studieren. Sie war mehr als gut gewachsen, gut gekleidet und verfügte über einen Hüftschwung, von dem Betty nur träumen konnte. Da ich mir sicher war, dass sie nur deswegen so gekonnt wackelte, weil sie sich von mir beobachtet wuss­te, hellte sich meine Laune von Stufe zu Stufe doch endlich ein biss­chen auf. Sie ließ sich Zeit damit, das Haus zu verlassen und tat es dann so, dass ich gleich hinter ihr aus der Tür schlüpfen konnte. Ga­rantiert erwartete sie, dass ich ihr jetzt folgte. Aber genau das tat ich nicht. Während sie nach links ging, bog ich nach rechts ab, um auf den Hof zum Auto zu kommen. An der Ecke riskierte ich einen Blick auf sie. Und richtig, genau in diesem Moment schaute auch sie sich nach mir um.

Mein Stimmungsbarometer kletterte gleich noch etwas mehr in die Höhe und den Weg bis zum Tribune Building legte ich pfeifend zurück.

*

Brendon und seine Kollegen diskutierten wieder mal über die Mord­serie, der nun schon drei unbescholtene Bürger zum Opfer gefallen waren. Anscheinend hatte Hollyfield am Vormittag eine Pressekonfe­renz gegeben.

»Aber zu sagen hatte er nichts!«, wurde gehöhnt. »Kann er ja auch nicht, wenn er sich nicht in die Nesseln setzen

will«, meinte ein anderer. »Würd mich nicht wundern, wenn alle drei gar nicht so ehrenhaft

sind, wie man uns glauben machen will«, vermutete Brendon. Wie jeder, der hier arbeitete, hatte er gelernt, immer das Schlimmste an­zunehmen. Ein gewisser Zynismus war nun mal die unvermeidliche

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Berufskrankheit in diesem Gewerbe. Er zog mich mit sich zu seinem Schreibtisch. »Dass die White Socks verloren haben, weißt du schon?« Für ihn kam das mehr als jeder Mord einer Katastrophe gleich, denn wenn es um Baseball ging, war er hoffnungsvoll und lokalpatriotisch wie ein Kind. »Man könnte fast auf den Gedanken kommen, dass da Schiebung im Spiel war«, fuhr er fort. »Denn so gut, wie die Jungs derzeit sind... Wirklich, wenn es eine andere Mannschaft wäre, hätte ich da gar keinen Zweifel.«

Ich fand ihn fast rührend in seiner Blauäugigkeit. »Ich hätte nichts gegen Kaffee«, ließ ich ihn wissen.

Er schnipste mit dem Finger nach einer schnuckeligen Blondine, die mich prompt mit dem heißen Gebräu versorgte. »Und was kann ich sonst noch für dich tun?« Brendon bedachte mich mit dem väterlichen Blick, den er nicht selten für mich hatte.

Ich ließ es ihm wie üblich durchgehen, war er doch ein guter Freund meines Vaters gewesen. Außerdem wollte ich ja wirklich etwas von ihm. Und inzwischen wusste ich sogar, was. Nur wusste ich nicht, wie ich es formulieren sollte.

»Nun spuck es schon aus!« Er grinste gutmütig und steckte sich eine neue Zigarre zwischen die Kiefer.

»Ist ein bisschen heikel«, tastete ich mich ans Thema heran. »Es geht um Schwarze und Bordelle, wo sie unter sich sind.«

Er starrte mich an, als hätte ich behauptet, kurz vorm Abflug zum Mars zu sein. Dann räusperte er sich und starrte verlegen an mir vor­bei.

Mir war schon klar, über so was sprach man einfach nicht. Wie schon erwähnt, Schwarze lebten zwar unter uns, aber es gehörte sich sozusagen nicht, das zur Kenntnis zu nehmen. »Bin mir sicher, dass es so was gibt«, fuhr ich so sachlich wie nur möglich fort. »Ich meine, manche von denen sind ja hübsch. Und man hört ja auch gelegentlich, wie reizvoll...« Ich geriet ins Stottern.

»Sorry, aber da kann ich dir nicht weiterhelfen.« Brendon sprach jetzt nicht im Ton eines Vaters, sondern so, als wäre er es. Dann wechselte er abrupt das Thema, wobei er aber in gewisser Weise doch dabei blieb. »Mit dem Jazzkonzert wird es übrigens schon wieder

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nichts.« Er wies auf die noch fast druckfrische Ausgabe der Zeitung. »Die Sweat Hot haben alle ihre Konzerte abgesagt. So was gab es noch nie.«

Mir war klar, dass er nicht ein paar abgesagte Konzerte meinte. Sondern dieses Foto, immerhin auf Seite fünf der Zeitung. Es zeigte eine Schwarze. Und das war nun wirklich eine Sensation.

»Sarah Cunnings ist die Sängerin der Sweat Hot«, fuhr Brendon fort. »Ein richtiger Star. Und jetzt heißt es, sie wäre verschwunden.«

Sie sah gut aus, das Foto war wohl während eines Konzerts auf­genommen worden. Sie trug ein glitzerndes Abendkleid und eine Fe­derboa.

»Verschwunden?«, hakte ich nach. »Soll das heißen, die Polizei bemüht sich um sie?«

Brendon lachte wie nach einem guten Witz. »Die Polizei? Du bist gut. Nein, so weit geht das nun doch nicht. Da hätten die ja viel zu tun.« Er hüllte sich in eine Schwade aus Qualm. »Aber dass die Kleine es wirklich in die Zeitung geschafft hat, das ist schon 'n Ding, gib es zu!«

Irgendwie hatte ich Lust zu widersprechen. »Und was ist mit Jo­sephine Baker, der so genannten schwarzen Venus? Von der waren erst in Europa die Zeitungen voll. Und inzwischen auch bei uns.«

»Das kannst du nun wirklich nicht vergleichen«, protestierte Bren­don im Brustton der Überzeugung. »Die Baker ist inzwischen ja schon fast 'ne Französin. Und überm großen Teich sehen die Leute das nicht so eng.«

»Soweit ich weiß, war die bis vor ein paar Jahren auch mal mit 'nem Zuhälter liiert«, kam es mir über die Lippen. Es war nicht unbe­dingt für Brendons Ohren bestimmt.

»Was heißt hier auch?«, fragte er irritiert. Ich schüttelte den Kopf. »Vergiss es. War bloß so 'ne Idee.« Ich

leerte den Rest Kaffee und drückte meine Lucky in einem überquellen­den Aschenbecher aus.

»Wir wäre es heute Abend bei Henry's?«, schlug Brendon vor. »Wenn nun schon aus dem Konzert nichts wird? Gegen acht könnte ich dort sein.«

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»Mal sehen, was ich machen kann«, blieb ich vage. »Irgendwie gefällst du mir heute nicht.« Brendon legte mir seine

mächtigen Pranken auf die Schultern und sah mich durchdringend an. »Du machst doch keine Dummheiten?«

»Seh ich etwa so aus?« Ich konnte nur hoffen, dass mein Grinsen überzeugend genug ausfiel. Manchmal übertrieb es Brendon doch ein bisschen mit dieser Fürsorglichkeit. Und wie sollte ich überhaupt Dummheiten machen, wo ich so gut wie nichts zu tun hatte? Ich ver­abschiedete mich von Brendon und weil ich ja tatsächlich Zeit genug hatte, schäkerte ich noch ein bisschen mit der Blonden herum, die hier dafür zuständig war, alle mit Kaffee zu versorgen. Vermutlich wirkte auf Brendon und seine Kollegen ein Blick aus ihren bernsteinfarbenen Augen bei weitem aufputschender als das Gebräu, das sie unablässig in Tassen füllte. Sie hatte genau das, was man einen Schlafzimmer­blick nennt.

»Jetzt muss ich leider, Kleiner.« Sie hatte ein strahlendes Lächeln für mich und wies dabei mit dem Kinn auf die Tür, hinter der der Chef­redakteur thronte. »Wenn er seinen Kaffee nicht pünktlich bekommt, reagiert er nämlich cholerisch.«

»So weit darf es natürlich nicht kommen«, erwiderte ich großzü­gig. »Bis dann!«

Sie nickte, griff nach einer Tasse mit Kaffee und ging zu jener Tür. Es wäre schlicht unhöflich gewesen, ihr nicht hinterher zu schauen. Und zum Dank führte sie mir vor, dass es mehr als nur eine Methode gab, sich in den Hüften zu wiegen. Sie machte das auf ihre Weise auch gar nicht schlecht.

*

Als ich dann wieder im Wagen saß, versuchte ich, mir den Stadtplan ins Gedächtnis zu rufen. Erst einmal, erinnerte ich mich, musste ich einfach auf der North Clark Street bleiben, mehr als drei Meilen stur geradeaus. Erst jenseits der West Irving Park Road musste ich mich dann rechts halten, in einem Gewirr eher kleiner Straßen, in die ich nie zuvor einen Fuß gesetzt hatte.

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Aber erst einmal war es eine angenehme Spazierfahrt. Wieder war es heiß, aber wenigstens nicht drückend. Vom See her segelten rich­tige Bilderbuchwolken herüber, wattige Gebilde, die fast so etwas wie Ferienstimmung in mir aufkommen ließen. Als ich die Arlington Street überquerte, die dafür sorgte, dass die Kreuzung sich zu einem Platz weitete, kamen mir Hollyfields Probleme in den Sinn.

An dieser Stelle nämlich war die letzte seiner Leichen gefunden worden, nachmittags um vier. Also zu einer Zeit, zu der hier Hochbe­trieb herrschte. Gar keine Kleinigkeit, da einen toten Mann unauffällig loszuwerden. Wieso sich wohl jemand diese Mühe machte? Klar, auf diese Weise verwischt man Spuren. Die Polizei hatte nach wie vor kei­ne Ahnung, wo die Gesichter der drei ehrenwerten Herren mit einer Schrotflinte durchlöchert worden waren. Auch was ein mögliches Motiv betraf, stocherte Hollyfield nach wie vor im Nebel.

Doch das waren zum Glück ja nicht meine Sorgen. Als ich an einer Kreuzung stoppen musste, weil die Fahrerin im Wagen vor mir aus­gestiegen war, hätte ich das vielleicht als Hinweis nehmen sollen -schon wieder eine Frau, die mich sehr verheißungsvoll anlächelte. Gut möglich, dass ich den Tag anders hätte nützen sollen.

»Wo klemmt's denn, Lady?« Ich steckte den Kopf aus dem offe­nen Fenster.

»Das weiß ich doch nicht!« Sie seufzte. »Der Wagen springt ein­fach nicht mehr an.«

Ich stieg aus. »Versuchen Sie es doch noch mal«, forderte ich sie auf. Es war eindrucksvoll, wie endlos lang ihre Beine wirkten, als sie hinterm Steuer Platz nahm. Der Motor gab ein glucksendes Geräusch von sich und erstarb dann wieder. Nicht, dass ich auf diesem Gebiet ein Profi gewesen wäre. Aber das Geräusch schien mir doch einen deutlichen Hinweis zu geben.

Ich öffnete die Motorhaube und mit einem Handgriff war alles klar. Ein Kabel hatte sich gelockert. »Jetzt musste es eigentlich wieder gehen«, ließ ich sie wissen. Sie war übrigens rothaarig, mit dem typi­schen blassen Teint und graugrünen Augen.

»Meinen Sie wirklich?« Skeptisch versuchte sie, den Motor zu star­ten. Er schnurrte, ganz wie ein zufriedenes Kätzchen.

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Hinter uns warteten inzwischen schon mindestens drei weitere Wagen, es wurde ungeduldig gehupt. Die Rothaarige flötete mir ein Dankeschön zu und fuhr weiter. Bis zur nächsten Kreuzung blieb sie vor mir, dann bog sie rechts ab. Einer der Fahrer, der hinter uns auf­gehalten worden war, schien es für nötig zu halten, den Zeitverlust aufzuholen. Er überholte mich schnittig und warf mir dabei einen wü­tenden Blick zu.

Aber es gab nun mal Tage, an denen mich so was nicht anfocht. Ich versuchte mir vorzustellen, wie es aussah, wenn die Rothaarige vor mir herging und darüber kam ich rasch zur West Irving Park Road, wo ich nach links abbog.

Ziemlich schnell hatte ich den Eindruck, gar nicht mehr in der Stadt zu sein. Auch nach Vorstadt sah es hier nicht aus, eher schon richtig ländlich. Die Häuser waren meist eingeschossig. Sie zeugten nicht gerade von Reichtum, aber doch einem gewissen Wohlstand. Den meisten Gärten hatte die Hitze arg zugesetzt und auf den Sträu­chern, die größtenteils Zäune ersetzten, lag Staub. Ich freute mich, wie fotografisch genau meine grauen Zellen den Stadtplan gespeichert hatten, denn ohne lange suchen zu müssen, fand ich die Straße. Aus alter Gewohnheit fuhr ich nicht direkt bis zu dem Haus mit der Num­mer siebenundzwanzig, sondern parkte schon in einiger Entfernung. Es gab da eine Hickory-Eiche. Sie stand nicht gerade üppig in Saft und Kraft, aber für ein bisschen Schatten sorgte sie schon. Und ich wollte ja nicht gekocht werden auf dem Rückweg in die Stadt.

Als ich ausstieg, fiel mir zuerst auf, wie still es war. Nur von ganz fern drang das Rauschen der Stadt zu mir. Auch war kein Mensch un­terwegs. Was nur vernünftig war. Wer bei der Hitze nicht arbeiten musste, tat gut daran, sich um diese Nachmittagsstunde der Sonne nicht auszusetzen.

Ich zündete mir eine Lucky an und stellte fest, dass die meisten Häuser fest verrammelt waren. Auch fielen mir nun deutlichere Spuren von Vernachlässigung auf - bröckeliger Putz, abblätternde Farbe, zer­rissene Fliegengitter. Aber irgendwie hatte die Straße doch etwas Friedliches. Am Eingang zu Nummer siebenundzwanzig räkelte sich eine Katze. Das Haus war klein, aber es wurde von gleich zwei Gara­

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gen flankiert. Weil es nirgendwo eine Klingel gab, blieb mir nur übrig, an die Tür zu klopfen. Ein bisschen vorwurfsvoll hob die Katze kurz den Kopf, dann döste sie weiter.

Mein Klopfen blieb, auch nach wiederholten Versuchen, ohne jede Reaktion. Ich sah Bettys Grinsen vor mir - geschieht Ihnen nur recht, hörte ich sie sagen. Wer reagiert schon auf einen anonymen Brief!

Ich klopfte noch einmal, rief auch ein paar Mal Hallo. Nicht einmal die Katze ließ sich dadurch aus der Ruhe bringen. Aber um nun gleich wieder abzuziehen war der Weg einfach zu weit gewesen. Ich be­schloss, wenigstens einmal ums Haus herumzugehen. Vielleicht erhielt ich ja doch noch irgendeinen Hinweis auf die Bewohner.

Der Rasen rund ums Haus war in der Hitze braun geworden. Auch ein paar Sträucher gab es, die lange kein Wasser bekommen hatten. Die Steinplatten unter meinen Füßen waren rissig und viele davon lo­se. Lebte hier überhaupt jemand? Vorhänge oder Fensterläden ver­wehrten mir jeden Blick durch eins der staubigen Fenster. Hinterm Haus gab es eine Terrasse mit einem rostigen Tisch. Aber es sah so aus, als wäre die Terrassentür nicht ganz geschlossen. Ich verließ den Weg, um schneller dort zu sein.

Aber da gab der Boden unter meinen Füßen nach. Dass an dieser Stelle Laub lag, hätte mich stutzig machen können. Aber ich hatte ja diese Tür im Auge gehabt...

Nun aber nur noch Erde und mein linker Fuß hatte sich in dem Netz verfangen, auf dem das Laub aufgehäufelt gewesen war. Beson­ders tief war die Grube gar nicht - vielleicht zehn Zentimeter höher, als ich mit meinen Händen fassen konnte. Mich hochzuziehen war also unmöglich. Ich suchte eben nach einer Möglichkeit, auf andere Weise meiner lächerlichen Lage zu entkommen, als sich jemand über mich beugte.

Ich erkannte einen steinalten Mann, neben ihm das geifernde Maul einer Dogge. Das Gesicht des Alten war derart von Runzeln durchfurcht, dass es einen Moment dauerte, bis ich sah, wie er seine dünnen Lippen zu einem bösartigen Grinsen verzog. »Wen haben wir denn da?«

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Der Köter bellte zur Ergänzung. Aber immerhin, das brachte mich auf eine Idee. »Mein Hund ist abgehauen. Haben Sie ihn nicht zufällig gesehen? Nicht reinrassig, aber ein bisschen sieht man den Schä­ferhund schon noch raus.«

Ich setzte auf gut Glück auf so etwas wie Solidarität unter Hunde­haltern. Anscheinend spielte ich meine Rolle überzeugend. Der Alte starrte mich noch einen Moment an, dann verschwand er kurz, um mit einem Seil wiederzukommen.

»Ich dürfte zu schwer für Sie sein«, warnte ich ihn freundlich. Er schüttelte den Kopf und als ich mich dann nach oben gehangelt

hatte, sah ich, dass das Seil an einem Baum befestigt war. Anschei­nend handelte es sich bei Seil wie Grube um eine Dauerreinrichtung. Sobald ich wieder oben war, galt es, meine Abneigung gegenüber Doggen zu überwinden. »Schönes Tier«, lobte ich und tätschelte dem Vieh sogar den Hals. »Haben Sie meinen Hund wirklich nicht...«

»Hab ich nicht«, fiel er mir mit einer schnarrenden Stimme ins Wort. »Und jetzt verschwinden Sie von hier, aber dalli. Und kommen Sie nie wieder auf die Idee, Ihren Köter ausgerechnet hier zu suchen!«

Ich tat so, als hätte ich nur Augen für den Hund, als ich den Rück­zug antrat. Aber ich sah doch, dass hinter der Terrassentür jemand stand. Und zwar eine Frau. Sie hatte sich weißes Zeug ins Gesicht ge­schmiert, vermutlich eine von diesen Schönheitsmasken. Deswegen war nicht eben viel von ihr zu erkennen. Außerdem hatte sie sich ein Handtuch um den Kopf geschlungen. Aber ein paar Zentimeter vom Haaransatz sah ich doch. Und daraus konnte ich schließen, dass diese Frau mit der weißen Gesichtsmaske schwarz war.

Mehr festzustellen war in den paar Sekunden einfach nicht drin. Denn der Alte ließ keinen Zweifel daran, dass er den Köter auf mich hetzen würde, wenn ich nicht schleunigst verschwand. Um es nicht gar so sehr nach Flucht aussehen zu lassen, fingerte ich nach einer Lucky. Aber es ging doch ziemlich schnell, bis ich das Grundstück verlassen hatte und dann auch wieder im Auto saß.

Und dort zog ich dann das Fazit, dass mein Ausflug hierher doch nicht völlig vergeblich gewesen sei. Ich glaubte nun nämlich zu wissen, wer mir den anonymen Brief mit der Adresse hatte zukommen lassen.

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Eigentlich kam da nur die kleine Schwarze in Frage, die von den an­deren im Butterfly nicht als Kollegin akzeptiert wurde.

Jetzt fragte sich nur noch, wieso sie das getan hatte. Und ob die Schwarze mit der Gesichtsmaske eine Hausangestellte war - die Ge­sichtsmaske sprach eher dagegen. Aber eine Schwarze, die in so einer Gegend wohnte? Und wieso gab es diese seltsame Grube vor diesem Haus? Eine Falle und zwar für ziemlich große Tiere.

Doch man konnte schließlich nicht an einem Tag alles erwarten, sagte ich mir. Der Feierabendverkehr hatte schon eingesetzt, ich wür­de also ziemlich lange brauchen, bis ich wieder in der Stadtmitte war. Aber es würde noch für einen ordentlichen Schluck reichen, bevor ich dann Brendon in Henry's Steak Diner traf und der Abend in aller Ruhe ausklingen konnte.

*

Am nächsten Tag gab es in den Zeitungen nur ein Thema. Eine vierte Leiche war gefunden worden. Wie bei den Vorgängern war auch dies­mal das Gesicht in den Zustand eines Siebs gebracht worden. Und wie­der hatte man den Toten in einer sehr belebten Straße, diesmal mitten in der Loop, gefunden und zwar am späten Nachmittag. Wenn auch das Gesicht des Opfers nicht mehr zu erkennen war, so gab doch der Inhalt seiner Brieftasche eindeutig Auskunft über ihn. Es handelte sich um den natürlich höchst angesehenen Chef einer Privatklinik. Auch diesmal waren der oder die Täter an seiner Barschaft nicht interessiert gewesen, auch nicht an der goldenen Uhr, der aufwendig gearbeiteten Krawattennadel. Eine Variante gab es diesmal immerhin. Bevor den guten Mann die Ladung Schrot traf, waren seine Augen verätzt wor­den. Man hatte dafür so etwas Simples wie eine Kochsalzlösung ver­wendet. Dem Zustand seiner Augen nach zu schließen, war ihm das Zeug über längere Zeit hinweg und in großer Regelmäßigkeit verab­reicht worden. Das musste sehr qualvoll gewesen sein, vermutlich wä­re der Mann daran erblindet.

Ich las das alles im Büro, auch die vielen empörten Kommentare zu diesem neuerlichen Mord. Wer tat dem ehrenwerten Leiter einer

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Privatklinik so etwas an? Die Sache mit seinen Augen sorgte fast für noch größere Aufregung als der Mord selbst.

Ich hatte die Fenster im Büro geöffnet, aber das erwies sich als nutzlos. Nur feuchter Dampf strömte ins Zimmer, es war schon am frühen Morgen unerträglich schwül. Ich stellte mir gerade vor, wie dieser neue Mord in Kombination mit dem Wetter Hollyfield ins Schwit­zen brachte, als Betty erschien.

Sie kam eindeutig zu spät, aber zeigte deswegen keine Spur von schlechtem Gewissen. Im Gegenteil, ihr Lächeln verriet einen gewissen Triumph. »Morgen, Chef!«

Ich brummte etwas, was sie meinetwegen als Erwiderung des Grußes nehmen konnte und faltete die Zeitung zusammen.

Betty entledigte sich der Jacke ihres Kostüms und strich sich die Bluse glatt. »Kaffee?«, fragte sie gut gelaunt.

Ich nickte. »Wär nicht schlecht.« »Gestern haben Sie übrigens was verpasst«, ließ sie mich wissen. Sie legte eine Pause ein, die mir klarmachen sollte, dass sie auf

Neugier hoffte. »Jetzt spucken Sie es schon aus!« Mein Schädel brummte, der

Abend mit Brendon war ziemlich lang geworden. Sie ging zu dem Schrank, in dem sich unter anderem eine kleine

Kasse befand. Der entnahm sie einen Briefumschlag. »Kohle!«, ver­kündete sie vergnügt. »Gleich drei Jacksons!«

Mein erster Gedanke war, wie sich sechzig Dollar durch mein übli­ches Honorar von fünfundzwanzig Dollar pro Tag teilen ließen. Ich hatte doch derzeit keinen Kunden, dem ich Sonderkonditionen einge­räumt hatte. Aber Betty bestand darauf, dass ich ihr jedes Wort ein­zeln aus der Nase zog. »Und von wem?«

Sie kicherte. »Aber Chef, so viele Kunden haben wir doch gar nicht!«

Sie dehnte meine Nerven wie ein Gummiband, das jeden Moment reißen musste. Als ich ihr einen verärgerten Blick zuwarf, begriff sie endlich, dass es nun reichte.

»Charles Craydon«, bequemte sie sich zu sagen. »Sie waren kaum raus, als er hier reinspaziert ist. Mitsamt der Kohle. Ist doch richtig

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nett von ihm, was?« Sie schien ihre anfänglichen Vorbehalte gegen den Südstaatler verloren zu haben.

Ein bisschen besserte sich angesichts der Dollarnoten auch meine Laune. Aber Geld war eben doch nicht alles. »Haben Sie daran ge­dacht, ihn zu fragen, wo ich ihn erreichen kann?« Ich wusste eindeutig zu wenig über meinen Auftraggeber.

»Hab ich nicht«, erwiderte Betty. »Er war ja auch nur ganz kurz hier. Und er hat wieder die ganze Zeit gejammert, wie schlimm diese Stadt sei und so weiter.« Sie war endlich mit dem Kaffee fertig gewor­den und brachte mir eine Tasse. »Ich hab mir schon überlegt, ob ich mich mit dem mal verabreden sollte.« Sie kicherte.

Ich war ganz froh, mich jetzt erst mal an der Kaffeetasse festhal­ten zu können. Der Inhalt hatte eine prompte Wirkung auf meine grauen Zellen, sie fanden allmählich aus dem Nebel des Restalkohols heraus. Ich musste wirklich mehr über Craydon wissen, überlegte ich.

Dann klingelte das Telefon und Betty nahm erfreulicherweise ab, ohne dass ich sie darum bitten musste. Ihre gute Laune erhielt endlich einen Dämpfer.

»Hallo, wer ist denn da?«, fragte sie gereizt. Sie erreichte damit so wenig wie am Tag zuvor und legte endlich

frustriert auf. Mir war mittlerweile klar geworden, dass ich nur einen einzigen Ansatzpunkt hatte. Und der war jenes Haus mit den zwei Ga-ragen am nördlichen Stadtrand.

»Hat sich wieder keiner gemeldet!«, rief Betty empört und knallte den Hörer auf die Gabel. »Wetten, das war derselbe wie neulich? Man­che Leute haben wirklich schlechte Manieren.«

Sie schimpfte noch eine ganze Weile vor sich hin, während ich meinen Kaffee trank. Beim letzten Schluck hatte ich das Gefühl, dass in meinem Schädel nun wieder alles an dem Platz war, wohin es ge­hörte. Auch mein 38er Smith & Wesson befand sich am üblichen Platz, nämlich in der Schublade meines Schreibtischs. Ich fühlte mich nie wirklich wohl, wenn ich ihn am Körper trug. Ich legte das Schulterhalf­ter um.

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Jetzt hatte es Betty den letzten Rest ihrer guten Laune verschla­gen. »Aber Chef!«, rief sie und sprang auf. »Was haben Sie denn vor?« Sie konnte richtig besorgt sein.

»Was schon«, knurrte ich und legte mir das Halfter an. »Ich pfle­ge was zu tun für mein Honorar.«

»Und was?« Mit bebenden Nüstern stieß Betty den Rauch ihrer Pall Mall aus. »Dürfte ich das vielleicht auch erfahren?«

»Dafür gibt es im Moment keinen Grund.« Ich lächelte sie richtig freundlich an. »Ich tu einfach meinen Job und Sie Ihren. Abgemacht?«

Damit überließ ich sie einem aller Voraussicht nach nicht gerade aufregenden Vormittag. Als ich auf die Straße trat, fühlte sich die Luft an wie flüssiges Blei. Dort, wo das Halfter das Hemd berührte, sam­melte sich sofort der Schweiß. Ich trug das Ding wirklich nicht gern.

Aber immerhin, als ich mich ans Steuer meines Plymouth setzte, sah ich, dass im Westen eine Gewitterwand aufzog und versprach, dem Treibhausklima in absehbarer Zeit ein Ende zu setzen.

*

Diesmal kam mir die Vorstadtstraße noch staubiger vor, auch erschien mir die Schwüle drückender als in der Stadt. Ich parkte diesmal genau vor dem Haus mit der Nummer siebenundzwanzig, fest entschlossen, es diesmal auch zu betreten. Der Smith & Wesson an meinem Körper stimmte mich zuversichtlich, meinen Plan in die Tat umzusetzen.

Die Katze lag genau vor der Haustür, wie beim letzten Mal. Über­haupt lag da so eine gewisse Dornröschenstimmung in der Luft. Meine Neugier wuchs - wen würde ich gleich aus einem hundertjährigen Schlaf reißen? Um keinen Zweifel an meiner Absicht aufkommen zu lassen, klopfte ich nicht mit der Hand an die Tür, sondern verwendete dafür meinen Revolver. Genau der richtige Einfall, wie sich gleich zeig­te. Erst schoss vom Garten her die Dogge auf mich zu, dann ließ sich auch wieder der Alte blicken.

»Halten Sie das Vieh zurück!«, rief ich ihm zu und ließ ihn dabei die Waffe sehen.

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Er erschrak prompt und knurrte etwas, was den Köter kaum zwei Meter von mir entfernt verharren ließ. »Aber was wollen Sie?«, rief er mir zu.

»Da rein.« Ich wies mit dem Kinn auf die Haustür. Mir fiel auf, dass es inzwischen fast stockdunkel geworden war und das am hellen Vormittag. Da zuckte auch schon der erste Blitz über den Himmel. Ein krachender Donnerschlag ließ nicht lange auf sich warten und sorgte dafür, dass die Dogge sich winselnd verzog.

»Ist aber niemand zu Hause«, behauptete der Alte, den das Ge­witter fast so nervös machte wie den Hund.

Trotz der jetzt ungünstigen Lichtverhältnisse sah ich, dass sich die Haustür einen Spalt öffnete.

»Schon gut, Pete«, hörte ich eine Stimme. »Aber das Ding da ste­cken Sie vorher wieder weg, ja?«

Damit meinte sie wohl mich. Die Stimme war weiblich und sie sprach ohne jeden Akzent. Ich vergewisserte mich, dass der Alte e­benso auf Distanz blieb wie der Hund, bevor ich der Dame den Gefal­len tat und meinen Revolver verschwinden ließ.

Daraufhin öffnete sich die Tür noch ein bisschen mehr. Ich nahm es als Aufforderung und betrat das Haus. Drin war es noch dunkler als draußen. Von der Frau nahm ich kaum mehr als die Umrisse wahr.

»Was wollen Sie?« Ihre Stimme war volltönend und ließ mich un­willkürlich an Samt denken. »Wieso kommen Sie schon wieder hier­her?«

Ich schloss daraus, dass es die Frau war, die ich gestern flüchtig mit der Gesichtsmaske erspäht hatte. »Das hat rein berufliche Grün­de«, entgegnete ich wahrheitsgemäß. »Ein bisschen Licht war nicht schlecht.«

Draußen folgte Donnerschlag auf Donnerschlag, auch blitzte es unaufhörlich. Aber durch die geschlossenen Fensterläden fiel dabei nicht mal ein flüchtiges Flackern. Nur sehr langsam gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit.

»Nicht bei Gewitter«, versetzte die Frau. »Die Elektrik hier ist mehr als marode. Was sind das für berufliche Gründe?«

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Ich hielt es für besser, vorläufig möglichst zurückhaltend zu blei­ben. Auf gut Glück erwähnte ich das Butterfly. Doch damit erreichte ich nichts.

Sie trug ein bodenlanges Kleid, immerhin das schälten meine Au­gen inzwischen aus der Dunkelheit. Es war ein sehr buntes Kleid, das eher sackartig an der Gestalt herab fiel.

»Sagen Sie mir endlich, was Sie hier wollen!«, verlangte sie ener­gisch. Etwas leicht Metallisches geriet dabei in ihren Sopran und gleich darauf krachte es draußen sehr laut. Da musste ganz in der Nähe ein Blitz eingeschlagen haben.

Zwischen der Dame und mir lief ein Spiel, das darauf abzielte, wer zuerst nachgab. Ich wollte das nicht sein. So setzte ich noch einmal auf einen Glückstreffer. »Wieso ist das so wichtig für Sie, Miss Sim­mons?«

Das Donnern über uns klang, als würden über den Himmel oben Tonnen von Schwermetall gerollt. Ich achtete dennoch einzig auf die Reaktion meines Gegenübers. Und wirklich, diesmal meinte der Zufall es gut mit mir.

Ich sah, wie sie einige Schritte zurückging. Inzwischen erkannte ich sogar die Umrisse ihres Gesichts. Sie lachte und es klang ziemlich nervös. »Simmons? Wer soll das denn sein?«

Es klang wirklich nicht überzeugend. Ich war mir so gut wie si­cher, hier wirklich Doreen Simmons vor mir zu haben und sprach den Namen noch einmal laut aus. »Ist doch ein ganz netter Name, was stört Sie daran?«

»Also Charles«, kam es halb erstickt über ihre Lippen. Ich hatte also einen Volltreffer gelandet. »Schickt Craydon Sie zu mir?« Ihre Frage wurde fast verschluckt

vom nächsten Donnern. »Er macht sich Sorgen um Sie«, erwiderte ich. »Und Ihr Job ist es, so was ernst zu nehmen?« Sie bemühte sich

ohne großen Erfolg, ihrer Stimme wieder einen festeren Klang zu ge­ben.

»Ja, so könnte man das umschreiben«, stimmte ich zu. »Von der Polizei also?« Ich hörte, dass sie jetzt Angst hatte.

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»Keine Sorge«, beruhigte ich sie. »Aus dem Verein bin ich ausge­treten.«

Eine Weile sagte sie nichts. Jetzt erst nahm ich wahr, wie stickig es hier drin war. Das Hemd klebte schweißnass an mir und auf der lin­ken Schulter scheuerte mich das Halfter.

»Charles kommt zu spät«, sagte sie dann. Es klang irgendwie traurig. »Er ist ein netter Kerl, aber... Es tut mir wirklich Leid. Aber er taucht im völlig falschen Moment hier auf. Können Sie ihm das viel­leicht sagen?«

»Er befürchtet, es könnte Ihnen nicht gut gehen«, fuhr ich fort. Sie lachte leise. »Sagen Sie ihm, ich brauche ihn nicht mehr. Und

wenn er mir wirklich helfen will, dann soll er mich einfach in Ruhe las­sen.«

Das war mehr als Angst, begriff ich, eher schon Panik. Ich dachte an Betty und was sie anfangs vermutet hatte über Craydon. Vielleicht hatte sie damit gar nicht so falsch gelegen? »Das Dumme ist nur«, sagte ich laut, »dass er mich bezahlt. Dafür, dass ich Sie finde. Und ich muss schließlich auf meinen Ruf achten.«

Ich sah, dass sie zu etwas wie einer Kommode trat und hörte, wie eine Schublade geöffnet wurde. Vorsichtshalber legte ich die rechte Hand auf meinen Revolver. Dann knisterte etwas und sie kam näher zu mir.

»Nehmen Sie das! Und dafür kein Wort zu Craydon, abgemacht?« Sie stand so dicht vor mir, dass ich ihre dunkle Hand erkennen

konnte, die etliche Scheine hielt. Ich war nun wirklich wie vom Donner gerührt. Eine Frau und obendrein eine Schwarze, bot mir Geld an! Und zwar hundert Dollar, ganz genau sah ich die beiden Grants. Eigentlich war Craydon damit ja aus dem Rennen. Dennoch gelang es mir nicht, meine Hand auszustrecken.

Sie reagierte, indem sie noch etwas näher kam und steckte mir die Scheine einfach in die Jacketttasche. Sie roch gut, nach einem ziemlich teuren Parfüm. »So und jetzt gehen Sie bitte. Und richten Sie Craydon aus, dass er sich keine Sorgen machen muss. Und dass ich mich zu gegebener Zeit bei ihm melde.«

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Rückwärts entfernte sie sich wieder von mir. Ich hatte plötzlich das Bedürfnis, ihr etwas von mir zurückzulassen und so griff ich nach einer Visitenkarte. »Lassen Sie mich doch wissen, wann diese gegebe­ne Zeit ist«, bat ich noch. Ich drehte mich um, ganz in der Nähe der Tür stand ein Stuhl und dorthin schnipste ich meine Karte.

Als ich die Tür öffnete, war alles grau schraffiert vom Regen, der jetzt wie aus den sprichwörtlichen Kübeln niederging. Noch immer erhellten Blitze die dunklen Wolken, aus denen es unaufhörlich grum­melte. Es war nicht weit bis zum Auto, aber bis ich dort eintraf, war ich völlig durchnässt.

*

Während der Rückfahrt in die City hatte ich fast das Gefühl, auf den Grund eines Sees geraten zu sein, so viel Wasser kam da herunter. Stellenweise glichen die Straßen über die Ufer getretenen Bächen. Aber immerhin, man konnte endlich wieder durchatmen und von Osten her hellte sich der Himmel auch wieder auf.

Ich war unschlüssig, ob und wie weit mein zweiter Besuch in dem seltsamen Haus nun als Erfolg zu werten war oder nicht. Einerseits hatte ich Doreen Simmons gefunden und damit Craydons Auftrag er­füllt. Aber wer war er, dass ich ihn wichtiger nehmen musste als Do­reen selbst? Sie hatte nicht gerade schlecht geredet über Craydon, aber sie wollte keinen Kontakt zu ihm. Und sie schien dafür gute Gründe zu haben. Musste ich das nun akzeptieren oder nicht? Die bei­den Grants in meiner Tasche sprachen dafür. Ebenso die Tatsache, dass ich von Craydon so gut wie nichts wusste. Wer sagte mir denn, dass es ehrenwerte Gründe waren, die ihn Doreen vermissen ließen? Hinzu kam, dass von Doreen in diesem dunklen Haus ein Selbstbe­wusstsein ausgegangen war, das mich ziemlich verwirrte. Dahinter steckte nicht nur Geld und ein exklusives Parfüm. Wie kam sie zu ih­rem entschiedenen Auftreten? Sie hatte so gar nichts von der Haltung an sich, die ich sonst von Schwarzen kannte. Es war schwer vorstell­bar, dass sie als Hausmädchen arbeitete oder in irgendeiner Fabrik.

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Mein Grübeln führte zu keinem Ergebnis außer dem, dass ich Durst verspürte. So beschloss ich, in Dunkys Speakeasy für Abhilfe zu sorgen. Dort war ich schon länger nicht mehr gewesen. Und vielleicht wusste er ja besser als Brendon, wie junge schwarze Frauen zu etwas mehr Geld kamen, als wenn sie anderer Leute Dreck wegfegten.

Ein paar Angestellte aus den umliegenden Büros hatten bereits Mittagspause und versorgten sich bei Dunky mit einem kräftigen Schluck. Aber viel Betrieb war nicht. Dunky grinste erfreut, als ich auf einen Barhocker kletterte.

»Das Übliche, nehme ich an?« Ich nickte. »Gehen die Geschäfte gut?« »Kann nicht klagen«, murmelte er und schob mir ein gefülltes Glas

zu. »Und selbst?« Wieder wusste ich nicht, wie ich es formulieren sollte. Dabei zeigte

Dunky sich nicht immer so gesprächig, ich sollte das besser nützen. Irgendwie brachte ich die Worte Bordell und Schwarze in einem Satz unter.

Dunky reagierte kaum besser als Brendon. Ziemlich pikiert sah er mich an. »Hast du das nötig?«

»Allerdings, wenn ich einen Auftrag erfüllen soll.« Die Antwort ließ ihn sichtlich Schlimmes für meine Auftragslage vermuten. Ich ignorier­te sein Grinsen so wie er gleich darauf mich.

Neue Gäste waren gekommen. Durch den Qualm meiner Zigarette hindurch sah ich eine Zeitung auf dem Tresen liegen. Ich griff nach ihr, es war eine alte Ausgabe. Beim Blättern sah ich auch, welche. Es war die, die ich bei Brendon in der Redaktion schon gesehen hatte. Die mit der verschwundenen schwarzen Sängerin. Sie sah wirklich gut aus.

Keine Ahnung, was mich auf den Gedanken brachte, die Seite he­rauszureißen. Aus den Augenwinkeln beobachtete mich Dunky dabei und diesmal fiel sein Grinsen fast schon mitleidig aus. Anscheinend hielt er mich jetzt für pervers. Ich tat so, als sei mir das gleichgültig, faltete die Zeitungsseite zusammen und steckte sie ein. Dann machte ich Dunky darauf aufmerksam, dass mein Glas gefüllt werden musste. Er tat es und kam dabei auf das vierte Mordopfer aus den besseren Kreisen zu sprechen.

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»Hollyfield tappt anscheinend noch immer im Dunkeln«, erzählte er mir.

Was er da sagte, interessierte mich nicht. Aber ich akzeptierte es als Versuch, sich mir gegenüber wieder versöhnlich zu zeigen. Nach einem weiteren Glas und ein paar Luckys zahlte ich. Dunky lächelte mich an wie immer. »Sind eben harte Zeiten«, murmelte er dabei. »Und schließlich muss jeder sehen, wo er bleibt.«

Auf der Straße empfing mich die Luft wie frisch gewaschen. Der aufgeheizte Asphalt schickte Dampfwolken zu einem Himmel, der sich noch immer hinter Wolken versteckte. Aber sie waren nicht mehr so dicht und nur noch hellgrau. Ich wollte ins Büro fahren und endlich die Knarre samt Halfter wieder loswerden. Und danach vielleicht...

»Hallo, Mister.« Ich hatte die Tür meines Wagens schon geöffnet, als mich leise

eine Frau ansprach. Sie sah sich dabei ängstlich um, dabei war kaum jemand unterwegs. Aber natürlich, sie war schwarz. Was sie da tat, gehörte sich nicht.

Auch ich war einigermaßen überrascht und es dauerte einen Mo­ment, bis ich in der zwar reichlich verhuschten, aber doch adrett ge­kleideten Person die kleine Schwarze erkannte, die draußen beim But­terfly vor mir geflohen war.

»Haben Sie den Brief bekommen, mit der Adresse?«, fragte sie, ohne mich anzusehen. »Ich bin mir sicher, es geht ihr nicht gut. Sie braucht Hilfe!«

Ein kurzer, ängstlicher Blick streifte mich, dann rannte sie wieder einmal davon. Anscheinend verfügte sie über die Gabe, sich blitz­schnell in Luft aufzulösen. Was vermutlich wichtig war für jemand wie sie, zu diesen Zeiten in dieser Stadt.

Ich gebe zu, dass ich ganz froh war, während des kurzen Ge­sprächs mit ihr von keinem gesehen worden zu sein. Als ich dann am Steuer saß und zum Büro fuhr, dämmerte mir, dass mir dieser Tag nun noch ein Ergebnis gebracht hatte: Ich wusste jetzt immerhin, wer mir den anonymen Brief geschrieben hatte. Aber in welcher Verbindung stand sie mit Doreen Simmons? Und irgendwie war es auch lächerlich, dass ausgerechnet diese Kleine sich Sorgen machte um Doreen. Und

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nicht zuletzt - wen sah sie in mir? Den Rächer der Enterbten und Ent­rechteten etwa? Damit überschätzte sie mich bei weitem.

*

Nach alldem nahm ich es hin, dass der Nachmittag keine weiteren Neuigkeiten brachte. Ich verließ das Büro eher früh. In der North Clark Street angekommen, holte ich aus der Wäscherei ein paar Hemden ab und versorgte mich mit etwas Essbarem. Meiner Erfahrung nach half das manchmal am besten, um den verborgenen roten Faden aufzuspü­ren, der anscheinend ganz unzusammenhängende Dinge eben doch miteinander verband.

In meinem Apartment stand die Luft erdrückend wie eine Wand aus Beton. Ich öffnete erst einmal alle Fenster, verstaute meine Ein­käufe und entledigte mich jeden überflüssigen Kleidungsstücks. Ich hatte es mir eben mit einem ersten Glas ein bisschen gemütlich ge­macht, als das Telefon klingelte.

Betty meldete sich. »Ist nur wegen morgen. Ich werd nicht im Bü­ro sein.«

Seit wann kündigte sie so etwas extra an? »Sie werden doch nicht behaupten wollen, sich erkältet zu haben?«

»Nein, hatte ich nicht vor.« Sie schlug ihren schnippischen Tonfall an. »Es sind dienstliche Gründe.«

Fast hätte ich mich an meinem Whiskey verschluckt. Dienstliche Gründe! Was war in Betty gefahren? »In dem Fall sollte ich wohl wis­sen, worum es geht.«

»Seh ich nicht so«, versetzte sie knapp. Ein Rachemanöver also, folgerte ich. Sie verübelte mir, dass ich

am Vormittag zum Revolver gegriffen hatte, ohne ihr den Grund dafür zu nennen. Merkte sie wirklich nicht, wie lächerlich sie sich machte? Vermutlich ging es ja sowieso nur um einen neuen Verehrer. »Na gut, dann wünsche ich viel Erfolg.« Ich hoffte sehr, dass sie hörte, wie ich dabei grinste.

»Ich melde mich dann gegen Mittag bei Ihnen«, sagte sie noch, kühl wie ein Eisschrank. Dann legte sie auf.

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Mir war das nur recht. Was bildete Betty sich eigentlich ein? Ich war es schließlich, der sie bezahlte, so schwer mir das oft genug fiel.

Mit einem weiteren Schluck und einer neuen Lucky versuchte ich, mich wieder in Feierabendstimmung zu versetzen. Von draußen klang das Rattern der Rollläden ins Zimmer, die meisten der kleinen Geschäf­te schlossen für heute. Dafür eroberten jetzt Kinder und Halbwüchsige die Straße, die sich mit Ballspielen die Zeit vertrieben. Manchmal musste auch eine Blechdose als Ersatz für einen Ball herhalten, aber das trübte die Spielleidenschaft nicht. Ja, es war eine ziemlich fried­liche Gegend, ich der ich wohnte, ein kleines bisschen verlottert, aber doch alles andere als ein Slum.

Leider war mir dieser Frieden anscheinend nicht vergönnt. Denn schon wieder schreckte mich das Telefon auf. Vielleicht hatte Betty ja eingesehen, dass es besser war, wenn sie sich entschuldigte. Und na­türlich würde ich dann auch nicht so sein...

Zu meiner Überraschung meldete sich Hollyfield. Es kam selten vor, dass der Leiter der Mordkommission mich zu Hause anrief. »End­lich, Connor! Wo treiben Sie sich eigentlich die ganze Zeit rum?«

Verwechselte er mich mit einem seiner Untergebenen? Ich be­schloss, die Frage ebenso zu ignorieren wie seine hörbar schlechte Laune. Was konnte ich dafür, dass Hollyfield um diese Zeit noch arbei­ten musste, anstatt zu Hause bei Frau und Kind zu sein?

»Sind Sie noch dran?«, bellte er ins Telefon. »Aber ja.« Ich stellte mein Glas so auf dem Tisch ab, dass er es

hören musste. »Was gibt's denn so Dringendes?« »Ich stell hier die Fragen, klar?« Sein Tonfall ließ keinen Wider­

spruch zu. »Was wollten Sie heute in dem Haus in der Vorstadt?« »Bei welchem Haus?«, stellte ich mich ahnungslos. Ich musste

erst einmal Zeit gewinnen. Woher um alles in der Welt wusste Holly­field von meinem Besuch da draußen?

»Können wir die Mätzchen vielleicht lassen?« Hollyfield sprach so leise wie stets, wenn er kurz vor einer Explosion stand. »Ich könnte Sie jederzeit zu einem Verhör abholen lassen, das ist Ihnen doch klar?«

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Er benützte den Konjunktiv. Wieso tat er das? Vermutlich, weil er sich seiner Sache längst nicht so sicher war, wie er vorgab. Ich sah also weiterhin keinen Grund, mit ihm zu kooperieren. In Erwartung eines Wutanfalls sorgte ich schon mal für eine gewisse Distanz zwi­schen dem Hörer und meinem Ohr.

Aber anscheinend hatte Hollyfield inzwischen selber bemerkt, dass er mit diesem Ton bei mir auf Granit beißen würde. Ermäßigte sich. »Pat, lassen Sie uns einfach in aller Ruhe miteinander reden.« Er musste richtig große Probleme haben. »Ich bin morgen um neun wie­der im Präsidium. Vielleicht können Sie es ja einrichten, auf einen Sprung vorbeizukommen?«

Es war direkt unheimlich, wie höflich er seine Bitte formulierte. Dafür konnte es nur einen Grund geben - er musste unter sehr gro­ßem Druck stehen. Und offenbar gab es da ja gewisse Verknüpfungen unserer Interessen. Wieso war das Haus mit den zwei Garagen für Hollyfield von Bedeutung? Dies zu wissen konnte ja eventuell auch mich ein Stück weiterbringen. So sagte ich zu, wenn auch so lässig wie möglich. »Könnte sein, dass sich das einrichten lässt«, kündigte ich mäßig verbindlich an. »Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen wol­len?«

Ich legte schneller auf als er und beim nächsten Schluck überlegte ich, wieso es mir entgangen war, dass mir jemand auf der Fahrt in die Vorstadt gefolgt war. Quirrer jedenfalls, einer der Dümmsten von Hol­lyfields Leuten, konnte es nicht gewesen sein. Der wäre so auffällig vorgegangen, dass ich es bemerkt hätte. Und wieso war für Hollyfield dieses Haus so wichtig? Wegen einer Schwarzen trieb er ja wohl kaum solch einen Aufwand.

Ich füllte mein Glas noch einmal und beschloss, nicht länger zu grübeln. Ein Besuch bei Hollyfield, in höchst eigenem Interesse wohl­gemerkt, nicht in seinem, würde mir schon in ein paar Stunden be­stimmt den einen oder anderen neuen Einblick verschaffen.

*

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Nein, zwingen konnte mich Hollyfield wirklich zu gar nichts. Es war pure Freundlichkeit, dass ich gegen halb zehn Uhr in seinem Büro vor­beischaute.

Das fleischige Gesicht des Mannes, der deutlich mehr als zwei Zentner auf eine Körpergröße von knapp zwei Meter verteilte, glänzte schon jetzt vor Schweiß. Dabei bewegten sich die Temperaturen aus­nahmsweise mal im durchaus gemäßigten Bereich. »Kaffee?«, bot er mir an und wies auf den freien Stuhl vor seinem mit Akten überlade­nen Schreibtisch.

Ich nahm dankend an. Vom ersten Moment an war klar, ihm ver­mutlich so gut wie mir, was nun beginnen würde: zwei Raubtiere, die sich umkreisten, jedes entschlossen, das Ganze zu einem Katz-und-Maus-Spiel umzufunktionieren. Und wer wollte dabei schon gerne die Maus sein?

»Also, Pat, kommen wir zur Sache.« Hollyfield stand auf, um der Sekretärin im Vorzimmer seinen Wunsch nach Kaffee entgegenzubel­len. Dann pflanzte er seine Kehrseite wieder in den Stuhl, dessen aus­geleiertes Korbgeflecht verriet, wie viele Stunden lang er das schon getan hatte. »Was wollten Sie bei dem Haus da draußen?«

»Tut mir wirklich Leid, Captain, aber das kann ich Ihnen nicht sa­gen.« Ich lächelte mit schmalen Lippen. »Jeder Job hat seine Regeln. Das dürften Sie wissen.«

Die Sekretärin, eine erschreckend unscheinbare Person undefi­nierbaren Alters mit schlecht sitzenden Strümpfen und mit säuerlichem Gesichtsausdruck, servierte den Kaffee. Ich sah, wie links und rechts auf Hollyfields Stirn je eine Ader bedrohlich anschwoll. Dass dieser Mann sich aber auch immer gleich so aufregte! Gesund konnte das nicht sein. Mir schien, dass ich ihn doch wenigstens ein kleines biss­chen füttern musste.

»Es war reine Routine«, ergänzte ich daher achselzuckend. »Au­ßerdem vergeblich. In dem Haus war nichts und niemand, was mich hätte interessieren können.«

Hollyfield fluchte, weil er sich an dem heißen Kaffee anscheinend die Zunge verbrannt hatte. Tja, Eile hat eben noch nie geholfen.

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»Ich warne Sie, Connor.« Erstellte die Tasse auf einem Stapel Pa­pier auf dem Schreibtisch ab und fand irgendwie auch noch einen Platz, um seine mächtigen Pranken abzustützen. »Vier Tote haben wir jetzt schon. Alles ehrbare Männer. Nicht das Gesindel, von dem Sie Ihre Aufträge...«

»Ich muss doch sehr bitten, Captain!«, fiel ich ihm streng ins Wort. Aber insgeheim triumphierte ich. Da hatte mir Hollyfield doch wirklich eine Information gegeben! Er sah das Haus da draußen also in irgendeinem Zusammenhang mit der Mordserie. »Wenn Sie mich be­schimpfen wollen, werde ich auf der Stelle...«

»Ist ja schon gut«, fiel er mir ins Wort und hob beschwichtigend die Hände. »Sie sind doch sonst keine Mimose! Ich wollte Ihnen ja auch nur zu verstehen geben, wie wichtig die Sache ist. Die Öffentlich­keit hat Anspruch darauf, dass so etwas nicht noch einmal geschieht.«

Er palaverte noch eine Weile in diesem Stil weiter. Aber mir war klar, dass ihm weniger der Gedanke an die Öffentlichkeit zusetzte als der an seinen eigenen Kopf.

»Wie gesagt, für mich war der Besuch da draußen verlorene Lie­besmüh«, wiederholte ich, als er mit seinem Salbadern aufhörte. »Mehr kann ich Ihnen leider nicht sagen.«

Dann wurde ein Telefongespräch zu Hollyfield durchgestellt. Er sagte kaum etwas, nur mehrmals Ja oder Nein. Und er erweckte dabei den Eindruck, um etliche Zentimeter zu schrumpfen. Anscheinend ein Anruf von höherer Stelle, vermutete ich.

Als er auflegte, starrte er brütend vor sich hin. Er sah alles andere als glücklich aus und mich schien er glatt vergessen zu haben. Ich nahm es als Anlass, meinen Besuch bei ihm zu beenden. Mehr würde ihm sowieso nicht zu entlocken sein. »Sobald mir irgendetwas zu Oh­ren kommt, das für Sie von Interesse sein könnte, melde ich mich na­türlich«, behauptete ich, als ich aufstand. Ich erwartete gar nicht, dass er mir das abnahm und sein Knurren nahm ich als Abschiedsgruß. Be­tont langsam verließ ich sein Büro und spürte seinen Blick in meinem Rücken. Während er vermutlich wünschte, seine Augen in Messer ver­wandeln zu können, genoss ich das Gefühl, ihm nicht unterstellt zu

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sein. Sogar der grauen Maus in Hollyfields Vorzimmer spendierte ich ein Lächeln.

Auf den Fluren des Präsidiums herrschte hektische Geschäftigkeit. Ein paar der Leute schienen sich noch von früher an mich zu erinnern, was ich ihrem flüchtigen schadenfrohen Grinsen entnahm. Keiner von denen ahnte offensichtlich, was es hieß, ein freier Mann zu sein. Ich behielt es gern für mich und schlenderte pfeifend dem Ausgang zu.

In der Eingangshalle ging es zu wie auf einem Bahnhof zur Haupt­verkehrszeit. Aber trotzdem fielen mir die drei Uniformierten sofort auf. Sie führten eine Frau mit sich, sogar Handschellen hatten sie ihr angelegt. Und es war eine schwarze Frau.

Ziemlich konsterniert blieb ich stehen. Zwar hatte ich Doreen Simmons in dem Haus da draußen nicht sehr genau gesehen. Aber ich hätte Stein und Bein darauf geschworen, dass sie es war. Wieso gaben sich Hollyfields Leute die Mühe, sie zu verhaften?

Ich stand an einem Pfeiler, als die Gruppe an mir vorbeiging. Die Frau hatte die Augen die ganze Zeit niedergeschlagen, aber nun hob sie den Kopf. Sie bemühte sich offensichtlich, nichts von ihrer Umge­bung wahrzunehmen. Aber für einen Moment flackerte ihr Blick doch auf und ich sah, dass auch sie mich erkannte. Und noch etwas las ich in ihrem Blick - die Bitte um Hilfe. Es schien, als sähe sie in mir einen Komplizen.

Keine Frage, es war Doreen Simmons. Und wieder einmal wurde ich überschätzt. Ich schaute ihr nach, wie die Polizisten sie über einen endlos langen Gang dirigierten und sie endlich in ein Zimmer hinein­stießen.

Als ich dann ging, wurde mir klar, woher Hollyfield von meinem Besuch bei Miss Simmons wusste. Keiner seiner Leute war mir gefolgt, das stand jetzt fest für mich. Sie hatten schlicht und einfach meine Visitenkarte gefunden. Deshalb war Hollyfield auch für seine Verhält­nisse so zurückhaltend gewesen. Er hatte keinerlei Beweis, dass ich persönlich dort gewesen war, an meine Karte hatte Doreen Simmons auch sonst irgendwie kommen können.

So endete dieser Besuch auf dem Polizeipräsidium mit einem Plus­punkt für mich. Nur gut, dass ich so schweigsam gewesen war.

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*

Bevor ich ins Büro hinaufging, erstand ich im Laden nebenan noch eine Zeitung. Mit Betty konnte ich ja nicht rechnen und vielleicht erfuhr ich aus der Zeitung noch etwas, das Hollyfield mir verschwiegen hatte.

Die Titelseite wurde heute von einem Unfall beherrscht. Bei dem erst vor kurzem fertig gestellten Buckingham Building, einem der ar­chitektonischen Glanzstücke unserer Stadt, hatte etwas nachgebessert werden müssen. Stolze neunundzwanzig Stockwerke zählte das schlanke Gebäude und vom obersten war bei den Ausbesserungsmaß­nahmen ein Arbeiter abgestürzt. Das war Zunder auf die Mühlen der Gewerkschaft, die nun wieder einmal und vermutlich auch nicht ohne Grund, auf verbesserte Sicherheitsmaßnahmen drängten.

Es sah fast so aus, als gäbe es im Zusammenhang mit der Mord­serie nichts Neues. Erst auf einer der letzten Seiten wurde ich doch noch fündig. Der Artikel umfasste nur wenige Zeilen - klar, wen inte­ressierte so etwas schon? ›Schwarze verhaftet‹, las ich. Unter anderen Umständen hätte auch ich darauf keinen zweiten Blick verschwendet. Nun aber wunderte ich mich nicht wenig, weshalb Doreen Simmons die Ehre dieser Erwähnung zuteil wurde. Wer sonst außer ihr konnte damit schon gemeint sein?

Ich las weiter und es sah so aus, als müsste ich mich korrigieren. Denn diese Schwarze, so hieß es, war niemand anders als die seit ei­niger Zeit angeblich entführte Sängerin der Sweat Hot. Nun stand sie im Verdacht, die Entführung selbst inszeniert zu haben, um daraus Kapital zu schlagen. Von ihrem Namen wurden nur die Anfangsbuch­staben bekannt gegeben: S. C.

Ich ließ die Zeitung sinken und erinnerte mich an die Seite, die ich gestern bei Dunky an mich genommen hatte. Ich hatte sie in der In­nentasche meines Jacketts völlig vergessen. Nun nahm ich sie heraus und strich sie glatt. Und dann...

Erst einmal brauchte ich eine neue Lucky. Ich wollte einfach nicht glauben, was ich sah. Lag es daran, dass auch ich so gut wie nie mit Schwarzen zu tun hatte und deshalb alle irgendwie immer gleich aus­

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sahen für mich? Ganz ausschließen konnte ich das nicht. Andererseits entdeckte ich auf dem Foto in der Zeitung immer mehr ausgesprochen individuelle Kennzeichen an der Frau. Die Form ihrer Augenbrauen zum Beispiel, auch die gar nicht so vollen Lippen. Und auch das ziem­lich perfekt geschnittene Oval ihres Gesichts - es war die Frau aus dem Haus. Die, die ich vorhin im Polizeipräsidium gesehen hatte. In dem Artikel unter dem Foto war auch der volle Name der Sängerin genannt. S und C, das stand für Sarah Cunnings.

War ich also ausgetrickst worden? Hatte die Lady mich, aus wel­chen Gründen auch immer, im Glauben lassen wollen, sie sei Doreen Simmons? Doch aus welchem Grund könnte ihr daran gelegen sein?

Andererseits, für einen Gesangsstar, selbst für eine Schwarze, war das Haus da draußen einfach zu bescheiden. Solche Leute konnten sich, Hautfarbe hin oder her, Besseres leisten. Und wenn Doreen wirk­lich identisch mit dieser Sarah war, einem weit über Chicago hinaus bekannten Star der Jazz-Szene, hätte dies Craydon nicht bekannt sein müssen?

Ich riss den Artikel über die Verhaftung heraus und legte ihn zu­sammen mit dem großen Artikel samt Foto beiseite. Der Tag hielt an­scheinend nicht, was sein Beginn versprochen hatte. Nun gab es ein­deutig mehr Fragen als Antworten und sosehr ich meine grauen Zellen auch bemühte, sie liefen nur ergebnislos im Kreis.

Ein Anruf von Brendon rettete mich. Er schlug vor, zusammen es­sen zu gehen. Und weil mir im Moment, wirklich nichts Besseres ein­fiel, sagte ich auch sofort zu. Am üblichen Ort, hatte er gesagt und so beeilte ich mich, zu Henry's Steak Diner zu kommen, unweit des Sitzes der Chicago Tribune auf der anderen Seite des Flusses.

*

»Da steckt garantiert mehr dahinter«, vermutete Brendon wichtig, als ich ihn auf den winzig kleinen Artikel ansprach. »Wenn eine Schwarze ihre Entführung inszeniert hat, bloß, um damit andere Schwarze zu erpressen - ich bitte dich! Danach kräht doch normalerweise kein Hahn!« Mit gutem Appetit spießte er sein letztes Stück Fleisch auf.

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Ich tendierte eigentlich dazu, die Sache ganz ähnlich zu sehen. Dennoch widersprach ich. »Es sind ja nicht irgendwelche Schwarze, sondern die derzeitigen Stars in den Jazzlokalen«, wandte ich ein.

»Na und?« Brendon lehnte sich zurück und wischte sich mit seiner Serviette den Mund ab. Er wirkte jetzt rundum zufrieden, wie ein Säugling nach der Fütterung. »Sobald die weg sind vom Fenster, wer­den halt andere umjubelt. Täglich treffen neue Musiker ein, aus New Orleans oder sonst wo aus dem Süden. Wen interessiert schon, was die treiben, wenn sie nicht auf der Bühne stehen?«

»Okay«, räumte ich ein. »Aber was könnte dann dahinter ste­cken?«

Brendon lachte bloß und gab dem Kellner ein Zeichen, unsere Tassen noch einmal zu füllen. »Junge, ich bin für Sport zuständig, hast du das vergessen? Dabei fällt mir übrigens ein...« In seiner zufriede­nen Stimmung nach dem Essen kam er lieber auf das letzte Spiel der White Socks zu sprechen.

Ich hörte nicht richtig zu und zwar auch deshalb, weil plötzlich Betty erschien. Sie suchte das Lokal mit ihren Blicken ab, dann winkte sie mir zu. Ihre Wangen waren hektisch gerötet und anstatt endlich an den Tisch zu kommen, rollte sie immer wieder viel sagend die Augen. Ich sah keinen Grund, deswegen aufzustehen. Endlich kam sie doch an unseren Tisch.

Brendon freute sich, sie zu sehen und schlug ihr vor, sich auf ein Glas zu uns zu setzen.

Aber Betty schüttelte den Kopf. Seit wann schlug sie die Einladung auf ein Glas aus? »Ich muss unbedingt mit Ihnen reden, Chef«, tu­schelte sie mir ins Ohr. »Und zwar allein!«

Ihr Gehabe war mehr als übertrieben. Sie spielte sich hier ja auf, als sei sie eine Art Assistentin von mir. Dabei hatte sie am Vormittag blau gemacht. Ich tat ihr den Gefallen nur, weil ein Kollege von Bren­don zu uns an den Tisch trat und Brendon in ein Gespräch verwickelte. Bis ich aufstand, hatte Betty das Lokal schon wieder verlassen.

Sie lehnte draußen an der Hausmauer und paffte nervös eine Zi­garette. »Ich bin natürlich zuerst ins Büro gegangen«, sprudelte sie

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sofort los. »Aber da waren Sie ja nicht und zu Hause habe ich Sie auch nicht erreicht. Da dachte ich, Sie könnten vielleicht hier sein.«

»Und weshalb ist das so wichtig?« Während sie ihre Zigarette mit dem rechten Schuh auf dem Pflaster zum Verlöschen brachte, zündete ich mir eine an.

»Ich hab Ihnen doch angekündigt, dass ich was vorhabe«, fuhr sie in vorwurfsvollem Ton fort.

»Richtig! Wie heißt er denn?« Ich grinste breit. Sie hatte anscheinend jeden Sinn für Humor verloren. »Charles

Craydon.« Oder fand sie das doch witzig? Ich jedenfalls nicht. »Was ist mit ihm?« Ich dachte an meine Tas­

se, die jetzt bestimmt schon wieder frisch gefüllt auf dem Tisch bei Brendon stand.

»Tja, wenn ich das wüsste!« Sie fingerte in ihrer Handtasche nach einer neuen Zigarette. »Ich hab ihn gestern Abend getroffen, es war purer Zufall. Vielleicht ein Fingerzeig des Schicksals, hab ich mir ge­dacht. Gestern Abend hatte ich aber schon 'ne Verabredung, deshalb hab ich ihm vorgeschlagen, dass wir uns heute treffen.«

Obwohl Betty eindeutig ihre Kompetenzen überschritten hatte, er­wachte doch mein Interesse. »Sie wissen jetzt also, wo er wohnt?«

Sie nickte bedeutungsvoll. »Im YMCA in der Wabash Avenue.« Sie grinste flüchtig. »Der christliche Verein junger Männer nimmt auch Nichtmitglieder auf. Sogar wenn die nicht mehr so jung sind.«

»Sie waren dort?«, hakte ich nach, bevor Betty wieder zu weit­schweifig wurde.

»Klar, es gibt dort auch ein Restaurant, da wollten wir uns treffen. Aber Craydon kam nicht. Eine Stunde hab ich gewartet und mir dann gesagt - das passt irgendwie nicht zu ihm. Ich meine, er hat so et­was...«

»Sie haben ihn also nicht getroffen?«, fiel ich ihr ins Wort. »Wie auch!« Wieder landete ihre Zigarette auf dem Pflaster. »Er

war ja gar nicht mehr da.« »Und deshalb machen Sie so einen Aufstand?« Ich verdrehte die

Augen. »Er hat Sie versetzt, na und? Schätze mal, das ist Ihnen schon öfter passiert.«

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»Er hat das aber nicht freiwillig getan«, erwiderte sie prompt. »Als er nicht gekommen ist, war ich zuerst ja auch ziemlich sauer. Aber wo ich doch schon mal da war... Ich hab dann jedenfalls mit so 'nem Ty­pen an der Rezeption gesprochen. Erst spielte der den Taubstummen. Aber ich weiß schon, wie man solche Leute zum Reden bringt.« Ihr Lächeln fiel jetzt ziemlich selbstgefällig aus.

»Betty, wenn Sie was wissen, dann sagen Sie es endlich!«, rief ich entnervt. »Und wenn nicht...«

Ich sah die grinsenden Blicke einiger Passanten. Man hielt Betty und mich wohl für ein Paar, das in aller Öffentlichkeit eine private Mei­nungsverschiedenheit austrug.

»Da waren zwei Typen, die Craydon abgeholt haben«, spuckte Betty endlich aus. Dabei sah sie mich triumphierend an. »Und der Typ an der Rezeption hat gesagt, dass er nicht freiwillig zu denen ins Auto gestiegen ist.«

»Und, was weiter?«, blaffte ich sie an, allmählich wirklich mit mei­ner Geduld am Ende. »Erstens könnte es sein, dass dieser Typ Ihnen einen Bären aufgebunden hat. Und zweitens - was interessiert es uns, was für Bekanntschaften Craydon hier in der Stadt schließt?«

»Aber Chef!« Voller Empörung sah Betty mich an. »Er ist Ihr Man­dant!«

Plötzlich war es also wieder mein Mandant. Ich fragte mich, was Betty sich von einem Treffen mit diesem Südstaatler wohl versprochen haben mochte. Meines Wissens stand sie auf ältere Männer nur, wenn die betucht genug waren, um anders wo als in einem Heim christlicher junger Männer abzusteigen.

»Mein Mandant ist er noch für einen halben Tag und ein paar Stunden«, versetzte ich nach einem kurzen Blick auf die Uhr. »So lan­ge reicht sein Vorschuss gerade noch.«

»Eben!«, rief Betty aus. »Und wenn er dann nicht wiederkommt, kann er doch auch nicht zahlen. Und überhaupt, wenn ihm nun wirk­lich was passiert ist?«

Hatte sie wirklich ihr Herz für den Provinzler entdeckt? Oder dach­te sie an ihren wöchentlichen Lohn, der nicht zuletzt von Craydons Zahlungsmoral abhing?

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Schlagartig schlug Betty Stimmung um. Schmollend sah sie mich an. »Sie könnten wenigstens Danke sagen. Jetzt wissen Sie doch im­merhin, wo er wohnt!«

Ich dachte mir zwar, dass mir diese Auskunft tatsächlich nicht ganz unnütz sein könnte. Aber hätte Betty das nicht alles etwas knap­per zusammenfassen können? Ich rang mich endlich doch zu einer versöhnlichen Reaktion durch. »Wollen Sie nun was trinken oder nicht?« Ich wies auf den Eingang.

Sofort hellte Bettys Miene sich auf. »Wieso nicht, wenn Sie mich so nett einladen!« Sie hängte sich sogar bei mir ein.

»Da seid ihr ja wieder, Kinder!«, begrüßte Brendon uns geradezu überschwänglich. Er hatte nicht nur an mich gedacht, sondern tatsäch­lich auch für Betty schon etwas zu trinken bestellt.

*

Nach der Mittagspause sagte ich mir, es sei nun vielleicht doch an der Zeit, auf die South-Side zu fahren. Und zwar zu dem Club, in dem bis vor kurzem noch die Sweat Hot ihre Erfolge gefeiert hatten. Von Bren­don hatte ich mir den Namen und die Adresse sagen lassen, Garfield Boulevard Ecke South Carpenter Street.

Jede Menge Jazzclubs waren hier mittlerweile ansässig, was der Gegend eine gewisse Aufwertung beschert hatte. Allerdings nur nachts. Im Licht der etwas diesigen Nachmittagssonne konnte ich kei­ne Spur von Glamour ausmachen. Von Brendon wusste ich, dass der Inhaber des Longchamps Thierry Thompson hieß, ein Weißer natürlich, der sich mit dem plötzlichen Interesse an der Musik der Schwarzen dumm und dämlich verdiente. Um diese Zeit konnte ich vermutlich nicht damit rechnen, ihn anzutreffen.

Ich parkte direkt vor dem Club, wo gerade jemand damit beschäf­tigt war, die Fenster zu putzen. Die Eingangstür stand offen und als ich ausstieg, hörte ich von drinnen Musik.

»Sie können da jetzt nicht rein, Mister«, machte mich der Fenster­putzer aufmerksam. »Das ist eine Probe.«

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»Genau das dachte ich mir«, erwiderte ich freundlich und ließ mich nicht davon abhalten, durch die offene Tür zu spazieren.

Ein schummriges Zwielicht herrschte und ein Saxophon gab lei­ernde Tonleitern von sich. Jede Menge Leute wuselten herum, für ei­nen kurzen Moment glaubte ich, in einer verhuschten schwarzen Frau die Kleine aus dem Butterfly zu erkennen. Es war aber gut möglich, dass ich mich täuschte. Mit einem Schlag nur von Schwarzen umge­ben, hatte ich den Eindruck, dass eben doch alle gleich aussahen.

Dann versperrte mir einer den Weg, der mindestens einen Kopf größer war als ich und ausnehmend elegant, wenn auch ein bisschen arg farbenfroh gekleidet war. Grün karierte Hosen und unter der leuchtend blauen Jacke blitzte eine senfgelbe Weste hervor. So jung er auch war, trug er doch einen Stock mit sich herum - aus Elfenbein der Knauf, nichts als ein modisches Accessoire. Er brauchte es nicht zum Gehen, sondern um eine Beschäftigung für seine langgliedrigen, ner­vösen Hände zu haben.

»Sie bringen die neuen Spiegel?«, sprach er mich an, in einem breiten, singenden Dialekt. Meines Wissens hörte man so was in New Orleans.

Seiner Frage entnahm ich, dass er hier wohl so was wie ein Ge­schäftsführer war und mich mit jemandem verwechselte. »Nein, damit kann ich nicht dienen«, antwortete ich.

»Womit dann?« Er klang schon etwas weniger freundlich. »Ach, es geht nur um eine Auskunft.« Ich blickte an ihm vorbei in

den Raum und fragte mich, wieso er auf noch mehr Spiegel wartete. Von allen Seiten sah ich mich selbst und den jungen Schwarzen von hinten. »Sarah Cunnings«, sagte ich rasch, denn ich spürte, dass der Mann mir nicht viel Zeit einzuräumen bereit war.

Seine Reaktion fiel weit schroffer aus, als ich es erwartet hatte. »Raus hier!«, herrschte er mich an und ich sah, wie er zwei bulligen Typen im Hintergrund ein Zeichen gab. »Mit dieser Hexe haben wir hier nichts zu tun!«

Ich wollte keine nähere Bekanntschaft mit den beiden Gorillas schließen und so sah ich zu, dass ich schnell wieder raus kam. Einer

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der beiden schwarzen Riesen pflanzte sich im Eingang auf. Er tat so, als sei ich gar nicht da.

Der Fensterputzer kippte eben seinen Eimer aus. Jetzt erst fiel mir auf, dass er weiß war. Vor ein paar Minuten war mir das nur selbstver­ständlich gewesen. Jetzt erst, nach meinem kurzen Aufenthalt da drin, erschien es mir bemerkenswert. Er lächelte mich ein bisschen schief von der Seite an.

Da beschloss ich, es auf einen Versuch ankommen zu lassen. Wie­der sprach ich nur den Namen der Sängerin aus. Der Typ nickte und lächelte dabei. »Sie ist richtig nett«, sagte er leise und versicherte sich dabei mit einem kurzen Seitenblick auf den Türsteher, dass er auch wirklich leise genug sprach. »Ohne Sarah können die hier bald dicht machen. Aber das geschieht denen nur recht. Es ist nicht fair, wie sie sie behandelt haben. Dass sie sich da wehrt, war doch zu erwarten, oder?«

Der Typ hielt mich anscheinend für eingeweiht. Bloß in was? »Wer hat sie schlecht behandelt?«, hakte ich nach.

»Na, die ganze Band«, erwiderte er leise. »Und wenn man be­denkt, was sie vorher vermutlich schon alles durchgemacht hat! Ich meine, für eine Frau wie sie war es garantiert nicht leicht, so weit nach oben zu kommen. Ich möchte nicht wissen, wie sie dafür bezahlt hat.« Er sah mich viel sagend an.

»Und Doreen Simmons?«, setzte ich auf einen weiteren Zufalls­treffer.

Da aber schüttelte er den Kopf. »Kenn ich nicht. Nie gehört. Dabei arbeite ich schon ewig hier.«

»Eddy, was hast du da herumzulungern?« Der junge Schnösel war in der Tür erschienen.

Eddy, der Fensterputzer, kuschte sofort. Er griff nach seinem Ei­mer und trottete auf den Hof.

Und ich war einigermaßen baff. Dass ein Schwarzer in diesem Ton mit einem Weißen sprach, auch wenn der nur ein Fensterputzer war, das hatte ich noch nie erlebt.

Die ungewohnte Szene beschäftigte mich auch noch auf der Rück­fahrt auf die North-Side. Und außerdem ging mir durch den Kopf, dass

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es mit der Solidarität unter den Schwarzen ja anscheinend auch nicht weit her war, wenn die eine Sängerin wie Sarah Cunnings behandelten wie den letzten Dreck - denn nichts anderes hatte dieser Eddy ja an­gedeutet.

Außerdem hatte ich noch im Ohr, wie der Manager sie Hexe ge­nannt hatte. Da war mehr als Verachtung im Spiel gewesen, fast schon etwas wie Respekt. Was war das für eine Frau, die es wagte, es allein mit so vielen Männern aufzunehmen? Nicht nur ihre schwarzen Kolle­gen, auch Hollyfield und seine Leute schienen ja etwas gegen sie zu haben.

Auch etwas eher Unangenehmes kam mir in den Sinn, als ich mei­ne Gedanken so spazieren gehen ließ. Was, wenn es an meinem Be­such lag, dass Hollyfield sie in dem Haus am Stadtrand aufgespürt hatte? Ausschließen konnte ich zwar nicht, dass sie nicht doch was auf dem Kerbholz hatte. Aber irgendwie wollte ich nicht derjenige sein, der Hollyfield auf ihre Spur gebracht hatte.

Als mir auffiel, dass ich ganz in der Nähe des Christlichen Heims junger Männer war, in dem angeblich Craydon logierte, beschloss ich, dort kurz vorbeizuschauen. So wenig Anhaltspunkte ich hatte, konnte ich es mir einfach nicht leisten, einen zu ignorieren.

Das Gebäude wirkte noch ziemlich neu und unterschied sich fast nicht von einem einfachen Hotel. Abgesehen davon, dass die Leute in der Lobby garantiert nur Tee oder Kaffee in ihren Tassen hatten. Und über eine Bar verfügte die Einrichtung bestimmt auch nicht. Vielleicht kam mir deshalb die gute Laune der Gäste so demonstrativ und aufge­setzt vor. Sie lachten eindeutig zu oft und zu laut.

»Ist Mister Craydon auf seinem Zimmer?«, fragte ich den Mann an der Rezeption. Sein Binder lag ihm so eng um den Hals, dass ich mich fragte, wie er überhaupt Luft bekam.

»Ja, er ist da«, erwiderte er mit einem Blick auf die Wand, an der unzählige Schlüssel hingen.

»Verraten Sie mir auch noch seine Zimmernummer?« Ich bedach­te den Mann mit einem Blick, der anscheinend fromm genug war, um mir die Güte einer Antwort zuteil werden zu lassen.

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»Das ist im dritten Stock«, fügte er hinzu und wies auf die Fahr­stühle.

Ich musste mir die Kabine mit lauter sehr jungen Männern teilen, die aufgeregt durcheinander redeten. In aller Kürze zusammengefasst, ging es darum, dass Chicago ein Sündenpfuhl sei. Aber all diese jun­gen Leute hatten ganz glänzende Augen dabei und mehr als einem traute ich zu, dass er der einen oder anderen sündigen Verlockung wohl ganz gern erliegen würde.

Auf dem Flur im dritten Stock roch es seltsam säuerlich. Es war ein Geruch, den ich kannte: Erinnerungen an so manchen Sonntag meiner Kindheit suchten mich heim. Auch in der einfachen Kirche hatte es damals so gerochen. Und schon damals hatte sich das nicht eben förderlich auf meine Frömmigkeit ausgewirkt.

Endlich stand ich vor der richtigen Tür und klopfte an. Hinter der Tür rührte sich nichts. Also klopfte ich noch einmal und diesmal ver­nahm ich doch ein Geräusch. Wieso öffnete Craydon nicht endlich? »Ich bin's, Connor!«, rief ich laut.

»Pat Connor?«, vergewisserte sich Craydon. »Genau der«, bestätigte ich. Anscheinend hatte Betty doch eine

zutreffende Information erhalten. Craydon hatte eindeutig Angst. »Jetzt machen Sie schon auf!«

Es dauerte noch ein paar Sekunden, bis sich endlich der Schlüssel drehte und die Tür einen kleinen Spalt aufging. Craydon sah erbärm­lich aus, ein dunkles Veilchen zierte sein rechtes Auge. »Was wollen Sie denn?«

»Sie sind gut!« Ich lachte, auch um ihm die Angst zu nehmen. »Es könnte doch schließlich sein, dass ich Neuigkeiten für Sie habe. Kann ich nicht reinkommen?«

Nach kurzem Zögern überwand er sich. Ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl, ein Schrank, mehr befand sich nicht im Zimmer, alles in ein­fachster Ausführung. Natürlich fehlte auch nicht das Holzkreuz an der Wand. Craydon schien ein äußerst ordentlicher Mensch zu sein. Nir­gendwo lag etwas herum, das auf seine Anwesenheit schließen ließ. Einen Stuhl bot er mir nicht an.

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»Ich ziehe meinen Auftrag zurück«, stieß er hervor. »Sie sehen ja, was mir passiert ist.« Er wies nicht auf das malträtierte Auge, sondern auf seinen linken Arm. Der lag in einer Schlinge. »Sobald es mir besser geht, fahre ich wieder nach Hause.«

»Und was wird dann aus Ihrer Sorge um Doreen Simmons?«, er­innerte ich ihn.

Er ließ sich auf das penibel gemachte Bett sinken. »Ich kann ja doch nichts für sie tun«, murmelte er niedergeschlagen. »Und ich will lieber gar nicht daran denken, was sie alles durchmachen muss. So, wie man mich behandelt hat...« Er verstummte für einen Moment. »Gegen solche Leute können auch Sie nichts ausrichten.«

Die Bemerkung gefiel mir gar nicht. Ich neigte wahrlich nicht zur Selbstüberschätzung. Aber was dieser Provinzler da tat, war das glatte Gegenteil davon. »Welche Leute meinen Sie denn?« Ich zog mir den Stuhl heran und setzte mich.

Er schüttelte den Kopf. »Ich sage kein Wort mehr!« Man hatte den Armen wirklich sehr erfolgreich eingeschüchtert.

Was ich auch versuchte, er schüttelte nur den Kopf. Erst als ich auf­stand, fand er die Sprache wieder.

»Unternehmen Sie bitte nichts mehr!«, glaubte er mich warnen zu müssen. »Oder wollen Sie auch so zugerichtet werden wie ich? Ich möchte daran jedenfalls nicht schuld sein!«

Er machte wirklich den Eindruck, als wolle er sich gleich bekreuzi­gen. Ich sah zu, dass ich wegkam.

*

Am nächsten Morgen verkündeten die Schlagzeilen, dass die Mordserie kurz vor der Aufklärung stehe. Als Täterin wurde Sarah Cunnings be­schuldigt. Hollyfield wurde zitiert, er behauptete stolz, ein Geständnis sei nur noch eine Frage der Zeit.

Ich fand das so lachhaft, dass ich beschloss, auf der Stelle noch einmal in die nördliche Vorstadt zu fahren. Ich erreichte Betty tatsäch­lich im Büro und ließ sie wissen, dass es später werden würde. Dann machte ich mich sofort auf den Weg.

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Dass es in dem Haus mit den zwei Garagen vor Polizisten nur so wimmelte, hatte ich erwartet. Und Lieutenant James Quirrer sah so aus, als hätte er hier nichts anderes zu tun, als auf mich zu warten. Jedenfalls schoss Hollyfields unfähigster Untergebener sofort auf mich zu, das dünne blonde Haar geradezu lächerlich akkurat gescheitelt und mit viel zu viel Pomade verklebt. »Wir ermitteln hier!«, blaffte er.

»Dann tun Sie das doch.« Ich sah, dass vor allem eine der beiden Garagen im Zentrum der polizeilichen Ermittlungen stand. Allerdings schienen Quirrers Kollegen mit ihrer Arbeit schon fertig zu sein.

»Wieso sind Sie denn immer noch hier?« Morgan C. Hollyfield trat aus der Garage, er war zu groß für die niedrige Decke und hatte den Kopf einziehen müssen. Seine Frage galt Quirrer, was dem natürlich gar nicht gefiel. Um mir gegenüber halbwegs das Gesicht zu wahren, machte er eine schneidige Kehrtwendung in Richtung eines Polizeiau­tos.

Ich sah, dass der Alte auf den Stufen vor der Haustür hockte, die Dogge kauerte neben ihm. Alle beide hatten absolut nichts Bedrohli­ches mehr an sich. Der Hund schien den Alten trösten zu wollen, der unablässig mit zutiefst bekümmerter Miene vor sich hin murmelte. Was er sagte, verstand ich nicht. Dann winkte mich Hollyfield zu sich.

Ich ließ mir Zeit und sorgte dafür, dass eine neue Lucky zwischen meine Lippen kam.

»Und Sie behaupten immer noch, niemals hier gewesen zu sein?«, sprach Hollyfield mich an.

»So direkt hab ich das meines Wissens nicht formuliert«, erwider­te ich.

»Und wie ist dann Ihre Karte ins Haus gekommen?« Hollyfield war sich seiner Sache sehr sicher.

Ich seufzte und zuckte die Schultern. »Tja, sehen Sie, da ist vieles denkbar. So ein Kärtchen wandert ja leicht von Hand zu Hand.«

»Ziemlich merkwürdiger Zufall«, knurrte Hollyfield. Dann trat er einen Schritt beiseite. »Das hier ist gar keine Garage. Sondern eher eine Folterkammer.«

Ich sah gleich hinter der Garagentür eine gemauerte Wand, ver­mutlich hatten Hollyfields Leute sie zur Hälfte eingerissen. Hinter die­

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ser Wand erkannte ich eine alte fleckige Matratze, von der Decke bau­melte ein Schlauch, dessen anderes Ende in einem auf halber Höhe angebrachten Kanister steckte. Auch Seile lagen herum. Und auf der einen Seite gab es eine Tür, die nur ins Haus führen konnte.

»Sehen Sie sich das ruhig an!«, forderte Hollyfield mich überflüs­sigerweise auf. »Die Einzelheiten können Sie morgen in der Zeitung lesen. Jetzt haben wir alles, was wir brauchen, um diese Frau zu über­führen.« Triumphierend sah er mich an und hängte dabei seine breiten Daumen in den Hosenbund. »Es ist ziemlich eindeutig, dass alle vier Männer hier umgebracht worden sind.«

»Dann ist die Lady nicht nur als Sängerin ein Crack, sondern auch mit dem Schießgewehr?«, warf ich spöttisch ein.

»Die Tatwaffe haben wir noch nicht.« Wenn der Leiter der Mord­kommission so freigebig mit Informationen war, konnte das nur eines heißen - er hatte das Gefühl, aus dem Schneider zu sein. »Aber die finden wir auch noch. Vorerst genügt uns diese teuflische Konstrukti­on.« Er wies auf den Schlauch und den Kanister. »Wissen Sie, was da drin ist? Eine Salzlösung. So was kann jede Hausfrau herstellen. Und solche Schläuche gibt es in jeder Klinik. Man kann sie leicht so regulie­ren, dass sie hübsch langsam Tröpfchen für Tröpfchen abgeben. Exakt nach Maß. Und wenn so was jemand nur lang genug in die Augen ge­träufelt wird... Wehren kann der sich nicht mehr.«

Ich versuchte mir vorzustellen, wie das letzte Mordopfer auf dieser Matratze gelegen hatte, in völliger Dunkelheit, unfähig, dem stetig fallenden Tropfen auszuweichen. Ja, auch ich würde das durchaus Folter nennen. Aber an so was starb man eben nicht. »Hintermän­ner?«, fragte ich knapp.

»Das hatte diese Hexe doch gar nicht nötig!« Hollyfield lachte me­ckernd. »Hinterm Haus hat sie 'ne richtige Falle angelegt.«

»Und in die spaziert zum Beispiel so ein Klinikchef einfach rein?« Ich musste grinsen.

»Ja, das hat er davon, der Arme!« Hollyfield legte sein Gesicht in kummervolle Falten. »Er hat sich eben nicht nur um seinesgleichen gekümmert. Wer weiß, mit welcher Mitleid erregenden Story ihn diese Hexe hierher gelockt hat.«

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»Und all die anderen Männer auch?« Ich verhehlte meine Skepsis nicht. »Und die hat sie dann ganz ohne Hilfe in die Innenstadt beför­dert?«

»Connor, Sie können mich mal«, reagierte Hollyfield verärgert. Dann wies er auf den Alten mit dem Hund. »Der wird auch seine Rolle gespielt haben. Und demnächst singen wie ein Vögelchen. So und nun stehen Sie hier nicht länger im Weg rum! Und künftig schauen Sie sich Ihre Kundschaft vielleicht doch ein bisschen genauer an.« Er grinste fast leutselig. »Oder wollen Sie irgendwann auch so enden wie der Herr Doktor? Es rächt sich immer, ein gutes Herz an die Falschen zu verschwenden.«

Ich hielt es nicht für nötig, Hollyfield für diesen Ratschlag zu dan­ken. Langsam ging ich zu meinem Plymouth zurück. Von dort schaute ich zu, wie Hollyfield die Garage sicherte, die in Wahrheit eine Folter­kammer gewesen war. Zwei seiner Leute befassten sich endlich auch mit dem Alten und dem Hund und brachten ihn zu einem Wagen. Der Alte wehrte sich kein bisschen. Wenn Hollyfield wirklich auf Informatio­nen von ihm angewiesen war, konnte er mir jedenfalls nur Leid tun.

Ich wollte nach einer neuen Zigarette greifen. Doch die Packung war leer. Ein guter Grund, um diesen Ort zu verlassen und in die Stadt zurückzufahren.

*

Ich hatte das dumpfe Gefühl, dass Sarah Cunnings oder auch Doreen Simmons oder wie immer sie sonst noch hieß, zu einer Art Bauernop­fer werden sollte. Wer konnte sich, einmal in die Fänge der Polizei ge­raten, schlechter zur Wehr setzen als eine Schwarze? So ziemlich jeder in der Stadt wäre garantiert bereit gewesen, ihr einfach alles zuzutrau­en. Und wo sie nicht einmal bei ihren eigenen Leuten, den Jazzmusi­kern von der South-Side, irgendwelchen Rückhalt fand, war ihr Schick­sal so gut wie besiegelt. Kein Mensch würde ihr nachtrauern, ausge­nommen vielleicht Charles Craydon. Aber der hatte kapituliert und nahm diese Niederlage als Schicksalsschlag an. Ihm würde bestimmt nicht eine Silbe zugunsten der Frau über die Lippen kommen.

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Und ein Engel war sie eindeutig nicht, dagegen sprach diese tücki­sche Vorrichtung in der Garage. Um auf so eine Idee zu kommen, war nicht nur einiges an Fantasie und Geschick nötig, sondern auch eine gute Portion Hass. Nun mochte es ja gut sein, dass eine schwarze Frau allen Grund der Welt hatte, jeden weißen Mann zu hassen. Aber nicht jeder Mann war zu ihrem Gefangenen geworden. Und wäre es ihr nur darum gegangen, ihn ins Jenseits zu befördern, hätte sie das doch viel einfacher bewerkstelligen können.

Im Büro empfing mich Betty mit vorwurfsvollem Schweigen. Ich zog das ihrem sonstigen Geplapper eindeutig vor. »Machen Sie mir bit­te eine Verbindung mit Brendon«, bat ich sie knapp und ließ Jackett und Hut auf dem Sofa landen.

»Sie wollen schon essen gehen?« Auch der Blick auf ihre Uhr war vorwurfsvoll gemeint, aber immerhin, sie griff doch zum Telefon. Ver­mutlich hatte sie sich den Vormittag über gelangweilt und war deshalb so schlecht gelaunt. Aber bezahlte ich sie dafür, dass sie sich amüsier­te?

Ich hatte Glück, Brendon war da. Ich appellierte wieder einmal an seine väterlichen Gefühle. »Ihr habt doch sicher was über diesen Kli­nikchef. Du weißt schon, der mit den verätzten Augen.«

»Aber nicht einfach so aus dem Handgelenk.« Brendon stöhnte. »Da muss ich einen Kollegen fragen.«

»Und, machst du das? Ich hätte gern mehr, als in der Zeitung ü­ber ihn zu lesen war.«

»Weil du es bist«, versprach Brendon. »Erreiche ich dich im Bü­ro?«

»Ja, ich warte hier.« Ich legte den Hörer auf, lockerte meinen Schlips und verspürte das Bedürfnis nach Kaffee. Betty sah nicht so aus, als wäre sie für eine diesbezügliche Bitte empfänglich und so be­quemte ich mich selber zur Kaffeekanne.

»Wenn Sie dann vielleicht auch mal einen Moment für mich Zeit hätten?«, sagte sie spitz.

»Oh je, fühlen Sie sich etwa vernachlässigt?« Ich verrührte reich­lich Zucker im Kaffee und grinste.

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»Ich weiß, wer Craydon gezwungen hat, in das Auto einzustei­gen«, platzte sie heraus, noch bevor ich wieder saß. Sie legte den Kopf zurück und stieß den Rauch ihrer Zigarette durch die Nase aus.

»Und woher wissen Sie das?«, tat ich ihr den Gefallen, die ihrer Ansicht nach jetzt fällige Frage zu stellen.

»Ich war heute morgen noch mal im YMCA in der Wabash Street. Und hab den Typen an der Rezeption ein bisschen ausgequetscht.« Einen Moment sah es fast so aus, als beabsichtige sie, ihre Beine auf den Tisch zu legen, so wie ich das soeben getan hatte. Sie begnügte sich dann doch damit, eins übers andere zu schlagen und ihren Rock glatt zu streichen.

»Geht es Ihnen nun eigentlich um den Kerl an der Rezeption oder um Craydon?« In kleinen Wölkchen paffte ich den Rauch zur Decke.

»So komisch ist das alles gar nicht«, belehrte Betty mich streng. »Und jetzt ist mir auch klar, wieso Sie neulich mit der Knarre wegge­gangen sind.« Sie sah mich an wie ein Kind, das bei einem leicht durchschaubaren Trick ertappt worden war. »Bloß dem armen Craydon hat das nichts genützt. Sie haben ihn grün und blau geschlagen. Und ihm den Arm gebrochen, hat man mir erzählt.«

Ich musste ihr die Freude verderben. »Das hab ich sogar selbst gesehen.«

Betty blieb unbeeindruckt. »Der Typ von der Rezeption hat alles beobachtet. Und einen guten Blick für Details. Er hat den 1926er cre­mefarbenen Packard mit den kastanienbraunen Kotflügeln ziemlich exakt beschrieben. Klar, so ein Modell sieht man nicht alle Tage.« Bet­ty drückte ihre Zigarette aus, als gehe es darum, ein Ungeziefer zu zerquetschen. Dann sah sie mich mit grimmigem Lächeln an.

»Der Wagen vom Iceman persönlich?«, fragte ich skeptisch. Die­sen Spitznamen trug Salvatore Carpese, die rechte Hand von Il Cardi­nale, dem stadtweit gefürchteten Boss des italienischen Syndikats. »Wieso sollte der sich mit einem mickrigen Würstchen wie diesem Pro­vinzler abgeben?«

»Gerade solche können gefährlich werden«, gab Betty sich clever. »Eben weil sie von nix eine Ahnung haben und ihre Nase überall rein­stecken.«

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Auch wenn ich es mir nicht anmerken ließ, so gab ich im Stillen doch zu, dass ihr Argument über eine gewisse Logik verfügte. Nichts war störender in gewissen Kreisen dieser Stadt als Menschen, die kei­ne Ahnung hatten, wer hier was zu sagen hatte. Mit solchen Ignoran­ten verfuhr man nicht zimperlich. Dass man Craydon nicht einfach gleich umgelegt hatte, brachte höchstens die Geringschätzung für das Landei zum Ausdruck. Und er war ja wirklich auch eingeschüchtert ge­nug gewesen, der würde keinem mehr in die Quere kommen.

»Jetzt sagen Sie doch endlich was!«, verlangte Betty, ungehalten über die Anerkennung, die ich nicht aussprach.

Schon deshalb nicht, weil jetzt das Telefon klingelte. Es war Bren­don. Sofort griff ich zu Papier und Bleistift.

Aber Brendons Umfrage unter den Kollegen war mehr als dürftig ausgefallen. »Blütenreine Weste«, fasste er alles zusammen. »Der hat viel zu viel gearbeitet, um sich etwas zuschulden kommen zu lassen.« Er lachte.

Von der Familie war in den Zeitungen bislang nichts zu lesen ge­wesen. So griff ich nach diesem Strohhalm. »Wo hat er denn ge­wohnt?«, erkundigte ich mich.

»Natürlich standesgemäß auf der North-Side.« Brendon nannte mir die Adresse. »Was versprichst du dir eigentlich davon? Warte die nächste Ausgabe ab, der Fall ist geklärt. Übermorgen kräht danach kein Hahn mehr.«

»Schon möglich«, blieb ich vage, bedankte mich und legte auf. Betty hatte mich die ganze Zeit über unverwandt angestarrt. Offenbar fand sie im Moment nichts bedeutender als die Tatsache, dass Cray­don dem Iceman in die Quere gekommen war - und dass sie das in Erfahrung gebracht hatte.

»Vielleicht eine Information, die noch hilfreich sein wird«, ließ ich ihr endlich die erhoffte Antwort zukommen, wenn auch nicht so eu­phorisch, wie sie wohl erwartete. Ich nahm den Zettel mit der Adresse von Brendon an mich und stand auf.

Betty ebenfalls. Die Hände in ihre etwas fülligen Hüften gestemmt, funkelte sie mich wütend an. »Und das ist alles? Mehr haben Sie dazu nicht zu sagen?«

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»Im Moment nicht. Falls jemand anruft...« »Dann interessiert mich das nicht mehr!«, beendete sie empört

meinen Satz. »Weil ich jetzt gehe!« Ich verließ das Büro aber noch schneller als sie.

*

Die Villa befand sich in einer der noblen, stillen Straßen, die vom nörd­lichen Lake Shore Drive abgingen. Die meisten Häuser imitierten den englischen Stil und waren von riesigen Gärten umgeben, in denen je­der einzelne Grashalm genau wusste, wie er zu wachsen hatte. Ein ge­wundener Kiesweg führte zum Haus, vorbei an sorgsam gepflegten Blumenrabatten. Jeder einzelne Strauch sah aus, als würde er regel­mäßig mit einem Staubwedel bearbeitet.

Das Haus machte einen abweisenden Eindruck, die Fenster im Erdgeschoss waren mit stabilen Gittern gesichert. Ich klingelte und musste ziemlich lange warten.

Dann öffnete eine junge Schwarze, eine blütenweiße Rüschen­schürze über dem dunkelblauen Kleid. »Sie wünschen?«

»Ich würde gern die Frau des Hauses sprechen. Hat Mistress Coldrich zufällig Zeit?«

Erst stutzte das Mädchen, dann kicherte sie. »Aber die lebt doch schon lange nicht mehr hier! Wissen Sie das nicht?«

Anscheinend war sie nicht gerade überlastet mit Arbeit und redete gern. Es wäre leichtsinnig gewesen, das nicht auszunützen. »Nein, das wusste ich nicht«, gab ich zu. »Es ist lange her, dass ich...« Ich be­endete den Satz nicht.

»Die Missus ist schon seit zwei Jahren fort«, vertraute mir das Mädchen grinsend an. »War besser so, es gab dauernd Streit.« Sie kicherte.

»Und die Kinder?«, unternahm ich einen weiteren Vorstoß. »Das wissen Sie auch nicht?« Überrascht riss sie die Augen auf.

»Die Missus konnte doch keine Kinder bekommen. Na ja, das hat der Doktor immer gesagt. Sie war da anderer Meinung.« Nun wurde sie verlegen.

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»Andere Frauen?«, hakte ich nach. Die Kleine senkte den Kopf. »Männer sind so«, murmelte sie.

»Und wo der Doktor doch immer so viel gearbeitet hat... Und die Mis­sus war immer so ernst. Das hat ihm natürlich keinen Spaß gemacht.« Ein flüchtiges Grinsen huschte über ihr Gesicht.

»Grace, mit wem reden Sie denn da?«, erklang hinter ihr eine männliche Stimme. Gleich darauf erschien ein älterer Mann, der so aussah, dass man in ihm auf den ersten Blick den Butler erkannte. »Wir empfangen heute keine Besucher«, ließ er mich dann würdevoll wissen.

Das Mädchen huschte ins Haus zurück. »Ja, das hab ich schon gehört«, bestätigte ich. »Da kann man

nichts machen.« Ich wandte mich zum Gehen und spürte, wie der But­ler mir misstrauisch hinterher schaute.

Wenn der gute Doktor tot war und seine Frau getrennt von ihm lebte, stand das riesige Haus also leer. Aber vielleicht würde die Witwe ja bald wieder zurückkommen, wo sie sich nun nicht mehr über die sexuellen Vorlieben ihres Mannes aufregen musste? Den Andeutungen des Hausmädchens glaubte ich entnehmen zu können, dass es nicht einfach nur um eine Geliebte ging. Das wäre nichts als standesgemäß gewesen und Mrs. Coldrich ziemlich blauäugig, daraus eine große Ge­schichte zu machen. Und war es nicht auch auffallend, dass die kleine Schwarze so großes Verständnis für ihren Chef zum Ausdruck gebracht hatte? Dabei war der tot und sie musste aller Wahrscheinlichkeit nach bald für seine Witwe arbeiten. Die Schwatzhaftigkeit der Kleinen war obendrein ungewöhnlich und irgendwie war mir das alles zu vertraulich gewesen. Beinahe schon plump. Hatte der Doktor so etwas geduldet? Oder war es ihm einfach egal gewesen?

Mit der Rückfahrt in die Innenstadt ließ ich mir Zeit. Ich dachte darüber nach, was Coldrich von den anderen Toten unterschied. Denn nur er war der Sonderbehandlung mit der Salzlösung unterzogen wor­den. Gehörte er überhaupt zu dieser Serie von Toten? Die anderen drei waren zwar mit demselben Muster im Gesicht wie er versehen worden, aber man hatte sie nicht gefoltert zuvor. Irgendwas musste

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da an diesem Doc doch besonders gewesen sein. Etwas, das auch Hol­lyfield nicht wusste - oder nicht wissen wollte?

Fest stand immerhin eines - Coldrich war ja wohl tatsächlich in je­ner Garage gewesen. Aber wie war er dort hingekommen? Sollte er etwa einmal wie ich um das Haus geschlichen und dann in jener Grube gelandet sein? Was um alles in der Welt könnte ihn dazu bewogen haben?

Ich hätte viel darum gegeben, mal ein halbes Stündchen mit Do­reen alias Sarah reden zu können, ungestört natürlich. Sie hatte mir Geld zugesteckt - war das nicht wie eine indirekte Auftragserteilung? Und hatte ich sonst überhaupt noch einen Auftrag, nachdem Craydon mich gebeten hatte, nichts mehr zu unternehmen?

Blieb natürlich das Problem, dass Hollyfield mich nicht mit seiner Hauptverdächtigen allein reden lassen würde. Es sei denn, mir fiel da was ein.

Und irgendwie kam bei dieser undurchsichtigen Angelegenheit ja auch noch der Iceman ins Spiel - was Hollyfields Interesse an einem Bauernopfer nur zu gut erklären würde, wo er doch auf derselben Ge­haltsliste stand. Aber solange mein Magen so laut knurrte wie jetzt, würde mir zu alldem sowieso nichts einfallen. Kein Wunder, andere Leute hatten jetzt längst schon zu Mittag gegessen. Ich beschloss, das nun erst einmal nachzuholen und dann anschließend weiter zu sehen.

*

Dass ich Brendon um diese Stunde noch in Henry's Steak Diner antraf, überraschte mich.

»Ich hab demnächst eine Verabredung mit Big Martin«, erklärte er mir. »Da lohnt es sich einfach nicht mehr, vorher noch mal in die Re­daktion zu gehen.«

»Und wer ist Big Martin?«, fragte ich. Brendon verdrehte die Augen angesichts meiner Unwissenheit.

»Der zukünftige Meister im Mittelgewicht. Junge, das ist nun aber wirklich 'ne Bildungslücke!« Er hatte schon gegessen, aber eine gefüll­te Tasse stand vor ihm.

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Ich gab meine Bestellung auf, während Brendon mir von dem Bo­xer vorschwärmte. Nachdem der Kellner mir meinen Whiskey gebracht hatte, unterbrach ich ihn. »Und was redet man bei euch in der Redak­tion über die neue Wendung in der Mordserie? Ich vermute mal, in der Zeitung steht weniger, als deine Kollegen wissen.«

Brendon paffte an seiner Zigarre und grinste. »Wenn du mich fragst, das ist ganz schön verrückt. Ich jedenfalls hab es noch nie er­lebt, dass so viel über eine Schwarze geredet wird. Und dann noch über so eine!«

»Was meinst du damit?« »Die Polizei will das aus irgendeinem Grund nicht an die große

Glocke hängen«, fuhr Brendon fort. »Aber es scheint doch festzuste­hen, dass sie ihre Entführung wirklich nur inszeniert hat. Und zwar um die Jungs von der Band zu erpressen. Die scheinen ihre Starsängerin nicht gerade nett behandelt zu haben. Deswegen wollte sie eben auf diese Weise an ihr Geld kommen.«

Dass die Polizei sich hierfür nicht weiter interessierte, erstaunte mich nicht. Das war ja nur ein Problem unter Schwarzen. Im Übrigen fiel Erpressung ja kaum mehr ins Gewicht, wo man Sarah Cunnings nun gleich vier Morde anlastete.

»Du kannst ja sagen, was du willst.« Brendon zwinkerte mir zu. »Aber mir sind diese Schwarzen doch einfach unheimlich. Diese Sän­gerin zum Beispiel - ich würd ja wirklich gern wissen, mit welchem ma­gischen Krimskrams sie diese Männer in ihre Gewalt gebracht hat. Oh­ne ein bisschen Hokuspokus war das doch nie und nimmer möglich! Ich meine, wo sie das alles anscheinend ja ganz allein gemacht hat...«

Brendon sprach nur aus, was bestimmt die Mehrheit dachte. Auch in unseren angeblich so aufgeklärten Zeiten ging man ganz selbstver­ständlich davon aus, dass Schwarze sich auf allerlei Zauberkunststücke verständen. Und war das in diesem Fall nicht auch außerordentlich praktisch? Nur mit übernatürlichen Kräften war schließlich zu erklären, dass eine Frau gleich vier Männer auf dem Gewissen haben sollte, oh­ne jeden Helfer. Wo sogar Hollyfield diesem Erklärungsmuster zu fol­gen schien, konnte ich es Brendon nicht verübeln, wenn er dasselbe tat.

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Aber fantastisch war es doch, was man dieser Frau alles zutraute und zwar in solch einem Ausmaß fantastisch, dass sich bei mir fast au­tomatisch der Reflex einstellte, diese Erklärung anzuzweifeln. In Glau­bensfragen bin ich nun mal immer ein Skeptiker gewesen.

»Nur gut, dass sie diese Hexe aus dem Verkehr gezogen haben«, meinte Brendon. »Und spätestens nächste Woche wird man über Leu­te wie diese Cunnings dann auch nicht mehr so viel Gedöns machen. Als gäbe es kein anderes Thema mehr! Big Martin zum Beispiel und der Kampf am Wochenende...«

Brendon konnte nun mal nicht aus seiner Haut. Was nicht mit Sport zu tun hatte, interessierte ihn so wenig wie mich zum Beispiel die Auswirkungen der derzeitigen Hitzeperiode auf die Trinkwasserver­sorgung. Aber zur Abwechslung fand auch ich mal ein anderes Thema ganz nett und Brendon schilderte obendrein sehr anschaulich, wie der bevorstehende Boxkampf seiner Meinung nach ausgehen würde. Und natürlich regte es ihn mächtig auf, dass es anscheinend einige Leute gab, die seinem Schützling unterstellten, nicht unbedingt zum Siegen entschlossen zu sein.

»Aber einer wie Big Martin lässt sich auf keine Schiebung ein, der ist nicht käuflich!« Energisch stellte Brendon sein inzwischen leeres Glas auf dem Tisch ab. »Lies morgen meinen Artikel. Da wird nichts mehr von so einem Verdacht übrig sein!« Er winkte nach dem Kellner. »So, nun muss ich los. Einen wie Big Martin lässt man nicht warten.«

Während Brendon zahlte und eilig aufbrach, bat ich noch einmal um Nachschub für meine Tasse. Es hatte sich als nützlich erwiesen, meinen grauen Zellen mit dem Palaver über den Boxkampf etwas Ab­lenkung zu bieten. Der Whiskey erwies sich zusätzlich als anregend. Jedenfalls erschien es mir als gute Idee, heute nicht mehr im Büro vorbeizuschauen, sondern mich bei Dunky etwas umzuhören. Brendon hatte ja Recht, überall wurde an diesem Tag über die schwarze Serien­mörderin gesprochen. Da wäre es direkt seltsam gewesen, wenn Dun­ky nicht ein paar Dinge zu Ohren gekommen wären, die für mich inte­ressant sein könnten.

Ich wandte mich in aller Ruhe dem Inhalt meiner Tasse zu und der aufmerksame Kellner eilte sofort herbei, als sie leer war. Aber ich

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winkte ab und bat um die Rechnung. Den nächsten Bourbon würde ich mir von Dunky servieren lassen.

*

»Falls es dich noch immer interessiert, wonach du mich neulich gefragt hast...« Dunky kam kaum nach mit dem Füllen der Gläser, so gut be­sucht war sein Laden. Aber jetzt schien er sich doch Zeit für mich nehmen zu wollen.

Ich wusste sofort, worauf er anspielte. Denn wie erwartet, wurde auch hier überall lebhaft über die schwarze Mörderin weißer Männer geredet. Und wo das Thema nun in aller Munde war, fand auch Dunky nichts mehr dabei.

»An 'ner Absteige wirst du ja wohl nicht interessiert sein.« Treu­herzig grinste er mich an. »Aber mir ist da was zu Ohren gekommen. Ein richtiger Edelschuppen. In dem Etablissement verkehren angeblich allerhöchste Kreise.« Sein Grinsen verbreiterte sich. »Na ja, auch Kli­nikchefs kriegen zu Hause eben nicht immer, was sie wollen. Und man sagt ja den Schwarzen so einiges nach. Manche finden das reizvoll und...«

»Wo?«, unterbrach ich den ungewohnt redseligen Wirt. Ich be­fürchtete, dass er sich gleich wieder neuen Gästen zuwenden würde und länger als auf ein Glas wollte ich nicht hier bleiben.

»So eilig ist das?« Dunky kicherte, nannte mir dann aber eine Ad­resse auf der South-Side.

Das war ganz in der Nähe des Lee Side Club, überlegte ich, einem Nachtclub der gehobenen Klasse. Die Nachmittagsstunde müsste ein günstiger Zeitpunkt sein, um mich dort vielleicht etwas umzuhören. Ich zahlte und als ich auf die Straße hinaustrat, hatte ich das Gefühl, in einen Backofen geraten zu sein. Flirrend hing die Luft über einem Asphalt, der stellenweise schon Blasen warf.

Die Adresse fand ich ohne Mühe. Es gab eine Klingel an der blank polierten Tür und ich musste nicht lange warten, bis geöffnet wurde. Es war ein Weißer, er trug eine Livree wie ein Page in einem Hotel. Auch gab es eine Art Rezeption, an der eine Frau saß. Auch sie war

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weiß und so elegant, als säße sie im Vorzimmer eines Industriemagna­ten. Freundlich, aber kühl sprach sie mich an. »Womit kann ich Ihnen dienen?«

»Tja, das ist nicht ganz einfach«, setzte ich an und hoffte, mir würde die Story, die ich mir auf der Fahrt hierher ausgedacht hatte, halbwegs überzeugend über die Lippen kommen. »Ich kann doch auf Ihre Diskretion setzen?«

»Aber selbstverständlich.« Ihre Mundwinkel zuckten leicht pikiert. »Das ist nämlich so«, fuhr ich fort. »Mein Onkel war eine Art

Stammgast bei Ihnen. Er wollte mich immer mal mitnehmen. Nun ist es dafür leider zu spät.« Das war die Stelle, an der ich seufzen musste. »Der Name Coldrich sagt Ihnen doch etwas?«

»Aber ja!« Die Lady drückte ihren Rücken noch etwas mehr durch und brachte einen gemäßigt bekümmerten Ausdruck in ihr Gesicht. »Mein Beileid.«

Ich nickte. Nun musste ich zur Sache kommen. Ich tat so, als sei mir das etwas peinlich. »Arbeitet die Frau noch bei Ihnen, die mein Onkel besucht hat?«

»Bedaure, leider nicht mehr«, erwiderte sie. Aber anscheinend lie­fen die Geschäfte nicht so gut, dass sie auf einen neuen Kunden ver­zichten wollte. »Aber vielleicht eine Frau, die sie gut gekannt hat?« Nun geriet doch etwas Anbiederndes in ihren Blick, an dem man die Puffmutter unschwer erkannte.

»Ja, warum nicht«, stimmte ich nach genau berechnetem Zögern zu.

Sie nannte eine Summe, bei der mich ein Frösteln überlief. Aber um diese Investition kam ich wohl nicht herum. Sie ließ die zwanzig Dollar sofort sehr diskret verschwinden und rief dann den Livrierten herbei, der mich nach oben führte.

Dicke Teppiche, Kristalllüster, riesige Blumensträuße - auch hier war alles so gediegen und elegant wie in einem Luxushotel.

»Miss Sunshine erwartet Sie.« Der Livrierte klopfte an eine Tür und zog sich zurück.

Hinter dieser Tür sah es nun doch aus wie in einem Bordell. Roter Samt auf dem Bett, sogar an den Wänden. Die Schwarze saß vor ei­

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nem Spiegel. Sobald sie sich mir zuwandte, erkannte ich sie - es war die Kleine vom Butterfly. Da hatte sie ja richtig Karriere gemacht!

Auch sie erkannte mich gleich und ihrer Mimik war nicht so genau zu entnehmen, ob sie darüber erschrak oder erleichtert war.

»Ich will nur mit Ihnen reden«, begrüßte ich sie. Sie nickte und griff nach einer Stola. Für ein Gespräch brauchte

sie ja nicht in der Unterwäsche vor mir zu sitzen. »Wegen Doreen?« »Wie gut kennen Sie sie?«, fragte ich. »Ziemlich gut«, erwiderte Sunshine. »Sie hat mir anfangs gehol­

fen. Wie vielen von uns.« »Und sie hat mal hier gearbeitet?« »Ja, aber das liegt schon bald ein Jahr zurück.« Sunshine seufzte.

»Aber Doreen vergisst nichts. Daran hat auch ihre Karriere als Sän­gerin nichts geändert.«

»Was zum Beispiel vergisst sie nicht?«, hakte ich nach und setzte mich auf einen Stuhl mit lächerlich gedrechselten Beinen. Als Sunshine nach einer Zigarette griff, gab ich ihr Feuer.

»Jetzt ist es doch zu spät«, murmelte sie. »Sie haben Doreen ver­haftet. Und ich will nicht, dass mir dasselbe passiert. Bin froh, dass ich jetzt hier arbeiten kann.«

»Sagt Ihnen der Namen Coldrich etwas?«, versuchte ich auf ande­rem Weg mein Glück.

»Klar. Das war einer der Schlimmsten.« Es war ihr nur so he­rausgerutscht, nun kaute sie auf der Unterlippe herum.

»Und deshalb hat sie ihn umgebracht?«, kam ich auf den Punkt. Sunshine stieß ein schrilles Lachen aus. »Vielleicht hätte sie das ja

wirklich tun sollen. Aber darum ging es ihr gar nicht. Er hat einfach keine Ruhe gegeben. Obwohl Doreen das gar nicht mehr nötig hatte. Aber pervers, wie er war... Sie wollte ihm nur einen Denkzettel er­teilen.«

»Mit Hilfe einer Salzlösung?«, vermutete ich. Sunshine nickte, wobei sie es vermied, mich anzusehen. »Den

Rest haben dann andere erledigt. Wie bei den anderen drei Männern auch. Aber es ist natürlich leicht, nun alles Doreen in die Schuhe zu schieben.« Sie straffte sich. »Das hat sie nicht verdient. Aber wen inte­

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ressiert das schon?« Sie wies auf eine Zeitung, die auf dem Schmink­tisch lag. »Wozu überhaupt noch ein Prozess? Das Urteil steht doch schon längst fest. Und keinen interessiert es, was man Doreen alles angetan hat.« Sie schluckte. »Wenn Sie sie sehen, grüßen Sie Doreen von mir?«

Abwiegelnd hob ich die Hände. Wieder einmal überschätzte sie mich. »Ich glaube nicht, dass es dazu kommt. Aber falls doch...« Ich beließ es bei diesem vagen Versprechen. »Und wie ist das mit den Leuten von der Band?«

Die Frage erschreckte sie. »Dazu sag ich nichts. Denn wenn ich je­mals hier raus will...«

Ich erriet, was sie nicht aussprach. Wenn überhaupt, dann führte für sie der Weg hier heraus über eine Karriere als Sängerin, genau wie wohl zuvor schon für Doreen. Ich konnte ihr nicht zumuten, sich diese Chance zu vermasseln und so stand ich auf. »Wie viel von dem, was ich der Dame unten gegeben habe, bekommen eigentlich Sie?«, fragte ich noch, rein interessehalber.

Sunshine hatte ein müdes Lächeln für mich. »Das ist Geschäftsge­heimnis.«

Mehr war ihr nicht zu entlocken und so schloss ich gleich darauf die Tür von draußen.

»Ich hoffe, Sie waren zufrieden?«, empfing mich die Lady unten. »Wir hätten da auch noch andere Spezialitäten anzubieten, beim nächsten Mal vielleicht?«

Ich deutete nickend so etwas wie Zustimmung an und verließ das Etablissement, noch bevor der Livrierte zur Stelle war.

*

Am nächsten Tag bestimmte wieder einmal Hollyfield die Schlagzeilen der Zeitungen. Aber was er für Ermittlungsergebnisse hielt oder doch zumindest als solche verkaufte, brachte mich fast zum Lachen.

»Jetzt wird aufgeräumt im schwarzen Sumpf«, wurde der Leiter der Mordkommission zitiert. »Auch bei denen wird nur mit Wasser ge­

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kocht. Und ohne die Unterstützung gewisser irischer Kreise hätte die schwarze Hexe ihr Unwesen nicht so lange treiben können...«

Es war wirklich lachhaft. Ganz unverhohlen spielte Hollyfield auf Kirk Melcalve an, die rechte Hand von Sean ›The Jar‹ O'Malley. Und wenn Hollyfield sich traute, das irische Syndikat in diesem Zusammen­hang zu nennen, dann konnte es dafür nur einen Grund geben - das Konkurrenzunternehmen der Italiener hatte ein Interesse daran. Of­fenbar setzte Hollyfield darauf, gleich zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Seine schwarze Hauptverdächtige sollte das Kittchen nie wieder verlassen und Il Cardinale sollte seine Claims im Rauschgiftge­schäft unbeeinträchtigt von The Jar erweitern können. Es musste um viel Geld gehen, denn würde Hollyfield sich sonst so weit aus dem Fenster lehnen?

»Die schwarze Hexe«, behauptete Hollyfield, »hat die Männer an­gelockt. Der Rest wurde dann von anderen erledigt. Gesichter wie durchlöcherte Siebe, die Handschrift ist eindeutig!«

Wieso fiel ihm das eigentlich erst jetzt auf? Was für ein lächerlich durchschaubares Spiel! Zumindest wenn man wie ich ein paar Infor­mationen mehr hatte...

Als ich im Büro eintraf, erwatete mich dort eine Überraschung. Betty war bereits da und sie unterhielt sich angeregt - mit Charles Craydon. Sein Auge schillerte noch immer in allen Farben des Regen­bogens und noch immer trug er den Arm in einer Schlinge.

»Guten Morgen, Mister Connor«, begrüßte er mich höflich und stand dabei auf.

Ich verbarg nicht, wie überrascht ich war. »Ich hatte gedacht, Sie wären längst wieder zu Hause auf den Baumwollfeldern.«

Er lächelte nicht über den Witz. Vermutlich war er ja auch nur mä­ßig komisch. »Ich gebe es zu, die Verlockung war groß. Eine wirkliche Anfechtung. Aber ich habe ihr widerstanden.« Er streckte sich etwas.

»Er hat 'ne richtige Musikschule da unten in New Orleans!«, warf Betty aufgeregt ein. »Ein Direktor!«

»Sollen sie mich eben noch mal zusammenschlagen«, fuhr Cray­don fort. »Und Doreen ist einfach zu talentiert, um den Rest ihres Le­bens im Gefängnis zu verbringen.«

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Der Mann schien tatsächlich ein paar Zentimeter an Größe zu ge­winnen, während er so energisch sprach.

»Sie wollen, dass ich wieder für Sie arbeite?«, fragte ich stirnrun­zelnd. »Obwohl Sie jetzt wissen, wo sich Sarah alias Doreen aufhält? Ich nehme doch an, Sie haben in den letzten Tagen die Zeitung gele­sen. Da musste Ihnen doch klar sein, dass mir die Hände gebunden sind.«

»Ihnen vielleicht schon. Aber nicht mir. Jetzt, wo ich endlich weiß, wo sie ist. Und dass sie es tatsächlich fast schon geschafft hat.«

Allmählich übertrieb er es doch etwas mit seinem Selbstbewusst­sein. Ich setzte mich erst einmal. »Und wieso sind Sie dann hier?«

»Weil ich tatsächlich gern Ihre Hilfe hätte. Sie haben doch be­stimmt eine Waffe?«

»Auftragsmorde fallen nicht in mein Metier«, ließ ich ihn wissen. Ich wurde schlicht und einfach nicht schlau aus ihm. War das noch das verängstigte Männchen aus dem Heim christlicher junger Männer?

»Aber Chef!«, rief Betty mir tadelnd zu. Sie bewies mal wieder ab­solut keinen Sinn für Humor.

Craydon jedoch blieb ganz gelassen. »Ich muss unbedingt mit dem Leiter der Mordkommission sprechen. Aber ich hab so das Gefühl, es könnte gefährlich sein, wenn ich allein und unbewaffnet zu ihm gehe. Ich bitte Sie um nichts weiter als um Begleitschutz. Das fällt doch in Ihr Metier? Und selbstverständlich zahle ich dafür.«

Ganz plötzlich befanden sich mindestens drei Jacksons in seinen Händen. Er hielt sie zusammengerollt, sodass ich das nicht so genau sehen konnte. Aber es waren mindestens drei mal zwanzig Dollar. Nur dafür, dass ich ihn zu Hollyfield brachte? Das konnte er gern haben!

Trotzdem ließ ich mir Zeit. »Was wollen Sie beim Leiter der Mord­kommission? Der ist derzeit ziemlich beschäftigt.«

»Das würde ich Ihnen gern unter vier Augen sagen.« Er lächelte Betty höflich zu. »Nicht, dass ich Ihnen misstraue, Miss, ganz be­stimmt nicht! Aber sicher ist sicher. Manche Dinge vertragen nicht mehr als vier Augen.« Er wandte sich wieder mir zu. »Wie ist das nun, können wir gehen?« Er stand schon auf, die Prothese am Fuß, den

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Arm in der Schlinge, das Auge lädiert. Aber all das schien seinem Selbstbewusstsein nichts anzuhaben.

»Nun machen Sie schon, Chef!«, drängte mich Betty. Dabei hatte Craydon doch eben noch ihre Anwesenheit als störend empfunden! Nahm sie es ihm deswegen nicht krumm, weil sie für den Titel eines Direktors so empfänglich war? »Und vergessen Sie Ihre Waffe nicht!«, erinnerte sie mich noch zusätzlich.

So erhob ich mich also. »Gehen Sie besser mal davon aus, dass Hollyfield heute keine Zeit für Sie hat!«, warnte ich Craydon und griff nach meinem Smith & Wesson.

»Nun, das werden wir sehen.« Craydon lächelte sanft. »Wie Ihre Sekretärin ja schon gesagt hat, ganz ohne Einfluss bin ich in der Tat nicht. Auch wenn das nicht jeder in dieser Stadt weiß.« Schon wieder schien er ein paar Zentimeter zu wachsen.

»Gut, dann gehen wir also. Es ist schließlich Ihr Geld und dem­nach auch Ihre Sache, was Sie damit tun.« Ich hielt ihm die Tür auf und ließ ihm auch auf der Treppe den Vortritt.

Als er dann neben mir im Plymouth saß, sah ich keinen Grund mehr für seine Geheimnistuerei. »Jetzt sind wir unter vier Augen. Was wollen Sie bei Hollyfield?«

»Doreen helfen natürlich.« Wieder spielte dieses sanfte Lächeln um seine Lippen, das ihn aussehen ließ wie einen Hilfsprediger.

Ich lachte. Er war eben doch ein Provinzler. »Und wie wollen Sie das tun?«

»Ganz einfach. Ich werde ihr ein Alibi geben.« Er lehnte sich ganz entspannt zurück. »Ich werde aussagen, dass ich zum Zeitpunkt der Morde bei ihr war. Und mit ihr geübt habe.«

Für wen hielt dieser Mann sich? Konnte man so naiv sein? Fas­sungslos sah ich ihn an. »Und wieso sollte Hollyfield Ihnen das ab­nehmen?«

Er blieb gelassen. »Seit gestern hält sich im Rahmen einer Dienst­reise der Polizeipräsident von New Orleans in Chicago auf. Ich bin zu­fällig ganz gut befreundet mit ihm.«

Unwillkürlich stieß ich einen Pfiff aus. Dass Craydon es verstand, auf so einer Klaviatur zu spielen, hätte ich ihm nun wirklich nicht zuge­

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traut. »Aber es stimmt nicht. Sie wären wirklich zu einer Lüge bereit?« Ich war gespannt auf seine Antwort.

Er seufzte erst einmal. »Ja, ich habe lange mit mir gerungen. Es ist eine Lüge. Aber hat Doreen anders denn eine Chance? Was immer sie getan haben mag, eines weiß ich ganz sicher: Eine Mörderin ist sie nicht. Alles andere werde ich mit dem da oben schon regeln.« Er wies mit dem Daumen nach oben, zu einem Himmel, der schon jetzt am Vormittag ganz grau vor Hitze war. »Fahren wir nun?«

Ich startete, spürte, wie mir der Revolver schon bald am Hemd klebte und schaute während der Fahrt häufiger als sonst in den Rück­spiegel. Aber anscheinend folgte uns niemand, Craydons Befürchtun­gen in dieser Hinsicht waren wohl überflüssig.

Bei der nächsten Kreuzung allerdings änderte ich meine Meinung. Zum Glück sah ich rechtzeitig, wie schnell der dunkle Wagen auf uns zuraste. »Kopf runter, soweit es nur geht!«, schrie ich Craydon zu.

Der dunkle Wagen schoss an uns vorbei, ohne auf den Verkehr zu achten. Die Kugel kam von links, durchs geöffnete Fenster. Ich ver­spürte einen leisen Luftzug, nur ein paar Zentimeter über meinem Kopf. Gleich darauf verließ die Kugel den Wagen wieder, auch das Fenster auf Craydons Seite war ja heruntergekurbelt. Ein Betonpfeiler am Straßenrand stoppte sie endlich.

»Alles in Ordnung?« Vorsichtshalber richtete ich mich noch nicht auf.

»Alles bestens«, versicherte Craydon. »Anscheinend hat ja nicht mal Ihr Wagen einen Kratzer abgekriegt. Wenn, dann hätte ich das selbstverständlich bezahlt.« Auch jetzt war er die Ruhe selbst. Oder war das einfach nur das Phlegma des Südstaatlers?

Ich steckte mir erst einmal eine Lucky an, bevor ich weiterfuhr. Und ich sagte mir, dass das wohl nur eine Warnung hatte sein sollen. Sonst hätten wir mehr als eine Kugel abgekriegt. Und wer konnte schon wissen, ob jede davon so problemlos den Weg durch die geöff­neten Fenster gefunden hätte?

Craydon schien diese Möglichkeit keine Sekunde lang in den Sinn zu kommen. Er summte leise vor sich hin und seine feingliedrigen Hän­de spielten auf seinen Oberschenkeln Klavier.

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*

Craydons Bekanntschaft mit dem Polizeichef von New Orleans hatte die Folge, dass der Pförtner auf dem Präsidium uns beflissen grüßte, Craydon sogar mit seinem Namen ansprach und uns bereitwillig pas­sieren ließ. Craydon schien das nur selbstverständlich zu finden.

Aber damit war noch nicht viel erreicht. In Hollyfields Vorzimmer empfing uns außer der Sekretärin ein äußerst übel gelaunter Quirrer - klar, was sein Vorgesetzter da über die Iren in die Welt gesetzt hatte, konnte Quirrer nicht recht sein. Es war ein offenes Geheimnis, dass er auf der Gehaltsliste der anderen Seite stand. Das Betriebsklima war demnach erheblich gestört und Quirrer nützte die Gelegenheit, das an Craydon und mir auszulassen.

»Draußen warten!«, knurrte er. »Vielleicht hat der Chef später für Sie Zeit.«

»Es ist aber dringend.« Ich ignorierte Quirrer mit seinem überheb­lichen Grinsen und wandte mich an Hollyfields Sekretärin. »Ob Sie uns bitte anmelden würden?«

»Das werden Sie nicht!« Quirrer entblödete sich tatsächlich, sich breitbeinig und mit vor der Brust gekreuzten Händen vor der Tür zu Hollyfields Zimmer aufzupflanzen.

Auf die Quittung musste er nicht lange warten. Hollyfield öffnete die Tür ziemlich energisch und stieß sie Quirrer in den Rücken. Wäh­rend er auf jaulte vor Schmerz, raunzte Hollyfield ihn ungnädig an. »Wieso spielen Sie hier den Panzerschrank? Haben Sie nichts zu tun?«

»Danke, Mister Connor«, flüsterte Craydon mir indessen zu. »Ich denke, jetzt brauche ich Sie nicht mehr. Das Gespräch mit Hollyfield führe ich besser allein.«

Ich war sofort einverstanden. Man wusste ja nie, wie die Dinge sich noch entwickelten und es war mir eindeutig lieber, nicht anwe­send zu sein, wenn Craydon seiner einstigen Schülerin ein falsches Alibi gab. Denn die oberste Regel in dieser Stadt lautete bekanntlich, nichts zu wissen, was einen nicht unbedingt anging. Und Hollyfield

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gegenüber konnte es möglicherweise ein Trumpf sein, wenn er nicht wusste, über welche Informationen ich verfügte.

»Ich warte unten in der Eingangshalle auf Sie«, schlug ich ihm vor. Denn natürlich interessierte es mich, wie diese Unterredung aus­ging. Und sofern ich Craydons Schützling als meine Mandantin be­trachtete, hatte ich ja wohl auch einigen Anspruch darauf.

Das Gespräch währte nicht sehr lange. Ich hatte höchstens drei Luckys in Rauch aufgehen lassen, als Craydon wieder erschien. Er wirkte rundum zufrieden, was ihn unter all den mürrischen Leuten hier doch zu einer ziemlich auffallenden Erscheinung machte.

»Es ist noch früh am Tag. Aber was halten Sie davon, wenn wir jetzt etwas trinken gehen?« Er blieb bei mir stehen.

Wieder einmal überraschte mich dieser Mann. Entweder war er gar nicht so fromm, wie ich immer geglaubt hatte, oder er hatte mit seinem Gott ein ziemlich günstiges Arrangement getroffen. Aber natür­lich war ich einverstanden und führte ihn in eine nahe Kneipe.

»In drei Stunden fährt mein Zug«, erzählte er mir. »Ich bin wirk­lich froh, diese Stadt wieder verlassen zu können. Das hier ist einfach nichts für mich.«

Wollte er denn gar nicht mehr auf seine Doreen zu sprechen kommen? Ich half ein bisschen nach. »Was haben Sie denn nun er­reicht bei Hollyfield?«

»Für Doreen ist diese Stadt auch nicht gut«, erwiderte er und seufzte dabei. »Aber auch das wird ja nun bald ein Ende haben.«

»Sie konnten Hollyfield also von ihrer Unschuld überzeugen?« Der Inhalt in meinem Glas schmeckte überraschend gut. Craydon hatte bestellt, anscheinend verstand er ein bisschen was davon.

»Heute noch wird sie entlassen.« Er strahlte übers ganze Gesicht und prostete mir zu.

So ganz konnte ich seine Freude nicht teilen, zwei oder drei Dinge waren mir noch nicht so recht klar. »Die Jungs von der Band haben ziemlich schnell herausgekriegt, wo Doreen sich versteckt hielt?«

Craydon nickte. »Doreen kann singen. Aber für solche Dinge hat sie einfach kein Talent.«

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»Und dann hat man ihre stümperhaft inszenierte Entführung für andere Zwecke genützt?« Ich improvisierte einfach drauflos, indem ich alle möglichen losen Fäden miteinander verknüpfte. »Man hat ent­deckt, wie sie diese Garage präpariert hatte. Nicht, um dort Leute um­zubringen. Es ging ihr nur um den Doktor. Und der sollte nicht ster­ben, sondern einen Denkzettel bekommen. Aber die Gelegenheit war für gewisse Leute einfach zu günstig. Ein Kinderspiel, ihr nicht nur die Erpressung, sondern gleich auch noch ein paar Morde anzuhängen. Ich nehme mal an, der Herr Doktor war, wie die anderen drei ehrenwerten Herren auch, auf die Idee gekommen, ein bisschen im Rausch­giftgeschäft mitzumischen. Ohne sich klarzumachen, wie heiß die Kiste ist. Doreen hat es verständlicherweise nicht interessiert, was mit den Männern geschah. Ausgenommen natürlich der Herr Doktor, nur ihn hatte sie anlocken wollen.«

»Ehrlich gesagt, ich kann Ihnen nicht so ganz folgen.« Craydon lä­chelte mal wieder treuherzig.

Allerdings glaubte ich ihm inzwischen seine Harmlosigkeit nicht mehr. »Wollen Sie denn nicht noch hier bleiben, bis Doreen entlassen wird?«

Er schüttelte den Kopf. »Mehr kann ich nun wirklich nicht für sie tun. Es ist jetzt ja alles arrangiert. Sie braucht mich nicht mehr.« Er seufzte und führte sein Glas zum Mund. Und dann sagte er etwas, was mich noch einmal staunen ließ. »Sie wollte den Mann an der Stelle treffen, mit der er sie am meisten gepeinigt hat. Sie ist sensibel, wie sollte sie da diese schmierigen, lüsternen Blicke einfach so wegste­cken?«

Kurz darauf verabschiedete sich Craydon. Er wusste, dass Doreen kein Unschuldslamm war. Nach der Behandlung mit der Salzlösung wäre Coldrich auf jeden Fall ein blinder Mann gewesen. Doch ahnte Craydon wohl auch, dass Doreen gute Gründe hatte, um sich auf diese Weise zu rächen. Und dass Männer wie Coldrich sie nicht nur mit ihren Blicken gepeinigt hatten. Aber er war nun mal nicht der Mann, um diese hässlichen Dinge beim Namen zu nennen.

Jetzt blieb noch die Frage, wie weit mein Verständnis für die Lady reichte. Ich konnte aller Erfahrung nach davon ausgehen, dass die

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Ermittlungen wegen der Mordserie im Sand verlaufen würden, sobald Hollyfield die Schwarze freiließ - Hollyfield war nicht so dumm, die wahren Täter zu nennen.

Damit würde er nur seinen Kopf riskieren. Indem er versucht hat­te, Doreen Simmons alias Sarah Cunnings als Hauptverdächtige aufzu­bauen, hatte er immerhin guten Willen bewiesen und sein Möglichstes getan. Dass er bei den derzeitigen Rivalitäten im Rauschgiftgeschäft die Iren nicht wirklich ausschalten konnte, war garantiert auch den Italienern klar. Die würden sich wie üblich mit der Konkurrenz arran­gieren.

Und was bedeuteten schon vier unaufgeklärte Morde? Davon gab es mehr als genug in dieser Stadt, Hollyfield war daran genauso ge­wöhnt wie jeder andere.

Anders sähe die Sache natürlich aus, wenn Hollyfield Beweise in die Hand bekäme, dass tatsächlich Doreen hinter der Geschichte mit der Salzlösung steckte. In diesem Fall würde ihr, einer Schwarzen, ein niemals kurzer Prozess gemacht werden.

Doch war ich der Mann, um an dieser Stelle einzugreifen und Hol­lyfield einen Tipp zu geben?

Bei einem zweiten Glas wurde mir klar, dass dies absolut nicht notwendig war. Tatsächlich verspürte ich eine gewisse Achtung vor der Lady. Was war ihr schon anderes übrig geblieben angesichts der Ver­hältnisse, als selbst für ein bisschen ausgleichende Gerechtigkeit zu sorgen?

Als ich zahlen wollte, zeigte sich, dass Craydon das bereits erledigt hatte. Noch ein Pluspunkt für diesen Mann. In Gedanken wünschte ich ihm eine gute Heimfahrt.

Die nächsten Stunden vertrödelte ich. Betty hatte ihre Arbeitszeit schon beendet, als ich ins Büro zurückkam, um meine Waffe wieder in der Schublade zu deponieren. Dort lag sie eindeutig besser als auf meinen Rippen. Weil nichts zu tun war, ging ich bald wieder und fuhr eine Weile ziellos herum. Ich richtete es so ein, dass ich am Nachmit­tag am Untersuchungsgefängnis war.

Eine dunkle Limousine wartete davor. Es dauerte dann auch gar nicht lange, bis Doreen Simmons durch das große Tor trat - nein, nicht

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Doreen. Es war eindeutig Sarah Cunnings, die da das Gefängnis ver­ließ, ein Star, mit hoch erhobenem Haupt. Den verächtlichen Blick des Beamten mit dem großen Schlüsselbund ignorierte sie. Lächelnd kam sie auf mich zu.

»Schön, dass Sie hier sind. Dann kann ich mich ja noch bei Ihnen bedanken. Viel Zeit bleibt mir nicht mehr, heute Abend schon schiffe ich mich ein.«

»Und wohin geht die Reise?«, erkundigte ich mich. Ich musste zu­geben, dass mir diese Frau gar nicht übel gefiel. Dennoch war ich froh, dass sonst kein Mensch unterwegs war. Ein Weißer im Gespräch mit einer Schwarzen, mitten auf der Straße - wann kam so was schon vor.

»Nach Paris!« Ihre Augen begannen zu leuchten. »Der gute Charles hat alles arrangiert. Und auch für die nötigen Kontakte ge­sorgt. Also, halten Sie mir die Daumen! Mit etwas Glück hören Sie noch von mir!«

Als sie in die wartende Limousine einstieg, hielt mit quietschenden Reifen ein Polizeiauto an. Hollyfield zwängte sich heraus. Er war nicht gut gelaunt und schwitzte. Finster schaute er dem abfahrenden Wagen mit Sarah Cunnings hinterher, dann stapfte der Riese auf mich zu. »Wieso sind Sie hier? Wer hat Ihnen das denn schon wieder gesagt?«, raunzte er mich an. Nicht zum ersten Mal bewies er sich als schlechter Verlierer.

»Tja, wie eben manchmal der Zufall so spielt!« Ich grinste so breit wie unschuldig.

Hollyfield musterte mich grimmig. »Geben Sie es zu, Connor, Sie wissen mehr von der Dame als ich!«

»Dazu musste ich wissen, was Sie wissen«, blieb ich bei meinem lockeren Tonfall.

Hollyfields Kiefermuskeln mahlten und er ballte seine Pranken zu Fäusten. Einen Moment lang sah es fast so aus, als wolle er sich auf mich stürzen. Doch er besann sich. »Das werde ich mir jedenfalls mer­ken, Connor!«, raunzte er wütend. »Und beim nächsten Mal...« Die Worte gingen ihm aus.

»Beim nächsten Mal werden die Karten dann wieder neu ge­mischt«, war ich ihm behilflich. »Bis dann!«

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Page 83: Im Schatten des Ruhms

Ich ging und hörte, wie Hollyfield mir einen kräftigen Fluch hinter­herschickte. Er war geeignet, meine Stimmung noch etwas mehr an­zuheben.

Ende

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