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Im Reich der Hethiter

Date post: 09-Jan-2017
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K L E I N E B 1 I I . I O T H K D I - S W I S S E K l

LUX-LESEBOGEN\ A I U I I . U N D K U L I L K K l \ U L I t I I » H l I I h

O t t o Z I E R E R

IM REICHEDER HETHITER

DIE ENTDECKUNG

E1NES RÄTSELHAFTEN VOLKES

V E B L A G S e b a s t i a n L u x

M U R N A U M Ü N c h e n - l n n s b r u c k - B a s e l

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Rekonstruktion (nach Naumann) der Burgstadt von Hattusas

Vom Top-Kapi-Museum in Istanbul — Konstantinopel und seinerArchäologischen Abteilung haben die wenigsten Orient-Reisendengehört. Und doch ist in diesem Riesenbau auf dem Serailberg inIstanbul eine der umfangreichsten und großartigsten Sammlungenvon altorientalischen, altgriechischen, römischen und frühbyzantini-schen Plastiken und Reliefs, Sarkophagen, Bildsäulen und Büstenzu finden, die man sich denken kann.

Da die Funde im Top-Kapi-Museum aus dem gesamten Bereichder heutigen und früheren, große Teile Vorderasiens umfassendenTürkei stammen, verwundert man sich nicht, viele vertraute assyri-sche, babylonische und phönikische Stücke zu sehen, bis man aufzwei Säle mit Flachbildwerken und Figuren stößt, die man nurschwer einem dieser bekannten Kulturkreise einordnen kann, ob-schon sie mit einigen der älteren verwandt zu sein scheinen.

Seltsame Flachreliefs mit langnasigen Figuren, deren Häupter mitspitzen Hüten bedeckt, aber ohne Knebelbärte sind, erinnern anAssyrien — sind aber nicht assyrisch; Fabeltiere, wie sie an denToren Babylons mit vielfachen Schutzflügeln standen, sehen unsan — sind aber nicht babylonisch. Mitten in steinerne Bilddarstel-

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lungen oder auf Felsstücke sind seltsame Bildschriftzeichen — Hie-roglyphen — gemeißelt — sie sind aber nicht ägyptisch; unter Glasliegen Bronzefigürcben mit den überlangen Gliedmaßen uralter sy-rischer Menschendarstellungen — sie sind aber nicht syrisch.

Wir stehen hier im Museum von Istanbul zum erstenmal vorFundgegenständen aus einer erst in den letzten Jahrzehnten auf-gehellten alten Kultur: vor den Lebenszeugnissen des fast verges-senen Großreiches der Hethiter. Das Innere der heutigen Türkei istdas weite Grabungsfeld mit den Kulturresten dieses uns durch seineHerkunft urverwandten Volkes.

Von Konstantinopel nach AnkaraWir sind mit der Fähre vom Galata-Kai in Istanbul über den

Bosporus nach Üsküdar übergesetzt. Dort drüben auf dem asiati-schen Ufer der Türkei liegt im nahen Haidarpascha der Kopfbahn-hof der berühmten, seinerzeit von Deutschen gebauten Bagdadbahn,die das Marmarameer mit dem Persischen Golf verbindet.

Wir wählen die schnellere, modern ausgebaute Autostraße, die unsdurch eine Küstenlandschaft zwischen zwei Meeren führt — demSchwarzen Meer im Norden und dem Marmarameer im Südwesten.Der Landschaftscharakter ist so, wie wir uns diese meernahe ZoneKleinasiens vorgestellt haben: Wälder und fruchtbare Täler wech-seln einander ab, hier und dort blinken Seen auf, kleine Flüssewinden sich dem Meer entgegen, das tintenblau und dessen Ho-rizont begrenzt ist von den violetten Schatten der Inseln.

In dieser uralten Kulturlandschaft liegen die Ruinen von Städten,deren Namen in die Weltgeschichte eingegangen sind: Nikomcdia,einst Residenz römischer Kaiser, Chalzedon und Nikäa, Stätten alt-christlicher Konzilien, und Bursa, einst Hofsitz türkischer Sultane.Hier in der Nähe, am Granikus-Fluß, schlug Alexander der Großeseine erste Perserschlacht. Südwestlich von uns, nahe den Dardanel-len, träumen die Reste von Troja.

Man müßte ein dickes Buch schreiben, um aufzuzählen, welcheVölker, Könige und Erobererfeldherren hier vorüberzogen, welcheEreignisse hier auf der Landbrücke zwischen Morgenland undEuropa den gelbroten Staub der Wege aufgewühlt haben. HomersIlias spielt um diese Meere und Hügel, der Heerzug des Krösus

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und Kyrus wogte vorüber, die Armeen des Darius und Xerxesfolgten, die siegreichen Griechen landeten an den Küsten. Alexan-ders Nachfolger kämpften hier; unter ihnen Großkönig Antiochusvon Syrien. In Bursa tötete sich Hannibal, in die Enge getriebenvon römischen Agenten. Der eiserne Scipio kam, Lucullus, Cäsar,Pompejus — viele große Römernamen bis zu Konstantin dem Gro-ßen sind mit dieser Landschaft verbunden. Auch gallische Volks-scharen zogen herüber und ließen sich als Galater im Lande nieder.

Ein Jahrtausend lang beherrschten die in Konstantinopel-Byzanzregierenden Kaiser Ost-Roms die Menschen in den nahen Dörfernund Städten. Byzanz kämpfte hier mit eingedrungenen Goten,Hunnen, Awaren, Persern und den vom Islam entflammten Massender Araber, Syrer, Armenier und Afrikaner. Die ersten ziehendenHorden der asiatischen Türken tauchten auf, die Mongolen des Ti-mur Tamerlan stürmten ins erzitternde Land.

Anadolu, Anatolien — Land der Morgenröte — nannte man dieweiten Länder, die sich von den Dardanellen ostwärts hinziehen, imGegensatz zu dem Land auf der europäischen Seite der Meerengen,das den Romäern, den Byzantinern, gehörte und das Rumili hieß.

Fern im Herzen von Anatolien schlug der Mongolenkaiser Timurseine Vernichtungsschlacht gegen den Türken Bayesid und nahm ihngefangen. Viele Entscheidungen fielen hier im Innern Kleinasiens.Ein paar Jahrhunderte vor Timur Tamerlan kämpften dort abend-ländische Kreuzfahrerheere, römisch-deutsche Kaiser ritten vorüber,der Wüste von Ikonium entgegen, umschwärmt von türkischen Seld-schuken, hinein in ein Land, von dem der Dichter sagt: „Viel Steinegab's und wenig Brot."

Ein einziger Eroberer hielt sich zäh im ausgemordeten und ver-wüsteten Land: der Türke, der Bursa zu seiner ersten Hauptstadtmachte. Der Sohn Bayesids holte sich Anatolien zurück, und es be-gann die lange Epoche der türkischen Herrschaft. Die letzten christ-lichen Kirchen sanken dahin, die Minaretts der Moscheen wuchsenaus dem uralten Boden.

Uns, die wir tief in das Land hineinfahren, ist es, als sei diesewestlichste Halbinsel Asiens, die sich weit in das Ägäische Meer vor-streckt, an allzuviel Geschichte verblutet, als habe sich die Land-schaft des inneren Kleinasiens erschöpft von zuviel Tumult, Völker-

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Hethitische Figur, wahrscheinlich porträtähnlich; Augen ursprünglichaus farbiger Masse, goldüberzogenes Gewand, Gesicht aus eingefügtem

weißem Stein

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Wechsel und Mordgedröhn; denn ihre Gebirge und Hochebenen lie-gen heute beinahe waldlos, braun und versteppt, Schafherdenwandern darüber hin. In den Tälern ducken sich armselige, ausKnüppelholz und Lehm zusammengeflickte Türkendörfer, in denenFrauen und Kinder in Pluderhosen wie in vorgeschichtlicher ZeitGetreide mit dem Schlitten ausdreschen und es im ewig wehendenSteppenwind worfeln.

Anatolien, einst Herz und Kraftzentrum bedeutender Kulturen,umkämpft von Assyrern, Persern, Griechen, Römern, Byzantinern,Mongolen und Kreuzfahrern, hat den Charakter jener Urlandschaftangenommen, aus der die Mongolen und Türken gekommen sind.Es ist Steppe geworden.

Eine lange Strecke folgt unsere Straße in das Innere dem fastausgetrockneten Lauf des Flusses Sangarius, der jetzt Sakarijaheißt. An seinen Ufern schlug im Jahre 1921 Kemal Atatürk, derRetter und Erneuerer der Türkei, sechzig Tage lang die berühmteSchlacht gegen die eingedrungenen Griechen.

Kemal Atatürk war es auch, der — klug geworden durch dieLehren der jüngsten Geschichte — die bisherige Hauptstadt derTürken aus dem Bereich englischer, französischer und russischerSchiffsgeschütze fortverlegte, von Istanbul ins Innere Anatoliens, inden Flecken Ancyra — Ankara.

Hauptstadt in trostloser SteppeAnkara bietet sich uns als eine fast europäisch anmutende Stadt.

Die künstlich geschaffene Hauptstadt der Türkei mit ihren 454 000Einwohnern ist rings um den Kern des alten Zitadellberges aufmehreren Steppenhügeln erbaut, wie verloren mitten hineingestreutin das Grau-Braun der trostlosen Steppe.

Was in Ankara Grün ist, wurde von Menschenhand angepflanzt;wo eine Seefläche glänzt, ist sie mühsam durch Aufstauung efnesGebirgsbaches geschaffen. Die Großstadt hat sich kühn mit demRiesenmonument Kemal Atatürks, mit Hochhäusern und breitenBoulevards geschmückt. Ihr Aufstreben ist wie ein Programm, dasaus finsterer, zerstörerischer Geschichte hinüberleiten soll in einehoffnungsreichere Zukunft.

Der Kern dieser „Stadt in der Steppe" war vor rund zweitausend

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Jahren Kern einer römischen Provinzhauptstadt. Wegen ihrer ver-kehrswichtigen Lage wandte Kaiser Augustus ihr sein besonderesAugenmerk zu und ließ hier im ehemaligen Tempel des Mondgotteseine Abschrift jenes ruhmreichen Rechenschaftsberichts über seineTaten einmeißeln, die als „Monument von Ankara" (MonumentumAncyranum) in die Geschidite eingegangen ist.

Unter byzantinischer Herrschaft war Ankara Sitz eines Erzbischofs,also immer noch eine namhafte Stadt; erst die wiederholten Zer-störungen in den Kriegen mit Persern und Türken ließen es inVergessenheit geraten.

Die hohe Zitadelle erzählt diese bewegten Schicksale auf ihreWeise: Auf uralten frühgeschichtlichen Fundamenten aus Riesen-quadern erheben sich, von Seldschuken und Türken ineinander-geschichtet, bunt zusammengewürfelte Mauermassen; spätgriechisdieSäulenreste sind mit römischen Langziegeln und Steinbildern ausder byzantinischen Epoche zusammengefügt und von hohen seld-schukischen Ziegeln gekrönt — das ganze Elend der Vergangenheitspricht aus der Wirrnis dieses Gemäuers.

Lange Zeit waren vor allem die urtümlichen Fundamente denArchäologen ein Rätsel. Die Burg, zu der sie gehörten, hatte kei-nen Namen. Heute weiß man, daß dieser Platz, ehe ihn Griedienund Römer Ankyra nannten, vordem Ankuwa genannt wurde. An-kuwa aber ist ein hethitisches Wort.

Ankara steht auf dem Boden einer Siedlung, die vor drei-einhalbtausend Jahren zum Staat der Hethiter gehörte. Es war einSperrfort auf dem Wege zur Hauptstadt dieses versunkenen Reichesund ist heute der Hauptsammelplatz für die Funde, die seit etwadreißig Jahren aus dem ehemals hethitischen Kulturboden zutagegetreten sind.

Zu Füßen der Zitadelle liegt das größte Museum hethitischer Aus-grabungen, das es auf der Welt gibt.

Wieder wandern wir vorbei an den befremdenden Figuren ausgrauschwarzem, porösem Gestein, an den plastischen Bildern einerKönigsprozession, an geflügelten Dämonen, zähnebleckendcn Löwen-gestalten und mit Hieroglyphen bedeckten Steintafeln. Unter Glasliegen Bronzefigürchen, schlicht gearbeitete Gebrauchsgegenstände,Topfreste, Werkzeuge, Keilschrifttäfelchen und Bronzewaffen.

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Selbst der ungeübte Besucher erkennt vieles wieder: Deutlich ver-raten die Reliefs, Geräte und Bronzen die assyrischen, babyloni-schen, ja ägyptischen Vorbilder — und doch spürt man, daß sie kei-ner dieser Lebenswelten ganz angehören. Irgendein altes Volk hathier unter dem deutlichen Einfluß der großen Nachbarkulturen ver-sucht, sein eigenes Wesen in der Formensprache der Fremden aus-zudrücken. Und man erfaßt auch, daß es ein großes, selbstbewußtesund mächtiges Volk gewesen sein muß, das diese stummen Zeugenseines Daseins hinterließ.

Mit Staunen und Interesse betrachten wir die Fundortkarte desMuseums, die mit Punkten anzeigt, wo überall hethitische Städtegelegen haben und wie weit sich das einstige Großreich ausgedehnthaben muß: Nahe Izmir an der Mittelmeerküste sehen wir dieRuinen von Sipylos und Karabel eingetragen; im Nordosten Anka-ras nähern sich die hethitischen Siedlungen bis auf etwa hundertKilometer der Schwarzmeerküste, ohne sie jemals zu berühren; imOsten reichen die Fundorte bis ins Vorland Armeniens und bis zuden Quellen von Euphrat und Tigris. Das Reich dehnte sich inseiner Blütezeit im Süden weit über das Taurusgebirge bis insOrontes-Tal, bis in die Gegend des heutigen syrischen Handels-platzes Homs am Nordfuße des Libanon-Gebirges.

Die Hauptburg und das Herz dieses machtvollen Staates aber lagöstlich von Ankara, nahe dem türkischen Dorf Boghazköy, mittenim Hochland von Anatolien.

Diese Hauptstadt der Hethiter hieß Hattusas.Sie wird unser nächstes Ziel sein.

„Glühender Berg" in der EinsamkeitWir verlassen Ankara in östlicher Richtung, wieder auf einer aus-

gezeichneten Autostraße, die wie viele heutige türkische Straßenin den allerletzten Jahren mit amerikanischen Geldern und türki-scher Arbeit ausgebaut worden ist.

Wer die Türkei von früher her kennt und sich der abenteuerli-chen Wegeverhältnisse erinnert, ist immer wieder von dem raschenFortschritt im Ausbau des Straßennetzes überrascht. Es ist ein Ver-gnügen, diese neue, autobahnbreite und geteerte Straße, die überkahle Steppenhöhen und Hochflächen geführt ist, entlangzufahren.

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Die Schlucht Yazilikaya mit einem der Heiligtümer

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Nur einmal durchquert das oft wen aussdiwingende Band derStraße ein Waldgebiet und grüne Talgründe. Es ist kaum dreißigKilometer hinter Ankara, als wir über den größten Fluß Klein-asiens, den Kizil Irmak, setzen.

Auch jetzt, in der heißen Jahreszeit, führt der Kizil Irmak Was-ser, in scharfem Bogen durchflutet er Anatolien, durchbricht dienördlichen Gebirgszüge und ergießt sich ins Schwarze Meer. In altenTagen war er der Grenzstrom zwischen Lydien und Persien undhieß Halys. Von ihm sprach die Orakelpriesterin in Delphi, als siedem Lydierkönig Krösus weissagte, wenn er den Halys überschreite,werde er „ein großes Reich zerstören". Den doppelsinnigen Orakel-spruch auf das eigene Glück beziehend, überschritt Krösus den Flußund zerstörte sein eigenes Reich. Kyrus von Persien wurde seinErbe, und die Perser dehnten ihr Reich bis ans Mittelmeer aus.

Ostwärts des Halys wird das Land bald wieder zur Hochsteppeund zum trostlosen Schafgebirge.

Denkt man sich an Stelle der modernen Autostraße einen rum-pelnden Karrenweg, so hat man den Pfad, den die Archäologengezogen sind, als sie vor etwa hundert Jahren bei dem DorfeBoghazköy die Ruinenstadt Hattusas entdeckten. Für sie waren dieaus Knüppelholz, Lehm und strohvermischten Sonnenziegeln erbau-ten Dörfer, die in weiten Abständen manchmal rechts oder links derStraße auftauchen, von anderer Bedeutung als für uns. Hier fandder mit Pferd, Scheibenradkarren und Maultier dahinziehende For-scher einziges Quartier, kärgliche Nahrung und nächtlichen Schutzvor Wölfen und Räubern, die noch um die Jahrhundertwende durchdie versteppten Täler streiften.

Wie anders heute! Vom offenen Wagenfenster aus nehmen wirdie sich bietenden Bilder auf. Drüben auf einer Freilufttenne wor-feln die Bauern Getreide in den Wind. Vor uns hebt und senkt sichdas hochragende Gestänge einer Zisterne. Die kleinen Äcker sindvon Feldzäunen umhegt. Schreiend umringen uns buntgekleideteKinder, wenn wir irgendwo halt machen. Alles hier — diese flüchtigmit Gestrüppbündeln, zerfließendem oder von der Sonne zermah-lenem Lehm errichteten Behausungen und dieses Volk inmitten sei-ner weidenden, kleinen Steppenpferde — erinnert an die Urheimatder Türken in Innerasien und an das Nomadenleben von einst.

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Wahrend wir Meile um Meile zurücklegen, denke ich an den wage-mutigen französischen „Reisenden" Texier, der als erster dieRuinenstätte von Hattusas betreten hat, staunend vor dem „Be-schriebenen Felsen" Yazilikaya stand und Löwentore, Reste vonTürmen und ein ehemals bewohntes Stadtgebiet in der Einsamkeit:

fand, das nach seinen Worten „so groß war, wie Athen in seinerBlütezeit".

Texier schrieb vor hundert Jahren über seine Entdeckung, ver-suchte sie zu deuten und regte den Deutschen Karl Humann an,zehn Jahre später ebenfalls den beschwerlichen Weg anzutreten undan den Reliefs und Inschriften von Yazilikaya und dem Ruinenbergvon Boghazköy weiterzuarbeiten. Humann lieferte den ersten, ge-nau vermessenen Plan der rätselhaften Ruinenstadt. Die Diskussionum den Platz und seine teilweise in Gips abgegossenen Schriftenund Bildwerke ließen zunehmend die Gelehrten aufhorchen. Nochaber hatte das Volk, dem man hier auf der Spur war, keinen Na-men. Erst als eine Reihe von Mißverständnissen geklärt werdenkonnte und man in anderen Gegenden der Türkei und Syriensähnliche Funde machte, vor allem als das 1887 in Tell-el-Amarnaam mittleren Nil entdeckte Tontafelarchiv in lesbarer Schrift undSprache Hinweise gab, tauchte ein neuer Völkername in den Dar-stellungen der alten Geschichte auf.

Englische Professoren — Archibald Henry Sace und William Wright— zogen aus den Berichten Texiers, Humanns und anderer denSchluß, daß es neben den schon lange bekannten Großmächten derAssyrer, Babylonier und Ägypter im Bereich des Vorderen Orientseine vierte Großmacht gegeben haben und daß es sich um das Reichder Hethiter handeln müsse, das schon die Bibel erwähnt. DasScheinwerferlicht der Forschung richtete sich jäh auf die einsameGegend, die wir soeben im Kraftwagen durchfahren.

Aber noch gehen Jahre des Zweifels dahin. Erst im Jahre 1906findet sich ein großzügiger Mann, ein Berliner Bankier, der eseinem deutschen Professor, Hugo Winckler, ermöglicht, zusammenmit dem türkischen Gelehrten Macridy Bey systematische Ausgra-bungen in Boghazköy zu beginnen. Zu Pferd, gefolgt von einerKarrenkarawane mit Grabungsgerät, mühen sie sich über die ver-

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Lml s: Sitzendes Paar beim Mahl, Relief aus Maras. Mitte: BronzeneStandartenbekronung aus vorhethitischer Zeit (3. Jahrtausend v. Chr.).Rechts' Marschierende Krieger mit Spitzhuten. Flachrehet aus Hattusas

dorrten Berge und erreichen das große Dorf, das zu Hißen dervergessenen Stadt an einem Bache Hegt.

Wir fahren auf der auslaufenden Autostraße in Boghazköy einund machen halt an dem neuerbauten Rasthaus. Die breite Straßeverlauft noch einen Kilometer weiter zu dem etwas erhöhten Dorf-platz. Hinrcr dem staubbedeckten, von niederen Türkengehöftenumstellten. Platz hat sich seit tausend Jahren kaum etwas verändert.Tcxicr, Humann und Wincklcr hatten dank des Entgegenkommensdes Großgrundbesitzers Zia Bey gastliche Aufnahme im Amts-gebäude gefunden. Durch Zia Beys Machtwort waren auch die Ar-beiterscharen zusammengekommen, die sich der mitgebrachten Hak-ken, Schaufeln und Spaten bemächtigten und mit den Ausgrabernhinaufzogen zum „Glühenden Berg", zum Yazilikaya und 7uraBiuükkale — dem Burgberg.

Die ersten Spaten stießen in die Ruinenhalden von Hattusas.

In den Trümmern von HattusasSchon bald nach unserer Ankunft, nachdem wir uns erfrischt ha-

ben, steigen wir auf den Pfaden der Vergangenheit hinauf in dasGelände der alten hethilischen Hauptstadt.

Der trostlos jammernde Schrei der F.sel dringt von kleinen Gehöf-ten herüber. Staub schwingt in gelbbraunen Schwaden über denBerg, von wo ein türkischer Bauer eine Last Strauchwerk von

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einem kopfhängerischen Pferdchen talwärts schleifen läßt. In einemtiefen Graben zwischen Lehmhütten plätschert ein Brunnen, um densich Kinder drängen, zerfurchte Bauerngesichter tauchen unter derschiefen Tür des einzigen Kaffeehauses auf und starren den Frem-den nach, die — unbegreiflich für sie — in der prallen Sonne zumkahlen Berg hinaufwandern.

Um die Ufer des Baches, in den Schrunden des Tales, haben sichsilbergrüne Pappeln und einige Nußbäume angesiedelt, dürresMaisstroh umgrenzt als Windschutz kleine Gärten; die dürftigenFelder sind abgeerntet und glitzern strohig und goldgelb. In einersumpfigen Kuhle vor dem Anstieg suhlen sich, von Fliegen um-schwärmt, schwarzgraue Wasserbüffel.

Das Dorf Boghazköy sinkt in den Talgrund zurück, und der „Glü-hende Berg" hebt sich in weitem, wuchtigem Umriß gegen denflammenden Himmel. Der Boden ist steinig, von Felsrippen undBlöcken durchsetzt. Nur hier und dort ziehen durch Steine undFelshalden die gewundenen Furchen von Äckern, die sich bergaufin versteppter Dürre verlieren.

Es ist ein mühsames Gehen im tiefen, steinübersäten Gleis einesKarrenweges, der schmaler und schmaler wird und sich endlich ineinem gewundenen und bequemeren Fußsteig fortsetzt. Am halbenHang umlagern wir einen Steintrog, in den aus hölzerner Rinneeine Quelle sprudelt. Wir überschütten uns von Kopf bis Fuß mitkühlendem Wasser und trinken, ausgedörrt von Staub und Hitze.Das Taschenthermometer zeigt 55 Grad Celsius. Die Grade sind inder Sonne gemessen; denn Schatten gibt es hier nicht mehr. Soweit das Auge reicht, nur Stein, kein Baum, kein Strauch, nur stroh-farbenes Steppengras, Silberdisteln, ein paar kümmernde Tamaris-ken — sonst nichts.

Hinter einer Wegbiegung stoßen wir neben dem Pfad auf daserste Mauerwerk Hattusas'. An der Art der mörtellosen Schichtungund den Spuren der Zurichtung der Blöcke erkennt man, daß es'.ich um sehr altes Gemäuer handeln muß. Es sind die Reste einervorgeschobenen Befestigungsanlage, die sich zu einem Bergsattelhinaufzieht und sich plöt/lich ?u einem Torwerk erweitert, dem„Löwentor"

Nach wenigen Minuten erreichen wir den doppelt mannshohen

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Torbau. Rechts und links neben dem einst wohl zum Spitzbogengewölbten Wehrbau halten, aus riesigen Felsblöcken gehauen, zweiüberlebensgroße Löwen Wache und drohen mit ihren gefährlichenReißzähnen.

Jeder Feind mußte steil über den Hang gegen den Kranz derStadtmauern Hattusas' stürmen. Spuren lassen erkennen, daß sichhier herauf vermutlich auch eine der Zufahrtsstraßen wand, dievor drei Jahrtausenden und mehr von dem zu Markt gehendenBauernvolk und dem Gedränge von Ziegen, Schafen und Rindernbelebt war; Soldaten in Spitzhelmen sorgten für Ordnung, Stadt-wächter prüften die Waren, und Beamte erhoben den Torzoll.

Der Blick folgt dem kilometerlangen Verlauf der verfallenenMauern der einstigen hethitischen Hauptstadt. Der Mauerzug steigthöher zum Berg hinan und umrundet in unübersehbarem Bogen dieBergkuppe.

Welch eine Stadt muß hinter solchen Mauern gelegen haben! Wie-viel Leben, wieviel Schicksale mag dieser steinerne Kranz einstumgrenzt haben?

Wir wandern vom „Löwentor" innerhalb des Mauerringes wei-ter bergwärts, manchmal zeigen sich inmitten halbverwehter Äcker-chen und toter Steinfelder die schwach erkennbaren Grundrißliniengroßer Gebäude. Nach einer halben Stunde stehen wir vor demEingang zum großen „Tunnel".

Spitzgewölbt und breit genug, daß zwei Menschen nebeneinandergehen können, verläuft auf mehr als siebzig Metern ein aus riesi-gen Quadern gefügter Gang durch Mauer und Fels aus dem Stadt-innern hinaus in den Steilhang des Vorfeldes. Der unterirdischeGang hat einen gut getarnten Ausgang, der vielleicht in alten Ta-gen durch Steinschichten verdeckt war. Man glaubt, daß der Tun-nel Fluchtweg, Einlaß für Kuriere und im Falle einer Belagerungauch Ausfallspforte für Stoßtrupps war, die auf diese Weise über-raschend gegen die Flanke der um das nahe „Königstor* kämp-fenden Feinde anrennen konnten. Für eine so frühe Zeit beweistder Spitzbogentunnel die hohe architektonische Begabung seiner Er-bauer und ihre Machtfülle. Wie viele Gewölbe in alten Ruinen, hatder „Tunnel" von Hattusas den Sturm der Jahrtausende besserüberstanden als die rechteckig gefügten Bauteile im Stadtbereich.

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Wir suchen uns in dem majestätischen Ruinenfeld zu orientieren,es ist nicht leicht; aber wir erkennen doch an den freigelegtenGrundrissen die Anlage von Lagerhäusern, von Häuserzeilen undeinen grobgeglätteten Tempelvorhof, mit einer gewaltigen, auseinem einzigen Stück geschlagenen Steinwanne in der Mitte. DerBesucher muß die Ruinen gewissermaßen „empordenken", umHattusas' Stadtarchitektur und Größe zu rekonstruieren. In unsererPhantasie ersteht der ausgedehnte Tempelbezirk wieder, dessenHerzstück ein viereckiger Innenhof war, umgeben von rechteckiganeinandergereihten, gewaltigen Magazinbauten. Vermutlich hattenviele Bauten die Form von Würfeln, die sich ebenmäßig in- und an-einanderschoben, überragt von Torbauten und auf der Bergkuppegekrönt von der über die Festungswerke aufragenden Burg. Zwi-schen den Magazinen, zwischen Tempel und Staatsgebäuden drängtesich — wie in jeder antiken orientalischen Stadt — ein Gewirr vonlehm- und fachwerkgefügten Wohnhäusern, Werkstätten, Schuppenund Basaren in den Schatten der Mauer. Mehr als hunderttausendMenschen sollen hier gelebt und gearbeitet haben.

Der Spaten der Archäologen und der Scharfsinn der Schriftkun-digen ist ihren Spuren nachgegangen: Aus tausend winzigen Scher-ben, aus Steintrümmern und den zahlreichen in Hattusas gefunde-nen Tontafelschriften hat man ihr Dasein, die Taten ihrer Könige,ihre politischen und militärischen Schicksale und den verhältnismäßigkurzen Gang ihrer Geschichte zu einem Gesamtbild zusammenzufü-gen versucht.

Der Franzose Lenotre sagte einmal: „So wie ein Stein, der langein der Sonne gelegen hat, nachts die eingesogene Wärme ausstrahlt,so ist es auch mit den Ruinen von Bauten, die sich gesättigt habenmit den Gefühlen, Gedanken und Schicksalen der Menschen, die sieeinst bewohnt haben. Auch sie vermögen dem Fühlenden etwasvom Hauch der Dahingegangenen wiederzugeben . . ."

Auf dem „Glühenden Berg" von Boghazköy, im Trümmerfeldeiner einst hochberühmten Stadt ausruhend, stellen wir uns dieFrage: Wer waren diese Hethiter? Woher kamen sie und wohinsind sie verschwunden?

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Eine Welt zitterte vor ihnenEs war in der grauen Vorzeit Europas — im 19. und 18.Jahr-

hundert vor Christi Geburt —, als eine ebenso weiträumige wielangandauernde Völkerwanderung die noch im geschichtlichen Dun-kel liegenden Landschaften Nord- und Mitteleuropas und Rußlandsin Unruhe versetzte. Man weiß nicht, ob die aufsteigende Völker-woge aus der Gegend der Ostseeküsten, aus Mitteldeutschland oder"Westrußland gekommen ist; sie drängte gegen die bodenständigenVölker an und entwurzelte sie, wandte sich west-, süd- und süd-ostwärts, verharrte hier und dort, um nach Jahrzehnten weiter-zustromen. Es gibt keinen Zeit- und Marschplan dieser Wander-bewegung und Völkerverschiebung sondern nur ungefähre Datendes Auftauchens dieser gleichgearteten, kriegerischen Völker an denRändern der älteren, bereits geschichtlich gewordenen Welt.

In diesem 19. und 18. Jahrhundert v. Chr. steigen Scharen jenerWandervölker aus den südrussischen Steppen über die Pässe desHindukusch-Gebirges und dringen in Indien ein, andere in Bewe-gung gekommene Völkerstämme stoßen um die gleiche Zeit ausMitteleuropa in die Balkanhalbinsel vor und auf die HalbinselnItalien und Spanien. Sowohl die in Indien wie die in Italien,Spanien und über den Btlkan Einwandernden weisen eine deut-liche Verwandtschaft in ihrer Sprache, in ihren religiösen Bräuchenund in ihrer Lebensart auf, und man schließt daraus, daß sie vorihrer Wanderung und Aufspaltung einstmals eine einzige Völker-familie mit einer einzigen Sprache gewesen sind. Die westlichenZweige dieser Familie, der man den Namen Indogermanen oderIndocuropäer gegeben hat, waren Wald- und Bauernstämme, dieöstlichen Steppen- und Hirtenvölker.

Zu den Völkern, die aus der Steppe kamen, gehörte auch jenesVolk, das man später nach ihrer Königsstadt Hattusas Hethiter ge-nannt hat. Auch sie wurden um etwa 1900 v. Chr. von der großenWanderbewegung erfaßt, die ganz Europa und Südrußland in Er-regung versetzte. Welchen Weg die indogermanischen Hethiter fürihren Wanderzug gewählt haben, weiß man nicht genau. Aber esist wahrscheinlich, daß sie sich aus der südrussischen Steppe gegenden Kaukasus zu bewegten, eines Tages den Übergang durch das

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Hethitische Bilderschrift (Hieroglyphen) auf einer Doleritplatte imnordsyrischen Karkemisch (7. Jahrhundert v. Chr.)

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Gebirge wagten und sich dann nach Kleinasien wandten. Im Hoch-land von Anatolien war ihre Wanderung zu Ende. Sie errichtetenbefestigte Stützpunkte, und von dort aus erstürmten sie, angeführtvon König Pitchana und seinem Sohn Anitta, die Wehrdörfer derUreinwohner und ihre Hauptfestung Hattusas. Sie zerstörten dieStadt und legten einen Fluch über die niedergebrannte Stätte.

Wie es auch anderswo dem Charakter der Indogermanen ent-spricht, errichten die Fürsten der Hethiter überall im anatolischenHochland ihre Burggehöfte und stadtähnliche Siedlungen für ihreGefolgsleute. Bald reiht sich ein Stadtstaat an den anderen, unddie hethitischen Krieger und ihre Familien werden zur führendenSchicht. Auf dem Lande machen adlige Großgrundbesitzer die Unter-worfenen zu ihren „Ackersleuten". So ist das frühe Hethiterlandein vielgegliederter Fürsten- und Adelsstaat. Der König aus derGruppe der Stammesfürsten ist der frei gewählte Führer des Vol-kes im Kampf.

Die Könige bauen Hattusas wieder auf, erweitern die Stadt umdas Vielfache, erheben sie zur Residenz und umwehren sie mitMauern und Bastionen; aber erst der vierte Herr über Hattusas,König Labarna (um 1600—1570), erweist sich als ein so kraftvollerMann, daß er aus den Zwergstaaten einen Gesamtstaat schmiedetund mit seinen Kriegern bis zum Mittelmeer vorstößt. Die Stammes-fürsten bilden den obersten Staatsrat, der „Panku" genannt wirdund der das Recht hat, den Königsnachfolger zu wählen. Labarna istso bedeutend für die Hethiter, daß sie künftig jedem König denTitel „Labarna" verleihen, so wie später aus Cäsars Name derTitel Kaiser oder Czar, oder aus Karls des Großen Namen derslawische Titel Kral, das heißt König, wird.

Auch der Nachfolger des Labarna, König Hattusili I. (um1570—1540 v. Chr.), treibt die Kraft des vereinten Hethitervolkeszu kriegerischem Aufbruch. Er dehnt das Reich aus dem Raum Mittel-anatoliens über die Tauruspässe aus und erobert Aleppo am Mittel-meer. Die älteren Völker des Vorderen Orients beginnen vor denHethitern zu zittern.

Ihre Furcht ist berechtigt; denn diese Hethiterkönige sind starkeund selbstbewußte Herrscher geworden. Hattusili scheut es zumBeispiel nicht, seinen ältesten, mißratenen Sohn zu ächten und sei-

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nen kraftvolleren Sohn Mursili I. (1620—1590) zum Nachfolgervorzuschlagen, und Mursili bewährt sich. Er sichert den Besitz amMeer, führt hethitische Heere bis hinab ins sagenumwobene, uralteBabylon, erobert dieses „Rom" der damaligen Welt im Sturm undverjagt die Nachfahren des Großen Königs Hammurabi vom Thron.Das Hethiterreich ist mit einem Schlage die führende Großmacht imVorderen Orient.

Aber schon begegnet das hethitische Erobererheer einer stärkeren,aus Steppe und Wüste hervorbrechenden Kraft. Ein wildes Volkvon Hirten und Nomaden unbekannter Herkunft, zusammengefaßtunter dem Namen der Churriter, bricht über das von Mursili zer-störte Babylon herein, wälzt sich über die Sinaihalbinsel und über-rennt Ägypten. Der Durchzug und Einbruch der Hyksos — wieägyptische Quellen die churritischen Kriegerstämme nennen — er-schüttert die Welt. Die churritischen Hyksos sind nicht nur ge-wandte und erprobte Reiter; ihre stärkste, fast unwiderstehlicheWaffe ist der Streitwagen, ein wendiger Zwei-Rosse- und Zwei-Räderwagen, von dem aus sie das Kampfgetümmel beherrschen.Mit ihren berittenen und bespannten Kampfgruppen operieren sieso schnell, daß die babylonischen und ägyptischen Heere nichts da-gegen zu setzen haben.

Das Hethiterreich bleibt zwar am Rande des neuen Völker-einbruchs; trotzdem sinkt es für eine lange Zeit in das geschicht-liche Dämmerlicht zurück. Man weiß nur, daß in der Folgezeit Kö-nigsmorde nicht selten sind, daß Väter und Brüder in der Burg vonHattusas dem Mordstahl zum Opfer fallen und daß Adel undKönigtum gegeneinander streiten. Erst fünfundsiebzig Jahre nachMursilis I. Tod tritt wieder ein bedeutender König auf, Telepinu,der dem wiedererstarkenden Reich eine neue Verfassung gibt undbessere, für die Zeit sehr menschliche Strafgesetze erläßt. Der Staatfestigt sich, aber es vergehen dennoch fast zwei Jahrhunderte, biser sich im Neuen Hethitischen Reich wieder kraftvoll auch nachaußen wenden kann.

In jener dunklen Zeit, die bis etwa 1380 v. Chr. reicht, habendie Hethiter wohl am eifrigsten von ihrer Umwelt gelernt.

Sie pflegen den Handel mit Assyrien und den angrenzenden Län-dern und übernehmen zugleich mit den Handelswaren künstlerische

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Anregungen und religiöse Gebräuche, da sie von Natur aus einlernbegieriges Volk sind.

Wie eine beschriftete Tontafel aus Boghazköy beweist, haben dieHethiter in jener Zeit auch auf dem Gebiet der Kriegführung vie-les gelernt; die Hyksos werden zu ihren militärischen Lehrmeistern.Sie befassen sich systematisch mit Pferdezucht, Reitunterricht undder Ausbildung von Streitwagenkorps. Man fand eine „Vorschriftfür die Zucht und das Training guter Pferde", die ein gewisserKikkuli aus einem Nachbarland für die Hethiterkönige verfaßt hat.Die hethitische Armee rüstet auf den Streitwagenkampf um.

Sieg über die Weltmacht ÄgyptenMan hat manchmal die späteren überraschenden Siege der Hethi-

ter über die so viel erfahreneren Heere der Ägypter darauf zurück-zuführen versucht, daß das neue, graue Metall — das Eisen — zu-erst in Anatolien, im hethitischen Kleinasien, aufgetaucht ist. Sowäre es erklärlich, daß der Kampf mit EisenwafTen gegen die bis-herigen Bronzewaffen auch einer jungen Militärmacht das Über-gewicht hätte geben können; es ist nicht so. Eisen war bei denHethitern zwar schon sehr früh, vielleicht schon um 1600 v. Chr.,aus vorhandenen Erzlagern erschmolzen worden; aber dieses ersteEisen, das man noch nicht härten konnte, war von so fragwürdigerQualität, daß es zunächst nur als teures Schmuckmaterial, niemalsaber für Waffen und Geräte verwendet wurde. Lange Zeit warEisen teurer als Gold, und wie die Erfindung der Pulverwaffennicht allein das Ende des mittelalterlichen Rittertums herbeigeführthat, ebensowenig hat das Eisen der Hethiter die ägyptischeKriegsmacht ausgeschaltet. Es sind vielmehr die berittenen Abtei-lungen und die Kampfwagenkorps, durch die sich die hethitischenTruppen den Heeren der Pharaonen gewachsen und mehrmals über-legen zeigen.

So bewaffnet, wird König Schuppiluliuma I. (1380—1376) zum Na-poleon des Hethiterreiches. Mit den Streitwagentruppen bricht erauf, zerschlägt ein Nachbarreich im Osten, treibt die Reichsgrenzenbis zum Libanon-Gebirge vor und schließt mit zahlreichen unter-worfenen Völkern Verträge, durch die sie zwar zu abhängigenStaaten, nicht aber versklavt werden. Auf dem Höhepunkt seines

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Feldherrnruhmes sind Ansehen und Macht des Schuppiluliuma sogewaltig, daß die Witwe des ägyptischen Pharao Tut-ench-Amun anihn schreibt und zur Stützung ihrer eigenen, wankenden Macht umdie Hand eines seiner Prinzen bittet, den sie als Gemahl neben sichauf den Thron erheben will. Der erwählte Hethiterprinz scheint niein Ägypten angekommen zu sein. Vermutlich ist er von politischenGegenspielern auf der langen Reise ermordet worden.

Aus dieser Mordtat erwächst eine langdauernde Feindschaft mitÄgypten. Nur die ausbrechende Pest verhindert zunächst noch dengroßen Krieg zwischen den beiden Großreichen. Die Pest wütet auchnoch unter Mursili II. (1345—1316), und selbst die von ihm ver-faßten, sprachlich schönen „Pestgebete", die in Stein gehauen alleStürme der Jahrtausende überlebt haben, können dem Unheil nichtwehren.

Erst als Muwatalli König ist (1315—1290) und die Pestjahre vor-über sind, brechen die Hethiter auf. Im Libanon, der wegen seinerZedernwälder hohe wirtschaftliche Bedeutung für das waldloseÄgypten hat, stoßen die Heere aufeinander.

Die Gegenseite wird von dem Ägypterkönig Ramses II. geführt,der mit vier den Göttern Sutek, Ptah, Re und Amon geweihtenArmeen bis zu der syrischen Stadt Kadesch am oberen Orontos-Fluß vorgedrungen ist. Die größere Beweglichkeit der Hethiterentscheidet die Schlacht. Als sich Ramses mit zwei seiner Korps zuweit vorwagt, schneidet ihn ein schneller Vorstoß der hethitischenStreitwagen von seinen Begleitern ab. Das Feldlager des Pharaowird gestürmt, seine Abteilung zersprengt und das zu Hilfe eilendezweite Korps zurückgeschlagen. Der Kampf ist für den Ägypternicht nur verloren, er sieht sich angesichts der herandrängendenKampfwagen und Reiter genötigt, um sein Leben zu kämpfen. Dasrechtzeitige Eingreifen eines ägyptischen Kadettenkorps befreitRamses aus der Gefahr, zwei gute Rennpferde retten ihn im Wa-gen aus dem Getümmel, und er entrinnt mit knapper Not seinenVerfolgern.

Diesem rettenden Zweigespann, „Sieg von Theben" genannt, bautder heimgekehrte Ramses II. im Tempel zu Abu Simbel und imRamsestempel zu Theben Denkmäler, und die Geschichtsschreiberam Hofe sind voll des Lobes für die tapferen Rosse., Aber alle

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Hethitischer Streitwagen aus der Schlacht gegen die Ägypter unterPharao Ramses II. bei Kadesch (Relief im Ramsestempel in Abydos,

13. Jahrhundert v. Chr.)

Beschönigungen in den noch erhaltenen „Sieges"bildern an denTempelwänden von Theben und in den Ruhmestexten, die wir inden ägyptischen Papyri nachlesen können, vermögen nicht darüberhinwegzutäuschen, daß der große Ramses bei Kadesch in Syrieneine harte Niederlage erlitten hat und sich anschließend genötigtsah, einen kläglichen Vertrag abzuschließen, der ihn keineswegs alsWeltherrn und Sieger ausweist. Das feierlich beschworene Abkom-men zwischen Ramses und dem Nachfolger des Muwatalli, KönigHattusili vom Hethiterland, spricht nicht nur von einem „ewigenFrieden" und der „Friedensgrenze" am Chelb-Fluß in Syrien, son-dern legt auch die Verheiratung einer hethitischen Prinzessin mitPharao Ramses fest. Das Hethiter-Großreich steht gleichberechtigtneben der Weltmacht Ägypten.

Aber von allen Gipfeln der Welt führen die Wege nach allenSeiten nur bergab . . .

Yazilikaya — „Der besdiriebene Fels"Zwei Stunden weit führt uns ein schmaler Pfad über den „Glü-

henden Berg". Dann steigen wir hinab in das tiefeingekerbte Fluß-tal, um zu der gegenüberliegenden Anhöhe zu gelangen. Hier öffnet

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sich überraschend vor uns eine Kluft, bildet einen von hohen Fels-wänden umstellten Platz, und inmitten dieser urtümlichen Einsam-keit beginnt der graue Stein plötzlich zu leben.

Der roh geglättete Fels ist mit Reliefs, halbplastischen Bildern,überzogen: Eine Prozession von Göttern schreitet einher, die lang-wallenden Gewänder sind gegürtet, die Häupter mit Spitzhüten be-deckt. Folgt man der Richtung, in der sich die steinernen Götter be-wegen, so blickt man erstaunt in ein zweites Felsrund, dessenWände ebenfalls bildreich belebt sind.

Hier tragen die Gestalten dreifache Kronen, einige von ihnensind geflügelt, als wären sie soeben von Ninive oder Babylon her-übergekommen. In ihren priesterlich ausgestreckten Händen tragensie Weihegeräte, andere stehen auf dem Nacken der ihnen zu-gehörenden Tiere oder von Menschen, und merkwürdige Tier-gestalten folgen ihnen nach. Seitlich recken sich geflügelte Dämonen-wächter auf, die den Zugang zu einer schmalen Felsspalte beschir-men.

Wir treten durch den Spalt ins Innere und stehen abermals einemFestzug von Göttern gegenüber, zwölf Figuren mit den gleichenSpitzhüten. Auf der gegenüberliegenden Wand ist eine hohe Ge-stalt in den Fels gemeißelt, die schützend eine kleinere umfängt.Über dem ausgestreckten Arm der Halbplastik schwebt ein Gewindemit Bilderschriftzeichen.

Keine der Figuren spricht zu uns. Wie eingefroren in die Ent-rücktheit der Jahrtausende wandeln sie einher und schweigen. Daßes Götter sind, verrät die Erhabenheit des Ortes, die Feierlichkeitdes Aufzugs und auch die Gewandung: Außer dem Spitzhut lassender kurze, schräg geschnittene Schurz und die Schnabelschuhe dashethitische Götterbild erkennen.

Auch Königsgestalten sieht man in die Felsen eingemeißelt. Deut-lich heben sie sich von den Göttergestalten ab durch die eng an-liegende Kappe mit dem schützenden Nackenleder, und vor allem'durch den unförmig steifen, schwerfällig weiten, auf die Füßeherabhängenden Mantel und durch die Schiingenrute, die sie in derHand tragen. Seltener sind die Bilder von Königinnen, obwohl sieals „Tawananna" fast gleichberechtigt neben den Königen standen,mit eigenem „Staatssekretariat" und großem Einfluß auf die äußere

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Politik. Manchmal findet man ihr Siegel neben dem des Königs anden Urkunden, so wie im deutschen Mittelalter oftmals die Kaiserin-nen die diplomatischen „Akten" des Reiches mitunterzeichnet haben.

Geheimnis des „Schwarzen Berges"Von Boghazköy und Hattusas fahren wir mehrere Tage südwärts,

vorüber an den Ausgrabungsstätten von Kültepe im Flußbogen desHalys. Wir überqueren das Feld von Fraktin zu Füßen des Taurus-gebirges, wo sich ebenfalls eine Hethiterstadt mit ihren Ruinen aus-breitet.

Unser Ziel ist der „Schwarze Berg", der Karatepe am Ceyhan-Fluß. Er soll unsere letzte Station auf hethitischem Boden sein.Auf der gut ausgebauten Straße folgen wir ein Stück dem Aben-teuerweg Alexanders und steigen hinauf in die blauschattigenTaurusberge mit ihren Kiefernwäldern. Unser Kurs kreuzt den klarund kühl dahinsprudelnden Fluß Saleph, in dessen eisigen Flutenim Jahre 1190 der altgewordene Kaiser Barbarossa einem Herz-anfall erlag, als er sich, vor der brütenden Hitze flüchtend, allzurasch ins Wasser stürzte. Die Berge werden flacher und öffnen sichendlich zur großen Küstenebene, die sie in weitem Bogen umkrän-zen. Auch hier liegen Orte mit Namen von großer geschichtlicherBedeutung: Tarsus und Issus, beide nicht weit vom Mittelmeer ent-fernt.

Tarsus ist die einstige römische Provinzstadt, wo der Römer-feldherr Antonius der letzten, bildschönen ägyptischen PharaoninKleopatra zum erstenmal begegnete und sich verhängnisvoll in sieverliebte; in Tarsus ist als Sohn eines Zeltmachers der ApostelPaulus geboren, in Tarsus starb der große Römerkaiser Trajanund übergab hier dem Nachfolger Hadrian die Herrschaft über dasImperium. Issus aber ist durch Alexanders Sieg, der ihm den Zu-gang ins Innere des Perserreiches öffnete, in die Geschichte einge-gangen.

Bald lassen wir die in drückender Schwüle brodelnde GroßstadtAdana zurück. Von dort führt eine vorzügliche Straße in Richtungdes Sandschak, des Gaues von Alexandrette. Wir biegen jedoch baldschon in eine schmalere Seitenstraße ein, die zum Ceyhanfluß strebt.Auch diese neu angelegte Straße ist gut befahrbar. Der Ent-

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Aus der Spätzeit der hethitischen Kunst: Vogelgottheit aus Teil Halaf(um 1000 v. Chr.); rechts: Steinrelief aus Maras (800 v. Chr.)

decker von Karatepe, Professor Bossert und seine türkische Assi-stentin Cambel, mußten noch in den Jahren 1945 und 1947 den Wegins Tal auf Pferden über schlechte Bauernwege zurücklegen, undselbst zu Beginn der fünfziger Jahre erlebte der Reisende dieFahrt zum „Schwarzen Berg" noch als Abenteuer. Wie so vieles inunserer schnellebigen Zeit, haben sich auch im Tal des Ceyhan dieVerhältnisse gründlich geändert. Heute fährt man mit dem Wagenbequem bis dicht an den Berg.

Schon die Anfahrt ist ein Genuß für die Augen, die sich in derSteppe und auf den Hochebenen Anatoliens des Grüns entwöhnthaben. Hier führt der Weg durch duftende Kiefernwälder, Wasserplätschern von den Hängen der Taurusvorberge herab. Wo sich derBlick in ein Tal öffnet, sieht man frischgrüne Wiesen, Gebüschgrup-pen, Laubbäume und Schilfrasen. Dörfer und Gehöfte sind äußerstselten, das Land ist nur dünn besiedelt und immer noch sehr einsam.

Schließlich windet sich die Straße den dunkel bewachsenen„Schwarzen Berg", den Karatepe, hinan, der als eine sperrendeKuppe in einer Schleife des Ceyhan-Flusses aufragt.

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Gleich am Parkplatz, auf dem die Straße endet, ist von freundli-chen Archäologen eine Tafel aufgerichtet, die eine Übersicht dessenzeigt, was uns am Karatepe erwartet. Wir sehen die Mauern einerhochgebauten Stadt die Berghöhe umziehen. Sie war zwar im Ver-gleich zu dem mächtigen Hattusas nur eine Provinzstadt, aber dieEintragungen auf der Tafel lassen schöne, freigelegte Torbautenund andere Sehenswürdigkeiten erwarten.

Über steinigen Pfad wandern wir durch das Trümmerfeld zu demkleinen Freiluftmuseum, das mit seinem Schleppdach viele Bild-werke schützt, die man aus den überwachsenen Stadttrümmern ge-borgen hat. Wieder stehen wir — wie in der Schlucht bei Hattusas —vor Reliefbildern mit ernst dahinschreitenden Göttern, wir sehenwieder die spitzen Hüte und die begleitenden Tiere. Eindrucksvollist der Torso eines mächtigen, geflügelten Tierwesens, das wohleinst als Schutzgeist einen Palastzugang bewacht hat. Vom Museumgeht es auf den Berggipfel, entlang an den Steinhalden zerfallenerBauten, die Bossen im Jahre 1947 in einer einzigen Grabung frei-geschaufelt hat — und hinüber zum Nordtor der Höhenfestung.

Das Nordtor liegt im Zuge der das Berghaupt schützenden Bastio-nen tiefer als das Südtor. Überall springen Türme und deckendeFlankenwerke vor. Karatepe muß einstmals eine ebenso ängstlichwie stark bewachte Burgstadt gewesen sein.

Am Nordtor drohen zwei steinerne Löwen. Den Torweg entlangreihen sich die berühmt gewordenen Reliefplatten von Karatepehintereinander; es ist das Grabmal des Königs Asitawandas, dasden Herrscher der Stadt nicht als schrecklichen Krieger, sondern alsden lebenshungrigen, allen Genüssen zugeneigten Landesvaterzeigt. In reich gefälteltem Gewand thront er an der Festtafel, Die-ner umringen ihn und reichen Pokale, Speisen und Früchte.

Hier offenbart sich die hethitische Kunst der Spätzeit. Da sindGötter-, Dämonen-, Tier- und Prozcssionsbilder und Darstellungenaus dem Familienleben des Königs und von seinen Jagdtaten, eswird von Musik, Tanz und Schmauserei erzählt, in Stein gehauensteht ein Wagen und dicht daneben ein Seeschiff. Über die Reliefs,die bildbedeckten Säulen und freien Felsstücke ziehen sich Bänderin phönikischer Schrift oder in hethitischen Hieroglyphen hin.

Welche Gedanken mögen diesen lebensfrohen König Asitawandas

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bewegt haben? War seine Lebensseligkeit nur Flucht vor dem Un-abwendbaren? Und wer stand neben ihm auf den Bastionen, Tür-men und flachen Palastdächern? Hier in Karatepe erfüllte sich dasSchicksal des hethitischen Reiches.

Sturmflut der „Seevölker"Wir haben Hattusas in den Tagen des großen Königs Hattusili III.

verlassen. Das hethitische Reich hat mit Ägypten einen „ewigenFrieden" geschlossen, nachdem es in den Jahren vorher bei Kadeschsiegreich gewesen und einen mächtigen Herrscher wie Ramses II.gezwungen hat, Syrien den Hethitern zu belassen. Der Friedens-vertrag, dessen Text uns erhalten ist, wird durch Familienbandebekräftigt. Eine ägyptische Prinzessin besteigt den Thron des „La-barna" in Hattusas, eine Hethiterin wird die Gemahlin des Ramsesund Königin von Ägypten. Noch blicken die Völker ringsum ehr-fürchtig und ängstlich nach Anatolien, dem Zentrum der hethitischenGroßmacht.

Aber dieses Reich, zusammengefügt aus einem Dutzend fremderVölker, beherrscht von einer dünnen Oberschicht indoeuropäischerAdliger, ohne gemeinsame Sprache und Religion, ein Reich mit vie-len untertänigen Unterkönigreichen, Randfürstentümern und vielenGegensätzen ist auf die Dauer den widerstrebenden und andrängen-den Gewalten nicht gewachsen.

Schon unter dem Nachfolger des Hattusili III. mag der Zer-fall begonnen haben. Im Westen kommt es zu Aufständen, fremdeKrieger landen und schüren die Erhebung. Die Grenzgebiete imOsten, die einst den Mitanni und den Assyrern entrissen wordenwaren, streben fort von dem Zentrum der Macht in Hattusas.Rebellierende hethitische Truppenteile ziehen kreuz und quer durchAnatolien, der Feind rührt sich ringsum. Burgen brennen und Städtewerden geplündert. Böse Kunde kommt durch reitende Kuriere auchvon den Küsten.

Vom Schwarzen Meer und seinen Uferländern her sind neue, nor-dische Völkerscharen aufgetaucht — vielleicht eine letzte Woge jenerVölkerwanderung, die vor Jahrhunderten die Vorfahren der He-thiter ins Land geführt hat. Diese namenlosen Horden schwärmenmit ihren Langbooten über die blauen Wasser des östlichen Mittel-

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meers und landen. Wo sie auftauchen, nehmen sie den Kampf mitden ansässigen Bewohnern auf und zwingen sie in ihr Gefolge. Sieunterwerfen sich Städte, Burgen und Dörfer, ziehen mit grobenZweiräderkarren, Vieh und Troß in die Täler, plündern, nehmenLand und zerstören. Es ist die Zeit der wandernden „Seevölker",von denen biblische Hinweise und ägyptische Urkunden berichten.

Sie finden das Hethiterreich in innerem Auseinanderfall und inäußerer Bedrängnis und treffen es daher mit doppelter Wucht.

Um 1200 vor Christus dringen diese auch zu Land vorstoßendenSeevölker in die Räume der älteren Kulturen ein. Die Völker-bewegung ist auf der griechischen Halbinsel vielleicht mit der ,,dori-sdien Wanderung" gleichzusetzen, durch die die Dorer auf den Pe-loponnes geführt und die Ionier in Attika und um Athen zusammen-gedrängt, ja über die Inselbrücke nach Kleinasien getrieben wer-den. Die alten hochberühmten Königsburgen Mykenä und Tirynsbrennen und zerfallen, Zypern wird gebrandschatzt. Auch auf Kretalanden Seepiraten und lösen eine Fluchtbewegung aus. Tausendevon Kretern retten sich an die Küste Palästinas. Später wird KönigSalomo die flüchtigen Kreter neben seinen Philistern als Fremden-legionäre in Dienst nehmen. Noch an Davids Thron stehen „Kretiund Plethi" — Kreter und Philister — als Wächter.

Ägyptische Papyri berichten von verheerenden Invasionskämpfender nordischen Seevölker auch mit dem Pharao-Heer im Nildelta.In Kleinasien vereinen sie sich mit den Aufständischen, um dasHerrenvolk des Landes zu schlagen: die Hethiter. Eine Inschrift inKaratepe besagt, daß König Asitawanda „diese Stadt und Burgbaute und sie fest machte, denn an allen Ecken und Enden sindschlechte Menschen und Anführer von Banden".

Wir haben keine genaue Kunde, was sich in dieser Zeit der Kata-strophe an Furchtbarem abgespielt hat. Die hethitische Abwehrwird überrollt, der Feind steht vor den Mauern Hattusas', steigtüber sie hinweg und plündert die Hauptstadt. Über die Ruinen-und Schutthalden von Hattusas sinkt das Vergessen, das Großreichder Hethiter ist für immer ausgelöscht. Nur in der Provinz, inbesonders geschützten Lagen, erhalten sich einzelne Volkstumsinselnder Hethiter und bewahren als kleine Reststaaten ihre Art und ihreSelbständigkeit weitere vierhundert Jahre.

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Sargon II. von Assyrien wird zum Neuordner der ostmittelmeeri-schen Welt. Eines Tages — etwa 717 v. Chr. — erscheinen seineTruppen im Tal des Ceyhan und sehen die ragenden Mauern derStadt Asitawanda auf dem Karatepe. Die Belagerung beginnt.

Der tafelfreudige, lebenshungrige König Asitawanda steht obenam Löwentor und blickt hinab in die Ebene, die bedeckt ist mitspitzen Zelten, mit Belagerungsgerät und zahllosem Kriegsvolk. InSturm und Kampf geht die letzte Burg der Hethiter unter, Trümmerbleiben zurück, Strauchwerk wuchert über die Brandstätte, derWald nimmt zurück, was ihm einst wie Fremdheit aufgezwungenworden ist.

Der Name der Hethiter verweht im Wind der Jahrhunderte.

Die Entzifferung der hethitisdien SchriftWoher weiß man heute so viel von den Hethitern?Zunächst gaben die Bildwerke Auskunft und ihr künstlerischer

und zeitlicher Vergleich mit den Bildwerken anderer Völker Vorder-asiens. Der Archäologe wußte auch aus den Stadtgrundrissen vieleszu lesen, aus den Schichten, in denen bestimmte Funde geborgenwurden, aus der Verteilung der Städte und Burgen, die über Ana-tolien und Nordsyrien verstreut lagen und offensichtlich von Men-schen gleicher Lebensart und gleichen Kunstschaffens bewohnt wa-ren. Aufschlußreiche Hinweise auf das Reich der Hethiter gaben be-schriftete Tontafeln aus Königsarchiven in Alt-Ägypten, Babylonund Ninive, deren Herrscher mit den Königen des Hethiterlandesdiplomatische Briefe gewechselt und die Korrespondenz aufbewahrthatten. Von hethitischen Schriftwerken kannte man zuerst nur die.Hieroglyphen, aber niemand konnte sie entziffern.

So war es eine große Überraschung, als man seit dem Jahre 1906unter dem Schutt Hattusas' Tontafelschriften fand, von 3enen vielein der bereits bekannten babylonisch-akkadischen Sprache abgefaßtwaren, die damals die Diplomatensprache im Vorderen Orient war.Sie berichteten in Keilschrift über die politischen Verhältnisse imHethiterreich. Viele dieser Tontafeln waren zwar ebenfalls in Keil-schrift geschrieben, aber in einer unbekannten Sprache; man konntedie Keilschriftzeichen Buchstabe um Buchstabe lesen, aber was dieso gefundenen Wörter bedeuteten, war lange Zeit ein großes Rätsel.

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Daß es sich um die eigentliche Sprache der Hethiter handeln müsse,davon waren die Archäologen überzeugt Wie aber konnte man andiese Sprache herankommen'

Seit der geniale Franzose Champollion und der große DeutscheGrotefend eine ähnliche Aufgabe hinsichtlich der ägyptischen Hiero-gl) phen und der babylonischen Keilschrift gelost hatten, schien derWissenschaft nichts mehr unmöglich Champollion wie Grotefend hat-ten den Anfang mit den Konigsnamen gemacht, Namen, die in denInschriften entsprechend der Erhabenheit der Konige von dem übri-gen Text abgehoben waren Sie gingen die vorhandenen Konigs-namenlisten durch und suchten dort Namen, die an die zu entzif-fernde Stelle „paßten" Und es gluckte Nach der Festlegung dieserlesbaren Namen war ihnen der Zufall zu Hilfe gekommen, derSchriftwerke zutage forderte, die neben der zu entziffernden Schriftdie Übersetzung in einer bekannten Schrift aufwiesen So hatte sichim vorigen Jahrhundert Stuck um Stuck das Geheimnis der ägypti-schen Hieroglyphen wie der babylonischen Keilschrift entschleiert

Diese älteste Methode der Schriftentzifferung wurde ergänztdurch die Sprachvergleichung, die davon ausgeht, daß sich verwandteSprachen auf eine gemeinsame Urwurzel zurückfuhren lassen Insolchen Sprachen haben Worter von der gemeinsamen Urspracheher oft zum mindesten die Konsonanten bewahrt, auch wenn sichdie Vokale in den Wortern geändert haben sollten

Manner wie der Englander Thomas Young, der Dane RasmusChristian Rask und der Deutsche Franz Bopp wurden zu Großender „vergleichenden Sprachwissenschaft" Von ihren durch vieleSprachvergleiche vielmals erhärteten Erkenntnissen gingen wahrenddes Ersten Weltkrieges der deutsche Professor Ernst Weidner undvor allem der geniale Tscheche Dr Friedrich Hrözny aus, als siesich mit dem Hethitischen beschäftigten

Der ungemein gescheite Mann, der schon mit vierundzwanzig Jah-ren an Ausgrabungen in Palastina teilgenommen, mit sechsund-zwmzig — im Jahre 1905 — Professor in Wien geworden war, ver-öffentlichte 1915 einen „Vorlaufigen Bericht über die Losung deshethitischen Problems"

Er hatte das zwar lesbare, aber nicht verständliche KeilschriftHethitisch mit den Methoden der vergleichenden Sprachwissenschaft

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1untersucht und entdeckt, daß Hethmsch der indoeuropäischen Sprach-familie zuzuordnen sei, also zu den Sprachen, zu denen auch dasDeutsche, Englische, Lateinische und die von ihnen abgeleiteten ro-manischen Sprachen gehören Er hatte sich von Wortform zu Wort-form weitergetastet und war plötzlich auf Ähnlichkeiten gestoßen,die überraschten

Er vermutete, daß in einem bestimmten Keilschnfttext das Wort„essen" vorkommen müsse Der Lateiner sagt „edere", der Eng-lander „eat", im Althochdeutschen heißt es „ezzan" — im Hethiter-text aber fand sich das Wort „ezzatteni" Ein anderer Anhaltspunktwar eine Stelle, die das Wort Wasser enthalten konnte Das Hethiter-wort war „vadar" — englisch „water", deutsch „Wasser", altsachsisch„watar" Und so fand er viele verwandte Worter

Im Jahre 1917 erschien Hroznys Buch „Die Sprache der Hethiter,ihr Bau und ihre Zugehörigkeit zum indogermanischen Sprach-stamm" Diesem Werk waren solche ersten vergleichenden Worterbeigefugt Der Zugang in die hethitische Sprache war geöffnet An-dere Sprachforscher haben inzwischen Hroznys Werk weitergeführt,es ergänzt und verbessert In den Jahren 1940 bis 1946 konnte derLeipziger Sprachgelehrte Johannes Friedrich bereits ein „Hethiti-sches Elementarbuch" mit zahlreichen Übertragungen, Erläuterungenund Wortverzeichnissen erscheinen lapsen, das 1954 durch ein „He-thitisches Wörterbuch" vollendet wurde Dis Alt Hethitische, so-weit es in Keilschrift niedergeschrieben war, war damit zu einerSprache geworden wie jede andere auch nicht nur lesbar, sondernauch übersetzbar

Noch aber fehlte die Entzifferung dtr hethitischen Hieroglyphen,und es war der Traum der Archäologen und der Sprachforscher,wie Champolhon oder Grotefend eine doppelsprachige Schrift zufinden, auf der ein hethitischer Hieroglyphentext mit einer dazu-gehörigen Keilschnftubersetzung verknüpft war

Als 1934 der deutsche Archäologe Bittel in Hattusas grub, fander in den verschütteten Gangen des Konigspalastes auf Anhiebdreihundert Tonsiegel mit Hieroglyphenzeichen, auf hundert dieserSiegel war der gleiche Text in Keilschrift eingeprägt So konnte erzahlreiche Hieroglyphen entziffern Eine noch ergiebigere Entdek-kung gelang dann Bossart 1947 in Karatepe, er stieß auf einen

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lesbaren Te\t in altphomkischer Schrift, der sich mit Konig Asita-wanda befaßte Der Begleiter und Assistent Bosserts, ein Landshu-tcr namens I ranz Steinherr, fand durch Zufall den dazugehörigenParalleltext in hethitischen Hieroglyphen

Damit war der Schlüssel zu einem großen Hieroglyphen-Wort-si.hu/ in den Händen der Wissenschaft Seitdem arbeiten Speziali-sten aller Linder daran, sich Zeichen um Zeichen voranzumuhen,denn aus den Hieroglyphentexten erhofft man \ leles zu u fahren,wis uns auch in die geistige und religiöse Welt der Hethiter Lin-bhek gibt

Es werden noch Jahrzehnte vergehen, bis alle Hieroglyphen ge-deutet werden können Die Sprachforscher, die heute auch mithe-marisch-stati ch vorgehen und selbst die Hilfe der elektronischenRechenmaschinen für die Entzifferung in Anspruch nehmen, sind vollguter Hoffnung Nach dreiemhalbtauscnd Jahren, zweiemhilbtau-seud Jahre nach dem Untergang, offnen sich die Lippen der hethi-tischen Priester

Auch die Ausgrabungen gehen weiter, und aus überwachsenenHügeln, aus versunkenen Burgen und Städten dringen lauter werdendda Stimmen von einst

Bilder 1 Umschlagseito hethitisther Palastlowe aus Bogazko> , 2 Um-sclilagseite Hethitei konig vom Komgstor" in Boga?koy, 4 Umschlag-Seite hethitische Göttin aus Yazilikaya Bilderdienste Histonsches Bild-

archiv Handke Ullstein

Umschlaggestaltung Karlheinz Dobsky

L u x - L e s e b o g e n 3 7 8 ( G e s c h i c h t e ) H e f t p r e i s 3 0 P f g .Natur- und kulturkundliche Hefte — Bestellungen (vierteljahrl 6 HefteDM 1 80) durch jede Buchhandlung und jede Postanstalt — Alle frühereibChienenen Lux-Lesebogen sind in jeder guten Buchhandlung vor-tatig — Druck Hieronymus Muhlberger, Augsbiug — VerlagSebastian Lux, Murnau vor München — Herausgebe \ntonius Lux.

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IM FALLE EINES FALLES...


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