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Im Schatten der Schlachthöfe

Date post: 04-Jan-2017
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Chicago Band 3

Im Schatten der Schlachthöfe

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Die wilden Zwanziger. In den USA herrscht Prohibition, doch eine ›tro­cken gelegte‹ Nation konsumiert mehr Alkohol als jemals zuvor. Für den Nachschub sorgen gut organisierte Gangsterbanden, gegen die die Polizei einen vergeblichen Kampf führt. Nicht zuletzt, weil auch sie oft mit am Alkoholschmuggel verdient. Die Sitten sind rau und ein Men­schenleben zählt wenig, wenn es um viele Dollars geht. Die Gangster­bosse unterhalten ihre Privatarmeen von Killern und leben selbst wie Könige.

In Chicago versucht der Privatdetektiv Pat Connor nicht zwischen die Fronten zu geraten und trotzdem der Gerechtigkeit Geltung zu ver­schaffen. Um aber in diesem Haifischbecken zu überleben, muss man selbst auch die Zähne zeigen.

*

Gut ausgeschlafen, wie ich an diesem Vormittag war, fand ich es mehr als schade, dass es im Büro rein gar nichts zu tun gab. Deshalb holte ich ein bisschen Däumchendrehen nach. Eigentlich war ich immer zu­frieden damit gewesen, dass mein Schreibtisch direkt vor dem Fenster stand. Vielleicht aus einem gewissen Sicherheitsbedürfnis heraus. Denn von dort aus hatte ich das ganze, nicht eben große Büro im Blick.

Aber an diesem Tag gefiel mir mein Platz nicht. Vielleicht lag es daran, dass der Schreibtisch links von mir verwaist war. Tja, Joe Bo­nadore saß da nicht mehr. Musste ich deshalb so oft dorthin starren? Ich überlegte, ob ich dort ein Foto von ihm aufstellen sollte. Joe, der Italiener wie aus dem Bilderbuch, Typ liebender Familienvater. Obwohl er es dazu ja gar nicht gebracht hatte. Doch das Gemüt dazu hatte er gehabt. Und all das passte erbärmlich schlecht dazu, wie mein Partner zuletzt ausgesehen hatte. Ich nahm mir vor, Betty zu fragen, was sie von einem Foto hielt.

Im Moment war Betty aber noch nicht da. Also starrte ich auch rechts von mir auf einen leeren Schreibtisch. Verdammt noch mal, war ich denn der Einzige, der ans Geldverdienen dachte? Ich nahm mir vor, Betty noch einmal darauf hinzuweisen, dass sie ihr Gehalt nicht fürs

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Nichtstun bekam. Wenigstens an ihrem Schreibtisch konnte sie ja wohl zu bestimmten Zeiten sitzen und zumindest den Anschein erwecken, als ob sie arbeitete.

Ich schloss das Fenster hinter mir und angelte mir eine Lucky. Beides zusammen müsste wohl ausreichen, um den unangenehmen Gestank zu vertreiben, der von draußen herein gezogen war. Der Wind kam an diesem Tag von Süden und wehte von den Schlachthöfen den Geruch des Todes herüber.

Bettys Ankunft kündigte sich durch ein schrilles Lachen an, das mich wünschen ließ, sie wäre doch lieber zu Hause geblieben. Konnte sie verdammt noch mal nicht still und unauffällig ihre Arbeit antreten?

»Setzen Sie sich bitte und dann kein Wort.« Ich schoss den Satz ab, sobald sich die Tür einen Spalt öffnete.

Aber wer so schrill lachte wie Betty, konnte ja nur taub sein. »Komm ruhig rein, Rudny. Er beißt nicht. Auch wenn er manchmal Ähnlichkeit mit einem Terrier hat.« Sie hielt das garantiert für einen Scherz und lachte gleich wieder.

Dann kam noch eine Frau rein. Sie war größer als Betty, nicht so mollig. Ihr Mantel hatte schon bessere Zeiten gesehen, ihr verbeulter Hut war vielleicht vor zehn Jahren der letzte Schrei gewesen und das rissige Leder ihrer Schuhe erinnerte an das Fell eines räudigen Hun­des. Dass ich dennoch meine Beine vom Schreibtisch nahm, lag an den Haaren, die unter dem Hut hervorquollen. Naturblond, nicht gefärbt wie bei Betty. Und die Beine in diesen Schuhen verschafften mir auf der Stelle einen trockenen Hals.

»Machen Sie mal Kaffee«, bellte ich zu Betty hinüber. »Wir müs­sen der Lady was anbieten.«

»Sie heißt Rudny«, verbesserte mich Betty. »Rudny Hurok. So je­denfalls lässt sich ihr Name aussprechen. Sie kommt nämlich aus Po­len. Und sie ist noch ziemlich neu in der Stadt, ich hab sie zufällig auf­gelesen, als ich... Ach, das erspare ich Ihnen. Rudny braucht Hilfe.«

Augenblicklich erlosch mein Interesse wieder. »Ich bin nicht von der Heilsarmee«, knurrte ich und dachte daran, dass es noch nie et­was eingebracht hatte, wenn Betty jemanden anschleppte, der ›Hilfe‹ brauchte. Und was nützten mir die schönsten Beine, wenn sie einer

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gehörten, die kaum das Geld für neue Strümpfe hatte. Ich sah, dass die von Rudny gestopft waren.

»Setz dich doch endlich, Schätzchen«, säuselte Betty der jungen Polin zu. »Er ist nicht so schlimm, wie er tut. Erzähle ihm einfach, wor­um es geht.«

Seit wann eigentlich bestimmte Betty, was in diesem Büro ge­schah? Dafür hätte ich ihr unter anderen Umständen die wasserstoff­blonden Haare gewaschen - ohne Shampoo, versteht sich. Doch bevor ich dazu kam, etwas in dieser Richtung zu tun, begann Rudny zu spre­chen. Mit rollendem R und mit heftigem Akzent. Aber mit was für einer Stimme! Ziemlich tief, unwillkürlich müsste ich an Samt denken. Mir wurde ziemlich heiß, denn sofort gingen mir ein paar Worte durch den Kopf, die ich diese Lady zu gern hätte aussprechen hören. Worte, die wirklich nicht hierher gehörten.

Das führte dazu, dass kaum in meine Gehörgänge geriet, was sie in Wirklichkeit sagte. Wobei das bisschen auch so genügte. Es war immer dieselbe Geschichte - in jeder Generation schwappten aufs Neue die berühmten Unglücklichen und Beladenen hierher, ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten, wo sie dann ganz schnell zwei Dinge zu begreifen hatten: Unbegrenzt war das Elend, das sie auch hier er­wartete und begrenzt waren die Möglichkeiten, dem zu entkommen. Die meisten hatten den Kopf voller Träume, aber nie im Leben eine Chance.

Nur weil Betty alles wiederholte, was diese Rudny da von sich gab, sickerte einiges doch in meine Hirnwindungen. Ihren Onkel suchte die schöne Rudny also! Weil der schon lange hier lebe, ihr helfen könne, Beziehungen und so weiter. Und das alles in dem schrillen Diskant, in dem Betty gelegentlich sprach.

»Es reicht!«, unterbrach ich das Duett aus piepsigem Sopran und zugegeben noch immer samtigem Alt. »Anscheinend liegt hier ein Irr­tum vor. Ich bin kein Kindermädchen. Wie soll ich arbeiten bei dem Geschnatter!«

»Sie arbeiten?« Betty lächelte so mokant, dass es eigentlich einen sofortigen Rausschmiss gerechtfertigt hätte. Aber zwei leere Schreibti­

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sche wollte ich mir doch lieber nicht antun. »Woran denn, bitte schön? Ich hab übrigens diese Woche noch kein Gehalt bekommen.«

Hatten die beiden Frauen sich abgesprochen? Rudny jedenfalls zuckte exakt in diesem Moment einen Fünfzig-Dollar-Schein. Wie kam sie an so viel Geld? Andererseits musste das nicht meine Sorge sein. Höchstens, wie der Grant aus ihrer Hand in die meine wanderte.

»Das reicht gerade mal für zwei Tage«, ließ ich die schöne Polin wissen. »Spesen natürlich extra.«

Klang das nicht ganz danach, als sei ich bereit, den albernen Auf­trag anzunehmen? Himmelherrgott noch mal, ich hatte doch Grundsät­ze!

»Ich werde mehr davon auftreiben, wenn es nicht reicht.« Rudnys Mundwinkel zuckten.

Machte sie sich lustig über mich? Oder stand sie kurz vor einem Heulkrampf? Beides war mir zuwider. Ich klebte mir die letzte Lucky aus meiner Packung zwischen die Lippen und dachte an eine Unzahl ähnlicher, ja fast identischer Geschichten, die ich schon gehört hatte.

Es war wirklich kein guter Tag. Irgendwie kam eine Sentimentali­tät zur ändern, »Okay, dann brauche ich aber ein paar Fakten.« Ich zog den Notizblock zu mir heran.

»Na also, Chef, es geht doch!«, flötete Betty und servierte sogar endlich Kaffee.

Und Rudny bewies, dass es ihr an vielem fehlte. Aber nicht an al­lem. Dieses Lächeln zum Beispiel...

*

»Wie kann man nur so tief sinken.« Brendon Smith legte sein fleischi­ges Gesicht in kummervolle Falten. Er arbeitete als Sportredakteur bei der Chicago Tribune. Aber wirklich ernst meinte er das nicht. Ich hatte jedenfalls schon des Öfteren von seinen Insiderinformationen und vom beachtlichen Archiv des Hauses profitiert und nützte dazu schon auch mal ohne größere Skrupel dir väterlichen Gefühle aus, die er für mich hegte. Auch heute setzte ich darauf.

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Rund um den Schreibtisch, an dem ich Brendon gegenübersaß, tobte die übliche Hektik, wie jeden Tag, kurz bevor das Blatt in Druck ging. Schreibmaschinen ratterten wie Tommy-Guns und das Klingeln von mindestens hundert Telefonen konnte nur bedeuten, dass gerade mal wieder die Welt unterging.

»Es geht um schnelles und garantiert leicht verdientes Geld«, ließ ich Brendon wissen. »Du wirfst einfach einen Blick ins Archiv und die Sache ist geritzt. Dann gehen wir ganz gepflegt einen trinken. Auf meine Kosten natürlich.«

Der Grant in meiner Hand war schon ganz zerknittert. Aber für Brendon irgendwie wohl doch ein Argument. »Okay, weil du es bist. Wie heißt der Kerl?«

»Andrzej Hurok. Obwohl da bestimmt noch andere Schreibweisen drin sind.« Ich sprach den Vornamen so ungefähr wie Andrew aus und hielt ihm den Zettel unter die Augen. »Es geht um einen Wodkatrin­ker.« Ich sah, dass Brendons Bildung in manchem doch zu wünschen übrig ließ. »Um einen Polen«, ergänzte ich also.

Brendon verdrehte die Augen. »Mein Gott, wie kann man nur so heißen! Ich bin froh, dass ich halbwegs Englisch kann. Und ich finde, solche Leute...«

»Reg dich ab, Brendon«, fiel ich ihm ins Wort. Ich sah ihn an wie auf einem Foto, das mich als Zehnjährigen zeigt. Brendon sagte im­mer, so einem Blick könne er nicht widerstehen.

Es klappte. »Streng dich nicht so an. Was weißt du sonst noch ü­ber ihn?«

Das war der Haken an der Sache. Viel hatte mir die schöne Rudny nämlich nicht gesagt. Nur das Jahr, in dem ihr Onkel ausgewandert war und das Datum des letzten Briefs, den er nach Polen geschickt hatte. »Da hat er eine rosige Zukunft für sich gesehen. Als Koch. Oder als Schneider. Und natürlich davon geschrieben, dass der Rest der Familie bald nachkommen könnte. Dann nichts mehr. Deshalb ist die Kleine jetzt einfach auf eigene Faust hierher gekommen.«

Brendon gab einen Knurrlaut von sich und rammte sich eine Zehn-Cent-Zigarre in den Mund. Weil er sein Feuerzeug nicht fand, half ich ihm mit meinem aus.

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»Anscheinend hat der Onkel eben viele Talente.« Ich grinste Brendon durch die Rauchschwaden an. »Wenn du mich fragst, steht dieser Hurok in irgendeinem schmierigen Diner auf der South-Side. Strampelt im übelsten Sumpfgebiet der Stadt ums Überleben, während er seinen Leuten zu Hause wer weiß was für Wunderdinge schreibt.«

»Toller Tipp«, ächzte Brendon. »Zumal er damit einer unter ziem­lich exakt drei Millionen ist.« Er verschluckte sich am Rauch. »Aber du verschwindest jetzt. Und sorgst dafür, dass genügend Kaffee in meiner Tasse ist, wenn ich in...« Er warf einen Blick auf seine Uhr. »In knapp zwei Stunden werde ich da sein, am üblichen Ort.«

Als ich die Redaktion verließ, hatte ich zum ersten Mal an diesem Tag ein richtig gutes Gefühl. Zwei Stunden, dann wüsste ich, wo sich der Kerl mit dem unaussprechlichen Namen herumtrieb. Aber dieser Rudny würde ich das natürlich erst morgen Abend verraten, sie sollte nicht das Gefühl haben, dass ich sie ausnahm. Und vielleicht würde ich sogar richtig galant sein und sie zu der Adresse fahren, die Brendon jetzt für mich heraussuchte. Die South-Side war wirklich kein Ort, den eine Lady allein aufsuchen sollte.

Als ich mich hinters Lenkrad meines Plymouths klemmte, gingen mir für einen Tag, der so schlecht begonnen hatte, erfreulich ange­nehme Gedanken durch den Kopf. Denn ohne die geflickten Strümpfe waren Rudnys Beine wirklich beachtlich.

Ich wollte den Motor starten, vom Redaktionsgebäude der Tribune am Chicago River zu Henry's Steak Diner in der North Dearborn Street war es nur ein Katzensprung. Das war der übliche Ort, wo ich mich immer mit Brendon traf.

Nur dass mein Motor nach einem kurzen Röcheln seinen Geist aufgab. Ich fluchte, wie das angeblich nur Nachfahren von Menschen einer ganz bestimmten Insel möglich ist, auch wenn die Makkaronis behaupten, uns Iren zumindest in diesem Punkt gewachsen zu sein. Aber was behaupteten die nicht alles. Kurz darauf war ich dem alters­schwachen Motor nur noch dankbar.

Denn wenn er sich wie üblich dienstbereit gezeigt hätte, wäre ich mitten in eine Schießerei hineingeraten. Womöglich gar mit dem gro­ßen dunklen Wagen verwechselt worden, der da eben an mir vorbei­

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raste. Er schlingerte, mindestens ein Reifen war bereits ohne Luft. Den Typ, der sich am Lenkrad festkrallte, konnte ich nicht erkennen. Bloß die Knarre, mit der er herumfuchtelte und immer wieder durch das geöffnete Fenster nach hinten feuerte. Seinem Fahrstil kam das nicht gerade zugute. Und der Pfeiler, auf den er zuraste, war garantiert nicht für sanfte Bremsmanöver geeignet. Ich ging unwillkürlich in De­ckung, dann hörte ich es schon. Blech auf Beton. Als ich einen Blick zum Unfallort hinüber riskierte, kam es dort schon zu einer Explosion.

Nach dem ohrenbetäubenden Lärm war die Stille gleich darauf ebenfalls ein Schock. Mir war klar, dass ich besser noch abwartete. Lange dauerte es nicht, dann schoss die dunkle Wagenkolonne an mir vorbei. So schnell, dass ich die Nummernschilder kaum richtig lesen konnte.

Aber ich war mir doch ziemlich sicher, dass im letzten Wagen, ei­nem schweren, im Regen, glänzenden schwarzen Cadillac, ›Il Cardina­le‹ persönlich saß. Was alles andere hinreichend erklärte. Einer wie er hatte eben seine eigenen Methoden, um sich freie Fahrt zu verschaf­fen.

Die Reste des verkohlten anderen Autos samt einstmals menschli­chem Inhalt hinwegzuschaffen war Sache der Polizei, die wenig später eintraf. Zu spät, wie immer in dieser Stadt. Ich befand mich zum Glück weit genug entfernt, um nicht in den Kreis ihrer Absperrung zu gera­ten. Noch mehr Glück sogar, denn diesmal schnurrte mein Motor auf Anhieb, fast so sanft wie ein Kätzchen, das am Bauch gestreichelt wird. Während ich wendete, um über einen Umweg zum vereinbarten Treffpunkt zu kommen, ging mir flüchtig noch einmal diese Polin durch den Kopf. Ein Gedanke, der einzig meinem so zuverlässig schnurren­den Motor zu danken war und mich gleich wieder richtig froh stimmte. Wenn jetzt noch der Inhalt der Kaffeetassen bei Henry nicht allzu übel gepanscht war, konnte man den Tag alles in allem wohl nur als gelun­gen bezeichnen.

*

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Aber wie heißt es so schön? Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben. Und schon gar nicht vor der Nacht.

»Geh am besten gleich hin«, hatte Brendon mir geraten und mich über den Rand seiner Kaffeetasse breit angegrinst. »Geschlachtet wird Tag und Nacht.«

Andrzej Hurok war anscheinend noch tiefer gesunken, als ich so­wieso schon angenommen hatte. Denn freiwillig schuftete garantiert niemand in den Union Stock Yards. Und es waren traditionell die Ärms­ten der Einwanderer, die sich in den riesigen Schlachthöfen unserer Stadt verdingten.

»Beschwer dich nicht«, gurgelte Brendon zwischen zwei Schlu­cken. »Es war reiner Zufall, dass ich das rausgekriegt hab. Wenn der Onkel deiner polnischen Lady nicht so 'nen unaussprechlichen Namen hätte und wenn da bei uns in der Kantine nicht ein Landsmann von ihm die Teller abräumen würde...«

»Ist ja schon gut«, unterbrach ich Brendon. »Oder hab ich was gesagt?« Ich ließ meinen Blick über die Reste des T-Bone-Steaks auf dem Teller vor mir gleiten und war irgendwie dankbar dafür, dass es Leute gab, die das Schlachtvieh in solche angenehm handlichen Teile zerlegten. Ich nahm den letzten Schluck aus der Kaffeetasse und legte ein paar zerknitterte Scheine auf den Tisch. Brendon würde wohl noch ein paar Tropfen länger bleiben. Dann verabschiedete ich mich.

Draußen wehte ein heftiger Wind und es regnete so stark, dass mir bei den paar Schritten zu meinem Plymouth die Zigarette zwischen den Lippen feucht zerkrümelte. Ich klemmte mich hinters Steuer, an­gelte nach einer neuen Lucky und während ich sie anzündete, überleg­te ich, wie ich am besten fuhr. Am einfachsten war es, ich nahm die Michigan Avenue. Einfach nur geradeaus, führte sie unweigerlich auf die South-Side. Viel Verkehr herrschte um diese Zeit nicht, es war ja schon beinahe Mitternacht. Und wer sich jetzt vergnügen wollte, be­nützte andere Straßen.

Immer gesichtsloser wurden die Blöcke, zwischen denen sich die Straße hindurch fraß. Nach einer Weile hatten die Querstraßen, die ich kreuzte, bloß noch Nummern. Offenbar hatte es niemand der Mühe wert befunden, sich für sie einen Namen auszudenken. An einer grö­

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ßeren Kreuzung bog ich rechts ab, die 42nd Street müsste eigentlich direkt zu den Schlachthöfen runterführen. Der Zustand der Straße sag­te mir bald, dass ich auf dem richtigen Weg war. Geborstener Asphalt, spärliches Licht aus trüben Funzeln. Die Lichter über den Eingängen zu allerlei Spelunken flackerten so zaghaft, als schämten sie sich dafür, so viel Armseligkeit auch noch zu beleuchten. Es gab da ein bretterver­schaltes Kino, einige Billard-Salons und die meisten der billigen Re­staurants kündigten chinesische Spezialitäten an.

Je näher ich den Stock Yards kam, umso belebter wurden die Straßen. Die meisten Kerle hatten in einem Hinterhof-Speakeasy or­dentlich aufgetankt, sodass die billig geschminkten Flittchen in ihrer Begleitung alle Hände voll zu tun hatten, um sie irgendwie auf den Beinen zu halten. Einer, groß und massig und anscheinend so voll wie das Korsett einer Zwei-Zentner-Dame, stolperte über seine eigenen Füße und sah mir tranig hinterher, als ich zum Glück schnell genug reagierte und einen Bogen um ihn fuhr. Meine Reifen zerteilten das schmutzige Wasser einer Pfütze, ein kräftiger Schwall spritzte ihm ins Gesicht.

Gleich darauf wurde der Verkehr so dicht, dass ich beschloss, zu Fuß weiterzugehen. Als ich den Wagen abschloss, ging mir flüchtig durch den Kopf, dass sich an so einem Ort meine Smith & Wesson womöglich ganz gut machen würde. Aber ich ging einfach nicht gern mit ihr aus. Außerdem ging es hier ja auch nicht Menschen an den Kragen, sondern Tieren.

Ich schob meinen Hut so zu recht, dass mir nicht allzu viel Regen in den Nacken rann. In den Schlachthöfen wurden jährlich dreizehn Millionen Tiere verarbeitet. Bei solchen Dimensionen setzte mein Hirn einfach aus. Aber unsere Stadtväter waren stolz auf diese Zahlen, Fleisch fürs ganze Land, für die Welt wurde hier produziert. Die Ein­wanderer akzeptierten vierzehn Stunden Arbeit täglich, auch Kinder wurden eingesetzt in einem erbarmungslosen Arbeitsprozess, ausge­tüftelt bis ins letzte Detail.

So etwa hatte mir das Brendon erzählt und mit reichlich Zahlen garniert. Von dem Gestank aber hatte er nichts gesagt. Er schnürte mir schon jetzt die Kehle zu. Dabei hatte ich die Stock Yards noch gar

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nicht betreten. Wie hielten die Leute das hier aus? Allmählich dämmer­te es mir, weshalb viele der Typen so betrunken waren. Ich beschloss, mir ein Beispiel an ihnen zu nehmen. Betrinken wollte ich mich zwar nicht, aber mit ein, zwei Gläsern wäre ich vielleicht doch besser ge­wappnet.

Der Lärm in dem trüben Schuppen war ohrenbetäubend, nur gut, dass man mir etwas zu trinken zuschob, ohne lang zu fragen. Ich hätte kein Wort verstanden, wäre auch mit meiner Antwort nicht durchge­kommen. Das Zeug brannte mir im Hals wie explodierender Spiritus. Neben mir redete ein Typ unablässig und schlug dabei so hart auf den Holztresen ein, dass ich unwillkürlich nachschaute, ob nicht Dellen zurückblieben. Er hatte ein seltsam graues Gesicht, wie aus Beton ge­gossen und seine Faustschläge ins Holz begleiteten Sätze in einer Sprache, die ich nie zuvor gehört hatte.

Ich leerte noch ein zweites Glas, legte einen Halfeagle neben das Glas und trat wieder auf die Straße hinaus. Bevor ich mir die nächste Zigarette ansteckte, zögerte ich - Spiritus in Kombination mit Feuer war nicht ganz ungefährlich. Aber es geschah nichts und außerdem war auch der Zigarettenqualm ganz gut gegen den Gestank. Ich wollte es nun rasch hinter mich bringen.

»Hey, du Trottel, aus dem Weg!« Jemand kam mir entgegen, ich wusste nicht gleich, was ich da vor

mir hatte. Beine, darüber ein nackter Oberkörper, bedeckt von noch mehr nacktem Fleisch. Teile von Tieren, wie ich dann erkannte, riesige Keulen, Rückenstücke. Blut floss von ihnen und machte den Boden schmierig. Ich war jetzt eindeutig am Ziel.

*

Aber wo um alles in der Welt war ich gelandet? Vor lauter Dampf sah ich erst einmal gar nichts. Die Hitze hier drin legte den Gedanken ans Fegefeuer nahe und erklärte hinreichend, weshalb die Leute so spär­lich bekleidet waren. Nach kürzester Zeit rannen mir Sturzbäche über den Körper, mein Hut wurde schwer von Feuchtigkeit auf meinen nas­sen Haaren. Die Luft hatte hier einen anderen Aggregatzustand als

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normal, einfach alles war flüssig. Auch der Boden. Fast knöcheltief watete ich durch etwas, von dem ich lieber nicht genau wissen wollte, woraus es bestand.

»Nick Peelson«, stieß ich hervor und versuchte dabei, möglichst nicht einzuatmen. »Können Sie mir sagen, wo ich den finde?«

Ich hatte einen Mann angesprochen, der ein Kopf kleiner war als ich. Dafür waren seine Schultern dreimal so breit wie alles, was ich bislang gesehen hatte. Sein Gesicht wirkte teigig, es glänzte und die kleinen Augen hatten die Farbe von geronnenem Blut. Er verstand mich nicht gleich und als ich meine Frage wiederholte, wies er vage nach vorn. Und zwar mit einem Messer, lang wie sein Unterarm. Dabei sah ich für einen Moment auch seine Hand. Ich fragte mich, wie er diesen Daumen überhaupt noch gebrauchen konnte. Die Daumenbasis war so oft zerschnitten worden, dass sie nur noch ein Klumpen Fleisch war. Da hatte ich also eindeutig einen Schlachter vor mir.

Ich war nicht eben begeistert von der Aussicht, mich noch tiefer in diesen brodelnden Kessel hineinbegeben zu müssen. Etwa auf Augen­höhe flankierten triefende Rinderhälften meinen Weg, aus Mülleimern züngelten grelle Flammen. So gut brannte nur Fett. Während links und rechts von mir eine unübersehbare Zahl von Männern jeden Alters einer Sache nachgingen, die sie als ihre Arbeit verstanden, versuchte ich möglichst wenig von dem Gemetzel zu sehen. Wann immer ich an einem Typen vorbeikam, der so aussah, als hätte er etwas zu sagen, stieß ich den Namen aus, den Brendon mir genannt hatte. »Nick Peel­son?« Weil den hier jeder zu kennen schien, nannte ich immer öfter auch den zweiten Namen. »Andrzej Hurok?«

Manchmal bestand die Reaktion nicht nur in der mir schon be­kannten vagen Geste. »Bist du dir da auch ganz sicher?«, fragte einer zum Beispiel und lachte sardonisch.

Andere verdrehten die Augen, sahen mich mitleidig an und einer schlug sogar das Kreuzzeichen auf seiner nackten Brust.

Ich hielt das für Mitgefühl für den langen Weg, den ich zu diesem Peelson zu gehen hatte, noch dazu in so unpraktischer Kleidung. Mir klebte wirklich alles am Körper. Peelson war nach Brendons Auskunft eine mittlere Charge in der Personalabteilung des Schlachthofs. Denn

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der Pole bei ihm in der Kantine hatte gemeint, Hurok verdiene sich seinen Lebensunterhalt als Schlachter. Und dass dieser Peelson mir mehr sagen könne.

Immerhin, alle, die ich fragte, wiesen mich in dieselbe Richtung. Augen und Nase zu und durch, sagte ich mir. Leider sah ich manches doch. Zum Beispiel eine hakenbestückte Maschine, die kreischende Schweine am zappelnden Bein nach oben zog und dann auf ein Fließ­band schleuderte. Mit den Beinen nach oben glitten sie dann an dem Arbeiter vorbei, der ihnen mit einem riesigen Messer die Kehlen durch­schnitt. Jeder dieser Männer machte dies einige tausend Male am Tag, daran ließ die Routine ihrer Bewegungen keinen Zweifel. Auf dieser vollautomatisierten Straße des Schlachtens herrschte auf den ersten Metern ein ohrenbetäubendes Gequieke, ein paar Meter weiter wurde dann nur noch ein Röcheln daraus und noch etwas weiter gab es nur noch stummes, weiß schimmerndes Fleisch.

»Wohin willst du denn?« Ein Riese versperrte mir den Weg zur Treppe. Auch er hatte sehr

breite Schultern und diesen matschigen Daumen. Aber er war nicht halb nackt wie die anderen Schlachter, ein nicht sehr sauberes Hemd klebte ihm am massigen Leib, über dem die Hosenträger bis zum Zer­reißen gespannt waren. Er hatte hier wohl so etwas wie Karriere ge­macht und musste nicht mehr eigenhändig in Fleisch und Blut wühlen. Vielleicht war er ja sogar... »Nick Peelson?«

Ich war richtig stolz auf mich, dass ich den Namen inzwischen aussprechen konnte, ohne von einem Würgereiz geschüttelt zu wer­den. Sogar ein Lächeln brachte ich zustande.

Aber der Typ hatte einfach keine Manieren. Er kam auf mich zu, so dicht, dass ich seinen Fuselatem roch und ich spürte auch, wie sein Fettwanst zu vibrieren begann. Damit nämlich schob er mich nun von der Treppe weg, auf eine Tür zu, die auf einen Hof hinausführte.

Was ich im Feuerschein der brennenden Mülltonnen sah, von de­nen es auch hier jede Menge gab, ließ mich nichts Gutes erwarten. Noch mehr breite Schultern, blutig zermantschte Daumen. Und alle rückten auf mich zu, schweigend. Es waren mindestens fünf.

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Ich ahnte zwar schon, was kommen würde. Aber erst einmal ver­legte ich mich noch aufs Reden. »Es geht doch nur um einen Ihrer Kollegen, Andrzej Hurok. Vielleicht nennt er sich auch Andrew. Und vielleicht...«

Der erste Schlag traf mich von hinten, hart und weich zugleich. Ich kam nicht mehr dazu zu entscheiden, ob hier ein Schinken als Schlaginstrument missbraucht wurde, denn schon traf mich der nächs­te Schlag, diesmal nicht am Hinterkopf, sondern an der linken Schläfe. Dann wusste ich gar nicht mehr, wo es mich überall traf, besser ge­sagt - wo nicht. Ich hatte es ja mit Schlachtern zu tun und die kannten sich bestens aus, wenn es galt, empfindliche Stellen zu treffen. Ich legte meinen ganzen Ehrgeiz in den Versuch, möglichst lang irgendwie auf den Beinen zu bleiben.

Die Chancen standen allerdings ziemlich schlecht, auch nur eine weitere Runde in diesem ungleichen Kampf zu überstehen. Bevor alles um mich herum in rabenschwarzer Nacht versank, hörte ich die Män­ner noch fluchen und lachen. Die Stille danach war fast eine Wohltat.

*

Meine grauen Zellen nahmen den Dienst wieder auf, als ein Auto ganz dicht vor mir sehr rasant durch eine Pfütze fuhr. Aus der dunklen Ah­nung heraus, dass jede Bewegung die Schmerzen noch verschlimmern würde, blieb ich vorerst liegen. Ich hatte irgendwie das Gefühl, dass Eile im Moment absolut nicht am Platz war. Nachdenken konnte ich schließlich auch im Liegen. Wobei, nachdenken, mit so einem Schä­del...

Ich hatte das Gefühl, etwas fünffach Gespaltenes anstelle eines Kopfes zu haben. Über mein linkes Auge sickerte etwas, was aller Er­fahrungen nach wohl Blut war. Meine Nase kam mir seltsam verbogen vor. Doch sie erfüllte noch ihren Zweck. Was ich roch, sprach dafür, dass ich mich noch ganz in der Nähe der Stock Yards befinden musste. Über den pochenden Lärm in meinen Ohren hinweg hörte ich auch das Rattern der Eisenbahnen, das Trampeln von Füßen. Sie stiegen einfach über mich hinweg und so begriff ich nach einer Weile, dass ich wohl

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genauso aussah, wie ich mich fühlte. Wie ziemlich übel zugerichtetes Fleisch. Damit wollte sich niemand die Finger schmutzig machen.

Ich dämmerte noch einmal weg, vielleicht auch noch öfter. Ir­gendwann begann ich zu frieren. Ich spürte, dass meine rechte Hand etwas sehr fest umklammert hielt. Mein noch immer stark umnebeltes Gehirn hoffte rein gewohnheitsmäßig, es wäre mein Revolver. Aber was hatte er mir helfen können in dieser Situation? Ich wollte den Kopf heben, doch es ging nicht. Als wäre er mit eisernen, mit Nägeln verse­henen Ketten auf dem Asphalt festgezurrt. Also versuchte ich es als Nächstes mit den Beinen. Ich weiß nicht, wie lange es dauerte, aber irgendwann hatte ich sie angezogen. Dann schaffte ich es sogar, die Arme durchzustrecken, zwangsläufig, so kam es mir vor, folgte dabei auch mein Kopf. So verharrte ich für einen Moment, um die Schmerzen wieder auf das vorherige Niveau absinken zu lassen.

Ich kapierte ein zweites Detail. Ich war in der Nähe der Stock Y­ards und es war noch immer dunkel. Also war die Nacht noch nicht vorbei. Und was meine rechte Hand da so idiotisch umklammerte - nein, so etwas hatte ich noch nie gesehen. Ich robbte etwas dichter an die Straßenlaterne heran. Unbedingt musste ich erkennen, was da in meiner Hand war und dann konnte ich das ja vielleicht auch endlich loslassen.

Ich wurde sauer, als sich jemand genau in dem Moment über mich beugte, als ich endlich in dem Lichtkegel war. Denn so konnte ich wieder nichts sehen.

»Wir müssen ihn in ein Krankenhaus bringen«, hörte ich jemand sagen. Der Tonfall verriet mir, dass es eine der Damen von der Heils­armee war. Ausgerechnet!

Die Lady hatte einen männlichen Kollegen dabei, zu zweit griffen sie mir unter die Arme und zogen mich hoch. Dass sich das anfühlte, als würde ich durch einen Fleischwolf getrieben und zwar meine unte­re Hälfte in eine andere Richtung als die obere, war den beiden egal. Dann war es, als gehörten meine Knie gar nicht wirklich zu mir, sie wollten schon wieder wegsacken. Was meine berufsmäßigen Retter der Menschheit mit raschem Zugriff verhinderten.

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Die Lady griff dann nach meiner rechten Hand und bog Finger für Finger auseinander. Ich erkannte Knochen, Fleischfetzen, Fell, geron­nenes Blut sorgte dafür, dass das Zeug gar nicht so leicht von meiner Handfläche zu lösen war.

»Ein Hasenfuß«, stellte der Heilsarmist fest. Ich hätte das Ding, das nun in einer schmutzigen Pfütze lag, auch

jetzt nicht erkannt. Genau genommen sah es sogar ziemlich unschein­bar aus. Bloß das Wort Hasenfuß hallte in meinem Kopf nach und gab mir natürlich zu denken.

»Immer schön einen Fuß vor den anderen, dann schaffst du das schon«, behauptete die Heilsarmistin.

»Nur zehn Minuten«, ergänzte ihr Kollege. »Und immer schön langsam.«

Ich hing zwischen den beiden wie ein nasser Sack. Jedes Körper­teil spürte ich einzeln, kein einziges schien an seinem angestammten Platz zu sein. So ähnlich wie die Teile der Tiere vorhin in den Stock Yards. Aber nein, der Vergleich hinkte. Die hatten sich ja wenigstens nicht selber bewegen müssen. Um ehrlich zu sein, ich hätte in diesem Moment viel dafür gegeben, der Asphalt unter mir hätte sich in so ein Fließband verwandelt.

»Gleich haben wir es geschafft«, trötete mir die Heilsarmeelady ins Ohr.

Als ich später alles rekonstruierte, stellte sich heraus, dass sie mich kaum zweihundert Meter so hatten schleifen müssen bis zu dem Krankenhaus. Aber ich schwöre, in dieser Nacht war ich überzeugt, mindestens eine Strecke bis zum Mond zurückgelegt zu haben, als endlich die bläulich leuchtenden Buchstaben vor mir erschienen, die einer nach dem anderen tatsächlich das Wort Hospital ergaben.

»Das Beerdigungsinstitut ist aber nebenan!« Der Pförtner hielt das garantiert für einen gelungenen Witz. Dann

wies er meinen Helfern den Weg zur Notambulanz. Ich sah auch, wie er nach einem blassen Mädchen mit einem Eimer und einem Schrub­ber winkte. Sie wischte eilig die klebrige Spur auf, die ich hinterließ.

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»Wer sagt mir, dass sich hinter all dem Verbandszeug wirklich Sie be­finden?« Betty Meyer stand ziemlich blass vor dem Bett in meiner Wohnung in der North Clarke Street.

»Ich sage das.« Der raunzende Tonfall, den ich anschlagen wollte, misslang mir. Es war nicht leicht, inmitten des weißen Zeugs, das die Ärzte anscheinend meilenweise um meinen Kopf gewickelt hatten, die Kiefer auseinander zu bringen. Auch war ich mir keineswegs sicher, ob meine Antwort zutraf. Aber wer außer mir sollte schon in diesem A­partment liegen?

»Und wie das hier aussieht!« Klar, Betty meinte den Zustand mei­ner Bleibe, die so gar nicht den Vorstellungen eines ordentlichen Haushalts entsprach. Aber sie starrte noch immer mich an. »Und eine Luft! Zu dick zum Schneiden!« Sie stöckelte schon zum Fenster, das Klacken ihrer Absätze trommelte Löcher in meinen Schädel.

»Bitte nicht!«, stieß ich flehentlich hervor, als sie die Vorhänge aufriss. Es regnete wieder einmal, aber selbst das Grau war zu viel Licht für mich.

Betty hatte ein Einsehen. Oder erschreckte sie die schmerzverzerr­te Fratze, die mein Gesicht zwischen dem Verband abgab? Sie schloss die Vorhänge wieder und begann, mit ihrer Handtasche zu wippen, als wartete sie auf einen Bus.

»Setzen Sie sich«, forderte ich sie auf und hoffte, sie würde ir­gendwo einen Platz dazu finden. Ich war heute wirklich nicht auf Be­such eingestellt.

Naserümpfend sah Betty sich um. Sie war noch immer in Hut und Mantel. Dann entschloss sie sich, das zu tun, was nach dem Lackieren ihrer Fingernägel den größten Teil ihrer Arbeitszeit bei mir einnahm. Sie steuerte die kleine Kochnische an. »Ich mache Ihnen erst einmal einen Kaffee, ja?«

Es war eine Idee, die sie gleich darauf bedauerte. »Drei Tassen und keine davon sauber!«, rief sie entsetzt.

Gleich darauf bewies sie, dass sie doch ein Herz hatte. Sie schluchzte jedenfalls, kam wieder zu mir ans Bett und fegte mit einem

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Handgriff alles von einem Stuhl, was dort nicht hingehörte. »Chef, es ist alles so traurig!«

»Ach, das sieht nur so aus«, wehrte ich ab. Ich ging natürlich da­von aus, ihre Tränen gälten mir. »Die in der Klinik haben gesagt, ich war noch mal glimpflich davongekommen. Sie mussten ein bisschen was nähen und ein paar Rippen sind auch gebrochen.« Ich überlegte, ob das auch wirklich alles war.

Betty heulte die Tonleiter rauf und runter. Das fand ich nun doch übertrieben. Außerdem war ich extrem geräuschempfindlich. Ich hob beschwichtigend die Hände, wobei ich so tat, als sei das eine ganz normale Bewegung. Doch die Schmerzen belehrten mich eines Besse­ren.

»Das kann ich gar nicht mit ansehen!«, jammerte Betty und wandte den Kopf zur Seite. Was sie dort erblickte, gefiel ihr wohl auch nicht. So schlug sie die Hände vors Gesicht und wimmerte leise vor sich hin.

»Beruhigen Sie sich, Betty, ich werd es schon überleben.« Ich war ehrlich gerührt. »Sie wissen doch, Unkraut vergeht nicht.«

»Das trifft vielleicht auf Sie zu«, schluchzte sie. »Aber ich mache mir Sorgen um Rudny. Sie ist die ganze Nacht nicht nach Hause ge­kommen. Dabei hat sie doch keinen außer mir. Und dem Onkel, den Sie ja wohl nicht gefunden haben.« Sie meinte tatsächlich mich mit ihrem vorwurfsvollen Blick.

Ich hatte schon oft Anlass gehabt, an ihren Fähigkeiten als Sekre­tärin zu zweifeln. Aber in diesem Moment hasste ich Betty. War das wirklich ihr Ernst, hier zu flennen wegen einer polnischen Herumtreibe­rin? Wo ihr Arbeitgeber sich in einem Zustand befand, den man nicht seinem schlimmsten Feind wünschte? War ich es nicht, der ihr 30 Dol­lar die Woche zahlte?

»Das ist wirklich nicht Rudnys Art!«, stieß sie hervor. Dann griff sie in ihre Handtasche und nahm die Pall Malls und die Zigarettenspit­ze heraus. Sie wühlte weiter in ihrer Tasche nach Streichhölzern, fand aber keine.

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»Auf dem Tisch«, knurrte ich. »Da liegen auch meine Zigaretten. Und wenn Sie vielleicht die Freundlichkeit hätten, mir eine anzuste­cken?«

»Seit wann bin ich Ihr Kindermädchen«, blaffte sie zurück. »Ka­pieren Sie es doch endlich! Ich mache mir Sorgen um Rudny!«

Dann schob sie mir doch mit spitzen Fingern eine Zigarette zwi­schen die Lippen. »Die hätten Ihnen in der Klinik wenigstens das Blut abwischen können«, monierte sie.

Ich verzichtete darauf, sie aufzuklären. Was sie für Blut hielt, war eine Wunde und wurde hoffentlich bald wieder Fleisch, womöglich so­gar mit Haut drüber. Der erste Zug aus der Zigarette tat mir dann aber doch gut.

Auch Betty schien das Nikotin zu besänftigen. Aus dem Krims­krams in ihrer Handtasche fummelte sie einen Taschenspiegel heraus, dann beschäftigte sie sich eine Weile damit, die schwärzlichen Spuren ihrer Wimperntusche mit viel Spucke gleichmäßig im Gesicht zu verrei­ben.

»Quirrer ist vorhin im Büro gewesen«, stieß Betty plötzlich hervor. »Kann es sein, dass er weiß, dass Sie sich geprügelt haben?«

Ich verzichtete auf jede Richtigstellung. Ich hatte mich nicht ge­prügelt, ich war verprügelt worden. Wobei mir auch diese Umschrei­bung noch beschönigend vorkam. Geschlachtet wäre das bessere Wort. »Was wollte Hollyfields Laufbursche?« Quirrer war so ziemlich der unfähigste Polizist in Chicago. Einige sagten, er hätte eine blüten­weiße Weste, weil er sogar zu dumm sei, um Bestechungsgelder anzu­nehmen.

»Das hat er mir natürlich nicht gesagt.« Betty seufzte. »Er wollte wissen, wann Sie kommen. Na ja und weil es ja wirklich schon spät war und weil ich mir ja Sorgen mache wegen Rudny und weil Sie nicht ans Telefon gingen, hab ich mir dann gedacht, ich schau mal bei Ihnen vorbei.« Ganz langsam dämmerte ihr wohl doch, in welchem Zustand ich war. »Soll ich Ihnen vielleicht was zu essen holen? Oder brauchen Sie sonst was?«

So locker, wie meine Zähne im Kiefer steckten, wollte ich ihnen feste Nahrung vorläufig nicht zumuten. »Da müsste irgendwo eine

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Flasche stehen«, röchelte ich. Mein Gesicht war nicht nur außen ge­schwollen, sondern auch innen. Ich müsste Acht geben, nicht auf mei­ne Zunge zu beißen. »So ein verbeulter Flachmann. Aber der Inhalt...«

Manchmal war Betty wirklich flink. In Nullkommanichts fand sie die Flasche zwischen alten Zeitungen. Als sie das Ding schüttelte und es glucksen hörte, hellte sich ihre Miene auf. Den ersten Schluck nahm sie selbst, dann endlich setzte sie mir die Flasche an die Lippen. Oder wollte es doch tun.

»Nix da, Süße. Ich bin schon groß.« Schon der erste Schluck ent­schädigte mich für die Schmerzen, die mir das Halten der Flasche ver­ursachte. Beim zweiten Schluck konnte ich mir sogar vorstellen, in nicht allzu langer Zeit wieder ein ganz normaler Mensch zu sein. Nach einem kräftigen dritten Schluck war die Flasche leider schon leer.

»Sie machen sich jetzt wieder ins Büro«, gab ich Betty Anweisung. »Aber mit einem kleinen Umweg. Fahren Sie bei der Tribune vorbei und sagen Brendon, dass er hierher kommen soll. Auch deswegen.« Ich kippte die Flasche um, kein Tropfen kam mehr heraus. »Und im Büro machen Sie dann mal auf Sekretärin und nehmen sich unser Ar­chiv vor. Oder sagt Ihnen eine Hasenpfote auch so etwas?«

Ich hatte selbst den Eindruck, dass mir das etwas sagte. Oder doch sagen müsste. In irgendeinem ziemlich entfernten Ort meines Gehirns lag da etwas bereit. Nur war mir der Weg dorthin versperrt.

»Und was sag ich, wenn Quirrer wieder kommt?«, wollte Betty wissen. »Und wieso soll ich überhaupt im Büro herumsitzen, wenn dort sonst keiner ist? Ich hatte eigentlich vor, nach Rudny zu suchen. Ir­gendjemand muss das ja tun.« Ihre seetangfarbenen Augen schössen vorwurfsvolle Pfeile auf mich ab.

»Ziehen Sie jetzt endlich Leine«, fuhr ich sie an. »Und vergessen Sie Brendon nicht. Und die Hasenpfote.«

Ich sah, dass Betty aufstand. Doch wieso tat sie das wie in Zeitlu­pe? Warum wurde sie so blass dabei? Und weshalb sahen ihre Augen aus, als würden sie herausgedrückt?

Ich folgte ihrem Blick und verstand nicht gleich. Dort lag bloß mein Regenmantel. Auch an ihm war die letzte Nacht nicht spurlos vorübergegangen. Die Reinigung würde Mühe haben, das Ding wieder

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in einen halbwegs erträglichen Zustand zu versetzen. Betty war schon an der Tür und sie kreischte wie verrückt, als ich sah, dass etwas aus der linken Manteltasche heraushing. Auch wenn ich nicht alles sehen konnte vom Bett aus, ich hätte ziemlich viel darauf gewettet, dass es eine Hasenpfote war.

*

Zwei Tage später sah ich schon wieder entfernt nach einem men­schenähnlichen Wesen aus, wenn man von einigen blauen Flecken und Schürfwunden im Gesicht absah. Die schlimmer zugerichteten Körper­teile waren zum Glück unter den in unseren Breitengraden hierfür vor­gesehenen Kleidungsstücken verborgen.

Auf dem Rückweg von der South-Side, wo ich endlich meinen Wa­gen geholt hatte, machte ich Halt bei Dunkys Speakeasy, um zur be­währten flüssigen Form der Schmerzlinderung zu greifen. »Gib mir ausnahmsweise das, was du nicht erst heute Morgen ins Regal gestellt hast«, bat ich ihn und legte zur Bestätigung zwei Dollarscheine auf die Theke.

»Schöner neuer Mantel«, meinte Duncan und verzog keine Miene dabei. Er war klein, dafür ging bei ihm alles in die Breite. Seine schät­zungsweise hundert Kilo mussten ja irgendwo untergebracht werden.

Ich nippte an dem Zeug, das er mir hinstellte. Es war besser als nichts. Bei Dunky verkehrten allerlei kleine Gauner, nicht die richtig großen Kaliber. Solche eben, die manchmal den Mund etwas weit auf­rissen und manches von dem, was ihnen dabei über die Zunge rutsch­te, war sogar brauchbar. Ich erwähnte ein paar Mal die Hasenpfote.

Beim dritten Mal stellte Dunky sich nicht mehr taub. »Hat was mit der Abwehr böser Geister zu tun, oder?« Wenn er nichts zu tun hatte wie im Moment, hakte er seine fleischigen Daumen mit den schwarz geränderten Fingernägeln in den zwischen lila und grün changierenden Hosenträgern ein und ließ sie leise schnalzen.

»Und was, wenn die Hasenpfote übrig bleibt, nachdem ein paar ziemlich böse Geister über einen hergefallen sind?«, hakte ich nach.

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»Tja, wer kann das wissen.« Er schenkte mir noch einmal nach. »Hasen sind immerhin ziemlich schnell«, meinte er dann noch. »Nicht mutig, aber schnell. Wenn's ums Abhauen geht. Vielleicht wollte dir da jemand einen guten Rat geben?« Mit dem schweißglänzenden Kinn wies er auf mein blaues Auge.

Das war nicht gerade eine originelle Deutung. Ich ließ eine Ziga­rette zwischen meine Lippen wandern. »Hab das Gefühl, so eine Ha­senpfote könnte auch eine Unterschrift sein.« Ich fixierte ihn mit mei­nen Augen. »Hast du nicht vielleicht eine Idee, wer auf diese Weise signiert?«

Aber aus Dunky war nichts mehr herauszubringen. Ich kannte das schon bei ihm, sein Gesicht wurde dann zu einer Art Hefeteig, der so lange aufging, bis es darin gar keinen Mund mehr gab. Nur Fläche, in der auch seine Augen ganz stumpf wurden, wie mit Mehl bestäubt.

Trotzdem sagte mir auch diese Reaktion etwas. Es passte zu dem, was in meinem Hinterkopf schmorte, aber noch immer nicht richtig Gestalt annahm. Mit einem letzten Schluck tat ich noch etwas für mei­ne Genesung, dann ging ich. Ein bisschen war es immer noch, als sei­en meine Knochen und Muskeln nicht auf die sonst übliche Weise mit­einander verbunden. Aber dafür sprang mein Wagen gleich beim ers­ten Versuch an. Als ein paar Zentimeter Blau zwischen den grauen Wolken durchkamen, fühlte ich mich beinahe wohl. Ich wollte ins Büro fahren, um Betty auf die Finger zu schauen. Und vielleicht selber einen Blick ins Archiv zu werfen. Betty hatte zwar behauptet, das schon ge­tan zu haben. Und von einer Hasenpfote sei da nichts zu finden. Wo­her wusste ich dann so genau, dass da doch etwas sein musste?

Ich fuhr die North Clark hinunter, überquerte den Chicago River, bog dann in die West Monroe ab und stellte den Plymouth auf dem Hof hinter dem Eckhaus an der South Franklin ab. Auf meinem Weg ins Büro stellte ich mir vor, wie nett es wäre, wenn Betty jetzt an der Schreibmaschine sitzen und sich den Lack auf den Fingernägeln tro­cken blasen würde. Sie würde mich daran erinnern, dass ihr Wochen­lohn noch ausstand und ich sie ihrerseits an das Archiv.

Als ich vor der Milchglasscheibe der Tür im zweiten Stock stand, wusste ich schon, dass Betty nicht da war. Es brannte nämlich kein

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Licht, obwohl es draußen schon wieder dämmerte. Und die Tür war verschlossen. Während ich nach dem Schlüssel griff, stach mir das Schild in die Augen. Beziehungsweise das, was nicht mehr auf dem Schild stand. Joe Bonadores Name war mir nie aufgefallen, solange er dort unter meinem gestanden hatte. Ein paar Kratzer in der Milchglas­scheibe, mehr erinnerte nicht mehr an meinen einstigen Partner. Bevor ich gleich noch mal rührselig wurde, stieß ich einen Fluch aus und gleichzeitig auch die Tür auf.

Die Luft im Büro war abgestanden, ein Hauch von Bettys billigem Parfüm war unverkennbar. Hielt sie das etwa für eine ausreichende Präsenz? Ein Blick auf ihren Schreibtisch verriet mir, dass sie seit ges­tern garantiert nicht mehr hier gewesen war. Unter meinen Füßen ra­schelte etwas. Ich stand auf der Post, die durch den Brief schlitz in der Tür auf den Boden gefallen war und dort immer noch lag. Und wer musste sie jetzt aufheben? Ich.

»Vielleicht entlasse ich sie doch«, überlegte ich laut. Dann riss ich das Fenster auf, auch eine frische Packung Zigaretten und setzte mich an meinen Schreibtisch. Beine hochlegen ging noch nicht, obwohl ich das wirklich gern getan hätte.

Eigentlich hatte ich nur drei Fehler gemacht. Das wurde mir klar, als ich dem Rauch zuschaute, den ein frischer Luftzug von draußen zerriss. Fehler Nummer eins war gewesen, dass ich diese Rudny Hurok nicht gleich wieder rausgeschmissen hatte. Fehler Nummer zwei, dass ich Brendons Auskunft falsch eingeschätzt hatte. Nick Peelson, der Name hatte so harmlos geklungen. Fehler Nummer drei schließlich: Ich hätte diesen Schlachtern nicht so nahe kommen dürfen.

Drei Fehler, von denen mindestens zwei zu viel waren, wenn man in meinem Job Weihnachten regelmäßig erleben wollte. Dann kochte ich mir Kaffee, obwohl das ja wirklich Bettys Sache gewesen wäre und nahm mir endlich den Karteikasten vor, den wir hier üblicherweise Archiv nannten. Etwas hochgestochen war das sicher. Jetzt aber... Ich fluchte beim heiligen Patrick und noch einigen Heiligen mehr. Denn da war keine einzige Karteikarte mehr im Kasten. Keine einzige! Sofort begann die Wunde auf meiner Stirn wie verrückt zu pochen. Ich sah mich nach Spuren um, die auf einen Einbruch hinwiesen.

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Aber da war nichts. Also zermarterte ich mir das Hirn. Wann hatte ich zuletzt in den staubigen Karten geblättert? Ich kam nicht drauf, es war auf jeden Fall lang her. Ich bin nun mal kein Aktenfresser und hal­te es lieber mit der Praxis. Und überhaupt, was half das jetzt schon? Ich hörte Schritte draußen und hoffte, dass es Betty war, die sich viel­leicht vage an ihren Arbeitsplatz hier erinnerte. Ich hätte gute Lust gehabt, an ihr meine Wut auszulassen.

Aber es war Brendon, der zur Tür hereinkam. »Hier also steckst du, alter Bursche!«

Ich ging eben noch rechtzeitig in Deckung, um zu verhindern, dass seine Pranke zu einem freundschaftlichen Gruß auf meiner Schul­ter landete.

»Ich hab schon bei dir zu Hause vorbeigeschaut und als du dort nicht warst - fast hätte ich mir Sorgen gemacht.« Er grinste breit. »A­ber jetzt, wo alles wieder in Ordnung ist - ich hab nicht viel Zeit. Hast du Lust, zum Spiel der Chicago White Socks mitzukommen? Musst dich aber schnell entscheiden, ich will mit den Jungs noch ein Interview machen, bevor es losgeht.«

Klar, Brendon war Sportreporter, für ihn war das ein wichtiges Spiel. Aber dachte er wirklich, ich hätte im Moment keine anderen Sorgen? Und hatte er vergessen, dass ich ihn um eine kleine Gefällig­keit gebeten hatte? Ganz unbeteiligt war er schließlich nicht an mei­nem Fehler Nummer zwei. Wenn er nicht so getan hätte, als handle es sich bei Nick Peelson um einen x-beliebigen harmlosen Kerl, wäre ich den Herren mit den breiten Schultern nicht unter die blutigen Daumen gekommen.

Noch bevor ich etwas sagen konnte, erkannte er seinen Fehler. »Nee, ist wohl besser, wenn du schön hier bleibst, im Warmen. So ganz wiederhergestellt bist du ja noch nicht.« Er stand schon wieder bei der Tür. »Richtig und was diese Hasenpfote angeht - du hast noch mal Glück gehabt. Oder sie haben dich nicht wichtig genug genom­men. Oder wäre dir ein Schweinefuß lieber gewesen?« Er grinste so breit, als stecke eine Kalbskeule quer in seinem Mund. »Nimm es in jedem Fall als Warnung. Genaues weiß ich nicht, aber man tuschelt da so allerlei.«

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»Wie weit nach oben reicht die Sache?«, fragte ich. Brendon holte tief Luft und stieß sie langsam wieder aus. »Ziem­

lich weit. Ein Sanatorium sind die Stock Yards nie gewesen. Aber seit kurzem scheinen da ein paar ganz große Dinger zu laufen. Besser, du hältst dich da raus. Du wirst wegen der kleinen Polin doch nicht Kopf und Kragen riskieren wollen. Vielleicht ist es ja auch besser für sie, wenn sie ihren Onkel nie wieder sieht. Und wenn dir unbedingt nach einem Steak ist, das kriegst du auch anderswo!«

Er lächelte mich aufmunternd an, rückte an seinem Hut herum und gleich darauf war er draußen. Aber er schloss die Tür noch nicht. »Es heißt übrigens, ›Il Cardinale‹ isst neuerdings gern Hasenbraten. Also, pass auf dich auf!«

Ich starrte dann noch ziemlich lange auf die Tür. Gut fühlte ich mich dabei nicht. Klar, Brendon meinte es gut mit seiner Warnung. Und diese Rudny konnte mir sowieso gestohlen bleiben. Aber ging es überhaupt noch um sie? Nicht sie war verprügelt worden, sondern ich. Und ich sollte nicht einmal erfahren, weshalb mir das passiert war?

Brendons Hinweis auf ›Il Cardinale‹ allerdings war nicht ohne. Ei­gentlich hieß er Benito Rigobello und war der Boss der wichtigsten Italienergang in der Stadt. Ein Makkaroni vom Scheitel bis zur Sohle, mit seinen sechzig Jahren nicht mehr ganz jung, aber die Haare noch kohlrabenschwarz. Ein umgänglicher Typ, konnte man auf den ersten Blick denken. Wobei normalen Sterblichen so ein Blick auf ihn selten vergönnt war und nur zu leicht unangenehme Folgen haben konnte. Denn dieser Mann war von einem glühenden Ehrgeiz erfüllt und er kannte keinerlei Skrupel, wenn er etwas haben wollte. Macht und Ein­fluss, klar. Aber vor allem ging es dabei um Kohle. Um sehr viel Kohle. ›Il Cardinale‹ hatte seine Finger so ziemlich in allem drin, womit etwas zu verdienen war. Alkohol stand natürlich ganz oben zu Zeiten der Prohibition, aber es gab ja auch noch andere Drogen. Dazu kamen Waffen, Glücksspiel, Mädchenhandel und was immer sonst noch lukra­tiv sein mochte.

Natürlich unterhielt er eine Privatarmee, genau wie sein Gegen­spieler vom irischen Syndikat. Sean ›The Jar‹ O'Malley kam ihm ziem­lich oft in die Quere in der letzten Zeit. Aber das Format von ›Il Cardi­

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nale‹ hatte er noch lange nicht erreicht. Denn das wirklich Besondere und ganz und gar Neue an diesem Gangsterboss war, dass er sein blutiges Gewerbe mit der Aura eines Geschäftsmanns betrieb. Er orga­nisierte seine Killerhorden mit der Akribie eines Buchhalters oder auch Bankdirektors. ›Il Cardinale‹ war so erfolgreich mit dieser Vermischung krimineller Machenschaften und ausgetüftelt ökonomischer Prinzipien, dass nicht wenige Geschäftsleute in der Stadt, solche, die gemeinhin als seriös bezeichnet wurden und an deren Erfolg weniger Blut klebte, in ihm gewissermaßen ein Vorbild sahen.

Seinen Spitznamen verdankte er seiner Marotte, alles und jedes mit Bibelzitaten zu garnieren. Das sagte man jedenfalls und ich stellte mir immer vor, dass da, mit einer ganz kleinen Abwandlung, vor allem eines in Frage kam: »Lasset die Dollars zu mir kommen.«

Aber wieso sollte einer von ganz oben sich darum kümmern, wenn ein kleiner Privatdetektiv sich auf die Suche nach einem verlorenen polnischen Onkel machte? Hörte Brendon diesmal die Flöhe husten?

Ich beschloss, das Büro für heute zu verlassen, um meiner Un­schlüssigkeit mit dem einen oder anderen Whiskey ein Ende zu setzen. Das Büro war im Moment einfach nicht die richtige Umgebung, um meinen grauen Zellen auf die Sprünge zu helfen. Und außerdem war morgen ja auch noch ein Tag.

*

Der nächste Tag begann für mich mit einer nicht eben angenehmen Überraschung. Denn kaum saß ich wieder im Büro, erhielt ich schon Besuch.

»Jetzt hab ich doch glatt vergessen, vorher anzuklopfen.« Quirrer stand schon zwei Schritte im Raum, als er das sagte. Sein in der Mitte exakt gescheiteltes Haar hatte die Farbe von nassem Sand und die fest um seinen Hals gezurrte lohbraune Krawatte gab ihm das Aussehen ei­nes Fisches, der auf dem Trockenen nach Luft schnappte.

Hatte er meine Kartei geplündert? Eher nicht. Dazu müsste er le­sen können, was ich stark bezweifelte. »Ich hab keine Zeit für Sie«, ließ ich ihn wie nebenbei wissen.

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Er wich nicht von der Stelle. »Was da passiert ist, war offenbar keine Kleinigkeit.« Er deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger auf mein blaues Auge, vielleicht auch auf die verkrustete Wunde darüber. »Wä­re das nicht ein Grund gewesen, um Anzeige zu erstatten? Oder es vielleicht jetzt noch zu tun?« Er grinste.

Ich hätte ihn auf der Stelle rausgeworfen. Aber ich fragte mich, wieso er überhaupt etwas von meinem Unfall wusste. Wenn ihm das so wichtig war, dass er hier aufkreuzte und das, wie Betty ja gesagt hatte, nicht zum ersten Mal, dann musste er sich etwas davon ver­sprechen. Aus Mitgefühl jedenfalls tat er so etwas nicht. Und so simpel gestrickt, wie er war, hätte ich ihm bestimmt das eine oder andere entlocken können.

An dem Tag ging es in meinem Büro aber zu wie im sprichwörtli­chen Taubenschlag. Denn jetzt stieß Betty die Tür auf und rammte sie Quirrer in den Rücken. Ich sah ihr an, dass sie sehr aufgeregt war und etwas sagen wollte. Was sie aber sofort verschluckte, als sie den Poli­zisten erblickte. Sie blieb hinter ihm stehen, mit weit aufgerissenen Augen. Die Zeichen, die sie mir mit den Händen zuwedelte, verstand ich nicht.

»Wenn ich hier einen anzeige, dann höchstens Sie«, ließ ich Quir­rer wissen. »Wegen Hausfriedensbruch zum Beispiel. Raus hier, sofort! Im Unterschied zu Ihnen hab ich nämlich zu tun!«

Ich sah, wie Betty hinter ihm noch etwas blasser wurde und was dann leise zu klappern begann, waren ausnahmsweise nicht ihre Ab­sätze, sondern ihre Zähne. Anscheinend kündigte sich da ein Nerven­zusammenbruch an. Ich stand auf, sehr langsam, weil es mit meinen geschundenen Knochen einfach nicht anders ging. Im Moment hatte das einen günstigen Nebeneffekt. Quirrer deutete meine Langsamkeit auf seine Weise und nahm sie als Bedrohung.

»Sie sollten sich Ihr Fleisch nicht direkt in den Stock Yards besor­gen«, murmelte er.

Klar, dass ich da die Ohren spitzte. »Da läuft zurzeit ein ziemlich großes Ding«, plusterte er sich auf.

»Genaues wissen wir noch nicht und wenn, dann ginge es Sie nichts an. Aber es ist nicht nötig, dass Sie uns in die Quere kommen.«

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Mit diesen ziemlich vagen Worten hoffte er wohl, sein Gesicht zu wahren. Dann ging er. Und ich kam eben noch rechtzeitig zu Betty, um sie aufzufangen. Wie ein nasser Mantel sackte sie in sich zusammen.

*

»Sei ein braves Mädchen und trink das!« Ich schob ihr das Glas hin. Auch mitten in der Loop, zwischen Banken, teuren Geschäften und Verwaltungsgebäuden, konnte man zur Not einen Schluck bekommen. Man musste nur die Nebeneingänge kennen, das Losungswort und schon öffnete sich ein Türchen.

Betty und ich mussten allerdings scheele Blicke ertragen. Ein Traumpaar sah anders aus, gar keine Frage. Sie war jetzt nicht mehr weiß im Gesicht, sondern richtig grün. Und noch immer brachte ich kein vernünftiges Wort aus ihr heraus. Mir blieb nur übrig, ihr den Whiskey einzuflößen wie eine Amme ihrem Schützling gezuckerte Milch. Auch eine Zigarette zündete ich an und schob sie ihr zwischen die Lippen. Irgendwie ging mir ihr Anblick nahe. Ich kannte sie schon eine ganze Weile, auch ihren gelegentlichen Hang zur Hysterie. Aber so aufgelöst hatte ich sie noch nie gesehen. Zum Glück taten Alkohol und Nikotin vereint allmählich doch ihre Wirkung.

»Ich hab heute Nacht nicht zu Hause geschlafen, weil ich doch Rudny suchen musste.« Ihre Stimme klang wie das Rascheln von Pa­pier, ich musste gehörig die Ohren spitzen, um sie zu verstehen. »Aber ich hab sie nicht gefunden. Und dann hab ich bei einer Freundin über­nachtet.« Sie verlor anscheinend den Faden.

»Noch einen Schluck«, drängte ich sie. Sie nickte und tat brav, was ich ihr sagte. »Aber heute Morgen

musste ich doch nach Hause, um mich umzuziehen. In der letzten Nacht bin ich klitschnass geworden. Meine Schuhe hab ich auch rui­niert dabei. Und dann stand ich vor meiner Wohnung. Die Tür stand offen.« Ihr Atem ging stoßweise.

»Und dann war die gute Rudny plötzlich wieder da«, riet ich und warf mir schon vor, mein Mitgefühl wie all den Whiskey sinnlos an sie verschwendet zu haben.

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»Nein, war sie nicht.« Wieder griff Betty nach dem Glas und wie­der begannen ihre Zähne zu klappern. »Da lag jemand anderes auf der Couch, die ich für sie zurechtgemacht hatte.«

Allmählich verlor ich jedes Interesse an dem Theater. »Lassen Sie mich raten - Rudnys Onkel. Sie hat ihn selber gefunden und quartiert Ihnen so nach und nach ihre ganze Sippschaft ein. Ein Pole kommt doch selten allein. Ja, Herzchen, so geht es, wenn man zu hilfsbereit ist und...«

»Der Mann war tot«, fiel sie mir ins Wort. »Ich glaube jedenfalls, dass es ein Mann ist. Denn sein Gesicht...« Sie krallte ihre eiskalte Hand in meinen Oberarm. »Ein toter Mann, bei mir in der Wohnung. Und von allein ist der nicht gestorben, das sage ich Ihnen!«

Sie sprach plötzlich so laut, dass ich ihr rasch noch einmal das Glas hinhielt. Das fehlte noch, dass sie mit unbedachten Worten noch mehr Aufmerksamkeit auf uns zog.

»Sie hätten gleich Quirrer Bescheid sagen können«, knurrte ich und zündete zwei Zigaretten auf einmal an, die eine für sie. »So etwas fällt doch eindeutig in seine Zuständigkeit.«

»Ich will nicht, dass der tote Mann auf meiner Couch liegt.« Hörte Betty mir überhaupt zu? Sie begann mir das zu beschreiben,

was von seinem Gesicht übrig geblieben war. Ich staunte, wie gut ihr das gelang. Mir wurde jedenfalls selbst etwas übel.

Ich bat den Bartender, uns noch etwas zu trinken zu geben. Er tat es, ohne die Miene zu verziehen. Vielleicht konnte er das auch gar nicht. Sein dürres Gesicht sah aus, als wäre es aus Holz geschnitzt.

»Sie müssen mitkommen«, wisperte Betty. »Der Mann muss da weg. Und bestimmt ist da auch überall Blut.« Sie begann zu weinen, zum Glück nur ganz leise.

»Die Tür stand offen, sagen Sie? War da sonst noch was auffal­lend?« Ich stellte die üblichen Fragen und hoffte, Betty würde sich wieder beruhigen.

»Ich hab nichts angefasst«, beteuerte sie. »Und auch nichts gese­hen. Außer dem Mann. Zuerst hab ich ja nur seine Füße gesehen. Ganz neue Schuhe. Und der Stoff seines Anzugs - grauer Flanell. Sogar ein Brusttuch hatte er, weinrot, sauber auf Kante gefaltet. Ganz zuletzt

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erst hab ich das mit dem Gesicht gesehen.« Die gute Betty hatte jetzt einen Schwips, aber immerhin, sie redete wieder halbwegs normal. Sie fasste sich an ihre Wangen. »Das Fleisch hier, es war einfach heraus­geschnitten. Ganz sauber, bis auf den Knochen. Und...«

»Das reicht.« Diesmal unterbrach ich sie. Frauen verloren manchmal von einem Moment auf den anderen einfach das rechte Maß. »Am besten, wir fahren da gleich einmal zusammen hin.«

Sie nickte und folgte mir dann, brav wie ein Schulmädchen. Vor dem Haus, in dem sich Bettys Wohnung befand, standen

schon ein paar Polizeiautos herum. Man wollte uns nicht hineinlassen. »Aber die Dame wohnt hier«, ließ ich den etwas übereifrigen Poli­

zisten wissen. Betty bestätigte es, brachte dann aber kaum ihren Namen heraus.

Man ließ uns endlich durch und in ihrer Wohnung oben wartete schon wieder einmal Quirrer.

»Ich leite hier die Ermittlungen!«, rief er und ahnte garantiert nicht, dass ihn sein Übereifer noch dümmer aussehen ließ als sonst. »Wieso haben Sie das nicht schon vorhin gesagt?«, grunzte er Betty an. »Ich hätte mir einen Weg sparen können. Sieht ja wirklich nicht gerade appetitlich aus.« Er wies zu der Flanellanzugleiche auf Bettys Sofa.

Quirrer benahm sich, als wäre er hier zu Hause. Auf Bettys Tisch hatte er einen Stift und einen Notizblock gelegt. Jetzt griff er nach bei­dem. »Wie heißt der junge Mann? Seit wann kennen Sie ihn? Wieso haben Sie ihm das Gesicht filetiert?«

Betty hörte vermutlich kein Wort, sie presste sich an die Wand gleich neben der Tür und schaute angestrengt nirgendwo hin.

»Sie kennt den Herrn leider nicht«, antwortete ich an ihrer Stelle. »Und offenbar hat er sein Backenfleisch ja anderswo verloren.« Mit einem einzigen Blick war das festzustellen. Es gab nämlich, im Gegen­satz zu Bettys Befürchtungen, nirgendwo Blut. Daraus schloss ich, dass das Schlachtfest anderswo stattgefunden hatte.

So weit war Quirrer noch lange nicht mit dem, was er Ermittlun­gen nannte. Er plusterte sich immer noch mehr auf, Frage um Frage schoss er auf die arme Betty ab. Weil ich mir sicher war, dass er auf

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jeden Fall die falschen Fragen stellen würde und Betty im Moment sowieso nichts hörte, kümmerte ich mich um anderes. Das Gemurmel draußen auf dem Flur verriet, dass immer mehr Nachbarn zusammen­liefen. Ich besah mir die Tür genauer und fand nirgendwo Ein­bruchspuren. Ein kurzer Gang genügte, die Wohnung war nicht größer als meine. Eine zweite Tür gab es nicht.

Aber dann entdeckte ich doch etwas. Quirrer stand direkt neben dem Sofa mit der Leiche und war drauf und dran, auf den Schlüssel zu treten. Ich bückte mich rasch, nahm ihn an mich. Der Ring war mit einem blauen Bändchen markiert.

»Machen Sie doch endlich Platz, Herrschaften!«, hörte ich den Po­lizisten vor der Tür sagen. »Lassen Sie den Captain doch durch!«

Ich versenkte den Schlüssel eben in meiner Jackettasche, als min­destens einhundertzehn Kilo eintraten, verteilt auf knapp zwei Meter: Captain Morgan C. Hollyfield. Im Unterschied zu Quirrer hatte der Lei­ter der Mordkommission durchaus Manieren.

»Hatte mir fast schon gedacht, dass Sie hier sein würden«, grunz­te er mich an. »Irgendwie kam mir der Name bekannt vor.«

Ja, Humor hatte er auch. Betty Meyers gab es garantiert nicht zu knapp in dieser Stadt.

»Ich bin erst nach Ihren Fußtruppen hier eingetroffen«, ließ ich ihn wissen. »Für meine Sekretärin ist das ein harter Schlag. Sie steht unter Schock.«

»Sie ist bekannt mit dem Opfer?«, erkundigte sich Hollyfield eine Spur süffisant. Seine grauen Augen hatten die Eigentümlichkeit, immer wieder andere Nuancen anzunehmen. Im Moment erinnerten sie an schmutzigen Schnee.

»Eben nicht«, erwiderte ich. »Stellen Sie sich den Schreck vor. Kommt nach Hause und findet einen fremden Mann auf ihrer Couch. Und dann ist der auch noch tot.«

»Hat man mit Ihnen auch etwas in der Art vorgehabt?« Der Cap­tain wies auf mein verbeultes Gesicht. »Hab schon gehört von der Sa­che... Quirrer, jetzt lassen Sie doch die arme Frau in Ruhe! Fangen Sie lieber endlich mit der Spurensicherung an!«

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Betty weinte wieder. Zur Abwechslung völlig lautlos. »Ich nehm sie mit ins Büro«, ließ ich Hollyfield wissen, »bis Sie hier mit allem fer­tig sind. Die Adresse kennen Sie ja.«

So willenlos, wie Betty sich von mir mitziehen ließ, hätte sie sich garantiert auch von Quirrer Handschellen anlegen lassen. Die Ärmste war wirklich völlig fertig. Das Getuschel ihrer Nachbarn verstummte, als ich uns eine Schneise durch die neugierig gaffende Menge bahnte. Betty wirkte mit jedem Schritt wackliger, sodass ich vorsichtshalber meinen Arm um ihre Hüften legte.

Sobald wir in meinem Wagen saßen, schien es ihr aber deutlich besser zu gehen. Ich griff nach dem Schlüssel mit dem blauen Band. »Kennen Sie den?«

Sie nickte. »Klar! Es ist der, den ich Rudny gegeben habe. Woher haben Sie ihn?«

»Er lag bei Ihnen auf dem Teppich. Und zwar so, dass er gut aus einer Tasche des grauen Flanellanzugs gefallen sein könnte.«

»Und was sagt uns das?« Betty fand Halt an ihrer Handtasche, die sie mit beiden Händen umklammerte. So fest, dass ihre Knöchel ganz weiß hervortraten. Aber immerhin, sie bewahrte Haltung und weinte jetzt auch nicht mehr.

»Das weiß ich im Moment leider auch noch nicht«, musste ich zugeben. Dann fischte ich ganz automatisch in meiner rechten Tasche nach einer Zigarette, steckte sie mir in den Mundwinkel und ließ den Motor an und das Feuerzeug aufflammen. Ich tat das immer in dieser Reihenfolge, es war eine oft geübte Bewegung. Aber dass sie jetzt so auf Anhieb gelang und beinahe ohne das es mir Schmerzen verursach­te, freute mich dann doch. Denn hieß das nicht, dass meine Knochen und Muskeln sich langsam erholten? »Es geht eindeutig bergauf«, murmelte ich und sah Betty aufmunternd an.

Vermutlich sah sie das ein bisschen anders. Eine seltsame Abwe­senheit lag in dem Blick, mit dem sie mich anschaute. »Und was ma­chen wir jetzt?«

»Das, was Sie die ganze Zeit wollten.« Ich fädelte mich in den Verkehr ein. »Wir suchen ganz einfach nach Ihrer Freundin Rudny.«

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»Ganz einfach? Und wie machen wir das? Seit Tagen laufe ich mir ihretwegen die Hacken ab!«, jammerte Betty. »Sie ist wie vom Erdbo­den verschwunden.«

Insgeheim gab ich Betty durchaus Recht. Es gab da wirklich ein kleines Problem. So ähnlich wie mit der Nadel im Heuhaufen. Aber ich war im Moment nun mal entschlossen, die Dinge nicht allzu schwarz zu sehen. »Wir fahren jetzt erst einmal ins Büro, schon damit Hollyfield nicht noch einen Aufstand macht. Ach ja, da fällt mir ein... Wissen Sie, was mit unserem Archiv passiert ist?«

Betty zog die Nase hoch. »Natürlich weiß ich das. Sie haben mir doch den Auftrag gegeben, wegen der Hasenpfote nachzuschauen. Aber ich hatte keine Lust, im Büro herumzusitzen. Deshalb habe ich das ganze Zeug mit nach Hause genommen. Weil ich doch dachte, Rudny kommt irgendwann wieder. Und dann wollte ich da sein.«

»Und?« »Nix und, sie ist nicht wieder gekommen, das wissen Sie doch! Die

halbe Nacht hab ich mir um die Ohren geschlagen. Denn irgendwann hielt ich es zu Hause nicht mehr aus. Nur rum sitzen und warten, das ist nichts für mich.« So wie sie fauchte, erholte sie sich erstaunlich rasch von der Schändung ihres trauten Heims durch eine Leiche.

Ich seufzte und schüttelte den Kopf. »Das meine ich nicht. Das Ar­chiv! Haben Sie da etwas gefunden?«

Sie verneinte. »Lange suchen musste ich ja nicht, man müsste das alles mal auf den neusten Stand bringen.«

Ich musste lachen. Begriff sie, dass sie da eine Aufgabe für sich selbst gefunden hatte? Eine, zu der ich sie mehr als einmal schon auf­gefordert hatte?

»Aber da war nichts mit einer Hasenpfote«, fuhr sie fort. »Nur ein Rezept für Kaninchen, geschmort in Tomaten und Rotwein. Der Hand­schrift nach hat sich das Joe Bonadore notiert, Gott hab ihn selig.«

Sie verdrückte eine Träne im Gedenken an meinen Partner. Aber zum Glück wirklich nur eine.

Gleich darauf waren wir da. Die braune Limousine mit den weißen Kotflügeln auf der anderen Straßenseite fiel mir gleich auf. Ich trödelte sogar noch ein bisschen herum, aber niemand stieg aus.

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*

Als Betty dann tatsächlich mal wieder vor ihrer Schreibmaschine saß, sich die Nägel zwar nicht lackierte, aber doch immerhin prüfend be­trachtete, stellte sich bei mir wieder dieses heimelige Gefühl ein. War ich nicht ganz gut dran, jedenfalls im Vergleich zu ziemlich vielen an­deren? Es gelang mir mit ein wenig Zähnezusammenbeißen sogar, meine Beine auf den Schreibtisch zu legen und meine zuversichtliche Stimmung wuchs noch ein bisschen. Mit einer Lucky zwischen den Zähnen schielte ich immer wieder zum Fenster hinaus. Drüben stand immer noch die Limousine mit den weißen Kotflügeln. Und noch immer stieg niemand aus oder ein.

Aber ich wollte mich nicht ablenken lassen von Dingen, die mich nichts angingen. Außerdem war mir wirklich danach, mal einfach zu ar­beiten in diesem Büro. Zuerst musste ich etwas für Betty zu tun fin­den.

Wie sehr sich Zuversicht doch gelegentlich auszahlte! Das Telefon hätte wirklich in keinem besseren Moment klingeln können. Ich sah Betty auffordernd an, ihr Blick auf mich war eher voll Abwehr.

»Gehen Sie ran, dafür bezahle ich Sie!«, rief ich ihr in Erinnerung. Sie schien dennoch erst nachdenken zu müssen. Und obwohl Bet­

ty den Hörer von ihrem Platz aus ohne weiteres hätte abnehmen kön­nen, stand sie dann umständlich auf. Vermutlich nur, um mit diesem albernen Hüftschwung um ihren Schreibtisch herumgehen zu können, bestimmt hatte sie das in einer billigen Show so gesehen. Sie meldete sich und nuschelte meinen Namen in den Hörer.

Gleich darauf aber war es um ihre Lässigkeit geschehen. »Rudny, endlich! Wo steckst du nur? Weißt du, welche Sorgen ich mir mache? Und was meinem Chef passiert ist, bloß weil er... Ja, er ist da. Aber Rudny, wieso... jetzt sag mir doch...«

Ich streckte schon mal den Arm aus in Richtung Telefon aus. »Das ist Rudny. Sie will Sie sprechen.« Betty verbarg nicht, wie

gekränkt sie war. Vielleicht dämmerte ihr ja in diesem Moment, wie wenig einem Hilfsbereitschaft einbrachte. Zumindest dann, wenn man

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sich die angeblich Hilfsbedürftigen vorher nicht genau anschaute. Dann legte sie auf, nachdem ich den Hörer von meinem Apparat ge­nommen hatte.

»Was gibt's denn?« Ich hielt es nicht für nötig, mich noch einmal zu melden und hatte vor, die Sache schnell hinter mich zu bringen.

Aber diese kleine Polin war für Überraschungen gut. »Ja, den Wagen sehe ich«, bestätigte ich ihre Frage und schaute

dabei wieder zum Fenster hinaus. »Und wieso sollte ich in den einstei­gen? Und dann auch noch jetzt gleich. Meinen Sie denn, ich hätte hier nichts zu tun und warte nur auf Ihren Anruf?«

Betty nickte zustimmend, anscheinend gefiel ihr der Ton, in dem ich mit Rudny sprach.

Die aber hatte die nächste Überraschung für mich parat. »Der To­te in Bettys Wohnung? Sie kennen ihn?«

Betty fiel der Unterkiefer herunter. Rudny wusste sogar von meinem Besuch in den Stock Yards. Je­

denfalls machte sie Andeutungen in dieser Richtung. Und sie deutete gewisse Zusammenhänge an, sprach davon, wie kompliziert das alles sei. Und viel zu heiß, um es am Telefon zu besprechen.

Was blieb mir da übrig, als der Bitte der Lady zu folgen? Ich ließ den Hörer auf die Gabel fallen, dann verließ ich schon das Büro.

Von der Straße aus sah ich Betty dann oben am Fenster stehen. Sie war es nun, die zuschaute, wie endlich doch jemand in die Limou­sine mit den abgedunkelten Scheiben stieg. Und dieser Jemand war ich.

*

Wie kam ein armes Polenmädchen mit zerrissenen Strümpfen, zer­schlissenem Mantel und einem verbeulten Hut aus der vorletzten Sai­son zu so einem Wagen? Der Fahrer trug eine braune Livree, seine eisengrauen Haare waren exakt in der Mitte gescheitelt und penibel pomadisiert. Seine blauen Backen verrieten, dass er sich zweimal täg­lich rasierte. Mit unbeweglichen Augen in der Farbe von stumpfem Schiefer saß er am Steuer, als sei er auf diesem Platz festgewachsen

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und seine Mimik erinnerte mich sofort an ein Vorhängeschloss. So ei­nem war kein unbedachtes Wort zu entlocken. Aber vielleicht doch eine ganz normale Information? Ich versuchte mein Glück.

»Wohin geht's denn?«, fragte ich so leichthin wie möglich, ganz so, als sei ich an derartige Spazierfahrten gewöhnt.

Vielleicht war er ja wirklich taub. Wenn er sich nur so stellte, dann tat er das sehr überzeugend. Keine Wimper zuckte, er fuhr, als sei ich gar nicht da.

Aber im Grunde war meine Frage ja auch überflüssig. Mr. Vorhän­geschloss fuhr nach Norden, mit der flüssigen Schwerfälligkeit eines Schiffes glitt der Wagen durch den Verkehr. Dass es Mittagszeit war, verriet mir der dichte Verkehr draußen sowie mein knurrender Magen. Ob die rätselhafte Rudny das wusste und gar mit mir essen wollte?

Ich versuchte, mich etwas zu entspannen. Flüchtig dachte ich an meine Smith & Wessen, die wieder einmal im Büro in der Schreibtisch­schublade lag. So ist das eben mit alten Gewohnheiten. Hinter den Scheiben sauste die Michigan Avenue an mir vorbei.

Ja, wieder einmal diese Straße. Jetzt aber ging es auf die North-Side, wo sich die Stadt von ihrer prächtigsten Seite zeigte. Ein Superla­tiv reihte sich hier an den anderen, die höchsten Wolkenkratzer mit Blick über die ganze Stadt, bis zum Michigansee, das größte Hotel, die schicksten Clubs, die teuersten Geschäfte. Dazu natürlich elegante Restaurants, Museen, Bibliotheken. Architekten aus aller Welt hatten hier ihre Markenzeichen hinterlassen.

Als wir uns dem Lincoln Park näherten, rechnete ich damit, Mr. Vorhängeschloss würde nach links abbiegen, in die Lincoln oder Clarke Avenue. Das tat er aber nicht. Er hielt weiter geradeaus, bis wir auf dem North Lake Shore Drive waren. Spätestens jetzt gab ich es auf, an Entspannung zu denken. Erwartete mich Rudny etwa auf einem der Vergnügungsdampfer, die hier am Pier lagen? Oder, gar nicht auszu­denken - residierte sie irgendwo am Lake Shore Drive? In Chicago gab es einige Straßen, die für die oberen Zehntausend reserviert waren. Der Lake Shore Drive war den oberen Hundert vorbehalten.

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Mir fiel auf, wie schäbig mein neuer Mantel war. Und meine Schu­he hätten längst mal geputzt werden müssen. Und wie lang war es schon her, dass ich bei einem Friseur vorbeigeschaut hatte?

Überflüssige Fragen, Mr. Vorhängeschloss verringerte bereits das Tempo. Rudny Hurok musste mich eben nehmen, wie ich war. Rechts von uns schlierte der Michigansee in einem diesigen Blaugrau vor sich hin, während sich auf der linken Straßenseite Häuser aneinander reih­ten, die meist im englischen Stil gehalten waren. Das etwas Düstere stand für Vornehmheit, klar, genau wie die riesigen Gärten, in denen diese Villen versteckt waren und die hohen Zäune, die alles nach au­ßen abschirmten. Vor einem solchen Anwesen stoppte Mr. Vorhänge­schloss endlich. Hinter dem Zaun wuchs hier zusätzlich noch eine grü­ne Hecke, so sorgfältig gestutzt wie ein französischer Pudel.

Aber was war das? Das große Tor öffnete sich nicht. Ging Rudny hier einfach spazieren, um die Seeluft zu genießen? Als ich die Wagen­tür öffnen wollte, schüttelte Mr. Vorhängeschloss den Kopf. Eigentlich war es nur ein kurzer Ruck nach links, dann nach rechts. Aber das hieß wohl, dass ich sitzen bleiben sollte.

Es dauerte zum Glück nicht allzu lang, bis ich den Grund begriff. Ein Mann öffnete das große schmiedeeiserne Tor. Selten hat ein Poli­zeiauto ärmlicher auf mich gewirkt als jenes, das nun durch das Tor fuhr. Ich erkannte Hollyfield, am Steuer saß Quirrer. Ich rutschte tiefer in die Polster, damit mich die beiden nicht sehen konnten.

Gleich darauf knirschte der Kies unter den Rädern. Es dauerte ei­nige Zeit, bis wir endlich vor dem Haus eintrafen. Diesmal regte sich Mr. Vorhängeschloss nicht, als ich die Tür öffnen wollte. Ganz automa­tisch steckte ich mir eine Lucky an, aber als dann unter dem großen Portal aus glänzend poliertem Mahagoni ein schwarzes Mädchen er­schien – schwarz natürlich auch ihr Kleid, bis auf den blütenweißen Spitzenkragen -, dämmerte mir, dass man solch ein Haus nicht ganz so lässig betrat. Ich warf die brennende Zigarette mit einem Schwung in das nächste Blumenbeet.

»Miss Hurok erwartet sie«, flötete das Mädchen. Sie ging mir durch eine holzgetäfelte Eingangshalle voran, in der

es durchdringend nach irgendwelchen exotischen Blüten roch. Von der

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Decke hoch oben baumelte ein vielarmiger Kristalllüster, wenn ich zu fest auftrat, klirrten die tropfenförmigen Splitter. Dabei versank ich bei jedem Schritt in einem flaumweichen Teppich.

Man musste eben doch einen polnischen Onkel haben, ging es mir durch den Kopf. Da öffnete das Mädchen schon eine Tür und ich stand Rudny Hurok gegenüber.

»Schön, Mr. Connor, dass Sie so rasch kommen konnten.« Sie kam mir in einem Hausmantel aus meergrün schillerndem Sa­

tin entgegen, ihre ausgestreckte Hand war sorgfältig manükiert. »Das war mit Ihrer Hilfe kein großes Problem«, erwiderte ich und

wusste nicht, wohin mit meinem Hut. »Setzen Sie sich doch«, forderte sie mich auf. Es war ziemlich gekonnt, wie diskret sie es vermied, auf die Bles­

suren in meinem Gesicht einzugehen. Aus der Einrichtung schloss ich, dass wir uns in einem Schreibsalon befanden. Rudny nahm hinter dem Schreibtisch aus sehr hellem Holz Platz, ich davor. Der Schreibtisch sah nicht nach Arbeit aus. Eine grüne Filzunterlage mit einer Schreibgar­nitur aus Onyx, ein kleiner Messingkalender und eine Ohrschnecken­muschel als Aschenbecher. Mehr war da nicht.

Rudnys Zigarettenspitze schimmerte in mattem Elfenbein. Sie war­tete darauf, dass ich ihr Feuer gab. Das tat ich auch, hatte aber das Gefühl, dass es nun Zeit wurde, das Heft in die Hand zu nehmen.

»Sie hatten eben Besuch von der Polizei?« Als auch meine Zigaret­te glimmte, setzte ich mich wieder.

Rudny winkte ab. Jetzt erst sah ich, dass sie geweint hatte und nicht geschminkt war. »Von denen ist ja doch nichts zu erwarten. Ge­nau deshalb habe ich Sie zu mir gebeten. Sie wissen, was mit Clark Whitney geschehen ist?« Tränen verfärbten ihre dunklen Augen zu einem moorigen Blau.

»Der Tote, der Bettys Sofa zweckentfremdet hat?«, vermutete ich. So schwer war das ja nicht, wenn man eins und eins zusammenzählte.

»Wer tut so etwas?« Sie hatte plötzlich ein Batisttuch in der Hand, fein mit Spitze umrandet. Ich sah, dass es längst nass war, als sie es sich gegen die Augen presste.

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»Sie kannten ihn also?«, vergewisserte ich mich der Ordnung hal­ber.

»Wir waren... verlobt.« Ihre Stimme klang erstickt, man ahnte, wie viel Wasser da noch immer zu Tränen werden wollte. Sie stand auf und trat an eines der bis zum spiegelblanken Parkettboden reichenden Fenster. Mir war es ganz recht, dass sie mir den Rücken zuwandte. Weinende Frauen haben eine leicht paralysierende Wirkung auf mich.

»Nicht nur verlobt«, kam es vom Fenster her. »Er hat mich ge­liebt. Und ich ihn. Und außer ihm... habe ich keinen Menschen.«

»Moment mal, ist da nicht dieser Onkel?«, erinnerte ich und drückte meine Zigarette aus, um gleich nach der nächsten zu greifen.

»Ach, vergessen Sie ihn!«, zischte Rudny wütend und drehte sich abrupt um.

»Und was ist damit?« Ich zog den Schlüssel mit dem blauen Band aus der Tasche.

Sie brauchte einen Moment, bis sie ihn erkannte, oder erweckte jedenfalls den Eindruck. Endlich nickte sie. »Ich sagte Ihnen doch, ich war mit Clark verlobt. Warum sollte ich ihm da nicht diesen Schlüssel geben?«

»Hm«, brummte ich. »Ein paar Fragen bleiben da schon noch. Wieso mussten Sie bei Betty wohnen? Wo Sie doch offenbar ganz an­dere Möglichkeiten haben?«

»Ich... wohne erst seit kurzem hier. Verstehen Sie doch, ich liebte Clark. Und ich wollte ihm nicht zur Last fallen.« Rudny hatte den ers­ten guten Einfall, seit ich hier war. Sie ging zu einer Kommode mit Intarsienarbeiten, auf der jede Menge Flaschen standen. Sie wies auf eine mit Whiskey und sah mich fragend an. Ich kannte das Label, hat­te es aber meist nur aus großer Entfernung gesehen. Der Inhalt war so gut wie teuer. Als ich nickte, füllte sie zwei Gläser. »Und außerdem war da ja die Sache mit meinem Onkel. Ich wollte Clark da nicht mit hineinziehen. Sie sehen ja selbst, in welcher Welt Clark zu Hause war.« Wie gut das Timbre ihrer tiefen Stimme doch in diese Umgebung pass­te, zu den seidenen Tapeten, den dicken Samtbezügen der Stühle, dem undefinierbaren, leicht flirrenden Licht, das von draußen herein­fiel. Offenbar hatte es die Sonne durch die Wolken geschafft.

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»Aber ich denke, das mit dem Onkel ist Ihnen nicht mehr wich­tig«, musste ich sie auf einen kleinen Widerspruch hinweisen.

»Jetzt natürlich nicht mehr, wo Clark tot ist!« Ihre Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. »Die Polizisten haben mir beschrieben, wie sie ihn gefunden haben.« Sie schluckte und schlug die Augen nie­der. »Stimmt das? Ich meine, was man mit seinem Gesicht gemacht hat. Haben Sie ihn auch gesehen?«

»Wie kommen Sie darauf?«, spielte ich auf Zeit. »Sie haben den Schlüssel«, versetzte sie etwas mokant. »Die Poli­

zisten wussten nichts von ihm.« Okay, denken konnte die Lady, trotz aller Trauer. »Ja, es stimmt«,

gab ich zu. »Ich hab ihn gesehen. Bestimmt haben Sie ihn hübscher in Erinnerung.«

Sie tupfte sich wieder ein paar Tränen ab, dann nahm sie endlich einen großen Schluck aus ihrem Glas. Meins war schon beinahe leer.

»Wieso wurde er auf Bettys Sofa zwischengelagert?«, schob ich die Frage nach, die mich die ganze Zeit beschäftigte. »Diese Schnitze­reien in seinem Gesicht wurden ihm nämlich nicht dort zugefügt. Wer macht sich die Mühe, einen so traurig verunstalteten toten jungen Mann in der Wohnung einer kleinen Sekretärin abzulegen? Und wozu diese Mühe? Wer wollte, dass er ausgerechnet dort gefunden wird, zu welchem Zweck?«

»Sie wollen ja mehr wissen als die Polizei!«, empörte sich Rudny. »Und Sie tun ja glatt, als hätte ich etwas damit zu tun!«

Ich stand auf, mein Glas war leer. Und ich wollte ihr einfach mal richtig tief in die Augen sehen. Denn von ihrer Antwort hing jetzt wirk­lich einiges ab. »Und Sie haben nichts damit zu tun?«

Sie presste ihre Lippen zu einer schmalen Linie zusammen. Kein Wort kam heraus. Aber sie schüttelte heftig den Kopf. Und sie hielt meinem Blick stand. Sie bemerkte sogar mein leeres Glas und wies mit dem Kinn zu der Flasche.

Ich bediente mich. Wie lang würde es dauern, bis so etwas wieder einmal durch meine Kehle rann? »Und was wollte Hollyfield von Ihnen wissen?«

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»Das Übliche eben.« Sie seufzte. »Seit wann ich ihn kenne. Womit er sein Geld verdient. Welche Leute er kennt.«

Es waren alles Dinge, die auch für mich von Interesse waren. »Und? Was haben Sie denen erzählt?«

»Ich kenne Clark erst seit kurzem. Es war Liebe auf den ersten Blick. Seine Freunde kenne ich natürlich noch nicht. Gestern war ich zum ersten Mal in diesem Haus. Weil ich mit ihm verabredet war und er nicht gekommen ist. Da ist er womöglich schon tot gewesen.« Mit einem diesmal etwas größeren Schluck spülte sie die Tränen aus ihrer Kehle. »Geld verdienen«, sagte sie dann in einem richtig zärtlichen Tonfall, »das hatte Clark nicht nötig. Er hat mir erzählt, sein Vater ha­be ein Vermögen gemacht. Womit, das weiß ich nicht.«

»Und das haben Sie den Polizisten erzählt?«, hakte ich nach. Als ob irgendeine ihrer Auskünfte nennenswert gewesen wäre! »Ich fände es nicht nett, wenn...«

»Ich hab denen haargenau dasselbe erzählt wie Ihnen!«, fiel sie mir ins Wort.

»Und was wollen Sie nun von mir?« Solange in der Flasche da drüben noch so viel Whiskey war, hätte ich ihr gar nicht ungern auch noch länger zugehört.

»Das fragen Sie? Sie sollen Clarks Mörder finden! Oder trauen Sie das der Polizei zu?«

Ich band ihr nicht auf die Nase, was ich von der Polizei dieser Stadt dachte. Aber ich hielt es nun doch für an der Zeit, sie auf mein blaues Auge hinzuweisen und auf einiges mehr, was nicht so offen­sichtlich war. »Das ist passiert, als ich mich nach Ihrem Onkel um­schauen wollte. Ich bin nicht scharf darauf, dass sich so etwas bald wiederholt.«

Sie bedachte mich mit einem Blick, in dem sich Trauer, Zorn und auch etwas wie Verachtung mischten. »Aber Sie leben«, kam es dann wie ein Hauch über ihre Lippen. »Clark dagegen ist tot.«

Dann öffnete sie eine Schublade des Schreibtischs. »Sie sagten neulich, fünfundzwanzig Dollar am Tag sind Ihr üblicher Satz?«

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Ich hörte das Rascheln von Scheinen und ärgerte mich, ihr diesen Tarif genannt zu haben. Für Leute, die in solchen Kreisen verkehrten wie sie, fällt meine Honorarforderung gewöhnlich anders aus.

Sie kam erfreulicherweise von selbst auf denselben Gedanken. Drei Hunderter lagen plötzlich in ihrer Hand. »Das dürfte doch für den Anfang reichen? Spesen natürlich zusätzlich.«

Als die Franklins in meiner Manteltasche verschwanden, fühlte ich mich fast schon so wie der Unternehmer, dessen Porträt sie zierte.

»Der Fahrer wartet schon auf Sie«, ließ sie mich wissen. Ich nickte. Schon an der Tür, fiel mir noch etwas ein. »Wo kann

ich Sie erreichen? Wird das nun künftig Ihr fester Wohnsitz?« »Das glaube ich kaum.« Ein ausgesprochen sphinxhaftes Lächeln

folgte. »Etwa wieder bei Betty?« Sie schüttelte den Kopf. »Das ist nicht Ihr Problem. Ich weiß ja,

wo ich Sie finde.« Damit war ich entlassen.

*

Ich fand, Betty konnte sich nicht beklagen über einen Arbeitgeber wie mich. Als ich ins Büro zurückkam, sah sie gerade die Post durch. Reine Tarnung, wie ich an ihren glänzenden Fingernägeln erkannte. Es lag auch noch ein Rest von Aceton in der Luft. Ich lud sie trotzdem zum Essen ein.

»Ich weiß nicht, ob ich was runterkriege«, zweifelte sie. »Nach dem Schock...«

Ihre Lust auf ein Steak trug dann aber eindeutig den Sieg davon. Sie kaute geradezu andächtig und sagte kein Wort. Das half mir dabei, laut nachzudenken. Ich musste endlich Ordnung in die verwirrte Ange­legenheit bringen. Laut gelang mir das immer am besten.

»Dass der schöne Clark auf Ihrem Sofa gefunden wurde, kann nur eine Warnung sein«, begann ich. »Fragt sich nur, an wen.«

Betty machte kugelrunde Augen. »Na hören Sie mal, es ist meine Wohnung! Und ich bin immerhin Ihre Sekretärin! Und Sie haben nach

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Rudnys Onkel gesucht. Wobei, was meine Wohnung betrifft, die Miete für diese Woche habe ich übrigens noch nicht...«

»Das klären wir später«, knurrte ich. »Was ist an mir so wichtig, dass sich jemand so große Umstände mit einer Leiche macht? Und was hat es mit diesem Onkel auf sich? Rudny scheint es inzwischen übri­gens nicht mehr zu interessieren, ihn zu finden.«

»Sie ist eine falsche Schlange!«, zischte Betty. »Ich dachte, sie braucht Hilfe! Und sie hat mich ganz einfach nur ausgenützt! Reinge­fallen bin ich auf ihre rührselige Masche! Wenn ich die noch einmal sehe...«

In Gedanken an die Franklins hob ich beschwichtigend die Hände. Betty wurde im Moment ebenfalls rührselig. »Fakten, Süße, nur das zählt jetzt. Und Irrtümer sind da, um aus ihnen zu lernen. Sagt Ihnen der Name Clark Whitney was?«

Betty leckte sich die Lippen. Ihr Teller war leer. Sie spülte mit ei­nem kräftigen Schluck nach und fingerte dann eine Zigarette aus ihrer Tasche.

»Der würde Ihnen auch was sagen, wenn Sie die Zeitung nicht so oberflächlich lesen würden.« Offenbar gefiel ihr der Mann, der am Ne­bentisch Platz nahm. Meinetwegen schlug sie die Beine garantiert nicht so aufreizend übereinander. »Dieser Whitney ist einer der begehrtes­ten Junggesellen der Stadt. Okay, gewesen«, verbesserte sie sich und griff wieder nach ihrem Glas. »Ein Dandy, wenn Sie mich fragen. Auf einem der letzten Fotos trug er Gamaschen und einen Spazierstock aus Ebenholz. Wenn Sie wissen, was ich damit meine.« Sie starrte an mir vorbei ihrem Rauch hinterher. »Für meinen Geschmack hat der immer ein bisschen zu dick aufgetragen. Möglich, dass er das noch gelernt hätte, er war ja noch jung. Und mit einem Daddy mit so viel Penunsen...« Sie erzählte mir alles, was sie aus den Klatschspalten hatte.

Nicht gerade die Information, auf die ich scharf war. Insgesamt aber doch deutlich besser als nichts. Ein Niemand war dieser Whitney jedenfalls nicht gewesen, eher schon der sprichwörtliche bunte Hund. Es dürfte leicht sein, da noch mehr zu erfahren. Von Brendon zum Beispiel. Ich wusste zufällig, dass er sich am frühen Abend mit ein

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paar Kollegen in ein er Billard-Kneipe treffen würde und nahm mir vor, dort vorbeizugehen. Ich hatte sowieso in der Gegend zu tun, dort hat­te der Doc seine Praxis, der mir Mull und Pflaster dringend erneuern musste.

Betty hatte inzwischen anscheinend vergessen, dass sie mit mir hier war. Sie flirtete hemmungslos mit dem Kerl am Nebentisch. Erst als ihr Glas leer war, erinnerte sie sich wieder an mich. »Der da zum Beispiel hat längst nicht so viel Knete wie Whitney«, glaubte sie mich aufklären zu müssen. »Aber dafür hat er Stil. Eine eigene Handschrift, wenn Sie wissen, was ich damit sagen will.« Sie klimperte mit den Wimpern.

Ich sorgte für Nachschub in unseren Gläsern. Das mit der Hand­schrift verhakte sich in meinen Gehirnwindungen. »Was die mit Whit­ney gemacht haben, ist auch was in der Art. Eine wirklich eigene Handschrift.« Ich wusste genau, wovon ich sprach, so lang lag mein Ausflug in die Stock Yards ja noch nicht zurück.

Betty sah mich verständnislos an. Mir aber dämmerte in diesem Moment ein Zusammenhang. Nein, diese Art von Leichenpräparierung konnte kein Zufall sein. Das war die Handschrift von Männern mit sehr breiten Schultern. So gesehen hatte ich richtig Glück gehabt. Auch mit mir hätten die ja noch ganz anderes anstellen können. Und ob Whit­neys Zurschaustellung auf Bettys Sofa nun eine Warnung an mich sein sollte oder doch etwas anderes, spielte im Moment gar keine Rolle. Die Schlachthöfe allerdings schon, nur so entstand da eine gewisse Ver­bindung.

Ich verschwieg Betty, was mir durch den Kopf ging und schickte sie ins Büro zurück. »Sie haben doch selbst gesagt, jemand müsste sich mal um die Karteikarten kümmern.«

»Bin ich jemand?«, gab sie pikiert zurück. Dann aber fiel ihr doch wieder ein, dass ich dieses Essen bezahlen würde. »Schon gut.« Sie grinste und zog ihren Rock zurecht.

»Oder wollen Sie lieber Schluss machen für heute und nach Hause gehen?«

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Sie guckte so erschrocken, dass ich den kleinen Scherz gleich be­dauerte. »Ich hab doch gesagt, es ist in Ordnung. Sie haben mich üb­rigens noch gar nicht gefragt, wie es mit Quirrer war.«

»War der schon bei Ihnen?« Dann fiel mir der Schlüssel ein. Ich zog ihn aus der Tasche und legte ihn auf den Tisch. Betty war schließ­lich seine rechtmäßige Besitzerin. »Sie haben ihm davon doch wohl nichts gesagt?« Ich hatte ganz vergessen, sie darauf hinzuweisen, dass Quirrer davon so wenig wissen müsste wie sein Chef.

»Quatsch!«, rief sie empört und nahm den Schlüssel an sich. »Ar­beite ich etwa erst seit gestern bei Ihnen?« Gleich darauf rauschte sie davon. Der Typ am Nebentisch sah ihr sehr direkt hinterher.

*

Als ich am späten Nachmittag die Praxis des Knochenflickers verließ, fühlte ich mich wie ein frisch gewickeltes Baby. Der Doc war zufrieden damit gewesen, wie meine Wunden verheilten. Mit mir weniger, er hatte was von Bettruhe gefaselt. Tja, so einer wusste eben nicht, was Arbeit hieß.

Es waren nur zwei Blocks zu dem Billard Parlour, in dem sich Brendon regelmäßig mit Kollegen zu treffen pflegte. Nicht nur auf ein paar gepflegte Spielchen, sie tauschten dort auch Informationen aus.

Zum Eingang führten ein paar Stufen hinunter. Außer wieder ein­mal Brendon anzuzapfen hatte ich auch vor, der Heilung meiner Wun­den auf die bewährte flüssige Art nachzuhelfen. Vorn in dem Billard­raum herrschte Halbdunkel, aber weiter hinten gab es Licht. Sehr har­tes, weißes Licht. Ich erkannte darin ganze Trauben von Köpfen und Schultern, auch Brendon entdeckte ich gleich. Für so viele Leute war es vergleichsweise still. Gedämpftes Murmeln, ansonsten war da nur das Klicken von Kugeln, der dumpfe Aufprall gegen die Bande und gleich noch einmal Bande und endlich dann das Fallen der Kugeln zu hören. Das hatte wahrlich Applaus verdient und als ich in den hell er­leuchteten hinteren Raum trat, verstärkte sich das Gemurmel.

Brendon war gerade damit beschäftigt, sein Queue zu kreiden und die Lage der Kugeln auf dem Tisch mit den Augen zu vermessen. Zwi­

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schen seinen Lippen hing die übliche Zigarre und während er sich auf seinen Stoß vorbereitete, hörte er dem Mann aufmerksam zu, der ne­ben ihm stand. Dieser war hoch gewachsen, blass, zeigte ein leiden­schaftsloses Gesicht und sauber gescheiteltes Haar von der Farbe ei­nes verstaubten Kohlensacks.

So farblos, wie der Mann war, vermutete ich, dass es um Wetten ging. Brendon drückte sich diesbezüglich immer nur vage aus. Aber ich wusste, dass sein Gehalt durchaus Aufbesserungen vertragen konnte.

Ein dicker pausbäckiger Typ im Stutzeranzug legte eine gefaltete Zehndollarnote auf den Billardtisch.

Brendon sah erst die Dollarnote, dann mich. Sein Grinsen mochte beidem gelten. »Nehme an«, nuschelte er und ließ den Geldschein in seiner Westentasche verschwinden.

Die halblauten Gespräche verebbten, als Brendon sich über den Tisch beugte, mit Augen so starr wie die eines Jägers, der zum Ab­schuss bereit ist. Er holte noch einmal tief Luft, streichelte das Queue. Dann spielte er mit einem gekonnten Vorband die schwarze Kugel in die Seitentasche. Es brachte ihm rauschenden Beifall ein.

Brendon richtete sich auf und wischte sich ein paar Schweißtrop­fen von der Stirn. »Na bitte, geht doch!« Grinsend kam er auf mich zu. »Du trinkst doch einen mit mir?«

Eigentlich hatte ich ja Brendon einladen wollen, aber anders her­um war es auch nicht schlecht. Es wäre richtig gemein gewesen, ihm seinen Triumph zu versauen.

»Glückwunsch«, gratulierte ich. »Dem hast du's gezeigt!« »Der sieht nicht so aus, aber er hat mehrere Turniere gewonnen«,

ließ Brendon mich voller Stolz wissen. Er zog mich an den Tresen, wo er kein Wort sagen müsste. Auch so stand der Whiskey gleich darauf vor uns.

»Du lässt es hoffentlich langsam angehen?« Er wies auf den blü­tenreinen Mull in meinem Gesicht.

Ich reagierte mit einer Gegenfrage. Schließlich war Brendon nicht hier, um mit mir über gesundheitliche Probleme zu reden. »Clark Whitney, ich nehme an, der Name sagt dir was.«

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»Ziemlich unappetitliche Geschichte.« Er nickte und führte sein Glas an die Lippen. Die Eiswürfel darin klirrten.

»Was hast du damit zu tun?« Er ließ einen Eiswürfel in seinen Mund gleiten, lutschte darauf herum und sah mich aus seinen listigen Augen an. »Nur die übliche Neugier, hoffe ich? Die Zeitungen sind ja voll davon. Möchte gern wissen, was daraus geworden ist. Aus dem Fleisch seiner Backen, meine ich.« Er ließ den nächsten Schluck so lang im Mund, als wolle er damit gurgeln. »Es ist immer dieselbe Ge­schichte. Diese Jungs mit den schwerreichen Daddys langweilen sich einfach zu oft. Und machen dann manchmal einen dummen kleinen Fehler zu viel.« Er legte sein Gesicht in bekümmerte Dackelfalten.

»Wie und womit ist sein Daddy denn zu so viel Kohle gekom­men?« Ich fixierte das Bernsteingelb in meinem Glas. Der Inhalt war vergleichsweise erträglich. Aber natürlich nichts im Vergleich zu dem, was mir die polnische Mata Hart kredenzt hatte.

»Pat, das ist jetzt nicht dein Ernst!« Brendon röhrte vor Lachen. Aber ziemlich abrupt wurde er ernst. »Ich dachte, du hast davon vor­läufig die Schnauze voll.«

»Geht's ein bisschen genauer?« Ich wusste wirklich nicht, worauf er anspielen wollte.

»Dein Besuch in den Stock Yards war ja wohl nicht gerade ein Er­folg«, brummte er.

Mir wurde richtig warm ums Herz. Denn wurde da nicht ganz langsam aus einer dumpfen Ahnung etwas, womit sich arbeiten ließ? Ich stellte mich trotzdem erst einmal dumm. »Was hat das eine mit dem anderen zu tun?«

»Jetzt hör mir mal ganz genau zu.« Brendon nahm eine Pose ein, die er für väterlich hielt. »Clarks Daddy hat es schon lange nicht mehr nötig, ans Geldverdienen zu denken. Über gewisse Phasen seiner Ver­gangenheit spricht der alte Herr auch nicht gern. Aber früher war er mal jemand in den Stock Yards. Nicht irgendjemand. Es gab kaum einen, der dort mehr Geld gescheffelt hat als er. Noch heute erstarren dort alle in Ehrfrucht, wenn nur sein Name fällt.«

Brendon schaute mich an, als sei nun alles gesagt. Was ich nicht so empfand. »Und?«

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»Lass die Finger davon«, brummte er. »Wenn dir deine Haut lieb ist. Und das bisschen Fleisch darunter.« Er streifte mich mit einem flüchtigen Blick. »Du hast wirklich schon besser ausgesehen.«

Wir schwiegen eine Weile und wie immer war es gut, dabei ein gefülltes Glas in der Hand zu haben. Endlich beschloss ich, ein anderes Thema anzuschneiden. Wobei ich mir absolut nicht sicher war, ob ich mich dabei nicht irrte. »Und was ist mit diesem Hurok?«

Brendon sah mich an, als zweifle er an meinem Verstand. »Nach allem, was dir dieser Name eingetragen hat, sprichst du den noch aus?« Er wies auf die Dekoration aus Mull und Pflaster in meinem Ge­sicht.

»Wenn ich schon krankenhausreif geschlagen werde, dann wusste ich doch gern wieso«, erwiderte ich. »Peelson und Hurok, verstehst du? Was anderes als diese beiden Namen habe ich ja nicht gesagt. Und dann mit einem so durchschlagenden Erfolg...« Ich grinste und prostete Brendon zu.

Er stieß die Luft durch seine mächtige Nase aus und zerwühlte sich das nicht mehr allzu üppige Haar. »Manchmal fürchte ich wirklich, du lernst es nie. Neugier kann eine schlimme Krankheit sein.«

Da musste ich doch lachen. »Ich dachte, du bist Reporter.« »Aber nicht lebensmüde.« Brendon gab dem Mann hinter dem

Tresen ein Zeichen, unsere Gläser nachzufüllen. »Und ich mach den Job jetzt schon lang genug, um die haarfeine Linie zu erkennen, die das eine vom anderen trennt.«

»Nun, geh einfach davon aus, dass ich aus purem Egoismus so neugierig bin.« Ich grinste ihn an und tupfte vorsichtig an der Wunde über meiner Augenbraue herum. Das juckte höllisch, aber kratzen war natürlich nicht erlaubt. »Und ich kann einfach nicht glauben, dass in eurem Archiv nicht doch irgendwo ein klitzekleiner Hinweis auf den polnischen Onkel versteckt ist.«

Mit offenem Mund starrte Brendon mich an. »Und die Nichte, wie sieht die aus?«

Wieder musste ich lachen. »Sehr viel besser jedenfalls als eins der kleinen Mäuschen, die euer Archiv durchforsten. Dann jedenfalls, wenn du sie nett darum bittest.«

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Brendon stierte in sein Glas. Ich musste wohl deutlicher werden. »Du kümmerst dich doch darum? Ich würde wirklich gern wissen, wer Hurok ist.«

Die anderen fanden jetzt, dass Brendon sich lange genug mit mir abgesondert hatte. Sie riefen ihn an den Billardtisch zurück.

»Ich werd sehen, was da zu machen ist«, versprach er mir und er­innerte sich im letzten Moment daran, dass meine Schulter derzeit kein geeigneter Ablageplatz für eine Pranke war. »Aber überleg dir gut, wie viele solcher Wunden wirklich kleidsam sind.«

Damit wandte er sich wieder dem Spiel zu. Ich rückte meinen Hut zurecht.

»Vierzig für Harry!«, rief jemand. »Abstand ist acht.« »Aber nicht mehr lang!«, hörte ich Brendon röhren. »Ich nehme

an. Fünf Eier gegen den nächsten Stoß!« Ich leerte mein Glas und ging. Nichts außer dem Klacken der Ku­

geln war zu hören. Als ich die Tür öffnete, schlug mir Regen entgegen. Und dieser ty­

pische, ganz leicht böige Wind, der dieser Stadt ihren Spitznamen ge­geben hat. Windy City. Plötzlich bemerkte ich, wie müde ich war und ich hörte die Stimme des Doc, der etwas von Bettruhe sagte.

Wieso eigentlich nicht? Alles in allem war der Tag gar nicht so er­folglos gewesen. Wie das alles zusammenpasste, wusste ich zwar noch nicht. Aber das Gefühl einer bestimmten Ahnung wurde stärker und stärker in mir. Nichts, was schon in Worte zu fassen gewesen wäre. Aber nach meiner Erfahrung war das nur eine Frage der Zeit und eine Mütze Schlaf hatte mir schon öfter zu ganz neuen Einsichten verhol­ten.

Als ich meine Wohnung betrat, fiel ich fast sofort aufs Bett. Und dort blieb ich liegen. Sage und schreibe sechzehn Stunden lang. Wenn das kein Gesundheitsschlaf war, über den der Doc sich freuen konnte!

*

Schreibmaschinengeklapper empfing mich, als ich am Mittag des nächsten Tages ins Büro kam. Betty tat wirklich mal etwas für ihr Ge­

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halt! Sie lächelte mich sogar zur Begrüßung an. Und sie hatte Kaffee gemacht.

»Hollyfield lässt Ihnen ausrichten, dass er Sie gerne sehen wür­de.« Sie hörte mit dem Tippen auf und zündete sich eine Zigarette an. »Der schöne Clark war schon tot, bevor man ihn so zugerichtet hat.«

»Ah ja?« Es überraschte mich eigentlich nicht. »Oder doch so gut wie tot. Ein Bolzenschuss. Man macht das mit

Tieren, bevor sie abgestochen werden.« Die Stock Yards, jubelte ich insgeheim, ich bin auf dem richtigen

Dampfer! Mit dem ersten Schluck Kaffee kam Bewegung in meine Ge­hirnwindungen.

»Und dann hat Ihr Freund Brendon Smith jemanden vorbeige­schickt.« Betty wies auf einen Briefumschlag auf meinem Schreibtisch.

Als ich mich setzte, sah ich den Stempel der Chicago Tribune dar­auf. Sonst nichts. Ich nahm ihn in die Hand, als könnte mir allein das schon etwas über den Inhalt verraten. »Sonst noch was?«

»Na hören Sie!«, schäumte Betty. »Ich weiß gar nicht, wo mir der Kopf steht. Während Sie...«

»Sie haben wohl nicht gut geschlafen in der Nähe dieses Sofas«, hinderte ich sie an einer respektlosen Bemerkung.

Beim Gedanken an ihre Wohnung zerfiel ihr Gesicht in Einzelteile. Aber sie hatte sich schnell wieder unter Kontrolle. »Wo ich schlafe, muss wirklich nicht Ihre Sorge sein. Zu Hause derzeit jedenfalls nicht.« Sie stand auf und strich sich ein paar Krümel Asche von ihrem Blusen­kragen. Vielleicht wollte sie mich auch nur auf ihre ausgeprägt weibli­chen Rundungen hinweisen und darauf, dass jemand wie sie zur Not auch immer mal anderswo nächtigen konnte.

Meine Fingerspitzen sagten mir bereits, dass der Umschlag ein Fo­to enthielt. Ich schlitzte ihn auf und erhielt prompt die Bestätigung. Ein Foto fiel heraus. Es war pure Neugier, dass sich Betty jetzt über mei­nen Schreibtisch beugte und so tat, als liege da etwas, das sie brau­che. Ich nahm das Foto an mich, bevor sie es sehen konnte.

Doch was es zeigte, enttäuschte mich. Und nach Bettys Ge­schmack wäre der verwitterte Grabstein bestimmt auch nicht gewesen.

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»Dann mache ich jetzt eben Mittagspause«, ließ sie mich schnip­pisch wissen.

Ich drehte das Foto um. Brendon oder sonst jemand hatte den Namen des Friedhofs auf die Rückseite gekritzelt. Und den Namen von Andrzej Hurok. Ich kannte die Adresse, es war ein paar Blocks weiter nördlich, auf der anderen Seite des Flusses.

Ich sprang auf. Zu schnell für meine noch nicht völlig wieder her­gestellten Knochen. Betty war schon in Hut und Mantel und unter der Tür, so sah sie meine schmerzverzerrte Grimasse nicht. »Nein, Sie bleiben hier!«

»Und wieso sollte ich?« Sie wandte träge den Kopf zu mir um. »Weil ich jetzt gleich noch mal weg muss. Und weil das Büro

schließlich besetzt sein sollte. Und deswegen auch.« Mir fiel ein, dass ich ihr noch das Gehalt für diese Woche schuldig war und legte es ihr möglichst beiläufig auf den Tisch.

Betty besann sich sofort. »Ich gebe zu, das ist ein Argument.« Während sie Mantel und Hut wieder auszog, fand sie genau die Mimik, die zu einer Sekretärin passte. »Wann werden Sie denn wieder hier sein? Nur für den Fall, dass jemand vorbeikommen sollte.« Sie zwin­kerte mit dem unschuldigsten Augenaufschlag der Welt.

»Erwarten wir denn jemanden?« Diesmal fiel mir die Smith & Wesson früher ein. Aber wozu sollte ich sie jetzt mitnehmen, wo ich doch nur auf einen Friedhof ging?

Betty zuckte mit den Schultern und legte ihre Hände auf den Tas­ten der Schreibmaschine in Startposition. »Sagt Ihnen eigentlich der Name Peelson etwas?«

Ich hatte die Klinke schon in der Hand. Durchrieselte es mich des­halb so eisig kalt? »Was sagt er Ihnen?«, schnarrte ich, ohne mich umzudrehen.

»So gut wie nichts«, gab sie zu. »Aber auf dem Weg hierher hat mich jemand angesprochen. Es geht auch gar nicht um diesen Peel­son. Aber der hat einen Fahrer. Und der brennt anscheinend darauf, mich kennen zu lernen.«

Nun drehte ich mich doch um. Stellte Betty sich einfach naiv?

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»Mit dem war ich eigentlich zum Mittagessen verabredet«, fuhr sie fort. »Gar nicht weit von hier, im Diner an der übernächsten Ecke.«

Ich war mir sicher, Betty gegenüber den Namen Peelson nie er­wähnt zu haben. Wieso verfiel sie dann in diesen anspielungsreichen Tonfall? So weit konnte auch weibliche Intuition nicht reichen!

»Gehen Sie dort besser nicht hin«, riet ich ihr. »Denken Sie an Ihr Sofa!«

Dann zog ich die Tür hinter mir zu. Einen Moment verharrte ich. Als ich das Klappern der Schreibmaschine hörte, hatte ich das Gefühl, ich könnte beruhigt gehen. Gewarnt hatte ich sie jedenfalls. Und wenn sie nicht auf mich hören sollte - ihr Kindermädchen war ich schließlich nicht.

Dann zog ich das Foto wieder heraus. Der Grabstein war so ver­wittert, dass man nur mit viel Phantasie die Initialen A und H erkennen konnte. Aber vielleicht würde ich ja vor Ort mehr sehen. Fragte sich bloß, was ich davon hatte, wenn ich wusste, dass Rudnys Onkel auf einem Friedhof verweste. Nichts, was erklären könnte, wieso die breit­schultrigen Männer so unfreundlich auf mich reagiert hatten. Nichts, was Betty nicht bereits gesagt hätte. Diese Rudny war eine falsche Schlange.

Als ich auf die Straße trat, war es so windig und regnerisch wie fast immer. Ich hatte den flüchtigen Eindruck, an der Kreuzung eine mir nicht ganz unbekannte Limousine mit cremefarbenen Kotflügeln vorbeirauschen zu sehen. Aber noch bevor ich richtig hingeschaut hat­te, war die Kreuzung wieder verwaist. Ich sagte mir, dass ich mir das wohl eingebildet hatte.

Nachdenklich ging ich um das Gebäude herum auf den dahinter liegenden Hof und bestieg meinen Plymouth.

*

Als ich den Friedhof betrat, stellte ich unwillkürlich den Mantelkragen hoch. Dabei war es gar nicht so kalt. Aber innerlich ließ mich der An­blick der verwitterten Steine doch frösteln. Vor allem dann, wenn sie mit grotesken Blumengebinden dekoriert waren. Wieso glaubten die

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Leute bloß, welkende Blumen könnten den Gedanken an die Verwe­sung unter der Erde erträglicher machen?

Gegen so viel Melancholie half nur ein ganz systematisches Vor­gehen. Ich durchsuchte also Reihe für Reihe. In der Hand hielt ich das Foto, das Brendon mir hatte zukommen lassen. Nach etwa zwanzig Minuten wurde ich fündig. Der wirkliche Grabstein war weit besser erhalten, als ihn das Foto abbildete. Andrzej Hurok, der Name war ganz deutlich zu lesen und den Zahlen dahinter entnahm ich: Der Kerl war schon seit drei Jahren tot!

Ich stieß einen kräftigen Fluch aus, der Rudny galt. Wieso ließ sie mich einen Onkel suchen, aus dem die Würmer längst klebrige Erde gemacht hatten? Sie war wirklich eine falsche, verlogene Schlange. Immerhin das hatte der Weg hierher noch einmal bestätigt.

Nur weil ich schon einmal hier war, las ich den Rest des Romans, der da in Stein gemeißelt war. Es war nur das Übliche, ein ehrbarer Mann, harte Arbeit, sorgender Familienvater, treu in Gott und so wei­ter.

Ich wollte eben gehen und überlegte, wo ich am schnellsten zu ei­nem Schluck kommen könnte, als sich etwas in meinen Rücken bohrte. Eine 38er, schätzte ich - es war dasselbe Kaliber wie das meiner Smith & Wesson, die ich wieder einmal nicht bei mir hatte. Jedenfalls in die­sem Punkt war ich mir ziemlich sicher. Aber wer drückte mir so ein Ding in den Rücken?

»Pfoten hoch.« Eine knarrende Stimme ordnete es an, im selben Moment, als ich

es sowieso schon tat. Als wären mir die Spielregeln nicht bekannt! Ich versuchte, meine Augen so weit wie nur möglich zu einer Seite zu ver­drehen, ohne den Kopf zu bewegen. Aber mehr als einen Schatten, gut einen Kopf größer als ich, konnte ich auch mit dieser Verrenkung nicht ausmachen.

»Und jetzt hör einfach nur zu.« Der Typ ließ die Mündung seines Revolvers ein kleines Stück tiefer rutschen. Meine Gänsehaut verstärk­te sich. War der Kerl etwa nervös, obwohl er doch eindeutig im Vorteil war, so wie er mich hinterrücks überrumpelt hatte? Ich mag das Ge­

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fühl eines Revolvers im Rücken gar nicht. Und noch weniger, wenn derjenige, der dafür keinen anderen Platz findet, auch noch nervös ist.

»Du machst dir in letzter Zeit ein bisschen zu viel Arbeit«, knarrte der Kerl. »Und dann noch mit Dingen, von denen du nichts verstehst. Um es mal ganz deutlich zu sagen - das hier ist jetzt die dritte War­nung. Und zugleich die letzte. Kapiert? Im Grunde ist alles ganz ein­fach. Und wenn du schon unbedingt was tun willst, dann denk mal über die Gemeinsamkeit von Fried- und Schlachthöfen nach. Am bes­ten, du meidest in Zukunft beides. Klar? So richtig nett ist es an sol­chen Orten ja nie.«

Ich verrenkte mir noch immer die Augäpfel. Deshalb sah ich die alte Frau. Etwas links von uns ging sie auf ein Grab zu. Mein Hirn ar­beitete auf Hochtouren. Ließ sich daraus etwas machen?

Im selben Moment bemerkte auch der Typ hinter mir die alte Frau. Ich spürte, wie er den Kopf wandte, wie die Spannung in seinem Körper wuchs. Groß war meine Chance nicht, aber versuchen wollte ich es doch. Blitzschnell drehte ich mich um und riss im selben Moment mein Knie hoch. Angesichts seiner Waffe mag das leichtsinnig gewe­sen sein, so leichtsinnig, dass er garantiert nicht damit gerechnet hat­te. Ich traf seine Weichteile mit voller Wucht und ließ einen Haken folgen, der dem Revolver galt. Es war eindeutig mein Tag. Gleich dar­auf flog das Ding silbrig schimmernd durch die Luft und prallte gegen den Grabstein des polnischen Onkels. Ein Schuss löste sich beim Auf­prall.

Das alles geschah in Bruchteilen von Sekunden. Beschäftigt, wie ich war, hatte ich keine Zeit, mir dabei auch noch den Kerl anzusehen. Der gab schon Fersengeld. Nach dem, was ich von hinten sah, war es ein Mann wie ein Klotz, die rechte Seite seines Schädels war rasiert. Ich hörte ihn fluchen.

Aber noch interessanter war die Gestalt, die ich jetzt am Ausgang des Friedhofs entdeckte. Wenn mich nicht alles täuschte, war das ei­ner von Il Cardinales Laufburschen. Durchs offene Friedhofstor be­merkte ich ein Auto mit laufendem Motor. Als Erster riss der Laufbur­sche eine der hinteren Türen auf und verschwand in dem Wagen,

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dann folgte der vierschrötige Typ mit der Halbglatze. Fast im selben Moment fuhr der Wagen mit quietschenden Reifen davon.

Auch dies hatte nur Sekunden gedauert. Jetzt erst trat mein Verstand wieder an die Stelle der instinktiven Reflexe, die mich ein paar entscheidende Augenblicke lang geleitet hatten. Und zwar ein­deutig zu meinem Besten.

Ich steckte mir zur Beruhigung erst einmal eine an. Die Pistole auf dem Grabstein drüben bildete einen sanften metallischen Schimmer­fleck im fahlen Sonnenlicht. Als auch mein Gehör wieder funktionierte, hörte ich die klagende Stimme der alten Frau.

»Meine Güte, was war das denn? Ich bin so erschrocken!« Sie hielt ihr Hüttchen aus sandbraunem Serge mit beiden Händen fest und sah mich erschrocken an.

»Es ist alles in Ordnung, Lady!«, beruhigte ich sie. Dann entdeckte ich die Patrone. Sie lag ganz unscheinbar auf dem

Kies zwischen den Gräbern. Ich ließ sie in meine Manteltasche wan­dern, den Revolver ebenfalls. Nun war es höchste Zeit für einen kräfti­gen Schluck. Und ich musste irgendwie eine Antwort finden, wieso ich plötzlich so wichtig war, dass sich die Italiener mit mir befassten.

Als ich ging, beneidete ich die alte Frau ein bisschen. Die sah schon wieder ganz gelassen aus. Ich höchstens äußerlich. Innerlich setzte mir die Ehre ganz schön zu, die mir da zuteil geworden war. Eine Ehre, auf die ich wirklich gern verzichtet hätte. Leute wie ich hat­ten nur eine Chance, wenn sie sich selbst realistisch einschätzten. Und ich war realistisch. Mich mit den falschen Leuten anzulegen, so dumm war ich nicht.

Aus irgendeinem Grund fiel mir plötzlich wieder die Hasenpfote ein. Ein Grinsen schob meine Lippen auseinander. Denn in bestimmten Situationen lebte es sich als Hasenfuß eindeutig sicherer. Ich war De­tektiv, zu einem Helden fehlte mir jeder Ehrgeiz.

*

An diesem Tag schienen mich alle ziemlich wichtig zu finden. Im Büro wartete nämlich Hollyfield. Betty hatte ihm den leeren Stuhl an Joes

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Schreibtisch angeboten und ihn mit Kaffee versorgt. Ich konnte nur hoffen, dass sie nicht noch mehr getan hatte.

»Ich komme noch mal wegen der Sache mit Whitney«, begann der Leiter der Mordkommission. Mit dem massigen Mann an Joes Schreibtisch kam mir das Büro ziemlich eng vor. »Er war so was wie Frühstücksdirektor in den Stock Yards. Wussten Sie das?«

Ich wusste es nicht, fand es aber nicht nötig, das Hollyfield unter die Nase zu reiben. Zumal einer wie Whitney so einen Job doch garan­tiert nur der Form halber innegehabt hatte.

Was auch der Captain so sah. »Irgendwas muss man ja auf die Visitenkarte schreiben können.« Er grinste breit. »Das Bürschchen hatte es doch gar nicht nötig zu arbeiten, mit so einem Daddy. Oder was meinen Sie?«

Er schoss einen listigen Blick auf mich ab. Mir gab seine Frage zu denken. Denn deutete Hollyfield da nicht an, dass er ganz und gar im Dunkeln tappte? Und dass er vermutete, ich wisse mehr?

Womit er gar nicht so falsch lag. Whitney mit den so sauber ra­sierten Backen ergab schon wieder eine Spur zu den Schlachthöfen. Ich spürte ganz deutlich, wie sich da langsam, aber sicher etwas zu­sammenknüpfte. Noch konnte ich das Muster nicht erkennen und auch nicht, was es am Ende werden sollte. Aber ich spürte doch, dass es so war. Und hatte damit Hollyfield eindeutig etwas voraus.

»Tja, wirklich beneidenswert, so ein Daddy«, stimmte ich dem Po­lizeibeamten zu. »Wobei, wenn man die Sache vom Ende her sieht...« Sehr behutsam strich ich über den Mull in meinem Gesicht. »Geld al­lein macht eben wirklich nicht glücklich.« Ich lächelte so entwaffnend wie nur möglich.

»Tja, ich dachte ja nur, das könnte Sie interessieren.« Ächzend schraubte Hollyfield sich vom Stuhl. »Als Sie sich da neulich in den Stock Yards umgeschaut haben - es war nicht zufällig Whitney, den Sie da treffen wollten?«

»Aber ich bitte Sie, Captain!« Daher also wehte der Wind. Der Ge­stank der Schlachthöfe wehte offenbar doch schon bis ins Polizeiprä­sidium. Ich beschloss, noch etwas zurückhaltender zu sein. Mein Chef war Hollyfield schließlich nicht und ich hatte es schon manches Mal

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ausprobiert, wie gut es funktionierte, wenn man einfach nur gar nichts sagte. Und ein kleines bisschen lächelte dabei.

Hollyfield begriff, dass er aus mir nichts mehr rausquetschen konnte. Er murmelte noch etwas, das danach klang, ich solle auf mich aufpassen. Dann schob er sich durch die Tür und wäre dort ums Haar mit einem Boten zusammengestoßen.

Den Burschen kannte ich nicht, aber ich ging davon aus, dass Brendon ihn schickte. Das schmächtige Jüngelchen, dessen Kreppsoh­len dem Fußboden bei jedem Schritt Quietschtöne entlockten, übergab mir auch wirklich einen Umschlag, auf dem ich den Stempel der Chica­go Tribune erkannte. Ich quittierte ihm den Empfang.

»Kann ich jetzt endlich gehen?«, fragte Betty vorwurfsvoll. »So­weit ich weiß, bin ich hier nur als Halbtagskraft engagiert.«

Der Umschlag enthielt einen kleinen Ausriss aus einer der gelbli­chen Verfärbung nach schon älteren Zeitung. Es war eine Art Nachruf auf diesen Hurok, ungefähr dasselbe verlogene Zeug wie auf dem Grabstein. Diesmal schwarz auf weiß. Nichts Besonderes. Wieso schickte mir Brendon so etwas?

Ich musste mir noch einmal Rudny vornehmen, wurde mir da klar. Bei der Lady, der Betty so arglos die Schlüssel zu ihrer Wohnung an­vertraut hatte, war womöglich auch noch der Schlüssel zu ganz ande­rem zu bekommen. Ich starrte dem Rauch meiner Zigarette nach.

»Chef, ich hab was gefragt!«, ließ sich Betty vernehmen. »Kann ich jetzt endlich gehen?«

Als sich der Qualm meiner Zigarette etwas verzog, sah ich auf der Straße unten die Limousine mit den cremeweißen Kotflügeln. Hieß das etwa, dass auch die schöne Rudny das Bedürfnis nach einem Wieder­sehen mit mir hatte?

»Aber diesmal nach meinen Regeln, Lady«, murmelte ich. »Kann ich gehen?« In ganzer Größe pflanzte Betty sich vor mir

auf, die Hände in ihre runden Hüften gestemmt. »Können Sie«, erwiderte ich sanft. »Und dabei sagen Sie dem Kerl

da unten, dass ich seine Chefin sehen möchte. Heute noch.« Ich über­legte es mir anders und kritzelte die Adresse des Garfield-Clubs auf den Zettel. Es war der Ort, an dem sich derzeit die betuchteren Mit­

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bürger dieser Stadt von ihrem harten Arbeitstag erholten. Allerlei Jazz­größen traten dort auf. Rudny musste sich jedenfalls für eine Verabre­dung in diesem Club nicht schämen.

»Welchem Typ soll ich was sagen?«, drängelte Betty. Ich faltete den Zettel schon zusammen und steckte ihn in einen

Umschlag. »Sie stehen doch auf Chauffeure.« Ich grinste sie an. »Da unten wartet einer. Dem geben Sie das hier. Und dann wünsche ich Ihnen guten Appetit.«

»Und wieso soll ich das tun? Ich kenn den doch gar nicht!«, spiel­te Betty die Schüchterne.

»Sie machen das einfach, weil Sie für mich arbeiten«, knurrte ich. »Oder täusche ich mich da?«

Vom Fenster aus schaute ich dann zu, wie Betty ihre Hüften schwingend auf den Wagen zuging. Sie klopfte so lang an das Fenster am Fahrersitz, bis dieses Fenster sich einen Spaltbreit öffnete. Ich sah, wie sie Mr. Vorhängeschloss meinen Umschlag zuschob. Damit hatte Betty meinen Auftrag erledigt.

Aber sie ging noch nicht. Und dann staunte ich doch. Denn offen­bar gelang es ihr, den wie aus Granit geschnitzten Mann am Steuer in einen Flirt zu verwickeln. Betty lachte, das Fenster öffnete sich noch etwas weiter. Ja, auch der Kerl am Steuer lachte. Und ich sah, dass es wirklich der war, dem ich neulich nicht ein einziges Wimpernzucken hatte entlocken können.

Genau das aber war es wohl, was Betty beabsichtigt hatte. Nun, wo sie ihren Triumph in der Tasche hatte, nickte sie dem Typen am Steuer noch einmal zu. Dann klapperten ihre Absätze über das Pflas­ter. Und ohne sich nach mir umzudrehen, winkte sie zum Fenster her­auf.

»Alle Achtung«, murmelte ich und fragte mich, ob Betty als Sekre­tärin womöglich unterfordert war.

*

Wie Betty mir ja schon klargemacht hatte, kannte ich mich in den Klatschspalten wirklich nicht gut aus. Aber ein paar der wichtigen Leu­

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te in dieser Stadt kannte ich doch. Wenn auch nicht immer dem Na­men nach. Als ich ins ›Garfield‹ kam und von einem der unnachahm­lich hochnäsigen Kellner auf einer der weniger prominenten Tische am Rand verwiesen worden war, fiel mir sofort auf, dass da jemand regel­recht Hof hielt. Und ich wusste auch, wer das war. Nein, eben nicht dem Namen nach. Aber der Kerl in dem feinen Tuch war unzweifelhaft einer der Bosse von den Schlachthöfen.

Wenn man bedachte, womit er sein Geld scheffelte, war er gera­dezu lächerlich feingliedrig. Den schmalen, weißlich schimmernden Händen traute man nicht viel mehr zu, als einen Champagnerkelch halten zu können. Am rechten Ringfinger blitzte ein Siegelring. Das weiche, bernsteinfarben schimmernde Haar erinnerte an das Fell eines Kätzchens, das sich den ganzen Tag bürsten ließ. Die Nase war spitz und lang, der Mund wie mit einem Pinsel hingetuscht. Irgendwie war der ganze Mann ohne Konturen, aber glänzender Laune.

Ich hatte Gelegenheit, ihn in aller Ruhe zu beobachten, denn Rud­ny hielt es wohl für angezeigt, mich warten zu lassen. Aus der hündi­schen Ergebenheit der anderen um ihn herum war leicht abzulesen, dass er sie aushielt. Frauen und Männer seines Alters, die Austern schlürften und Champagner tranken, den er bezahlte. Und der Lange ohne Konturen schien sich richtig dabei wohl zu fühlen.

Da ich auch den Eingang im Blick behielt, entging es mir nicht, als Rudny eintrat. Der Türsteher schien sie zu kennen und machte einen auf beflissen. Als er auf den Tisch mit der fröhlichen Runde in der Mit­te des Raumes wies, zuckte sie zusammen. Ich bin mir ganz sicher, dass sie einen Moment lang daran dachte, gleich wieder zu gehen. Deshalb stand ich auf und winkte ihr zu.

Der Kellner schien es zu missbilligen, dass sie sich ausgerechnet zu mir setzte. Und zwar so, dass sie dem Dünnen den Rücken zuwand­te.

»Man kennt Sie hier«, sagte ich anstelle einer Begrüßung. Sie klimperte mit den Wimpern und nestelte an einer taubengrau­

en Federboa herum. »Können wir nicht woandershin gehen?« Ihr sam­tiger Alt streifte höhere Tonlagen und verriet eine deutliche Nervosität.

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»Mir gefällt es hier eigentlich ganz gut.« Ich war fest entschlos­sen, diesmal die Regeln zu bestimmen. »Das Zeug hier ist nicht Cham­pagner, schmeckt aber gar nicht übel.« Ich gab dem Kellner ein Zei­chen, auch ihr etwas zu trinken zu bringen.

Sie bat um Gin. »Natürlich sind Sie mein Gast«, fuhr ich fort. »Und im Gegenzug

reden wir einfach mal Tacheles.« Ich beugte mich vor, um ihr Feuer zu geben. »Zum Beispiel, was Ihren Onkel betrifft. Wieso gaben Sie mir den Auftrag, nach einem Grabstein zu suchen?«

Ich hoffte sie zu überrumpeln. Sie sollte sofort kapieren, dass die Stunde der Wahrheit geschlagen hatte.

»Ach, hören Sie doch mit dem auf!«, fauchte sie. »Soll ich Ihnen mal sagen, was das für einer war? Hurok, der Hurenbock. Das war hier sein Spitzname. Mit Glücksspiel und Prostitution hat er jede Menge Kies gemacht. Nach außen hin natürlich ein ehrbarer Mann. Und von seiner Familie in Polen wollte er nichts mehr wissen. Keinen Cent hat er uns geschickt!« Auch heute hatte sie ein hauchzartes Taschentuch dabei, mit dem sie jetzt ihre Augen tupfte. »Ich hab schon früh meine Eltern verloren. Deshalb bin ich bei ihm aufgewachsen und bei meiner Tante, in einem elenden Vorort von Warschau. Und dort habe ich es auch mit ansehen müssen, wie sie gestorben ist. Einfach an Kummer und an Scham über so einen Mann!«

Oh Gott, was tischte mir die Polin hier auf! Mir war wirklich nicht nach rührseligen Familiengeschichten. »Das reicht jetzt, Lady. Kom­men Sie doch endlich zur Sache!«

»Ich bin vor etwa einem Jahr aus Polen hierher gekommen, um nach ihm zu suchen«, fuhr sie fort. »Ich wusste nicht, dass er nicht mehr lebte. Und als ich das dann gehört hab, wollte ich wissen, wo er begraben wurde.«

»Etwa um Blümchen auf seinen Grabstein zu legen?« Diese Rudny ging mir allmählich ernstlich auf die Nerven. Wie lange sollte diese Show denn noch dauern?

»Nein, einen Haufen Scheiße! Denn nichts anderes ist er gewe­sen.«

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Es hatte doch immer einen gewissen Reiz zu erleben, wie hinter der Tünche das Original wieder zum Vorschein kam. So wie jetzt die­ses Gossenwort aus Rudnys so sorgfältig geschminktem Mund.

»Ich bin nur aus dem Grund nach Chicago gekommen, um mich an ihm zu rächen«, behauptete Rudny, wobei ihre Augen zu schmalen Schlitzen wurden. »Dafür, was er meiner Tante angetan hat. Ja, ich dachte auch an Geld. Eine kleine Entschädigung wenigstens. Aber dann war er schon tot. Und außerdem...« Sie stockte und wies auf ihr leeres Glas. Dabei entspannte sie sich etwas und gab übergangslos wieder die feine Lady.

Ich sorgte dafür, dass unsere Gläser wieder gefüllt wurden. »Sie wollten noch etwas sagen«, erinnerte ich sie dann.

»Den Rest kennen Sie im Grunde ja schon.« Sie inhalierte hektisch den Rauch ihrer Zigarette und stieß ihn durch die Nase wieder aus. »Ich lernte Clark kennen, wir verliebten uns ineinander. Da waren mir mein Onkel und der ganze alte Familienkram plötzlich egal. Was konn­te ich daran schon noch ändern? Ich wollte einfach endlich einmal sel­ber glücklich sein.«

Es war durchaus gekonnt, wie sie es zuwege brachte, dass sich nun eine Träne aus ihren fein geschwungenen Wimpern löste. Nur eine einzige, ihr Make-up nahm keinerlei Schaden.

Ich nickte zustimmend. »Clark Whitney. Da sind wir ja endlich beim Thema. Es heißt ja, er soll Frühstücksdirektor gewesen sein in den Stock Yards. Hatte er das denn wirklich nötig?«

Wenn ich mir je im Leben sicher war, dass mich jemand belog, dann jetzt. »Woher soll ich das wissen?«, flötete Rudny. »Er hat mit mir doch nicht über seine Arbeit gesprochen. Sondern nur über Liebe.«

»Meine Güte, mir kommen gleich die Tränen.« Ich musste wirklich eine härtere Gangart anschlagen.

Aber da trat ein Kellner an unseren Tisch. Er sah Rudny an. »Mr. Peelson lässt fragen, ob Sie nicht an seinen Tisch kommen wollen.«

Schon lange hatten meine Ohren nicht mehr so geklingelt. Peelson also hieß der Lange da drüben! Der Typ, der mir eine Tracht Prügel eingebracht hatte und nur deshalb, weil ich auf die Idee gekommen war, seinen Namen auszusprechen!

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Ich war so verdattert, dass mir beinahe entging, wie verlegen Rudny mit einem Mal wurde. Aber eben nur beinahe.

»Sie kennen ja genau die richtigen Leute!« Ich grinste sie an. Dann stand er schon selber an unserem Tisch, lang, dünn, kontur­

los und sanfter als jedes Lämmchen. Für mich hatte er keinen Blick. »Hattest du nicht versprochen, heute nicht auszugehen, Liebling? Brav zu Hause auf mich zu warten? Aber wo du schon einmal da bist...«

Die Art, wie er ihren Arm packte, war alles andere als sanft. Ga­rantiert blieb Rudny da ein blauer Fleck. Mit eisernem Griff zog er sie hoch, wobei sie alles tat, damit es so aussah, als würde sie aus freiem Willen aufstehen.

»Schönen Abend noch«, hauchte sie in meine Richtung. Wie die beiden dann an den Tisch in der Mitte zurückgingen, wirk­

ten sie wie ein Liebespaar. Tja, es war offensichtlich nicht ganz leicht für ein kleines polnisches Mädchen, es hierzulande zu etwas zu brin­gen. Einfach alles hatte hier seinen Preis.

Meine paar Whiskeys und Rudnys Gin hatten einen unverschämt hohen Preis. So unbeweglich, wie der Kellner vor mir stehen blieb, als ich schon deutlich mehr Scheine als ich wollte auf den Tisch gelegt hatte, blieb mir nichts anderes übrig, als noch einmal in die Tasche zu greifen.

Als ich den Laden dann verließ, sah ich Rudny und Peelson tan­zen. Red Nichols, einer der Stars in der Jazz-Szene der Stadt, stellte einige Solisten in seinem Orchester vor und kündigte einen Gast an. Er sei noch jung, aber ein begnadeter Musiker. Der Name, den er dann nannte und der im Applaus des Publikums beinahe unterging, klang ungefähr wie Benny Goodman. Mir sagte der Name nichts, er interes­sierte mich auch nicht weiter.

Ich kaute nämlich noch immer auf dem von diesem Peelson her­um. Mit Brendon musste ich wohl bald mal ein sehr ernstes Wort re­den. Auch wenn er für Sport zuständig war und nicht für die Wirt­schaftsseite, ein bisschen besser informiert hätte er ja wohl doch sein können.

*

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Am nächsten Morgen goss es in Strömen. Ich fuhr früher als sonst ins Büro, weil ich das Gefühl hatte, so langsam aber sicher musste sich aus den vielen Puzzlesteinchen ein Bild ergeben. Andrzej Hurok und seine fabelhafte Nichte, ihr backenloser Verlobter Clark Whitney, die Prügel, die ich hatte einstecken müssen samt dem Souvenir der Ha­senpfote, das Interesse der Italiener an mir und nun noch dieser Peel­son - all diese Namen standen in einem Zusammenhang. Ich musste ihn nur endlich finden. Im Laufe des Tages hoffte ich, Brendon treffen zu können. Aber erst einmal wollte ich so lange mit diesen Namen herumspielen, bis sie mir ihr Geheimnis preisgaben. Ein blutiges Ge­heimnis, so viel stand auch schon fest.

Als ich meinen Plymouth geparkt hatte, sah ich eine triefend nasse Person am Eingang herumlungern. Sie stellte sich als Rudny Hurok heraus. Hatte dieser Peelson sie in der Nacht etwa noch schlechter behandelt, als ich es am frühen Abend hatte beobachten können?

»Ich muss mit Ihnen reden«, sprach sie mich an. »Ich bin an Ihren Märchen nicht mehr interessiert«, wollte ich sie

abspeisen. »Bitte!« Sie griff nach meinem Arm. »Ich sage Ihnen jetzt, was da

wirklich läuft. Weshalb Clark sterben musste.« Hatte sie sich das nur als Köder gedacht? Ich traute der Lady nicht

mehr. »Er ist in den Stock Yards einer Geschichte auf die Spur gekom­

men«, stieß sie hastig hervor. Dabei sah sie sich ständig um. »Anfangs hatte er den Job dort wirklich nur pro forma. Aber dann hat er etwas entdeckt...«

Kriegte ich jetzt endlich doch noch auf einem silbernen Tablett ge­liefert, wonach ich so lange schon suchte? So etwas ist durchaus schon vorgekommen. »Los, gehen wir endlich rein. Ich hab heute schon geduscht.« Ich wollte zur Tür gehen.

Aber sie kriegte schon wieder meinen Arm zu fassen. »Nein, nicht hier. Ich hab Angst.«

Das las ich auch so schon in ihren Augen. »In meinem Büro fallen wir aber garantiert weniger auf als hier«, versetzte ich kopfschüttelnd.

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Aber sie ließ sich nicht umstimmen. »Lassen Sie uns ein Stück ge­hen«, bat sie. »Möglichst dorthin, wo viele Menschen sind.«

Der Kleinen saß die Angst ja ganz schön im Nacken. Ich lenkte ein und schlug die Richtung in die Halsted Street ein. Aber auch in dieser sonst stark belebten Straße mit vielen Geschäften war bei diesem Wet­ter natürlich nur unterwegs, wer unbedingt musste. Rudny ging in kleinen Trippelschritten neben mir her, unablässig blickte sie nach links und rechts, alle paar Sekunden drehte sie sich um. Das konnte einen wirklich nervös machen. Um mich nicht anstecken zu lassen, tastete ich nach dem Halfter unter meinem Mantel. Heute steckte dort aus­nahmsweise meine Smith & Wesson. Ich fand, das war ein gutes Ge­fühl.

»Jetzt legen Sie endlich mal los!«, erinnerte ich Rudny. Der Regen ließ zwar allmählich nach, aber ich wollte diesen Spaziergang doch möglichst kurz halten. »Was für 'ner irren Geschichte ist der schöne Clark denn da auf die Spur gekommen?«

Sie fing noch einmal ganz von vorne an. Wie und weshalb sie Po­len verlassen habe, die Wut auf den schon vor Jahren ausgewanderten Onkel, das ganze Lamento. Ich erfuhr so viele Details aus dem polni­schen Familienleben, wie ich nie hatte hören wollen. Immer wieder einmal legte sie mir dabei ihre Hand auf den Arm. Das mochte ich nicht und so schüttelte ich sie ab. Und immer wieder bellte ich densel­ben Satz in ihr Geplapper. »Zur Sache, wird's bald!«

Sie schilderte mir wortreich, wie sie Clark Whitney kennen gelernt hatte. Da wusste sie schon, dass ihr Onkel nicht mehr lebte, auch nichts hinterlassen hatte. Wohin nun mit ihrer Wut, mit ihren Rachege­lüsten?

»Einen, der so im Geld schwimmt wie Clark, hatte ich noch nie ge­kannt.« Ein kleiner Seufzer entfleuchte ihr. »Dabei hab ich das anfangs gar nicht gewusst. Ich hab mich wirklich einfach nur so in ihn ver­liebt.«

Sie gab dann zu, dass sie Whitney schon länger gekannt hatte, als sie mir gegenüber behauptet hatte. Und da Rudny nicht dumm war, hatte sie schnell begriffen, dass Geld so einer Liebe nicht schaden

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konnte. Und dass noch mehr Geld, vielleicht sogar eigenes, auch deut­lich besser als Rache war.

»Clark hat bemerkt, dass in den Stock Yards unterschlagen wird. Und zwar im ganz großen Stil.« Sie suchte rasch mal wieder mit fla­ckerndem Blick die Gegend nach ihren eingebildeten Verfolgern ab.

Ich lachte. »Unterschlagung, na sieh mal an! Meines Wissens ge­hört das da draußen zum Tagesgeschäft.«

Sie zuckte mit den Schultern. »Clark hat jedenfalls gemeint, damit ließe sich etwas machen. Sein alter Herr war nämlich gar nicht so großzügig, wie alle denken.« Schon wieder ein Seufzer. »Und außer­dem wollte er beweisen, dass er selbst auch etwas konnte.«

»Soll ich raten?« Rudny begann mich schon wieder einmal zu langweilen. »Der schöne Clark kam auf die Idee, der Unterschlagung mit einer Erpressung zu begegnen. Man will ja nicht leer ausgehen.«

»Jeder muss sehen, wo er bleibt in diesen Zeiten«, versetzte Rud­ny. »Das mit den Erpressungen lief jedenfalls schon ganz gut, als ich Clark kennen gelernt habe. Und er hatte dann eine Idee, wie da noch mehr rauszuholen wäre. Ich sollte mich an diesen Peelson ranmachen. Weil bei ihm alle Fäden zusammenlaufen. Und Clark wusste, dass er auf Frauen wie mich steht.« Es klang, als sei sie stolz auf diese Ein­schätzung. »Auch da lief noch alles nach Plan. Vielleicht ein bisschen zu sehr. Es gefiel Clark natürlich nicht, dass ich Peelsons Geliebte wur­de. Und mir gefiel das auch nicht mehr, als...«

Sie angelte sich eine Zigarette aus ihrer Manteltasche und ich half ihr, sie trotz Regen anzuzünden. »Das Problem war nämlich, dass Clark nicht wusste, wieso Peelson so schnell aufgestiegen war in den Stock Yards. Als ich zum ersten Mal den Namen ›Fass‹ hörte, hab ich mir nichts dabei gedacht. Eher zufällig habe ich es Clark erzählt. Der hat mich dann aufgeklärt. Und am nächsten Tag war er tot.«

»Peelson macht Geschäfte mit ›The Jar‹?«, vergewisserte ich mich einigermaßen erstaunt.

»Nein, so weit ist er noch nicht.« Rudny schüttelte den Kopf. »A­ber mit Kirk Melcalve.«

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Jetzt brauchte ich dringend auch eine Zigarette. Kirk Melcalve war im Syndikat der Iren der wichtigste Mann nach dem Großen Boss Sean ›The Jar‹ O'Malley.

Das ›Fass‹, wie man ihn wegen seiner Leibesfülle hinter vorgehal­tener Hand nannte, konnte äußerst unangenehm werden.

Zunehmend unangenehm fand ich, in was ich da anscheinend reingeschlittert war. Neben mir ging immerhin die derzeitige Gespielin eines Geschäftspartners von Melcalve. Auch ich begann mich jetzt et­was nervös umzusehen. Es regnete nicht mehr und dementsprechend füllte sich auch die Straße wieder mit Menschen. Ich hätte mir die La­ge übersichtlicher gewünscht.

»Aber alles hab ich eben auch nicht von Anfang gewusst«, sagte Rudny und kaute dann eine Weile auf ihrer Unterlippe herum.

»Da vorn ist ein Park«, machte ich sie aufmerksam. »Ich wäre lie­ber dort als auf der Straße.«

Sie nickte nur. Und dann präsentierte sie mir die nächste Überra­schung. »Clark hat zu den anderen gehört.«

Sie formulierte es wirklich so harmlos und sie sprach dabei so lei­se, dass ich sie fast nicht verstand. Das Feuerwerk in meinem Kopf ex­plodierte also mit einer kleinen Verzögerung. Dann aber ging mir ein Licht nach dem ändern auf. Nur eines kapierte ich nicht: War es Dummheit, Selbstüberschätzung oder einfach nur Ahnungslosigkeit, die Rudny dazu gebracht hatte, sich so in die Nesseln zu setzen?

»Clark hab ich wirklich geliebt«, beteuerte sie, als ahnte sie, was mir durch den Kopf ging. »Deshalb ist es jetzt ja auch so schlimm für mich. Irgendwie bin ich doch daran schuld, dass er...«

»Und wozu sollte ich für Sie Ihren Onkel suchen? Beziehungsweise sein Grab?«, unterbrach ich sie, bevor sie wieder rührselig wurde.

»Von diesem Grab war manchmal bei Telefongesprächen die Re­de.« Sie seufzte. »Mein Onkel hat doch auch in den Schlachthöfen gearbeitet. Nur ein kleines Licht, aber immerhin, sein Grab war ihnen doch nützlich. Ich hab das anfangs gar nicht kapiert. Sie haben das Grab zumindest eine Zeit lang als Briefkasten benutzt.«

»Wer? Nun nennen Sie doch endlich Namen!«, drängte ich.

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»Genau das hab ich doch herausfinden wollen. Mit Ihrer Hilfe. Ich hab gemerkt, dass Clark da in eine gefährliche Sache reinschlitterte. Und ich hatte Angst um ihn. Wenn ich ihn darauf angesprochen habe, hat er immer nur gelacht und gesagt, ich soll mich da raushalten. Also habe ich versucht, das selber rauszukriegen und habe mich bei Betty einquartiert. Dann hat sich Peelson mal verplappert. Dass Clark alles tun würde, um sich mit den Italienern gut zu stellen. Und am nächsten Tag war Clark dann schon tot.«

Ich zog sie von der Straße in den Park, noch immer war mir nicht alles klar. Ein veritabler Park war das übrigens nicht, eher ein Stück Brachland, auf dem die Natur wild über allerlei Müll wucherte. Aber es gab einen kleinen Pfad, über den man zur North Odgen Avenue kam und damit auch in Richtung meines Büros. Dorthin zog es mich allmäh­lich, hatte ich doch das Gefühl, nur dort wirklich in Ruhe nachdenken zu können.

Als die erste Kugel durch die Luft schwirrte, dachte ich sofort an eine Falle. Rudny wollte mich ans Messer liefern! Wie hatte ich nur so dumm sein können...

Aber denken war vorläufig nicht gefragt. Wie von selbst gelangte die Smith & Wessen in meine Hand und ich bezog Deckung hinter den Resten einer Wellblechhütte. Die Kugeln, die zum Glück immer dort einschlugen, wo ich nicht mehr war, hatten dem Klang nach ein ziem­lich großes Kaliber. Ich konnte nicht sehen, wer sie abfeuerte. Es musste jedenfalls mehr als eine Person sein, denn es hagelte Geschos­se aus allen Richtungen. Ständig gebückt und in alle Richtungen si­chernd, schaffte ich es bis zu einem tresorähnlichen Kasten. Was die Leute nicht alles wegwarfen! Mir tat das Ding nun allerdings gute Dienste, ich konnte einen Moment verschnaufen. Und sah, dass die Geschosse anscheinend auch Rudny galten. Sie kauerte völlig ver­schreckt in den Resten eines zur Hälfte ausgebrannten Autos, die Hand, mit der sie eine 25er umklammerte, zitterte heftig.

Okay, ihr hatte ich diesen Kugelhagel also wohl doch nicht zu ver­danken. Jetzt fragte sich nur, wie ich hier mit heiler Haut wieder raus kam.

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Gelegentlich hatte eine Einrichtung wie die Polizei doch ihr Gutes. Ich empfand die Sirenen gleich mehrerer Polizeiwagen beinahe wie Musik. Klang das nicht, als wäre da eine halbe Armee im Anmarsch?

Die anderen hatten natürlich auch Ohren im Kopf. Die Schüsse wurden schon seltener. Und als dann Hollyfield, Quirrer und etliche andere das Areal stürmten, hatten die schießwütigen Herren das Weite gesucht.

Quirrer grinste. »Dass Sie so dumm sind, Connor, hätte ich nicht gedacht! Wie kann man nur so zwischen die Linien geraten.«

Ich ignorierte ihn und hielt mich lieber an seinen Chef. Der sah mich misstrauisch an. »Ich wüsste schon gern, was ausgerechnet Sie hier zu suchen haben. Von dieser Sache wusste eigentlich niemand. Wir haben da ein bisschen Zwietracht gesät und hofften, davon profi­tieren zu können. Nun haben Sie uns das leider vermasselt.«

»Ganz ohne Absicht«, versicherte ich. Natürlich glaubte Hollyfield mir das nicht. Dabei war ich selten so offen zu ihm gewesen.

»Und was ist mit der Lady?« Hollyfield wies auf Rudny, die heftig schluchzend noch immer im Autowrack saß.

»Fertig mit den Nerven ist sie. Sieht man das nicht?« Damit verabschiedete ich mich. Denn so, wie es um meine Nerven

stand, brauchten die nun erst einmal einen ordentlichen Schluck.

*

Offenbar waren zu dieser Zeit gleich beide Syndikate nervös, wurde mir allmählich klar. Denn normalerweise ließen die sich beide nicht so leicht von der Polizei provozieren. Womit Hollyfield das geschafft hatte, würde er mir natürlich nie verraten. Aber es konnte mir im Grunde ja auch gleichgültig sein. Für mich stand zweierlei fest: Zum einen war es reiner Zufall gewesen, dass ich an Rudnys Seite in die Schießerei gera­ten war. Weder ihr noch mir hatten diese Kugeln gegolten. So drama­tisch der Zwischenfall auch gewesen war, ich durfte mich dadurch nicht vom Wesentlichen abbringen lassen. Und das Wesentliche war, dass es die Leute von Il Cardinale für nötig befunden hatten, sich um mich zu kümmern. Weshalb? Das war die wirklich wichtige Frage. Und

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ich hatte zu diesem Zeitpunkt auch schon das Gefühl, dass ich mit der Antwort darauf auch gleich erfahren würde, wer Clark Whitney so übel mitgespielt hatte.

Ja, auch das wollte ich herausfinden. Rudny hatte mich zwar belo­gen und war auch reichlich naiv gewesen und der schöne Clark gleich­falls. Aber wenn Dummheit ein Grund wäre, immer auf diese Weise zu enden, würde die Einwohnerzahl dieser Stadt erheblich weniger als drei Millionen betragen.

Während Clark Whitney sich um nichts mehr Sorgen machen musste, hatte Rudny ein echtes Problem: Einen Liebhaber wie Peelson schüttelte man nicht so leicht ab. Außerdem glaubte ich ihr, dass es ihr mit Whitney ernst gewesen war. Und nun hatte sie wirklich keinen mehr, abgesehen von dem toten Onkel auf dem Friedhof und einen nicht eben zart besaiteten Liebhaber.

Weil ein dumpfes Gefühl mir sagte, dass ich die Spur ernst neh­men müsse, die leider Gottes immer wieder in die Schlachthöfe führte, ging ich nicht ins Büro. Vielleicht konnte mir ja Dunky einen Tipp ge­ben? Ich fuhr also direkt zu seinem Speakeasy.

So früh am Tag war dort wenig los. »Das Übliche?« Dunky hob zur Begrüßung die linke Augenbraue

leicht an. Ich nickte. »Nicht viel los heute, was?« Ich erwartete gar keine Antwort, es war nur ein Versuch, ins Ge­

spräch zu kommen. Was bei einem schweigsamen Mann wie Dunky gar nicht so leicht war. Umso überraschter war ich über seine Antwort. Die war nämlich, für seine Verhältnisse, lang wie ein Roman.

»Draußen dafür umso mehr. Bullen, schon den ganzen Tag. Über­all Razzien.«

»Hm«, machte ich und führte das Glas zum Mund. »Weiß man auch warum?«

Erstaunlich geschickt drehte Dunky sich mit seinen Wurstfingern eine Zigarette. »Sind bekannte Leute verschwunden in letzter Zeit. Und keiner weiß, wo sie geblieben sind.«

Dunky hatte offenbar wirklich seinen gesprächigen Tag. Mir war sofort klar, worauf er anspielte. Die Zeitungen berichteten derzeit ja

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laufend darüber. Dass die Syndikate jeden aus dem Weg räumten, der ihren Geschäften im Weg stand, war nichts Neues. In letzter Zeit häuf­ten sich außerdem die Fälle, in denen sie sich gegenseitig dezimierten. Das ließ darauf schließen, dass da ein ganz großes Geschäft im Gang war, das jede Seite für sich reklamierte. Es war die übliche Methode, wie sie ihr Terrain absteckten und meist herrschte danach dann für einige Zeit Ruhe.

Derzeit nun wie gesagt nicht. Wobei das Problem eben darin be­stand, dass Leute einfach verschwanden. Nicht irgendwelche Leute, sondern stadtbekannte Persönlichkeiten. Man fand nicht einmal ihre Leichen. Nun hatte dasselbe Schicksal sogar einen angehenden Sena­tor ereilt. Die Wahlen standen kurz bevor, der gute Mann hatte sich beste Chancen ausrechnen können. Und war dann plötzlich einfach verschwunden. Von heute auf morgen, ohne jede Spur, ohne auch den klitzekleinsten Rest. Und das konnte Hollyfield natürlich nicht hinneh­men. Auch ich hatte mich schon des Öfteren gefragt, welche neue Methode der Leichenentsorgung da entwickelt worden war und von welchem der Syndikate.

»Schenk noch mal nach«, bat ich Dunky. »Es gibt ja auch Führungen in den Schlachthöfen«, brummte er

und griff zu einer Flasche. »Die Touristen sind ganz wild darauf. Und wahrscheinlich macht sich keiner klar, welch große Rolle die Verarbei­tung der Nebenprodukte spielt. Häute, Leder, Felle. Daraus wird dann Fett, Öl, Seife, Viehfutter, sogar pharmazeutische Präparate.«

Ich schluckte. Zum einen, weil es geradezu unheimlich war, wie viel Dunky da ausspuckte. Und zum anderen wegen dem, was er da sagte. Ich leerte das Glas in einem Zug. Doch diesmal funktionierte es nicht. Als ich Dunky noch mal ums Nachfüllen bat, kam nichts mehr über seine Lippen. Er sagte nicht mal ein Wort zum Abschied, als ich nach zehn Minuten einsah, dass von ihm nichts mehr zu erwarten war und daher ging.

Draußen beleuchtete eine fahle Sonne die Armseligkeit der Straße. Sowenig es mir auch behagte, ich musste den Schlachthöfen einen weiteren Besuch abstatten. Aber nicht einfach so. Meinen zweiten Be­such wollte ich unbeschadet überstehen.

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*

Brendon ging es nicht gut an diesem Tag. Die White Socks hatten ver­loren und er musste den Bericht darüber schreiben. Und vermutlich war er auch deshalb so schlecht gelaunt, weil er auf die Jungs gesetzt und verloren hatte. Keine gute Voraussetzung, um einen trotz der Nie­derlage noch halbwegs sachlichen Artikel ins Blatt zu bringen.

Um ehrlich zu sein, schaute ich nur deshalb bei Brendon vorbei, weil ich im Moment absolut nicht weiter wusste und die Geschichte mit den Schlachthöfen irgendwie rauszögern wollte. Ich brauchte einfach noch Zeit, um mir einen Plan zurechtzulegen.

»Hab im Moment absolut keine Zeit«, raunzte Brendon mich an. Der Qualm aus seiner Zigarre lag wie eine dunkle Wolke um sein mächtiges Haupt.

»Ich wollte mich nur bedanken«, sagte ich und zog mir einen Stuhl heran. »Für das nette Foto neulich.«

»Was für ein Foto?« Er sah mich unwillig an und stieß mit seinem Stift Löcher in die Luft.

»Seit wann so vergesslich?« Ich grinste ihn an. »Das Foto von dem Grabstein. Von diesem Hurok. Und dann noch dieser schöne Nachruf. Schade, dass Rudny zu spät gekommen ist, um ihren Onkel noch anzutreffen.«

»Ich hab dir kein Foto geschickt«, knurrte Brendon. »Und auch keinen Nachruf auf diesen Kerl. Wieso sollte ich? Siehst du nicht, dass ich andere Sorgen habe?« Er zerquetschte mit seiner Pranke die Zigar­re in einem übervollen Aschenbecher und ließ gleich die nächste zwi­schen seinen Kiefer wandern.

Dass mir der Kiefer heruntergeklappt war, bemerkte er gar nicht. »Das kam wirklich nicht von dir?«, hakte ich vorsichtshalber noch ein­mal nach.

Dass er gar nicht mehr antwortete, musste ich wohl als Bestäti­gung nehmen. Ich überließ ihn sich selbst und seinem Artikel und wäh­rend ich ging, sagte ich mir, dass es für die Makkaronis natürlich kein Problem war, sich einen Umschlag mit einem Stempel der Chicago

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Tribune zu beschaffen. Die Frage war bloß: Weshalb trieben sie solch einen Aufwand? Mit mir, einem unbedeutenden kleinen Detektiv?

Ich kann nicht sagen, dass ich mich wohl in meiner Haut fühlte, als ich in meinen Plymouth stieg und nun doch endlich ins Büro fuhr.

Betty sprang sofort auf, als ich das Büro betrat. »Endlich, Chef! Ich warte hier schon ewig auf Sie!«

»Um mir einen schönen Tag zu wünschen?«, blaffte ich sie an und ließ mich dann, noch in Hut und Mantel, auf den Stuhl an meinem Schreibtisch fallen.

Sie ignorierte meine nicht eben charmante Begrüßung. »Ich hab da was ziemlich Seltsames herausgekriegt, Chef! Okay, ich gebe zu, beweisen kann ich es noch nicht. Aber wenn sie dem ein bisschen auf den Zahn fühlen, ist er reif.«

Sie schenkte erst sich selbst Kaffee ein, dann auch mir. Als sie die Tasse auf meinem Schreibtisch absetzte, lächelte sie mich voller Stolz an.

»Um wen geht es?«, fragte ich ohne großes Interesse. Betty verdrehte die Augen. »Ich hätte Ihnen mehr zugetraut. Sie

haben doch beobachtet, wie ich mit Pete Coleman ins Gespräch ge­kommen bin.«

»Pete Coleman?«, echote ich. Sie verdrehte gleich noch mal die Augen. »Der Chauffeur. Erst hat

er sich ja als Eisschrank gegeben. Aber ich hab da so meine Tricks.« Mir dämmerte, was sie als Gespräch bezeichnete. Ihren plumpen

Flirt mit Mr. Vorhängeschloss. »Ich hab Sie eigentlich für wählerischer gehalten«, knurrte ich.

Wieder ging Betty nicht darauf ein. »Wissen Sie, dass Whitney in den Stock Yards ziemlich weit oben mitgespielt hat? Na ja, er hat es jedenfalls versucht und...«

»Das ist mir bekannt«, fiel ich Betty ins Wort. Ich musste nach­denken, dabei störte ihr Geplapper erheblich.

»Gut, dann zurück zu Coleman«, nahm sie mir schon wieder nichts übel. »Ich hab mich ein bisschen angefreundet mit ihm. Und mich zum Essen einladen lassen. Und als ich dann gesagt hab, ich würd wirklich gern mal in so 'ner schicken Limousine fahren, hat er

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gesagt, kein Problem. Und wohin es denn gehen soll. Und weil ich ja nicht wusste, ob Sie überhaupt noch mal vorbeischauen, hab ich ihm gesagt: Nach Hause.« Sie stockte und sah mich an, als hätte sie wer weiß was gesagt.

»Und?«, fragte ich nach, um endlich meine Ruhe zu haben. »Coleman fuhr mich nach Hause. Und zwar ohne dass ich ihm sa­

gen musste, wo das ist. Und er hat mir dabei auch erzählt, dass er Rudny schon länger kennt. Und dass sie das alles nicht verdient hat. Na, klingelt es so langsam bei Ihnen?«

»Wenn, dann so leise, dass ich es nicht höre«, versetzte ich. »Jetzt haben Sie aber wirklich eine lange Leitung!«, rief Betty und

seufzte. »Coleman war in Rudny verliebt. Aber gegen einen wie Whit­ney hatte er natürlich keine Chance.«

»Und deswegen schabt er seinem Chef dann die Bäckchen weg? Betty, Sie lesen die falschen Romane.« Ich legte endlich wenigstens den Hut ab.

»Das war ja nicht sein einziges Motiv«, trumpfte Betty auf. »Ich saß vorn, direkt neben ihm. Und als dann mein Rock zu den Knien hoch gerutscht ist... Also er sprach davon, dass die Iren ja auch ganz nette Leute seien. Und dass er als Chauffeur nicht richtig gefordert war. Und dass es Leute gibt, die bestimmt froh sind, wenn Whitney nicht mehr...«

»Betty!« Ich sprang auf, der Mantel wurde mir zu warm. Ich zog ihn aus und warf ihn über den Stuhl. »Und das wollen Sie alles her­ausgekriegt haben, bloß weil Ihr Rock...?«

Betty setzte die Miene einer Anstandsdame auf. »Das zweite Motiv wäre also nicht bloß Liebe und Tralala. Sondern ziemlich handfest. Der Mann wollte einen anderen Job. Und wie gesagt, er wusste, wo meine Wohnung ist. Ich könnte darauf wetten, er war schon mal dort. Es war für ihn auch kein Problem, an meinen Schlüssel zu kommen. Er hat ja Rudny herumkutschiert. Und deshalb... Zählen Sie doch endlich eins und eins zusammen, Chef!«

»Genau das tu ich«, knurrte ich und schaute auf meine Uhr. »Sie haben jetzt Feierabend, ja? Damit ich endlich in Ruhe arbeiten kann. Es ist nicht nötig, dass Sie mir das abnehmen.«

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Im Grunde konnte ich es verstehen, dass Betty danach ziemlich beleidigt abrauschte. Es war auch nicht so, dass ich ihre Informationen völlig wertlos gefunden hätte. Deshalb machte ich mir ja auch gleich ein paar Notizen. Dann aber musste ich mich einem größeren Problem zuwenden. Alles andere musste da erst einmal warten. Und dann hatte ich auch endlich die Idee, nach der ich so lange gesucht hatte.

Sie war eigentlich ganz einfach. Ich würde die Schlachthöfe noch einmal besuchen. Aber diesmal mit einer Gruppe Touristen. Eine ganz gewöhnliche Führung! Und diesmal würde ich auch keine Fragen stel­len, sondern nur meine Augen aufmachen, sehr weit. Und ansonsten auf das kleine Quäntchen Glück hoffen, ohne das einer in meinem Ge­werbe einfach nicht auskommt.

*

Ein bisschen gruselig wollten die Touristen es ja, aber natürlich nur in Maßen. Das wussten auch die Leute, die die Führungen organisierten. Und so stellte man genau die richtige Mischung zusammen. Den Schlachtvorgang selbst wollte man den Besuchern nicht zumuten. Aber vor allem auf die hochindustrielle Verarbeitung dieser Fleischmassen war man doch stolz, dabei entstand fast kein Gestank und alles sah sehr proper aus.

Es waren ungefähr fünfzehn Leute, die dem Führer folgten und eifrig den Zahlen lauschten, die er ausspuckte. Fast zehn Prozent der gesamten Fleisch- und Viehproduktion der USA wurde hier verarbeitet und von hier dann überallhin versandt. Und wie hochmodern diese Maschinen waren!

Ich fiel nicht auf in der Gruppe und all die Zahlen interessierten mich einen feuchten Dreck. Mir gingen Dunkys Andeutungen durch den Kopf. Vor allem das mit dem Viehfutter gab mir zu denken. Dort waren doch garantiert die Kontrollen, mit denen der Reiseführer un­entwegt so angab, am wenigsten streng. Dort könnte man dann doch wohl auch leicht Fleisch unter die Reste mischen, das nicht tierischer Herkunft war.

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Ja, in dieser Richtung liefen meine Gedanken. Nicht gerade appe­titlich. Ich hielt mich immer schön in der Mitte der Touristengruppe und ließ meine Augen aufmerksam herumwandern. Nicht überall herrschte helles Licht und natürlich spähte ich besonders aufmerksam in die dunkleren Ecken. Und wen entdeckte ich da? Es war nicht unbe­dingt eine angenehme Überraschung. Der Kerl mit dem zur Hälfte ra­sierten Schädel. Diesmal sah ich ihn von vorn. Sein Gesicht sah aus, als habe jemand daran Schnitzen gelernt. Nein, kein schöner Anblick. So gesehen war es geradezu rücksichtsvoll gewesen, dass er mich auf dem Friedhof nur seine Rückseite hatte sehen lassen.

Der Typ stand jedenfalls allein in einem endlos langen Flur, der nur von einer trüben Funzel erleuchtet wurde. Ich erkannte aber doch, dass es ganz in der Nähe des Kerls eine Nische gab. Und irgendwie spürte ich, dass dies genau der Ort war, an dem ich jetzt sein sollte. Ich bückte mich nach einer Schraube und die warf ich dann so weit in den Flur hinein, dass die Halbglatze aufschreckte und der Richtung des Geräuschs folgte. Das war meine Chance, ich erreichte die Nische, bevor er sich wieder vor der Tür aufpflanzte wie zuvor. Ich sagte mir, dass es kein Fehler wäre, wenn meine Smith & Wesson von nun an in meiner Hand läge. Ich hörte, wie die Touristengruppe sich immer wei­ter entfernte, da bemerkte keiner, dass ich fehlte. Blieb nur zu hoffen, dass die Halbglatze nicht Lunte roch. Und dass hier in nicht allzu lan­ger Zeit geschah, worauf ich hoffte.

Leider geschah nicht viel. Die Halbglatze holte sich irgendwann von irgendwoher einen Stuhl und setzte sich. Als dann jemand kam, war es nur eine verhuschte Gestalt mit Essen für ihn. Die Halbglatze zog die Jacke aus, sogar das Halfter legte er ab. Und dann begann er zu essen, auf eine so widerliche Weise, dass ich auf Einzelheiten ver­zichten möchte. Berge von Fleisch wanderten jedenfalls vom Teller in seinen Schlund und seine Tischsitten konnten mir ja egal sein. Nicht aber, dass er jetzt abgelenkt war.

Ich schlich mich so lautlos an ihn heran, dass er erst etwas merk­te, als ich mit einem Fuß seinem Halfter mit den Knarren einen Tritt gab. Er wollte aufspringen, aber daran hinderte ihn meine Smith & Wesson. Ich stand hinter ihm, so wie er neulich hinter mir und drückte

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die Mündung meines Revolvers gegen die kahle Hälfte seines Schä­dels.

»Machen wir es kurz«, begann ich unser Gespräch. »Hinter der Tür, vor der du da so gemütlich sitzt, befinden sich die Reste, aus de­nen Tierfutter wird.«

Er grunzte etwas, das ich als Zustimmung nahm. »Und heute erwartest du noch eine Lieferung. Fleisch, das wo­

möglich noch warm ist. Und nicht von Tieren stammt. Aber dem lieben Vieh ist es ja bekanntlich egal, was es frisst.«

Der vierschrötige Kerl war viel sensibler, als ich gedacht hatte. Er bekam jetzt doch glatt einen Schluckauf, vielleicht rülpste er auch nur. Und durch seinen massigen Körper lief ein Zittern, das seine Angst verriet.

»Ich mach das auch für euch!« Seine Stimme war erstaunlich hoch. »Wirklich, darüber können wir reden.«

Zuerst begriff ich es nicht, dann wurde mir klar - er hielt mich für einen von den Iren. Was ja insofern stimmte, als auch meine Vorfah­ren von dieser Insel stammten.

Geredet wurde dann aber nichts mehr. Ich hörte, wie dort, wo ich vorhin mit den Touristen gestanden hatte, ziemlicher Lärm aufkam, Getrampel und Schreie.

»Ihr geht da lang, die anderen folgen mir«, hörte ich eine energi­sche Stimme und erkannte Hollyfield.

Ich ahnte, dass es nun brenzlig werden würde. Mit einem Satz ret­tete ich mich in die Nische schräg gegenüber. Die Halbglatze war däm­lich genug, um zu seinem Halfter zu rennen.

»Denk nicht einmal daran!«, rief Hollyfield ihm zu. »Nimm lieber die Pfoten hoch!«

Die Halbglatze aber hörte nicht auf den Captain. Ich spürte den Wind, den die Kugeln auf dem Weg zu ihm erzeugten. Gleich darauf lag die Halblatze röchelnd auf der Erde, ein ziemlich großer Haufen Fleisch.

»Sie kommen zu früh«, wandte ich mich an Hollyfield. Der staunte natürlich, mich hier zu sehen. Und er hörte nicht auf

mich. Als seine Männer, allen voran ein lächerlich wild dreinblickender

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Quirrer, den Raum betraten, indem das künftige Viehfutter lagerte, fanden sie nichts, was nicht dorthin gehört hätte. Das Informationssys­tem des Syndikats funktionierte gut genug, dass zumindest in dieser Nacht keine Frischfleischlieferung mehr eintraf. Und das, was einmal ein angehender Senator gewesen war, konnten sie dort drin auch nicht mehr finden. Das hatte längst den Weg alles Fleischlichen genommen.

*

›Il Cardinale‹ hatte garantiert gedacht, die optimale Methode gefunden zu haben, um seine berühmten Leichen verschwinden zu lassen. Und eine Zeit lang hatte es ja auch bestens funktioniert. Die Machenschaf­ten waren so widerlich, dass Hollyfield anordnete, nichts davon an die Presse weiterzugeben. Womöglich war das nicht allein seine Idee ge­wesen, ich könnte mir denken, dass er da etwas unter Druck geriet. Denn wenn die Leute jetzt aufhörten, sich ihr Steak schmecken zu lassen, würde das ökonomisch äußerst ungünstige Folgen haben. Zu­mal Hollyfield das übliche Problem hatte: Eindeutig beweisen konnte er nichts.

Der Senator, der dann anstelle jenes anderen gewählt wurde, sprach jedenfalls auffallend oft von den Schlachthöfen, prangerte ›Zu­stände‹ an und versprach, dort aufzuräumen - Korruption, Erpressung, Hygiene. In öffentlichen Reden und Zeitungsberichten machten sich seine Ankündigungen gut. Und schlimmere Worte nahm der feine Herr natürlich nicht in den Mund. Man munkelte übrigens, dass ein be­achtlicher Teil seiner Wahlkampfkosten aus den Kassen von ›Il Cardi­nale‹ beglichen worden sei. Aber wie gesagt, auch das waren nur Ge­rüchte. Aber vorstellbar war es doch ganz gut, dass der Boss der Mak­karonis auf die Idee gekommen war, von den Schlachthöfen auch künftig zu profitieren. Da konnten Verbindungen in die hohe Politik nur von Nutzen sein, wenn man sie nur diskret genug betrieb.

So nahm die ganze Sache für Hollyfield ein Ende, das geeignet war, seinen Missmut nur noch weiter anwachsen zu lassen. Ich war da etwas besser dran. Ein klein wenig zumindest.

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Am nächsten Morgen traf ich gleichzeitig mit Betty im Büro ein. Sie begrüßte mich nicht, anscheinend war sie noch immer beleidigt.

»Wo kann man denn um diese Uhrzeit Ihren Chauffeur treffen?«, fragte ich sanft.

»Ich denke, das interessiert Sie nicht.« Jetzt erst fielen mir ihre Augen auf. Sie hatte anscheinend ge­

weint. Aber nicht meinetwegen, wie sie mir gleich darauf verriet. »Von Rudny noch einen Gruß.« Ihre Augen wurden schon wieder

feucht. »Ich hab sie eben zum Bahnhof gebracht.« Weil sie kein Ta­schentuch hatte, fuhr sie sich mit dem Ärmel ihrer Bluse übers Gesicht. »Sie kommt über Clarks Tod nicht hinweg. Das kann ich gut verstehen. Aber schade ist es doch, dass sie nun geht. Ich fand sie eigentlich ziemlich nett.«

Ich hörte noch einmal die samttiefe Stimme, das rollende R. Und ich dachte an Rudnys zweiten Liebhaber namens Peelson, von dem Betty wohl nichts ahnte. Und dem Rudny nur durch Flucht entkommen konnte. Immerhin das war ihr anscheinend klar. »Zurück nach Polen?«

Betty schüttelte den Kopf. »Nein. Sie hat was von den Südstaaten gesagt.«

»Da hat sie es jedenfalls wärmer als hier«, versetzte ich. »Wie ist das nun mit dem Chauffeur? Wäre das nicht ein letzter Liebesdienst für Rudny?«

»Sie glauben mir also, was ich herausgekriegt hab?«, fragte Betty und zog die Nase hoch.

»Mal sehen, was dran ist«, dämpfte ich ihre Erwartungen. »Haben Sie zufällig den Schlüssel mit dem blauen Band dabei?«

»Der ist hier, in der Schublade«, erwiderte Betty. »Wozu brauchen wir den?«

»Wenn alles stimmt, was Coleman Ihnen neulich geflüstert hat«, weihte ich sie in meinen Plan ein, »und wenn wir dann noch dafür sor­gen, dass noch mal frische Fingerabdrücke von ihm an diesen Schlüs­sel kommen - meinen Sie nicht, dann gibt er auf?«

»Klasse Idee, Chef!« Betty strahlte. Wir verließen das Büro gemeinsam und Coleman wartete tatsäch­

lich zwei Blöcke weiter am Straßenrand mit der Limousine, die derzeit

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keinem so richtig gehörte. Ich sah den großen Wagen schon von wei­tem.

»Wir waren hier so halb verabredet«, gestand mir Betty. »Ich hab ihm versprochen, dass ich vorbeikomme, wenn ich es einrichten kann.«

»Gut, das können Sie jetzt einrichten.« Ich nickte. »Sie steigen zuerst ein und lenken ihn ein bisschen ab. Ich spring dann auch noch auf.«

»Da müssen Sie aber fix sein, er ist immer bewaffnet«, glaubte Betty mich warnen zu müssen.

»Ich derzeit auch«, beruhigte ich sie. Es war fast beschämend einfach. Dieser Coleman litt unter der

Krankheit so vieler alternder Männer. Angesichts einer jungen Frau wie Betty vergaß er alles, was er gelernt hatte und überließ sich einfach seinen Hormonen. Betty erlaubte ihm, ihr linkes Knie zu tätscheln, als ich in den Fond stieg und Coleman auch sofort meinen Revolver in den Rücken drückte. Betty ließ den Schlüssel am blauen Band vor ihm in der Luft schaukeln. Er schnappte ganz instinktiv danach.

»So hastig bewegen wir uns jetzt aber nicht mehr«, warnte ich ihn und versenkte den Lauf meiner Smith & Wessen noch etwas tiefer im Fleisch seines Rückens. »Nur mit den Lippen, abgemacht?«

Er gab alles zu. Früher einmal war auch er Schlachter gewesen, daher wusste er noch gut, wie man mit einem Messer umging. Er hat­te Whitney um seine hübschen Bäckchen gebracht und dann auf Bet­tys Sofa deponiert. Whitneys Tod gehörte also wirklich in ein ganz an­deres Puzzlespiel.

»Aber wieso haben Sie ihn ausgerechnet dort abgelegt?«, fragte ich.

»Ganz alter Trick.« Er grinste. »Ich wusste doch, dass Rudny bei Betty untergekommen war. Und da Betty nun so wenig mit der ganzen Sache zu tun hatte wie Sie - so etwas funktioniert beinahe immer.«

In diesem Punkt musste ich ihm Recht geben. Auch Scan ›The Jar‹ O'Malley hatte seine Leichen eine Zeit lang dadurch entsorgt, dass er sie bei x-beliebigen harmlosen Bürgern im Wohnzimmer deponierte.

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Welcher Bulle kommt schon ohne jedes ersichtliche Motiv auf den Tä­ter?

Betty wollte unbedingt mitkommen, als ich Coleman endlich bat, zum Polizeipräsidium zu fahren. »Erstens weil das wirklich klasse ist in so einem Wagen und zweitens weil Sie das ohne mich doch nie raus­gekriegt hätten!« Sie platzte fast vor Stolz und ich ließ ihr den Spaß.

Ich war übrigens nicht sonderlich stolz, als ich Coleman dem Cap­tain übergab. Sicher war es nicht nett, was der Chauffeur gemacht hatte. Aber alles in allem war er doch eine kleine Nummer. Während man an die anderen wieder mal nicht herankam.

Während Hollyfield mir zu meinem Erfolg gratulierte, verübelte mir Quirrer meinen Fang wie üblich. »Möchte nicht wissen, mit welchen Methoden Sie das geschafft haben«, raunzte er mich an.

Dann verschlang er Betty fast mit den Augen, als diese sich die Bluse glatt strich und dann wieder in ihren Mantel schlüpfte.

Wir verließen das Präsidium. Betty fragte, ob sie für den Rest des Tages frei haben könnte. Sie habe da von einer neuen Wohnung ge­hört, in ihrer alten fühle sie sich einfach nicht mehr richtig wohl. Ich ließ sie gehen und schlug den Weg zu dem Diner ein, in dem ich mit ziemlicher Sicherheit Brendon finden würde. Und einen kräftigen Schluck.

Brendon war auch wirklich da. »Ich hatte schon befürchtet, du wärst ernstlich sauer auf mich«, begrüßte er mich. »Ich war gestern ein bisschen kurz angebunden, was?« Er zwinkerte mir zu und als er dem Kellner ein Zeichen gab, auch mir etwas zu trinken zu bringen, hatte ich überhaupt keinen Grund mehr, ihm böse zu sein. Es wurde noch richtig nett. Brendon erzählte mir, dass die White Socks dem­nächst in ganz neuer Aufstellung spielen würden und dass ihr Sieg dann garantiert sei. Nach etlichen Whiskeys schlug er vor, ein Steak zu essen. »Du siehst irgendwie hungrig aus«, meinte er.

Ich hatte anfangs schon ein paar Bedenken. Aber die behielt ich für mich und das Steak schmeckte dann sogar richtig gut. Und als wir noch mit ein paar Whiskeys nachspülten, fiel mir endlich auch ein, was es mit dieser Hasenpfote auf sich hatte. Mein Partner Joe hatte es mir einmal erzählt, es lag Jahre zurück.

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»Ein Onkel von ihm«, erzählte ich Brendon, »hat Karnickel ge­züchtet und eigenhändig geschlachtet. Joe war noch ein Kind und zu­sammen mit anderen Jungs hatten sie so ein Spiel. Sie sollten nicht dabei sein beim Schlachten. Dabei wollten sie nichts lieber als das. Na ja und das Spiel bestand dann darin, wenigstens an eine Hasenpfote zu kommen. Und der, dem das gelang, der hatte gewonnen.«

»Versteh ich nicht«, brummte Brendon. Ich musste ihn daran erinnern, dass kürzlich ich in den Besitz ei­

ner solchen Hasenpfote gelangt war. Da grinste er breit. »Verstehe, du hast also gewonnen. Und ist es nicht so, dass der Gewinner dann ei­nen ausgibt?«

Wo er Recht hat, hat er Recht, dachte ich und begriff vielleicht erst jetzt, in welchem Ausmaß ich wieder einmal Glück gehabt hatte. Mein Auge war auch nicht mehr blau und die Wunde darüber war kaum noch zu ahnen. Ich sah eindeutig wie ein Gewinner aus an die­sem Abend. Und so bestellte ich Nachschub.

Ende

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