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Ich jagte den Drachendämon

Date post: 04-Jan-2017
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Der Baum schien nach Hjalmar von Ottenberg zu greifen. Eine Wurzel schlang sich um seinen Fuß, der in einem kniehohen Schaftstiefel steckte. Der Offizier in der Uniform der Kaiserli-chen Deutschen Seesoldaten fiel der Länge nach hin. Das wäre beinahe sein Tod gewesen!

Denn schon war einer der chinesischen Angreifer herange-stürmt. Es mußten hunderte sein. Die meisten bewaffnet mit lanzenartigen Piken. Ihr Kriegsgeschrei ließ die Luft erzittern.

Da hob Klaus Burmeister seinen Revolver. Der Bursche des Offiziers schoß, und traf den Chinesen in den Kopf. Tot stürzte der Pikenträger zu Boden. Burmeister hatte genau gezielt, denn sie hatten nur wenig Munition. Viel zu wenig, um sich gegen die Massen der haßerfüllten Angreifer auf Dauer verteidigen zu können.

***

Sie waren auch nur zu dritt: Hjalmar von Ottberg, Klaus Bur-meister und ihr einheimischer Führer Zaifeng.

Dieser murmelte vor sich hin. »Böse, sehr böse. Die Baumgeis-ter sind gegen uns. Viel Unglück…«

»Laß den Quatsch!« grollte von Ottberg, während er die Wur-zel von seinem Fuß löste. »Wir werden nur Unglück haben, wenn uns diese Kerle in die Finger kriegen…«

Der Oberleutnant hatte inzwischen seinen Mauser-Revolver gezogen. Er feuerte zwei Schüsse ab. Zwei weitere Chinesen mit roten Kopftüchern starben durch die Kugeln. Doch ihre Kamera-den rückten unbarmherzig nach. Ihr Gebrüll wurde immer lau-ter.

»Was schreien die eigentlich?« rief Klaus Burmeister. »Tötet sie…!« erwiderte Zaifeng. Wenn die Angreifer sie erwi-

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schten, würden sie auch ihn nicht schonen. Obwohl er selbst Chinese war. Zaifeng hatte jedoch keine Angst davor, von ihnen in Stücke gehauen zu werden. Er fürchtete sich viel mehr vor den Geistern und Dämonen, die in der Nähe lauerten!

*

Frühjahr 1899, ein Wald bei Tsingtau, der deutschen Kolonie in China.

Hjalmar von Ottbergs Fuß war unverletzt geblieben. Rück-wärts marschierte er und stieg den Hügel hinauf. Die meisten Bäume waren pechschwarz und kahl. Als ob der Blitz in sie ein-geschlagen wäre.

Der Oberleutnant des 3. Seebataillons kümmerte sich wenig um die Natur. Sonst hätte er die dumpfe und bedrohliche Atmo-sphäre gespürt, die von diesem Ort ausging. Es war ein böser Ort. Die meisten Wälder hier an der chinesischen Küste waren von üppigem Grün. Doch dieser Hügel schien aus einer anderen Welt zu stammen.

Allerdings hatte der deutsche Offizier auch alle Hände voll zu tun, sich die Angreifer vom Leib zu halten. Ohne Rücksicht auf Verluste stürmten sie vor. Zum Glück waren die meisten nur mit Piken bewaffnet. Einige hatten allerdings auch altertümliche Luntenflinten. Mit solch einer Waffe hatte nun einer auf ihn angelegt. Doch dieses Modell galt nicht als besonders treffsicher. Und tatsächlich, die Kugel verfehlte von Ottberg und drang in die Rinde eines Baumes.

Sofort senkten sich die Äste eines anderen Baumes herab und hoben den chinesischen Schützen hoch. Ein schriller Schrei ent-rang sich seinen Lippen. Er wurde anscheinend von den starken Ästen zerquetscht. Verzweifelt ruderte er mit den Beinen, bis sein Körper erschlaffte. Seine Kameraden hatten nicht mitbe-

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kommen, was mit ihm geschehen war. Sie hatten nur Augen für die drei Männer, die vor ihnen flohen.

Klaus Burmeister wischte sich den Schweiß von der Stirn. Feu-erte weiter in die Menge. »Haben Sie das gesehen, Herr Ober-leutnant?«

Hjalmar von Ottberg zog den Stecher seines Revolvers durch. »Der Idiot ist mitten in eine Astgabel gerannt. Glaubst du etwa die Ammenmärchen von Zaifeng?«

Der Soldat schwieg. Er hätte bei der Kaiserlichen Armee gelernt, daß man einem Vorgesetzten nicht widersprach. Ande-rerseits hatte er mit eigenen Augen gesehen, wie sich die Äste gesenkt hatten, um den Chinesen zu ergreifen. Auch Zaifeng mußte es mitgekriegt haben.

»Wir sind verloren«, sagte Zaifeng. Er trug einen schlichten grauen Leinenanzug, bestehend aus einer weiten Hose und einem blusenartigen Oberteil mit Stehkragen. An seinem Hinter-kopf baumelte ein langer Zopf, wie es zu der Zeit bei chinesi-schen Männern Brauch und Vorschrift war. »Dieser Ort ist ver-flucht.«

Von Ottberg verschoß in diesem Augenblick seine letzte Patrone!

Je weiter sich die Männer auf den Hügel zurückgezogen hat-ten, um so kahler war die Gegend geworden. Da sah der Offizier etwas. Eine Felsspalte.

»Dort hinein!« kommandierte er. »Da können wir nachladen und uns verstecken. Bis Verstärkung kommt!«

»Nein!« rief Zaifeng aufgeregt. »Auf keinen Fall, Herr! Das ist die Höhle des Schlafenden Drachen!«

Aber Hjalmar von Ottberg hörte nicht auf ihn, sondern stieg in das Dunkel hinab. Klaus Burmeister folgte ihm. Einem Offizier mußte man schließlich gehorchen. Vor allem, wenn man ihm als persönlicher Bursche zugeteilt war. Und auch Zaifeng trottete

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schließlich seufzend hinter den beiden Männern her. Vielleicht konnte er den beiden Langnasen (Spöttische chinesische Bezeichnung für Europäer) ja doch noch klarmachen, daß sie ins sichere Verderben rannten.

Der Felsspalt erweiterte sich nach wenigen Metern zu einer Grotte, die etwa fünf Meter hoch war. In der Breite konnte sie es fast mit der Prinz-Heinrich-Straße aufnehmen, der Hauptstraße von Tsingtau, der deutschen Kolonialstadt an der chinesischen Küste. Hjalmar von Ottbergs Gedanken rasten, während er mit fliegenden Fingern seinen Mauser-Revolver nachlud. Schon seit einigen Monaten gärte es in den nördlichen Provinzen Chinas. Die Macht der Zentralregierung in Peking bröckelte. Diese Schwäche wurde von fremden Mächten genutzt, um Teile des Riesenreiches im Fernen Osten an sich zu reißen. Alle wollten sie ein Stück vom Kuchen haben. Die Russen. Die Amerikaner. Die Engländer. Die Franzosen. Die Japaner. Und neuerdings auch die Deutschen, in ihrer Kolonie Tsingtau.

Die Vertreibung dieser ausländischen Mächte war das Ziel einiger chinesischer Geheimbünde, die besonders unter der armen Landbevölkerung starken Zulauf fanden. Diese Bruder-schaften nannten sich »Lange Messer« oder »Fäuste der Gerech-tigkeit«. Besonders letztere wurden immer mächtiger. Sie wur-den von den Europäern in Anspielung auf ihren Eigennamen einfach »Boxer« genannt.

Es waren eindeutig Boxer gewesen, die sie in diese Höhle getrieben hatten.

»Ich frage mich«, dachte Klaus Burmeister laut nach, »warum die nicht angreifen.«

»Großes Unglück«, erwiderte Zaifeng in seinem kehligen, aber klaren Deutsch. »Jeder in der Provinz Shantung hat schon von dieser Höhle gehört. Auch die Boxer fürchten diesen Ort.«

»Wieso das denn?« höhnte Hjalmar von Ottberg. »Hier gibt es

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doch sogar Licht…« Und er deutete auf das phosphoreszierende Gestein, das die

Grotte in ein merkwürdiges Zwielicht tauchte. »Es ist das Licht des Bösen«, erwiderte der Chinese, ohne auf

die Ironie einzugehen. »Das Licht der Unterirdischen…« Von Ottberg zwirbelte ungehalten seinen Schnurrbart. Er

wollte Zaifeng über den Mund fahren, aber dann passierte etwas anderes.

Die Boxer kamen nicht herein. Aber sie warfen etwas in die Höhle.

Einen Stinktopf!

*

Stinktöpfe waren normalerweise eine bevorzugte Waffe der chi-nesischen Piraten. Die mit einer geheimnisvollen Kräutermi-schung gefüllten Tongefäße wurden an Bord der Schiffe geschleudert, die gekapert werden sollten. Der beißende Rauch griff die Augen an und machte den Verteidigern das Atmen schwer.

Von Ottberg hatte bisher immer nur von diesen Stinktöpfen gehört. Nun bekam er ihre Wirkung am eigenen Leib zu spüren. Krampfartige Hustenanfälle schüttelten seinen Körper. Burmeis-ter und Zaifeng erging es nicht anders. Die Männer wälzten sich auf dem Felsenboden. Sie drohten zu ersticken.

Für einen Moment verfluchte sich der Oberleutnant. Wie war er nur in diese Lage geraten? Warum mußte er hier mit dem Dorftrottel Burmeister und diesem Schlitzauge Zaifeng durch die Hügel kriechen? Die Antwort kannte er ganz genau.

Weil er Schulden hatte. Hohe Schulden. Spielschulden. Zaifeng wollte ihm einen chinesischen Händler in einem Berg-

dorf vermitteln, von dem er Opium kaufen konnte. Hjalmar von

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Ottberg kannte genügend Ganoven in Berlin, bei denen er das Rauschgift mit großem Gewinn loswerden würde. Im 19. Jahr-hundert gab es noch keine Drogenspürhunde. Und kein deut-scher Zöllner hätte es gewagt, das Gepäck eines Kaiserlichen Offiziers zu durchwühlen. Dabei war von Ottberg alles andere als ein Bilderbuchleutnant. Er hatte die Soldatenlaufbahn nur eingeschlagen, weil das in seiner Familie Tradition war.

In diesem Moment sah es allerdings nicht so aus, als ob er jemals wieder eine Verbrecherkneipe im berüchtigten Berliner Scheunenviertel betreten könnte. Er würde sein Leben wohl in dieser verdammten Grotte aushauchen… Die Boxer vor dem Eingang johlten siegesgewiß.

Da erklang die Stimme von Klaus Burmeister. »Hier ist ein Gang, Herr Oberleutnant! Ich spüre einen Luftzug!«

Halb blind tastete sich der Offizier in die Richtung, aus der sein Bursche gerufen hatte.

*

Hjalmar von Ottberg wischte sich den Schweiß vom Gesicht. Sei-nen Tropenhelm hatte er längst verloren. Wie ein weißer Fleck erschien die Uniformbluse des Soldaten vor ihm. Jetzt konnte der Oberleutnant sogar den blauen Kieler Kragen erkennen, der vorschriftsmäßig über Burmeisters Rücken hing.

Die Wirkung des Stinktopfes schien in dem Gang wirklich erträglicher zu sein als vorne in der Grotte. Während von Ott-berg seinem Burschen folgte, wurde ihm klar, daß dieser Tunnel hier von Menschen angelegt worden sein mußte. Aber das Licht. Woher kam nur das Licht?

»Wir sind jetzt im Reich der Unterirdischen«, sagte Zaifeng, der direkt hinter dem Offizier ging. »Es gibt kein Entrinnen mehr.«

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»Ich will nichts mehr hören von diesem Unsinn!« schnarrte von Ottberg mit befehlsgewohnter Stimme. Obwohl selbst einen phantasiearmen Menschen wie ihn das Grauen überkam, je wei-ter sie vordrangen.

Denn die Wände des Ganges waren mit Bildhauereien geschmückt. Sie ließen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Folterungen wurden dargestellt. Menschen, die gevierteilt wurden. Andere Opfer schienen wimmernd um den Tod zu bet-teln. Und über allem schwebte ein riesiger Drache. Die große Echse war in den verschiedensten Formen abgebildet. Wie ein roter Faden erschien der Drache immer wieder auf den Fresken.

»Ihr Chinesen seid wirklich vernarrt in Drachen, was?« Von Ottberg hatte spöttisch klingen wollen, um sein Unbehagen zu überspielen. Doch Zaifeng antwortete ganz ernsthaft.

»Bei uns in China verkörpert der Drache Glück und Wohl-stand, Herr. Diese Bestie dort ist das Kulttier der Unterirdischen. Sie waren schon lange hier, bevor China entstand. Vor mehr als 5.000 Jahren. Sie waren schon immer hier…«

»Was für ein Blödsinn!« schnappte von Ottberg. »Ich dachte, du würdest nur mit Opium handeln und es nicht auch noch rau-chen! Das sind doch alles Hirngespinste! Will es nicht in deinen bezopften Schädel, daß…?«

Er konnte nicht weitersprechen. Das war auch kein Wunder. Denn in diesem Moment wurde Klaus Burmeister in Stücke

gerissen!

*

Der gräßliche Tod seines Burschen kam für den Offizier völlig�überraschend. Der Soldat war ungefähr zehn Schritte vor ihm�den leicht abschüssigen Gang hinuntermarschiert. Die Mauser�

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schußbereit. Um auf jede unangenehme Überraschung gefaßt zu sein.

Der Angriff kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Von Ott-berg konnte noch nicht mal erkennen, woher die Kraft kam, die das Leben seines Burschen auslöschte.

Auf jeden Fall war die Wirkung verheerend. Ein Schwall von Blut spritzte auf die Uniform des Oberleutnants und den Anzug von Zaifeng. Der bedauernswerte Klaus Burmeister schien zer-platzt zu sein. Sein Körper hatte sich in tausende und abertau-sende von Fetzen und Splittern verwandelt.

»Nicht weitergehen!« mahnte der Chinese und legte seine rechte Hand auf den Arm des Offiziers. Aber Hjalmar von Ott-berg war ohnehin die Lust darauf vergangen, sich vorzutasten. Sie saßen in einer teuflischen Falle. Hinter ihnen hunderte von haßerfüllten Boxern, die den Offizier wie jeden anderen europäi-schen oder japanischen Fremden töten wollten.

Und vor ihnen… Was zum Teufel war vor ihnen? Der Oberleutnant spürte, wie sein Herz raste. Nur die Blut-

spritzer und die winzigen Überreste links und rechts von ihnen zeugten davon, daß sie vor wenigen Augenblicken noch zu dritt gewesen waren. Von Ottberg hätte gerne auf seinen Gegner geschossen. Aber da war nichts Körperliches, was man erkennen konnte.

Hilfesuchend drehte er sich zu Zaifeng um. Der Chinese hatte einen Fetzen Papier aus dem weiten Ärmel seiner Bluse gezogen. Mit einem Tintenstift bedeckte er es schnell mit den geheimnis-vollen Zeichen seiner Schrift. Irritiert beobachtete von Ottberg ihn bei seinem Tun.

»Was machst du da?« »Dämonenbeschwörung. Hilft manchmal. Vielleicht auch hier;

hoffe ich jedenfalls. Möge Buddha uns beistehen.« Der Deutsche schwieg. Er war nicht religiös, glaubte nicht an

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Jesus Christus und auch nicht an Buddha. Sein Gott hieß Geld. Er hatte gehofft, hier in China mit einigen »Nebengeschäften« sein karges Offiziersgehalt aufbessern zu können. Wenn wenigs-tens das Opiumgeschäft geklappt hätte…

Nun war Hjalmar von Ottberg mit seinem Latein am Ende. Er konnte nur noch auf das hoffen, was er »den Hokuspokus des Chinesen« nannte.

Nachdem Zaifeng das Papier beschriftet hatte, riß er ein Zünd-holz an der Wand des Ganges an. Dabei murmelten seine Lippen unablässig Worte vor sich hin. Atemlos beobachtete der Offizier, wie sein einheimischer Begleiter die Flamme an das Schriftstück hielt. Dabei achtete er darauf, daß nichts von der Asche zu Boden fiel. Denn als alles abgebrannt war, beförderte er die Asche in seinen Mund und aß sie auf.

Mißtrauisch zog von Ottberg die Augenbrauen zusammen. Er erinnerte sich an die Schauergeschichten, die im Offizierskasino von Tsingtau über die Boxer erzählt wurden. Die Mitglieder der Geheimbünde schrieben angeblich Beschwörungsformeln auf Papier. Diese wurden dann verbrannt, die Asche in Wasser auf-gelöst und getrunken. Dadurch glaubten sie, im Kampf gegen die Fremden unverwundbar zu werden. Das erklärte zumindest zum Teil ihre Tollkühnheit, mit der sie nur mit Piken bewaffnet gegen Karabiner und Kanonen vorgingen.

Gehörte Zaifeng vielleicht auch zu einem Geheimbund? War der Chinese ein Boxer?

Es war, als ob Zaifeng seinem deutschen Gefährten die Gedan-ken vom Gesicht abgelesen hätte. Er setzte ein höfliches Lächeln auf.

»Boxer tun das auch, Herr. Aber sie – wie sagt man – rufen Kriegsgott an. Ich nicht. Ich habe um Schutz gefleht. Schutz gegen den Zauber der Unterirdischen.«

Von Ottberg biß sich auf die Lippen. Sein Weltbild war durch

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den entsetzlichen Tod seines Burschen ins Wanken geraten. Sollte es vielleicht doch Hexerei und Zauber geben?

Zaifeng drängte sich an dem Offizier vorbei. Er hatte die Hände gefaltet und murmelte Sätze, die sich wie Gebete anhör-ten. Plötzlich schien er von einer Riesenfaust gerammt zu wer-den. Er schwankte, aber er fiel nicht um. Der Offizier befürchtete schon, Zaifeng würde ebenfalls zerplatzen. Dann wäre er allein hier unter der Erde. Allein mit diesem – Etwas.

Aber der Chinese blieb am Leben. Der Deutsche konnte sein Mienenspiel nicht erkennen. Er stand ja immer noch hinter ihm. Zaifeng ging langsam in die Knie und legte sich dann flach aus-gestreckt auf den Bauch.

»Benutzen Sie mich als Brücke, Herr!« rief er. »Und gehen Sie weiter – was immer auch passiert!«

Von Ottberg kämpfte mit sich selbst. Vor seinem geistigen Auge erschien wieder der ahnungslose Klaus Burmeister, der im Handumdrehen in Stücke gerissen worden war. Ein ahnungslo-ser Landjunge aus dem Oldenburgischen, der es sich wohl nie hätte träumen lassen, sein Leben in einer unterirdischen Anlage in China zu verlieren. Der Offizier spürte, daß er seinem chinesi-schen Begleiter vertrauen mußte. Etwas anderes blieb ihm nicht übrig.

Die Schaftstiefel des Oberleutnants traten auf den sehnigen Körper Zaifengs. Plötzlich bemerkte auch von Ottberg, wie eine unsichtbare Macht von ihm Besitz zu ergreifen schien. Mit bruta-ler Gewalt prallte sie gegen ihn. Es war wie eine heftige Windbö auf See. Es war kaum möglich, dagegen anzukommen. Doch die Worte des Chinesen gingen ihm nicht aus dem Kopf. Er durfte auf keinen Fall stehenbleiben. Also tat er es auch nicht. Mit zusammengebissenen Zähnen kämpfte sich der Oberleutnant voran.

Zäh vergingen die Sekunden. Die Kraft ließ nach. Es war, als

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ob er an einem windigen Tag plötzlich hinter einer Häuserecke Schutz gefunden hätte. Von Ottberg atmete auf. Nun erhob sich auch Zaifeng wieder. Mit gefalteten Händen erhob er sich. Über-nahm nun die Führung der auf zwei Mann zusammenge-schrumpften Gruppe.

»Ich werde dich reich belohnen!« versprach von Ottberg. Leere Versprechungen waren seine Spezialität. Das hatten schon alle Offizierskameraden bemerkt, bei denen er seine Spielschulden hatte. »Woher weißt du, wie man diese teuflischen Mächte ban-nen muß?«

Der Chinese fühlte sich wie ein Toter auf Urlaub. Er war über-zeugt davon, bald sterben zu müssen. Es kümmerte ihn nicht. Er hatte sowieso sein Gesicht verloren, indem er den deutschen Offizier zu dem Opiumhändler führen wollte. Seine Familie würde ihn verachten. Und das war schlimmer als der Tod.

»Die Unterirdischen sind sehr alt«, erwiderte Zaifeng die Frage des Oberleutnants. »Es gibt Wege, wie man sie im Zaum halten kann. Vorübergehend. Aber alles wandelt und verändert sich, Herr. Auch die Macht der Unterirdischen wird irgendwann ver-gehen.«

»Mag sein.« Von Ottberg zwirbelte seinen Schnurrbart. Wie so viele Männer seiner Zeit hatte er ihn wie Kaiser Wilhelm II. mit Bartwichse in Form gebracht. Nachts mußte er mit einer Bart-binde schlafen. »Wir sollten aus dieser verdammten Höhle raus-kommen, Zaifeng! Das wäre eine Veränderung, die mir gefallen würde…«

»Mit Buddhas Hilfe…«, murmelte der Chinese. Dann ging er weiter. Von Ottberg trottete hinter ihm her. Die rechte Hand um den Revolver gekrampft. Obwohl er in seinem Inneren wußte, daß die Waffe ihm hier nichts nützen würde.

So liefen die beiden Männer vielleicht eine halbe Stunde. Je tiefer sie in den Berg eindrangen, desto grausamere Motive zeig-

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ten die Wandmalereien. Soweit das überhaupt noch möglich war.

Dann beschrieb der Gang eine Biegung. Als sie die Kurve umrundet hatten, mußten sich von Ottberg und Zaifeng zunächst die Hände vor die Augen halten. Es dauerte Minuten, bis sie sich nach der schummrigen Beleuchtung durch die phos-phoreszierenden Steine an das gleißende Licht gewöhnt hatten.

Vor ihnen lag eine riesige Höhle aus purem Gold!

*

Zaifeng kannte die Legenden, die man sich in den Dörfern der Provinz Shantung über die Unterirdischen erzählte. Es waren böse Dämonen, die das Land seit anfangsloser Zeit in ihrem erbarmungslosen Griff hatten. Bis eines Tages ein Bodhisattva gekommen war, ein erleuchteter buddhistischer Heiliger. Seine Güte war für die Dämonen so unerträglich gewesen, daß sie unter die Erde geflohen waren. Seitdem nannte man sie die Unterirdischen.

Der Chinese und der Deutsche waren nun im Zentrum dieser dämonischen Macht. In tausenden von Jahren hatten die Unter-irdischen hunderte Tonnen von Gold angesammelt, um sich an dem Glanz zu erfreuen, denn die Wärme der Liebe und des Mit-gefühls kannten sie natürlich nicht.

Beunruhigt musterte Zaifeng das Gesicht des Offiziers. Er kannte diesen Ausdruck. Er hatte ihn bei Opiumsüchtigen gese-hen, die seit Tagen keine Pfeife mehr geraucht hatten. Es war die pure Gier. Die Gier, die alles vernichten würde, sollte sie nicht befriedigt werden.

Und wirklich konnte sich Hjalmar von Ottberg nicht satt sehen an der Pracht des Edelmetalls.

Die Höhle war mindestens so groß wie das Hauptschiff der

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Frauenkirche in von Ottbergs Heimatstadt Dresden. Und alles in dieser Grotte war aus purem Gold. Am eindrucksvollsten war ein riesiger, furchterregender Drache. Dieses Kunstwerk konnte nicht von Menschenhand geschaffen worden sein. Allein sein Maul mit den scharfen Zähnen war so groß, daß von Ottberg aufrecht darin hätte stehen können. Das Fabeltier hatte einen langen, schlangenförmigen Leib. Auf seinem Rücken ragte eine Art Hornkamm in die Höhe. Die vier kräftigen Beine endeten in langen Krallen.

Unterhalb des großen Drachen waren Gegenstände aus Gold aufgehäuft. Teilweise waren es Münzen, die in längst vergange-nen Dynastien als Zahlungsmittel gedient haben mochten. Teil-weise aber auch Kunstwerke. Miniaturen von chinesischen Pavillons. Darstellungen von Menschen oder Tieren. Und alles aus dem wertvollen Edelmetall gefertigt.

Hjalmar von Ottberg vergaß seine Offizierswürde und stieß einen Triumphschrei aus. Er rammte den Revolver in das Halfter und stürmte an Zaifeng vorbei in die Höhle hinunter.

»Ich bin reich! Endlich! Steinreich!« Jubelnd warf er sich vor dem Gold auf die Knie. Er griff mit

beiden Händen in die Münzen. Ließ sie auf sich hinabregnen. Dabei tobte und geiferte er, als ob er den Verstand verloren hätte. Und in gewissem Sinn hatte er das auch.

»Böse…«, murmelte Zaifeng wieder. »Sehr böse. Ein böser Ort.«

Zähnefletschend starrte von Ottberg den Mann mit dem Zopf an. »Bist du verrückt, Zaifeng? Sieh dir nur diese Pracht hier an!«

Er machte eine ausholende Armbewegung. So besitzergreifend, als ob ihm alles gehören würde. Und so fühlte er sich auch schon.

Doch der Chinese blieb ruhig. Ihm wurde erst jetzt klar, wel-

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chen Fehler er gemacht hatte. Niemals hätte er sich darauf ein-lassen dürfen, den deutschen Offizier zu dem Opiumhändler zu führen. Wenn er es nicht getan hätte, würde er jetzt nicht in die-ser goldenen Hölle stehen. Aber er hatte es getan. Also mußte er die Suppe auch auslöffeln. Das war sein Schicksal.

Der riesige Drache schien den Chinesen drohend anzustarren. Wo waren die Unterirdischen? Warum kamen sie nicht, um die beiden Eindringlinge zu zerreißen? Zaifeng wußte es nicht. Er kannte nur wenige Zaubersprüche, verstand sich nicht auf die Mythologie. Er war nur ein einfacher Küchenhelfer bei der deut-schen Garnison von Tsingtau.

Aber nun hatte er etwas entdeckt. Schräg hinter dem Kopf der Drachenstatue schimmerte Tageslicht. Oder war das nur ein Trugbild? Zaifeng kletterte auf eine goldene Truhe, um besser sehen zu können.

Nein, es war keine Täuschung! Dort draußen schimmerte das blaue Wasser der Kiautschou-Bucht. Der Chinese konnte sogar den großen Dampfer mit den zwei Schornsteinen erkennen, der vor dem Hafen auf Reede lag. Es war die »Königin Luise«, ein Truppentransporter.

»Wir sind gerettet, Herr«, sagte er zu van Ottberg. »Dort hinter dem Drachenkopf gelangen wir ins Freie! Wir…«

Er verstummte. Denn der Offizier hatte seinen Revolver auf den Chinesen gerichtet.

»Ich bin gerettet, Zaifeng. Warum sollte ich meine Beute mit einem Schlitzauge teilen?«

Die Entfernung zwischen den beiden Männern betrug unge-fähr fünfzehn Meter. Der Chinese wollte sich auf seinen Gegner stürzen. Aber es war zu spät. Zwei Geschosse aus der Mauser trafen seine Brust.

Ein teuflisches Lachen löste sich von den Lippen des schurki-schen Oberleutnants, als Zaifeng von der Truhe stürzte. Das Blut

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seines chinesischen Begleiters tränkte die Goldmünzen unter ihm. Doch von Ottberg beachtete ihn nicht weiter. Er war schon damit beschäftigt, sich die Taschen mit dem Edelmetall zu fül-len.

»Du bist verflucht, Hjalmar von Ottberg.« Flüsternd ertönte die Stimme des schwerverletzten Chinesen. Durch das Klingeln der Goldmünzen war sie kaum wahrnehmbar. »An diesem Gold klebt das Böse. Und – aaaahh… Das Böse wird zu dir zurückkeh-ren. Oder zu deinen Nachkommen…«

Mit einem sadistischen Grinsen hob der Offizier noch einmal seine Dienstwaffe und feuerte auf den Schwerverletzten.

Diesmal wurde der Chinese in den Kopf getroffen. Zitternd vor Gier füllte sich der Oberleutnant alle Taschen mit

Gold. Sogar seine Patronentasche am Gürtel leerte er aus, um noch einige Münzen mehr einstecken zu können. War er nicht ein Glückspilz? Er hatte eine Höhle voller Reichtümer entdeckt. Und er war der einzige, der ihre Lage kannte…

Er hätte am liebsten sofort alles abtransportiert. Aber er mußte vorsichtig sein. Keiner seiner Kameraden durfte von der Schatz-kammer erfahren. Darum nahm er nur gerade soviel Gold mit, wie er am Körper verstecken konnte. Auch das war immer noch eine ganze Menge.

Vergessen war der Gedanke an die unheimliche Macht, die sei-nen Burschen in Stücke gerissen hatte. Von Ottberg fragte sich auch nicht, welche Wesen in der Lage sein konnten, eine solche Drachenstatue aus purem Gold zu bauen. Der Anblick des Gol-des hatte sein Gehirn vernebelt.

Er kletterte durch die Öffnung ins Freie. Wie Zaifeng vorausge-sagt hatte, befand er sich am Rand der Kiautschou-Bucht. Es waren ungefähr zwei Meilen bis zu den äußeren Befestigungen der Stadt Tsingtau.

Hjalmar von Ottberg machte sich auf den Weg. Als er die

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Hälfte der Strecke zurückgelegt hatte, traf er auf eine Militärpa-trouille.

Angeführt wurde sie von Leutnant Bergner. Der machte große Augen, als er seinen Vorgesetzten erblickte. Mit blutbespritzter Uniform und ohne Helm.

»Was ist passiert, Herr Oberleutnant?« »Boxerangriff«, erwiderte von Ottberg knapp. »Ich habe mit

meinem Burschen eine Wanderung gemacht, als sie uns über-rascht haben. Den armen Gefreiten Burmeister haben sie förm-lich in Stücke gerissen! Aber ich habe seinen Tod gerächt!«

»Diese Teufel!« Leutnant Bergner ballte die Faust. »So nahe an die Stadt haben sie sich noch nie herangewagt. Ich werde den Kommandanten verständigen!«

»Das schreit nach Rache«, meinte von Ottberg, obwohl die Gedanken des Mörders nur bei seinem geheimen Goldschatz waren. »Ich würde es diesen Bastarden selber gerne zeigen, Leutnant Bergner. Aber mein Regiment wird nächste Woche abgelöst. Der Truppentransporter ist schon eingetroffen. Es geht nach Hause. Nach Dresden!«

*

Frühjahr 1999, Weimar, Deutschland. »Der Abstand zwischen den Sitzreihen ist zu klein«, sagte ich. »Ist er nicht«, widersprach mir die gutaussehende blonde Zug-

begleiterin der Deutschen Bahn. »Sie sind nur zu groß…« Ich wollte mich nicht mit ihr streiten. Dafür war dieser warme

Frühlingstag einfach zu schön. Außerdem konnte Blondie ja auch nichts dafür, daß die meisten Sitzplätze in den Interregio-Zügen, eigentlich umgebaute Schnellzugwagen aus den Fünfzi-gern und Sechzigern, nicht gerade für Menschen geeignet sind, die so groß wie ich oder noch länger sind. Die Frau in der inter-

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essant knapp sitzenden Uniform flirtete mich ungeniert an, wäh-rend sie mir meine Fahrkarte zurückgab. Der Zug hatte gerade den Bahnhof meiner Heimatstadt Weimar verlassen.

Ich seufzte. Irgendwie bin ich, Mark Hellmann, wohl das, was man einen Frauentyp nennt. Ob es an meinem Charme, den Muskeln oder an meinen unschuldigen blauen Augen liegt – keine Ahnung. Vielleicht hat ja auch meine geheimnisvolle Aura damit zu tun. Als Kämpfer des Rings ist es meine Bestimmung, den Kräften der Hölle entgegenzutreten und meine Mit-menschen vor den Dämonen zu beschützen.

»Sie fahren also nach Dresden?« Die Zugbegleiterin ließ nicht locker. Sie selbst sächselte nur ganz leicht. Man hörte trotzdem sofort, daß sie aus dem Bundesland kam, das direkt östlich an mein heimatliches Thüringen grenzt.

»Steht es nicht auf meiner Fahrkarte?« fragte ich mit einem Augenzwinkern. Auch wenn ich mit Tessa eine feste Freundin hatte, nett zu anderen Frauen wird man doch wohl sein dürfen! Erst recht, wenn sie so hinreißend aussahen wie diese Blondine.

»Geschäftlich oder – privat?« Sie betonte das letzte Wort so, daß ein Hauch von Schlafzimmer durch den Waggon wehte.

Ich wollte gerade antworten, als eine andere weibliche Stimme erklang.

»Hat die Squaw von der Eisenpferd-Gesellschaft den blonden Krieger gepachtet? Oder ist dieser Sitz noch frei für eine ehrliche Rothaut?«

Verblüfft fuhr die Zugbegleiterin herum. Auch ich hatte die Sprecherin nicht kommen hören. Ich lachte überrascht auf, als ich sie erkannte.

Das war auf den ersten Blick nicht einfach. Denn die neunzehn-jährige magere Göre hatte sich in ein knielanges, besticktes Wild-lederkleid gehüllt, wie man es von den Frauen bei Wildwest-Festspielen kennt. Dazu paßte die Perücke mit den zwei gefloch-

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tenen Zöpfen. Um die Stirn hatte sie natürlich ein Band, in dem eine Adlerfeder steckte. An den Füßen trug sie Mokassins.

Mit anderen Worten: Meine alte Bekannte Struppy entsprach ganz dem Klischeebild einer Filmindianerin.

Die blonde Zugbegleiterin kriegte vor Staunen den Mund nicht zu. Aber dann fand sie die Sprache doch wieder. »Die Fahrkarte bitte!«

Bereitwillig öffnete Struppy, die mit richtigem Namen Mecht-hild Schaumburg-Klöten heißt, ihre Handtasche und präsen-tierte das Ticket. Die Blonde entwertete den Fahrschein und schob sich dann irritiert von dannen.

Struppy ließ sich auf den Sitz neben mir fallen. »Hast du das Kriegsbeil ausgegraben?« fragte ich grinsend und

blickte dabei in ihre wasserblauen »Hans Albers«-Augen. »Keine Spur. Habe bloß einen neuen Job. In Dresden. Befristet,

für einen Monat. Deshalb habe ich diesen Zug genommen. Und du? Was macht der berühmteste Dämonenjäger Deutschlands ohne seinen blauen Straßenschreck?«

»Mein BMW ist in der Werkstatt. Ansonsten habe ich einen Auftrag in Dresden. Erzähl mir doch mehr von deinem neuen Job, Struppy!«

Ich versuchte, von mir abzulenken. Erstens wußte ich noch gar nicht genau, worum es bei meinem Auftrag in Dresden ging. Eine junge Frau hatte mich angerufen. Ihr Bruder sollte unter geheimnisvollen Umständen ermordet worden sein. Alles schien für dämonische Einflüsse zu sprechen. Und zweitens wollte ich meine Tätigkeit nicht noch mehr an die große Glocke hängen. Ich war durch einige spektakuläre Einsätze fast berühmt gewor-den. Daher kannte die junge Frau – meine Klientin – auch mei-nen Namen. Sie hatte mich im Fernsehen gesehen.

Struppy akzeptierte das. Trotz ihrer schrillen Art war sie erstaunlich einfühlsam. Sie plapperte drauflos, um von ihrem

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neuen Job zu berichten. »In Radebeul bei Dresden gibt es das »Karl May«-Museum.

Das weißt du doch sicher, Mark. In dem Haus hat der alte India-nergeschichtenerfinder selbst gelebt, bevor er 1912 in die ewigen Jagdgründe eingegangen ist. Mein Job besteht darin, Touristen von Dresden nach Radebeul zu lotsen. Darum auch mein stilge-rechtes Outfit!« Sie deutete stolz auf ihre Squaw-Verkleidung.

Ich grinste. Natürlich hatte ich als Junge auch Karl Mays span-nende Indianergeschichten gelesen. Jedenfalls, soweit ich zurückdenken konnte. An das erste Jahrzehnt meines inzwi-schen 29-jährigen Lebens habe ich keine Erinnerung. Nach der Walpurgisnacht 1980 wurde ich als Zehnjähriger in der Weima-rer Altstadt aufgegriffen. Nackt und verwirrt. Mit nichts bei mir außer einem Siegelring, der an einem Lederband um meinen Hals baumelte.

Heutzutage trug ich diesen Ring an meiner linken Hand. Er stellte einen stilisierten Drachen dar, der sich um die altertüm-lich verschnörkelten Buchstaben M und N wand. Der Höllen-fürst Mephisto wollte mir diesen Ring unbedingt abjagen. Erst vor kurzem hatte ich unter dramatischen Umständen mehr über meinen Ring erfahren.

Der berühmte Seher Nostradamus, eigentlich Michel de Notre Dame, hatte den Ring einst mit Hilfe von alchimistischem Geheimwissen erschaffen. Mein Kleinod bildete das weißmagi-sche »Gegengewicht« zu drei höllischen Ringen, die Mephisto besaß. Die Buchstaben M und N auf dem Ring standen sowohl für Michel de Notre Dame als auch für mich, für Mark. Mark und Nostradamus. Der Träger des Rings und der Erschaffer des Rings. Wie durch ein unsichtbares Band waren wir zusammen-geschmiedet.

Ich konnte mit Hilfe des Siegelrings dämonische Aktivitäten erkennen, Zeitreisen unternehmen, tödliche Wunden heilen und

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normale Waffen weißmagisch »aufladen«, um gegen das Böse zu kämpfen. Ich war der Auserwählte, der Kämpfer des Rings.

Struppy riß mich aus meinen Gedanken. Sie verdankt ihren Spitznamen ihrem grüngefärbten Haarschopf, der sich momen-tan allerdings unter der Squaw-Perücke verbarg. Sie hatte das Talent, immer und überall aufzufallen. Außerdem redete sie wie ein Wasserfall. So wie in diesem Moment.

»Weimar ist doch wirklich ein Dorf, Mark. Findest du nicht? Aber die Stadt ist trotzdem cool. Gestern habe ich übrigens deine Freundin auf dem Markt getroffen. Tessa, meine ich. Sie ist doch noch deine Freundin, oder? Hihihi… Jedenfalls hat sie Tomaten gekauft. Ich mag Tomaten. Du auch? Tessa hat gar nicht über dich geredet. Habt ihr euch wieder gefetzt? Das fände ich schade, echt. Ihr paßt so gut zusammen. Und Tessa ist wirklich voll in Ordnung. Sie ist ja nun mal Beamtin. Aber sie hat nicht diesen Bullentouch. Wenn ich da an meinen Onkel denke, der ist zwar nicht bei der Polizei, dafür aber beim Finanzamt, und er…«

Und so ging es ununterbrochen weiter, bis der Interregio in den Hauptbahnhof von Dresden einlief. Mir schwirrte schon der Kopf von Struppys Geplapper. Aber ich mochte sie. Sie hatte so eine lockere Art und ließ sich nicht unterkriegen. Wir verab-schiedeten uns kurz mit einem Küßchen auf die Wange. Dann war sie in der Menge auf dem Bahnsteig verschwunden, auf der Suche nach ihrem neuen Arbeitgeber.

Ich nahm meine Reisetasche und meinen Einsatzkoffer. Er ent-hält mein »Arsenal«, mit dem ich den Mächten des Bösen zu Leibe rücke. Ich lief durch die Unterführung auf die große Bahn-hofshalle zu. Dort hatte ich mich am Informationsstand mit mei-ner Auftraggeberin verabredet.

Es herrschte hektische Betriebsamkeit. Es wimmelte nur so von Pendlern, Schüler, Bundeswehrsoldaten und anderen Reisenden, die unbedingt einen Zug bekommen mußten. Die Leute schubs-

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ten und drängelten. Alle schienen es eilig zu haben. Von der sprichwörtlichen Gemütlichkeit der Sachsen war hier noch nicht viel zu bemerken. Aber Hektik gibt es wohl auf allen Bahnhöfen der Welt.

Meine Augen weiteten sich, als ich mich dem Informations-stand näherte. Vor der modernen Metalltheke lehnte eine bild-hübsche Brünette in einem lindgrünen Minikostüm. Sie hatte ihr Haar zu einem Knoten im Nacken zusammengesteckt. Durch eine Designerbrille mit rotem Gestell schweiften ihre Blicke über die Menschenmassen. Jetzt hatte sie mich entdeckt!

Sie lächelte geschäftsmäßig und machte einen Schritt auf mich zu. Ich schlug sofort ihre Richtung ein.

Plötzlich und ohne erkennbaren Grund glühte mein Siegelring auf!

Irrte er sich, oder gab es hier tatsächlich irgendein dämonisches Treiben?

Dann erkannte ich, wie eine Art Glutball in einer weiten Ellipse durch die Bahnhofshalle flog. Er steuerte direkt auf die dunkel-haarige Frau zu!

*

Es war nicht das erste Mal, daß ich durch eine schnelle Reaktion Leben retten konnte. Zu meiner Ausrüstung gehört auch eine Pistole der Marke SIG Sauer P 6 im Kaliber 9 Millimeter. Sie ist mit geweihten Silberkugeln geladen. Meist bewahre ich sie in meinem Einsatzkoffer auf. Doch an diesem Morgen hatte ich wie durch eine innere Eingebung die Waffentasche am Gürtel mei-ner Jeans befestigt. Darüber trug ich ein leichtes Jackett, so daß meine Mitreisenden nicht bemerkten, daß ich bewaffnet war.

Diese Pistole riß ich nun hervor. Die Menschen um mich herum schrien vor Schreck. Vielleicht hielten sie mich für einen

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Amokläufer. Aber das würde sich gleich ändern. »Runter!« brüllte ich der Frau im lindgrünen Kostüm zu, wäh-

rend ich mit einem wahren Panthersprung auf sie zuschnellte. Ich riß sie von den Beinen. Sie wollte protestieren. Aber dann bemerkte sie ebenfalls die tödliche Gefahr, die von der Seite her auf sie zugeschossen kam.

Der Energieball, wenn man ihn so bezeichnen wollte, strahlte eine ungeheure Hitze ab. Es war, als ob ein riesiges Stück Holz-kohle durch die Bahnhofshalle geschleudert würde. Und das glühende Ding jagte zielsicher auf die Brünette zu. Somit auch auf mich.

Ich hob die SIG in den Beidhandanschlag. Allzuviele Versuche würde ich nicht haben. Hier zählte nur die Schnelligkeit. Schon war die dämonische Energie so nahe heran, daß ich mir einbil-dete, meine Augenbrauen würden versenkt. Vielleicht war es auch keine Einbildung.

Mein Zeigefinger krümmte sich um den Abzug. Das Geschoß jagte durch den Lauf. Die Menschen hatten nun erkannt, daß ein »unbekanntes Flugobjekt« in der Halle unterwegs war. Sie ließen sich zu Boden fallen oder liefen weg. Das Beste, was sie tun konnten.

Mein Schuß ging daneben! Zum Glück hatte ich so hoch gezielt, daß ich wohl keinen Unbeteiligten getroffen hatte. Aber das war auch kein Trost. Ich mußte dieses verdammte Ding ver-nichten. Gleich darauf zog ich den Stecher noch einmal durch.

Diesmal hatte ich Erfolg. Die weißmagische Patrone drang mitten in das Zentrum der

Energiekugel. Ich konnte nicht sagen, was dort geschah. Die Strahlung des Objekts wurde immer intensiver. Der uralte Kampf Gut gegen Böse wurde dort jetzt ausgefochten. Kraft gegen Kraft. Weiße Magie gegen Schwarze.

Quälend langsam verstrichen die Sekunden. Dann gab es

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plötzlich einen dumpfen Knall. So, als ob ein Düsenjet die Schall-mauer durchbrochen hätte. Dann war der »Luftraum« der Bahn-hofshalle wieder frei. Die Aura des Bösen war verschwunden. Jedenfalls zeigte mein Ring keine höllischen Machenschaften mehr an.

Ich half der Frau hoch. Der Bahnbeamte hinter der Informati-onstheke starrte mich entgeistert an. »Gense mir vielleischt mol soochen, was das bedeiden solide?« fragte er mich in breitestem Sächsisch.

Ich lächelte ihm beruhigend zu. Hatte keine Lust auf lange Erklärungen. »Das war ein Kugelblitz, Meister. Hat natürliche Ursachen.«

»Een Gugelplitz, ohne Gewidder? Wollnse misch vergackeiern…?«

Ich grinste weiter und ließ ihn stehen. Die Schönheit in Lind-grün packte mich am Ellenbogen und zog mich zur Seite.

»Sie müssen Herr Hellmann sein. Lassen Sie uns verschwin-den, bevor wir hier in Diskussionen verwickelt werden. Aber erst einmal möchte ich Ihnen für meine Rettung danken. Ich hatte sie angerufen. Mein Name ist von Ottberg. Nicole von Ott-berg…«

*

Die Unterirdischen waren wieder da. Für diese Dämonen hatte es keine Bedeutung, daß hundert

Jahre vergangen waren. Ein Jahrhundert war für sie wie ein Wimpernschlag. Sie konnten in der Welt der Menschen nicht immer aktiv werden. Nur alle hundert Jahre. Aber das störte sie nicht. Umso größer war der Wille zur Vernichtung, der sich in der Zwischenzeit angestaut hatte…

Diese abgrundtief bösen Wesen waren fast so alt wie Mephisto

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und die anderen Valusianer. Doch die Unterirdischen unterstan-den nicht dem Oberbefehl von Lucifuge Rofocale, dem Höllen-kaiser. Sie brauten ihr eigenes übles Süppchen…

Bisher hatten sie immer nur China terrorisiert. Das riesenhafte Reich der Mitte bot ihnen genug Möglichkeiten, die Menschen zu unterwerfen. Selbst nachdem sie von einem Bodhisattva unter die Erde verbannt worden waren, fanden diese uralten Dämonen immer noch ihre Opfer.

Aber nun waren sie hier. In diesem Land weit westlich von China. In der Stadt, die man als Dresden kannte oder liebevoll Elb-Florenz nannte. Die Unterirdischen erwachten langsam. Sie waren an sich körperlose Wesen, die in beliebigen Gestalten erscheinen konnten. Als Energiekugel, beispielsweise. Doch ihre größte Macht zeigte sich, wenn sie sich zu dem Kulttier zusam-menfügten, dem sie alle huldigten.

Dem Drachen…

*

Wenn man den Dresdener Hauptbahnhof verläßt und den Wie-ner Platz überquert, kommt man unweigerlich auf die Prager Straße. Ich hatte die sächsische Landeshauptstadt schon zu DDR-Zeiten oft besucht und kannte mich daher einigermaßen aus. Aber der Anblick der Prager Straße haute mich immer wie-der um.

Diese Fußgängerzone ist sozusagen die Plattenbaupromenier-meile der Stadt. Glanz und Elend der sozialistischen Architektur zeigten sich hier auf kleinstem Raum nebeneinander. Weite leere Flächen, dazwischen Hochhäuser. Außerdem ein paar Brunnen und Pergolagänge. Ich war froh, nach der Zugfahrt meine Beine wieder bewegen zu können. So einem aktiven Typ wie mir liegt das lange Stillsitzen nicht. Darum hatte ich ja auch meinen

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angeblich so sicheren Job als wissenschaftlicher Assistent am Museum aufgegeben, den ich nach meinem Völkerkundestu-dium ergattert hatte. Außerdem konnte und wollte ich mich nicht in die verknöcherten Strukturen des Beamtenapparates einfügen.

Doch das war Vergangenheit. Meine Gedanken waren nun ganz bei der Gegenwart. Und der bildhübschen Frau mit der Modelfigur an meiner Seite. Warum hatte diese geheimnisvolle Energiekugel sie vernichten wollen? Es mußte mit dem Tod ihres Bruders zusammenhängen.

Während wir die Prager Straße hinauf schlenderten und an dem auffälligen Rundbau des UFA-Kinos vorbeikamen, machte Nicole von Ottberg nur ein paar nichtssagende Bemerkungen über meine Reise von Weimar nach Dresden und über die TV-Sendung, in der sie mich gesehen hatte. Doch als wir dann in einem Eiscafe einen Tisch in einer ruhigen Ecke gefunden hatten, wollte sie mir Einzelheiten berichten.

Ich versuchte, mich nicht vom Anblick ihrer langen Beine aus der Ruhe bringen zu lassen. Sie hatte sie dekorativ übereinan-dergeschlagen. Puh! Ich riß mich halt zusammen.

»Haben Sie so etwas schon erlebt?« fragte Nicole, nachdem uns der Kellner zwei Espresso gebracht hatte. »Ich meine, einen Angriff einer solchen Hitzekugel?« Sie wirkte immer noch etwas durcheinander. Kein Wunder. Normale Menschen müssen sich zum Glück nie mit übersinnlichen Bedrohungen herumschlagen.

»In ähnlicher Form«, antwortete ich. »Ist Ihr Bruder ebenfalls durch so eine Kugel ums Leben gekommen?«

»Wenn ich das wüßte«, flüsterte die Brünette und starrte in ihre Kaffeetasse. Ein Ausdruck unendlicher Trauer erschien auf ihrem Gesicht. »Ich bin wahrscheinlich die letzte Person, die mit meinem Bruder Pascal gesprochen hat. Bevor er…«

»Erzählen Sie mir möglichst genau, was geschehen ist, Nicole.

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Das heißt, wenn Sie jetzt dazu in der Lage sind.« »Natürlich.« Ein harter Zug erschien auf ihrem Gesicht. »Ich

studiere Jura, Herr Hellmann. Für mich zählen nur Fakten. Ich wäre wohl nie auf die Idee gekommen, Sie um Hilfe zu bitten, wenn nicht mein Bruder… Er ist und war auch kein Spinner, verstehen Sie? Er hat gesagt, daß er verfolgt wurde… Pascal war ein phantasiearmer Mensch. Schon als Kind…«

»Er wurde verfolgt?« hakte ich ein. »Von wem oder was? Auch von so einer Kugel?«

Nicole schüttelte den Kopf und nahm einen Schluck Espresso. »Nein. Er rief mich an. Seine Stimme klang ziemlich panisch. Das bin ich nicht von ihm gewohnt. Ich habe noch nie zuvor erlebt, daß er die Kontrolle über sich verliert. Aber er schien absolute Todesangst zu haben, verstehen Sie?«

Ich nickte. »Wollen wir uns nicht duzen? Das macht es – dir möglicherweise leichter. Hat Pascal gesagt, von wem er verfolgt wurde?«

»Ja, Mark. Das ist ja der Grund, weswegen ich dich angerufen habe. Im Auftrag meiner ganzen Familie, übrigens. Wir sind uns alle einig, daß uns nur ein Mann mit deinen ungewöhnlichen Fähigkeiten helfen kann. Denn die Polizei tappt im dunkeln. Mein Bruder rief mich also abends an. Er konnte vor Angst kaum sprechen. So was habe ich bei ihm noch nie erlebt. Er sagte, er würde schon den ganzen Tag verfolgt. Von einem…«

Ich wartete. »Mein Bruder wurde von einem Drachen verfolgt!« platzte

Nicole von Ottberg heraus. Es klang zurückhaltend. Als befürch-tete sie, von mir ausgelacht zu werden. Aber das tat ich natürlich nicht.

Im Gegenteil. Ich nahm diese Bedrohung sehr ernst. Erst vor ein paar Monaten hatte ich in meiner Heimatstadt Weimar gegen einen Drachen kämpfen müssen. Mein Erzfeind Mephisto hatte

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Fafnir als Reittier benutzt! Und letzte Woche hatte ich zwei Lind-würmer durch Weimars Kanalisation gejagt. Den Gestank der Kloaken hatte ich immer noch in der Nase.

Ob der Höllenfürst auch diesmal hinter dieser Geschichte steckte? Ich blickte Nicole tief in die Augen, ohne eine Miene zu verziehen. Mit tonloser Stimme setzte sie ihre Erzählung fort.

»Wenige Stunden nach dem Anruf klingelte die Polizei an unserer Haustür. Sie hatten Pascal gefunden. Oder das, was noch von ihm übrig war. Mein Bruder wurde von einer unge-heuren Hitze verbrannt. Sein Körper war verkohlt und auf die Größe eines Kinderleibes zusammengeschrumpft…«

Sie senkte den Kopf. Ihre Schultern zuckten. Sie bemühte sich krampfhaft, nicht zu weinen. Trotzdem hörte ich, wie sie auf-schluchzte. Andere Cafegäste glotzten neugierig zu uns herüber. Wahrscheinlich hielten sie uns für ein Liebespaar, das sich gefetzt hatte. Ich legte beruhigend einen Arm um ihre Schultern. Dann schickte ich einen wütenden Blick zu den Gaffern hinüber. Eingeschüchtert beugten sich alle wieder über ihre Eisbecher und Kaffeetassen.

Es dauerte einige Minuten, bis sich die junge Frau wieder eini-germaßen beruhigt hatte.

»Es tut mir leid«, sagte ich. »Aber ich muß das fragen. Wenn dein Bruder bis zur Unkenntlichkeit verbrannt war… Wieso konntet ihr dann sicher sein, daß diese Leiche Pascal von Ott-berg war?«

Nicole putzte sich die Nase. Ihre Designerbrille war beschla-gen. Zum ersten Mal, seit ich sie kannte, bröckelte ihre so per-fekte glatte Fassade. »Ein Zweifel ist ziemlich ausgeschlossen. Mein Bruder war Soldat, weißt du. Offizier bei der Bundeswehr. Eine alte Tradition in unserer Familie. In den letzten zweihun-dert Jahren haben alle männlichen von Ottbergs die Militärlauf-bahn eingeschlagen.«

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Ich nickte. Jetzt verstand ich. Schließlich war ich selbst beim Bund gewesen. »Er hatte eine Armee-Identifizierungskette um den Hals, oder?«

Nicole nickte.

*

Bobby Dombrowski schlug zu. Sein Handrücken klatschte in das Gesicht der jungen Prostitu-

ierten Angel. Und gleich noch einmal. Die Frau in dem knappen weißen Top und dem Leder-Supermini strauchelte und stürzte.

Der Zuhälter schob die Hände in die Hosentaschen seines Armani-Anzuges und lachte dreckig.

»Das ist nur ein kleiner Vorgeschmack! Damit du weißt, was dir blüht, wenn du demnächst wieder so magere Einnahmen bringst!«

Damit meinte er die tausendeinhundert Mark, die sein »Pferd-chen« vor einer Viertelstunde pflichtschuldig bei ihm abgeliefert hatte. Dombrowski hob die linke Hand an seine dauergewellte Frisur. Seine goldene Handgelenkkette klirrte bei dieser Bewe-gung.

»Wir leben schließlich in einer Leistungsgesellschaft!« höhnte er. »Also mußt du auch Leistung bringen! Wann geht das end-lich in dein Spatzenhirn?«

Angel erwiderte nichts, sondern rappelte sich schweigend wie-der hoch. Ihre linke Brust fiel aus dem Top, als sie so vornüber-geneigt dastand. Dombrowski betrachtete den prallen weißen Busen leidenschaftslos.

Frauen erregten ihn schon lange nicht mehr. Der fünfundzwanzigjährige Zuhälter mit der Bierwampe und

dem Walroßbart wirkte durch seinen ungesunden Lebensstil fast zehn Jahre älter. Er war eben schon lange im Geschäft. Und im

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Bett beschäftigte er sich mit seinen »Neuzugängen« nur so lange, bis er ihren Willen gebrochen hatte und sie auf den Strich schi-cken konnte.

Bobby Dombrowski wandte Angel seinen breiten Rücken zu. Mit wiegenden Schritten ging er auf das Wohnmobil der Marke Hymer zu. Es diente als Liebesnest. Wie so viele andere Fahr-zeuge ähnlicher Bauart, die in diesem Dresdener Gewerbegebiet aufgereiht nebeneinander standen. Eine häßliche Ecke. Hier hätte wohl niemand vom »Elb-Florenz« gesprochen. Von weitem wirkte das Straßenstrich-Areal wie eine Caravan-Ausstellung. Wären da nicht die vielen Nutten gewesen, die vor den Wagen nach Freiern Ausschau hielten…

Der Zuhälter mit dem Walroßbart seufzte. In den letzten Jahren war die Luft hier draußen dünner geworden. Und der Ton här-ter. Es hatte Bandenkriege mit Toten und Verletzten gegeben. Die Goldgräberstimmung nach der Wende war vorbei. Der Markt wurde enger. Er, Dombrowski, hatte seinen »Kleinbetrieb« mit drei Wohnmobilen bisher immer aus den großen Revierkämpfen heraushalten können. Die Frage war nur, wie lange noch…

Er zündete sich eine Zigarette an. Für das, was er gleich tun würde, mußten die Kunden einhundert bis dreihundert Mark hinblättern. Bobby Dombrowski bekam seinen Sex kostenlos. Doch ihm machte es schon lange keinen Spaß mehr. Aber es hilft nichts, dachte der Zuhälter mit seiner menschenverachtenden Logik. Solange die Neue nicht richtig in mich verknallt ist, muß ich weiter ran…

Er öffnete die Tür des Wohnmobils. Marion erwartete ihn bereits. Sie trug nichts weiter als schwarze Strümpfe mit Naht, einen Spitzenbody in derselben Farbe und ein goldenes Kettchen um das linke Fußgelenk. Sie rekelte sich auf der breiten »Spiel-wiese« und streckte ihm die Arme entgegen. Bobby, dem Mann,

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den sie zu lieben glaubte. Der Mann, der sie an andere Männer verkaufen würde…

»Wo bist du so lange gewesen, Darling…?« flötete sie. »Geschäfte«, brummte Dombrowski und versuchte dabei, mög-

lichst unglücklich zu klingen. Er spielte ihr die Nummer »unschuldig in Geldnöten« vor. Die zog fast immer. Bei all sei-nen Frauen. Er, Dombrowski, war angeblich in den Händen bru-taler Kredithaie. Wenn die Mädels ihm helfen wollten, mußten sie für ihn anschaffen gehen. Natürlich nur für ein paar Wochen, Ehrenwort. Allerhöchstens für einen Monat… Natürlich haßte er diesen Zustand. Für ihn selbst sei es die größte Demütigung, behauptete er…

Es wirkte auch diesmal. Marion hob den Kopf. »Stimmt etwas nicht, Darling?« Dombrowski grinste innerlich. Diese Blondine war besonders

naiv. Er hatte ihr sogar weismachen können, daß er in diesem Wohnwagen leben würde. Ahnte sie wirklich nicht, daß links und rechts von ihr ihre zukünftigen »Kolleginnen« schuften mußten, um für ihre Zuhälter Profit zu erwirtschaften?

Wie konnte man nur so doof sein? Kaum war Dombrowski dieser Gedanke durch den Kopf

gegangen, als sein Wohnmobil von einer gewaltigen Erschütte-rung getroffen wurde. Im ersten Moment glaubte der Zuhälter an ein Erdbeben. Dazu paßte auch das entsetzte Kreischen der Nutten draußen vor der Tür. Der Stoß war so heftig, daß Dom-browski von den Füßen gefegt wurde. Sein kräftiger Körper knallte gegen einen der Einbauschränke. Auch Marion hatte sich zu Tode erschrocken. Sie konnte nicht umfallen, weil sie bereits auf dem Bett lag. Aber dafür rollte sie über die Kante und fiel schmerzhaft auf ihren runden Hintern.

»Verdammt, was ist das?« rief Bobby Dombrowski. Er hielt sich seinen Schädel. Dort, wo er sich gestoßen hatte. Von Marion

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konnte er keine Antwort erwarten. Die hatte ja noch nicht einmal gepeilt, daß sie von ihm gerade als Hure ausgebildet wurde.

Die nächste Erschütterung kam mit einem lauten Donnern. Der Zuhälter riß die Augen weit auf. Die ganze linke Seite des Wohnmobils wurde eingedrückt. Dahinter war eine grünliche Masse zu erkennen. Was zum Teufel war das?

Instinktiv erkannte Dombrowski, daß der Wagen eine Todes-falle war. Er riß die Tür des Wohnwagens auf. Sprang ins Freie. Sollte Marion doch sehen, wie sie zurechtkam. Dombrowski war ein Egoist. Er dachte immer nur an sich selbst. Das war auch immer so gewesen.

Die Straße war wie leergefegt. Weit am anderen Ende erkannte Dombrowski einige Nutten, die davonliefen. So schnell, wie es auf ihren hohen Stiefelabsätzen möglich war. Aber wovor flohen sie in heller Panik?

Der Zuhälter drehte sich um. Hinter seinem Wohnmobil schob sich der riesige Körper eines Drachen hervor!

*

Bobby Dombrowski rieb sich ungläubig die Augen. War das ein verdammter Trick oder was? Lagen hier vielleicht irgendwelche Fernsehtypen auf der Lauer? »Versteckte Kamera« oder so? Denen würde er die Zähne einschlagen!

Aber das Untier war echt. Der Zuhälter spürte es instinktiv. Tief in seinem Inneren meldete sich der Überlebenstrieb. Eine Regung, die schon unsere Vorfahren in der Steinzeit dazu gebracht hat, vor dem Säbelzahntiger zu fliehen oder zu kämp-fen.

Dombrowski nahm die Beine in die Hand. Das Laufen fiel dem bierbäuchigen Mann nicht leicht, doch er hatte keine Lust zu krepieren, verdammt noch mal!

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Der Drache entfaltete seine volle Größe. Es war ein grauenvoller Anblick, von abgrundtief böser Schön-

heit. Der Lindwurm war mindestens so lang und hoch wie einer der Sattelschlepper, deren Fahrer zu den Stammkunden von Dombrowskis Mädchen zählten. Das unheimliche Vieh röhrte lauter als ein Vierklanghorn.

Der Drache hatte ein breites Maul, in dem gleich zwei Reihen mächtiger Zähne nur darauf zu warten schienen, einen Men-schen zu zerfleischen. Die rotglühenden Augen waren größer als die Blinklichter von Streifenwagen. Die schuppige Haut des Untiers schillerte gleichermaßen in Grün – und Rottönen. Die vier Beine waren mit langen Krallen bewehrt. Auf dem Rücken befanden sich Schwingen, die wie eine riesenhafte Version von Fledermausflügeln wirkten.

Das Monstrum sieht irgendwie chinesisch aus, dachte sich Dombrowski. Er hatte in einem Chinarestaurant Statuen gese-hen, die diesem Schreckensbild ähnelten. Aber die waren nicht lebendig…

Der Drache bog sich und peitschte mit seinem mächtigen Schwanz die Luft. Das Tier hatte keine Probleme damit, den Zuhälter einzuholen. Aber noch tat es nichts. Beobachtete nur. Schien sich an Dombrowskis Angst zu weiden. Dem Monstrum machte es offenbar Spaß, mit seinem Opfer zu spielen.

Der Zuhälter rannte, als sei der Leibhaftige hinter ihm her. Und so ganz falsch war das nicht. Auf jeden Fall war die Gestalt dämonisch, übersinnlich. Das kapierte sogar ein Typ wie Dom-browski, der sich sein Leben lang nicht für Spirituelles interes-siert hatte. Und jetzt war es zu spät. Sein Leben würde gleich vorbei sein.

Eine leere Coladose wurde dem Mann mit dem Walroßbart zum Verhängnis. Als er einen Blick über die Schulter auf den Drachen hinter ihm warf, übersah er die Büchse. Trat auf sie.

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Glitt aus. Und fiel der Länge nach hin. Dombrowski konnte nicht mehr aufstehen. Er hatte sich den linken Knöchel verstaucht.

Der riesenhafte Schatten des Drachen fiel auf ihn. Die Sonne schien sich zu verdunkeln. Mit dem Mut der Verzweiflung griff der Zuhälter unter das Jackett seines Armani-Anzuges. Plötzlich hatte er eine Waffe in der Hand.

Eine Tokarev TT 33. Die Dienstpistole der ehemaligen sowjeti-schen Armee. Überall in Ostdeutschland kriegte man sie auf dem Schwarzmarkt für billiges Geld.

Zitternd brachte Bobby Dombrowski die Pistole in Anschlag. Sein Mund war vor Entsetzen aufgerissen. Der Rachen des Lind-wurms näherte sich ihm. Zentimeter für Zentimeter.

Der Zuhälter zog den Stecher durch. Eine Patrone nach der anderen jagte in den mächtigen Schädel des Drachen. Keine von ihnen brachte auch nur die geringste Wirkung.

Plötzlich und ohne Vorwarnung spie das Monster eine riesige Flamme aus. Gelb und rot loderte das Feuer, als es Dombrow-skis Körper traf. Der Mann mit dem Walroßbart wurde zu einer lebenden Fackel. Die Hitze war so ungeheuer, daß selbst die Plastikverkleidung eines weiter entfernt stehenden Wohnmobils schmolz.

Es dauerte einige Minuten, bis ein gnädiger Tod Bobby Dom-browski von seinen Schmerzen erlöste.

*

Nach unserer Vorbesprechung in dem Eiscafe fuhr mich Nicole von Ottberg zu dem Haus ihrer Familie. Sie erklärte, daß sie mich erst ein wenig hatte kennenlernen wollen, bevor sie mich ihren Eltern vorstellte.

»Du wolltest checken, ob ich nicht doch ein weltfremder Spin-ner bin!« sagte ich ihr auf den Kopf zu.

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Die Brünette hatte auf dem Fahrersitz ihres Mini-Cooper Platz genommen. Ich quetschte mich auf den Beifahrersitz. Auch diese Autos wurden nicht für Männer meiner Größe konstruiert. Nicole schlug verlegen die Augen nieder. Ich hatte richtig getippt.

»Du mußt das verstehen, Mark. Noch vor wenigen Tagen wäre ich nie auf die Idee gekommen, einen, nun ja, einen Dämonenjä-ger zu engagieren. Aber es ist der letzte Ausweg. Wir wollen erfahren, wer meinen Bruder Pascal auf dem Gewissen hat. Und auf die Polizei hoffen wir vergebens.« Sie schnaubte verächtlich. Dann startete sie den Wagen. Wir fuhren in Richtung Weißer Hirsch. In diesem eleganten Villenvorort befand sich ihr Eltern-haus.

»Wie erklären denn die Behörden den Tod deines Bruders, Nicole?«

»Die offizielle Version lautet Tod durch Blitzschlag.« Sie lachte ohne Humor. »Das Problem ist nur: Zur ungefähren Tatzeit gab es überhaupt kein Gewitter in Dresden. In ganz Sachsen nicht. Aber das scheint die Polizei nicht zu kümmern.«

Ich wollte mich ihrem harten Urteil nicht anschließen. Durch die Zusammenarbeit mit meinem Freund, dem Kripohauptkom-missar Pit Langenbrach, hatte ich schon oft erlebt, daß die Ord-nungsbehörden auch bei Einsätzen gegen dämonische Übeltäter durchaus lernfähig waren. Aber Nicole war durch den Verlust ihres Bruders verbittert. Deshalb sagte ich nichts.

Schweigend starrten wir beide nach vorne durch die Wind-schutzscheibe auf die Fahrbahn. Ich betrachtete die Dresdener City. Wie in vielen ostdeutschen Städten glich sie einer riesigen Baustelle. Die berühmten Bauwerke wie der Dresdener Zwinger erstrahlten in neuem Glanz. Ich fühlte mich hier immer spontan wohl, hatte schon zu DDR-Zeiten gerne mal einen Abstecher in die sächsische Metropole gemacht. Vor allem im Sommer war

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Dresden herrlich. Aber an diesem Tag spürte ich eine nicht greif-bare Bedrohung. Unwillkürlich schielte ich auf meinen Ring. Aber er zeigte momentan keine dämonische Aktivität an. Trotz-dem war auf die junge Frau an meiner Seite vor kurzem ein unheimlicher Anschlag verübt worden.

»Hast du irgendeinen Verdacht, wer deinen Bruder getötet haben könnte, Nicole? Und wer auch dir nach dem Leben trach-tet?«

»Eben nicht.« Die Jurastudentin setzte den Blinker und bog vom Körnerplatz in die Schillerstraße ein. Wir fuhren durch Loschwitz. Von hier aus hatte man einen herrlichen Blick auf die Elbe. »Ich zermartere mir seit Tagen darüber den Kopf, Mark. Ich denke an nichts anderes mehr. Aber es ist so sinnlos. Je mehr ich denke, desto weniger verstehe ich. Immer wieder habe ich die letzten Worte von Pascal im Ohr. Ein Drache! Es ist so gro-tesk. Warum tötet ein Drache meinen Bruder? Warum?«

Ein bitterer Zug erschien auf ihrem Gesicht. Ihr schöner Mund verzog sich vor Qual.

»Ich werde es herausfinden«, sagte ich tröstend zu ihr. »Und zwar sehr bald.«

Allerdings hatte ich noch keine Ahnung, wie ich das anstellen wollte. Doch als nächstes wurde meine Aufmerksamkeit auf das Haus gelenkt, das Nicole nun ansteuerte. Aber was hieß schon Haus. Es war eine Villa. Offensichtlich noch am Ende des vori-gen Jahrhunderts erbaut, stand das weiße Gebäude mitten zwi-schen alten Bäumen in einem parkähnlichen Garten. Mit Hilfe einer Fernsteuerung öffnete die Jurastudentin das Eisengitter der Zufahrt. Wie von Geisterhand bewegt schwangen die beiden Torflügel auf.

Ich pfiff durch die Zähne. Mir war bekannt, was für ein elegan-ter Vorort Weißer Hirsch war. Hier hatten beispielsweise der berühmte Wissenschaftler Manfred von Ardenne oder der

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Künstler Oskar Kokoschka gelebt. Man schien mir vom Gesicht ablesen zu können, was ich

dachte. »Wir sind keine Millionäre«, sagte Nicole, ohne daß ich sie dar-

auf angesprochen hätte. »Dieses Haus ist – oder war – seit fast hundert Jahren im Besitz unserer Familie. Zu DDR-Zeiten haben hier Funktionäre gehaust. Wir haben es dann erst nach der Wende wieder zurückbekommen und komplett renoviert.«

Langsam fuhren wir den Garagenweg hoch. Meine Blicke schweiften durch den Garten.

Plötzlich stieg die Brünette in die Eisen. »Was ist los?« raunte ich. Sie deutete mit einer Kopfbewegung

auf einen kleinen Pavillon, der zwischen Birken stand. Daneben hatte man einen Teich mit Seerosen angelegt.

»Da schleicht jemand herum. Jemand, der hier nichts zu suchen hat!« Ihr Gesicht war schreckensbleich.

»Du bleibst im Wagen!« bestimmte ich. Wenn es wieder Ärger mit übersinnlichen Mächten gab, wollte ich lieber selber die Knochen hinhalten. So leise wie möglich riß ich die Beifahrertür auf. Ich zog die SIG Sauer aus dem Gürtelhalfter und lief geduckt hinüber zu dem kleinen hölzernen Gartenhaus. Dabei achtete ich darauf, hinter Hecken und hohen Gebüschen zu blei-ben. Zum Glück war der Garten ziemlich üppig bepflanzt.

Ich checkte meinen Siegelring. Er zeigte keine dämonische Aktivität. Aber das mußte nichts bedeuten. Die Mächte des Bösen hatten oft genug Menschen als Helfer und Handlanger, die sich nicht zu schade waren, ihre Seele an den Teufel zu ver-kaufen. Die Passivität meines Rings gab mir noch lange keine Entwarnung.

Wer immer sich da am Pavillon zu schaffen machte, hatte mich noch nicht bemerkt. Das war mein Vorteil. Ich ging in die Knie und schob mich vorsichtig noch ein Stückchen näher heran. Ich

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wagte kaum zu atmen. Ich erblickte einen breiten Rücken in einer Lederjacke. Das war

meine Chance. Aus meiner Deckung federte ich hoch. Mit einem Satz war ich direkt hinter ihm. Die Mündung meiner SIG Sauer drückte ich ihm in die Nierengegend.

»Schön langsam die Arme ins Genick, Freundchen! Und dann umdrehen! Aber nicht zu plötzlich…!«

Der Mann richtete sich auf. Er war genauso groß wie ich. Und hatte einen Schnauzbart.

Es war mein bester Freund, der Hauptkommissar Peter »Pit« Langenbrach von der Kripo in Weimar!

Wir grinsten uns an. Ich kann nicht sagen, wer von uns beiden erstaunter war, den anderen zu sehen.

»Du hier?« riefen wir wie aus einem Mund. Ich ließ die Pistole sinken.

Im selben Moment wurde ich von hinten angesprungen!

*

Der Angreifer verstand sein Handwerk. Er verdrehte meinen rechten Arm so schmerzhaft, daß ich die SIG Sauer fallen ließ. Gleichzeitig nahm er mich in einen Würgegriff. Aber ich betreibe nicht umsonst seit Jahren verschiedene Kampfsporttechniken. Meistens im Polizeisportverein von Weimar, zusammen mit Pit Langenbrach. Der hier in Lebensgröße vor mir stand.

Deshalb wendete ich automatisch einige Techniken an, um den unbekannten Mann auf meinem Rücken loszuwerden. Ich stieß das Gesäß nach hinten und zog gleichzeitig das Kinn ein. Dadurch bewegte sich mein Adamsapfel nach innen, wodurch der Druck des Würgegriffs gelindert wurde. Als nächstes wollte ich mich mit einem Schulterwurf von dem Typ befreien, der wie eine Klette an mir hing.

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Doch mein Freund kam mir zuvor. »Es ist gut, Herr Wulf! Lassen Sie ihn los. Das ist Mark Hell-

mann, ein Freund von mir!« Sofort waren die Hände weg. Ein junger Mann trat hinter mir

hervor, schwer atmend und mißtrauisch blinzelnd. Er war viel-leicht vier oder fünf Jahre jünger und einen Kopf kleiner als ich. Sein kurzes, blondes Haar war seitengescheitelt. Er trug eine Brille, die meine flippige Freundin Struppy als »spießig« bezeichnet hätte. Seine Windjacke und seine biedere Freizeithose wiesen ihn als Modemuffel aus.

»Darf ich vorstellen«, sagte Pit Langenbach. »Mark Hellmann aus Weimar, Experte für Übersinnliches. – Und das ist Kom-missar Arno Wulf, ein Kollege von der Kripo Dresden.«

Wir schüttelten uns die Hände. Es war gegenseitiger Widerwil-len auf den ersten Blick.

»Komische Freunde haben Sie, Herr Hauptkommissar«, giftete Wulf. »Begrüßt man sich in Weimar mit der Waffe in der Hand? Haben Sie überhaupt einen Waffenschein, Sie Experte für Über-sinnliches?«

»Selbstverständlich«, erwiderte ich lammfromm und grub das gute Stück aus meinem Jackett. Während ich dem Bürokraten etwas zum Kontrollieren gab, wandte ich mich an Pit. »Was machst du hier, Alter? Erzähl mir nicht, du hättest einen Sprach-kurs für Sächsisch belegt.«

Wulf erdolchte mich mit seinen Blicken und studierte weiter meinen Waffenschein.

»Nein«, entgegnete Pit und zündete sich einen Zigarillo an. Seit Jahren will er es sich abgewöhnen, die Stinkbalken zu rauchen. »Der sächsische Innenminister hat höchstpersönlich seinen Kol-legen in Thüringen angerufen und mich für ein paar Tage ange-fordert. Amtshilfe nennt man das. Die brauchen hier einen Poli-zeibeamten, der schon mal gegen die Mächte der Hölle gekämpft

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hat.« »Mächte der Hölle!« murmelte der junge Kommissar höhnisch

und gab mir meinen Waffenschein zurück. Zu seinem größten Bedauern hatte er keine Unregelmäßigkeit finden können. »Der Verbrennungstod des Offiziers war ein ganz normaler Unfall. Und das werde ich auch beweisen!«

Ich horchte auf. »Ihr seid also auch an dem Fall Pascal von Ott-berg dran?«

»Klar«, bestätigte Pit. »Darum sehen wir uns auch hier im Gar-ten um. Bist du etwa auch deshalb hier? Hätte ich mir denken können…«

Pit Langenbach konnte nicht wissen, daß ich mich in Dresden befand. Ich war vor meinem Trip nicht dazu gekommen, mich von ihm zu verabschieden. Auch meiner Freundin Tessa hatte ich nur eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen. Die Fahnderin nahm gerade an einer tage – und nächtelangen Observation teil.

»Herr Hauptkommissar!« schnarrte Arno Wulf. »Ich denke nicht, daß polizeiliche Ermittlungen mit Nichtamtspersonen besprochen werden sollten. Und schon gar nicht mit selbster-nannten Dämonenjägern und ähnlichen Scharlatanen…«

»Herr Kommissar!« erwiderte Pit ungerührt und paffte eine blaue Rauchwolke in die Richtung des sächsischen Kollegen. »Mark Hellmann ist kein Scharlatan, sondern wurde schon mehrfach mit großem Erfolg als Gutachter von verschiedenen deutschen Polizeibehörden hinzugezogen. Er ist sozusagen ein freier Mitarbeiter der Ordnungskräfte. Das steht in den Akten. Lesen Sie sie. Das ist doch sowieso Ihre Lieblingsbeschäftigung!«

Nach diesem Rüffel zog sich Arno Wulf erst einmal einge-schnappt zurück. Wir hatten Luft für einen ungestörten Gedan-kenaustausch. Ich berichtete Pit von dem Angriff durch die Energiekugel im Hauptbahnhof. Er kratzte sich ratlos am Hinter-

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kopf. »Sieht so aus, als ob ein Fluch auf dieser Familie lasten würde.

Irgendeine dämonische Macht will mit den von Ottbergs abrech-nen. Aber wer? Und warum, Mark?«

»Horchen wir die Familie aus, Alter.« So nannte ich Pit ganz gerne mal, obwohl er nur unwesentlich älter war als ich selbst. Wir gingen zu dem Mini Cooper hinüber, wo ich Pit mit Nicole von Ottberg bekanntmachte. Arno Wulf trottete beleidigt hinter uns her. Er war meinem Freund als örtlicher Kripoverbindungs-mann zugewiesen worden. Wulf machte keinen Hehl daraus, daß er den Einsatz von Pit Langenbach für völlig überflüssig hielt. Ein Hauptkommissar, der gegen Geister und Dämonen kämpfte, war in seinen Augen sowieso verdächtig. Aber schließ-lich hatte der Herr Innenminister persönlich Pit Langenbach angefordert… Also hielt Wulf seine Zunge mühsam im Zaum.

In der Villa wurden wir von Nicoles Eltern erwartet. Sie begrüßten uns in einem geräumigen, konservativ eingerichteten Wohnzimmer. An den Wänden hingen außer Säbeln und Pisto-len verschiedene Ölgemälde. Die meisten stellten Männer in deutschen Uniformen aus verschiedenen geschichtlichen Epo-chen dar. Sächsische Königsgarde, Kaiserreich, Reichswehr.

Nicoles Vater Ludwig von Ottberg beäugte mich mißtrauisch. Er war ein bärbeißiger, schwerknochiger Mann mit Glatze. Hauptmann der Bundeswehr im Ruhestand. Wie wir später erfuhren, hatte sich die Familie schon vor dem Mauerbau in den Westen abgesetzt. Erst jetzt, nach der Wiedervereinigung, waren sie zurückgekehrt. Und hatten das geerbte Haus bezogen.

»Sie sind also dieser Geisterbändiger?« brummte der Ex-Offi-zier. Er sprach das Wort so abfällig aus, als ob er »Trickbetrüger« gesagt hätte. Der ältere Mann in der Bügelfaltenhose und der Strickjacke war etwas kleiner als ich. Mit seinem Händedruck hätte er einem Schwächeren als mir glatt die Finger zerquetscht.

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»Ich habe mich Ihnen nicht aufgedrängt«, erwiderte ich ruhig. »Aber ich möchte herausfinden, was mit Ihrem Sohn passiert ist!«

»Das ist Aufgabe der Polizei!« mischte sich Arno Wulf ein. Er hoffte wohl, in Ludwig von Ottberg einen Verbündeten gegen mich zu finden. »Die Dresdener Kriminalpolizei ist sehr wohl in der Lage, jeden unnatürlichen Todesfall aufzuklären, ohne daß… Mein Gott – Aaaaah…!«

Er schrie auf. Auch die. anderen Anwesenden fuhren erschreckt zusammen. Bis auf Pit und mich. Denn wir erkannten die Gestalt sofort, die sich plötzlich aus dem Nichts materiali-siert hatte.

Es war Nostradamus, der französische Seher aus dem 16. Jahr-hundert. Mein väterlicher Freund und Mentor aus einer anderen Dimension.

*

Der legendäre Wahrsager war ganz nach der Mode seiner Zeit gekleidet. Er trug einen weiten Gelehrtentalar, Gamaschen zu den Kniehosen und eine Samtkappe auf dem würdevollen Haupt. Über seine weiße Halskrause fiel ein spitz zulaufender, rotblonder Bart. Der Seher erschien in derselben Gestalt wie bei unserer ersten Begegnung. Als er mir gegen Mephisto und des-sen Spießgesellen beigestanden hatte.

Er war mitten im Raum erschienen, zwischen einem wuchtigen Ledersofa und einem nicht minder schweren Sessel. Er ließ sich wie selbstverständlich auf die Couch nieder, als ob er hier zu Hause wäre.

Nostradamus sprach in klarem Hochdeutsch des 20. Jahrhun-derts, als er nun das Wort ergriff.

»Nehmt Platz, ihr guten Leute. Und hört meine Warnung!«

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Aus Ludwig von Ottbergs Gesicht schien jeder Blutstropfen gewichen zu sein. Wenn er bis vor einer Sekunde nicht an über-sinnliche Wahrnehmungen geglaubt hatte, würde er seine Mei-nung nun gründlich überdenken müssen. Aber dazu waren viele Menschen einfach nicht in der Lage. Diese Erfahrung war bitter, aber ich mußte sie immer wieder machen.

»Was ist das für ein fauler Zauber?« brachte er hervor. Dann ließ er sich auf das Sofa fallen. Er konnte den Blick nicht von der Gestalt in der Tracht aus dem 16. Jahrhundert abwenden.

Ich bemerkte, daß Arno Wulf seinen ganzen Mut zusammen-nahm. Er löste ein Paar Handschellen von seinem Gürtel und kam langsam auf Nostradamus zu. »Sie sind verhaftet!« stieß der Kommissar hervor.

»Wegen Hausfriedensbruch! Und unerlaubtem Eindringen!« Er wollte den geheimnisvollen Propheten am Arm packen. Ent-

setzt mußte der Kripomann feststellen, daß seine Hand durch den Körper von Nostradamus hindurchgriff. Der Besucher war nur als Trugbild oder feinstoffliches Wesen vorhanden. Und doch sprach er zu uns.

Arno Wulf knickten die Beine weg. Er setzte sich ebenfalls. Aber mit seinem Hintern auf den Perserteppich. Nicole kicherte, was nicht so recht zu ihr passen wollte.

Ich kam nach diesen Störungen endlich zur Sache. »Wovor warnst du uns, Meister Nostradamus?« Er nahm Blickkontakt mit mir auf. Der Ausdruck in seinen

Augen war sehr ernst. »Die Schlange des Grauens erhebt erneut ihr Haupt, Markus. Weit aus dem Osten kommt das Unglück. Aus dem Reich des Großen Kaisers. Dem Schoß der Erde wurde entrissen, was im Felsengrab verborgen lag. Erst wenn das Grab geschlossen ist, wird die Bestie überwunden.«

Ich hatte kein Wort verstanden. Es war Nostradamus' Art, sich bildhaft und symbolisch auszudrücken. Aber wenn man seine

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Vorhersagen richtig auslegte, trafen sie mit fast schon unheimli-cher Präzision zu.

Eins stand fest: Er hatte mir einen wichtigen Hinweis gegeben, um das Rätsel des Drachen zu lösen. Ich mußte seinen Worten nur noch in Handlungen umsetzen.

»Eile, Markus!« mahnte mich der Seher, während seine Erscheinung blasser wurde und verschwamm. So wie ein Foto-abzug im Entwicklerbad. Bloß umgekehrt. »Die Schlange des Grauens wird stündlich stärker!

Die Sünde des Soldaten rächt sich!« Ich fühlte so etwas wie Trauer, als sich die Gestalt meines

väterlichen Freundes wieder dematerialisiert hatte. Gerne hätte ich noch länger mit ihm geredet. Aber ich wußte, daß er seine Reisen durch die Zeit nicht zum Spaßvergnügen machte. Er hatte eine Mission. Genau wie ich.

»Die Sünde des Soldaten…« wiederholte ich. Meine Worte hall-ten nach in dem betretenen Schweigen um mich herum. Nach einigen Minuten öffnete Nicoles Mutter den Mund.

»Die Sünde des Soldaten!« schnappte sie. »Mein Mann und mein Sohn sündigen nicht und haben nie gesündigt! Die sind das Pflichtbewußtsein in Person, Herr Hellmann. Ich weiß nicht, was das gerade für ein Geist war. Ich habe so etwas noch nie gesehen. Aber in diesem Haus wird nicht gesündigt! Dafür sorge ich schon!«

Unter anderen Umständen hätte ich über diesen Ausbruch der so ruhig wirkenden Frau gegrinst. Aber dafür war die Situation ernst. Wie ernst, zeigte sich einen Augenblick später.

Das Telefon klingelte. Ludwig von Ottberg ging an den Appa-rat, der auf einem Tischen neben dem Sofa stand.

»Ja. Was…? Ein Drache…?« In meinem Inneren schrillten alle Alarmglocken. Nicoles Vater

ließ den Hörer wie ein heißes Stück Eisen fallen. Von der impo-

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santen Gestalt des ehemaligen Offiziers war in diesem Moment nicht viel übriggeblieben.

»Das war mein Bruder Bernhard«, sagte er mit zitternder Stimme. »Er wird von einem fliegenden Drachen verfolgt und angegriffen!«

*

Pit und ich starteten durch. Zum Glück hatte ich meinen Einsatz-koffer bereits aus Nicoles Mini Cooper geholt. Deshalb hatte ich ihn nun bei mir, als wir uns in den Opel Omega warfen, der vor der Villa parkte. Für den Einsatz in Dresden hatten die sächsi-schen Kollegen dem Hauptkommissar diesen Dienstwagen zur Verfügung gestellt. Arno Wulf war bei der Familie zurückgeblie-ben. Pit hatte ihn angewiesen, auf die von Ottbergs aufzupassen. Im Kampf gegen den Lindwurm konnte er uns sowieso nicht helfen. Er hatte ja keine weißmagische Waffe. Und wenn doch, hätte er erst mal seinen eigenen Unglauben überwinden müssen. Aber das ist oft schwerer, als gegen einen Drachen zu kämpfen.

Pit setzte das Blaulicht mit dem Magnetfuß aufs Dach. Er trat das Gaspedal bis zum Bodenblech durch. Mit kreischenden Bremsen und verbranntem Gummi in den Kurven rasten wir los, um Bernhard von Ottberg zu retten.

Der Sechzigjährige hatte von einer Telefonzelle an der Brühi-schen Terrasse angerufen. Dorthin war er vor dem Drachen geflüchtet. Wir hofften nur, daß wir nicht zu spät kamen.

Auch ohne den ortskundigen Dresdener Kripomann fanden wir die Brühische Terrasse am Elbufer auf Anhieb. Die berühmte Flaniermeile der sächsischen Landeshauptstadt befindet sich auf dem Gebiet zwischen dem Schloß und der Bastion Venus. Dieses Gelände wurde von Kurfürst Friedrich August II. ab 1739 nach und nach seinem Premierminister Heinrich von Brühl geschenkt.

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Daher der Name. Viel mehr wußte ich auch nicht darüber. Außer, daß man hier an strahlenden Frühlings – und Sommerta-gen die hübschesten Dresdnerinnen treffen konnte…

Leider hatte ich im Moment andere Sorgen. Denn wir sahen den Drachen über der Elbe schweben! Er war riesig. Die dämonische Kreatur erinnerte mich an Dra-

chenbilder, wie man sie oft in chinesischen Restaurants findet. Aus meinem Geschichtsstudium erinnerte ich mich, daß in China Drachen als freundliche Wesen dargestellt werden, die Glück bringen.

Doch dieses fliegende Monstrum brachte gewiß kein Glück. Ich konnte seine bösartige Ausstrahlung selbst auf die recht große Entfernung spüren. Mein Siegelring schlug ebenfalls Alarm. Er glomm auf und erwärmte sich. Ein sicheres Zeichen dafür, daß Schwarzblüter in der Nähe am Werk waren.

Pit latschte auf die Bremse und riß gleichzeitig das Lenkrad herum. Der Opel Omega schleuderte, aber gleich darauf hatte Pit ihn wieder im Griff. Trotz der halsbrecherischen Fahrweise mei-nes Freundes blieb ich halbwegs gelassen. Pit war kein Mensch, der unnötige Risiken einging. Aber jetzt zählte jede Sekunde, um Bernhard von Ottberg zu Hilfe zu kommen. Außerdem hatte der Hauptkommissar beim Bundeskriminalamt in Wiesbaden schon mehrere Intensiv-Fahrtrainingseinheiten für brenzlige Situatio-nen mit Auszeichnung bestanden.

Darum geriet ich auch nicht aus der Fassung, als Pit den Dienstwagen auf den Bürgersteig lenkte und dann die monu-mentale Freitreppe hochfuhr, die vom Schloßplatz aus einund-vierzig Stufen hoch zur Brühischen Terrasse führt.

Ich kurbelte das Beifahrerfenster herunter, um den Drachen nicht aus den Augen zu lassen. Unsere Sirene gellte immer noch. Die Promenade war voll mit Menschen, die das Frühlingswetter genossen. Die meisten schienen die drohende Gefahr noch nicht

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erkannt zu haben. Wie sollten sie auch? Wahrscheinlich hielten sie den Drachen für eine Art Reklameballon. Viele Touristen fotografierten seine rot und grün schillernde Gestalt sogar.

Aber dann wurde alles anders. Denn nun griff das Untier an!

*

Der Drache stieß herab wie ein Raubvogel auf sein Opfer. Ich spürte die geballte Kraft des Bösen körperlich. Obwohl mich mein Ring beschützte. Was immer an höllischen Mächten hinter dem Lindwurm stand, mußte ungeheuer mächtig sein.

Nun überstürzten sich die Ereignisse. Ich dachte nicht mehr nach, sondern überließ mich ganz meinen Instinkten. Und die waren auf Abwehr und Schutz eingestellt.

Neben einer Telefonzelle stand ein älterer Mann, der Ludwig von Ottberg ähnlich sah. Man brauchte nicht viel Phantasie, um zu erkennen, daß das sein Bruder Bernhard sein mußte. Er war vor Entsetzen wie gelähmt. Machte keinen Versuch, wegzulau-fen. Es wäre wohl auch sinnlos gewesen. Der Drache kam so schnell näher, daß es keine Fluchtmöglichkeit gab.

Aber jetzt waren wir da! Pit machte eine Vollbremsung. Wir wurden in den Sitzen kräf-

tig durchgeschüttelt. Der Omega hatte kaum angehalten, als wir auch schon die Sicherheitsgurte lösten und die Türen aufstießen. Wir sprangen hinaus und ließen uns abrollen.

Die Spaziergänger auf der Terrasse hatten nun erkannt, was ihnen blühte. Spätestens, als der Drache seinen ersten Feueratem auf uns losließ. Wie ein riesiger Flammenwerfer war sein Maul. Nun verstand ich, warum Pascal von Ottberg bis zur Unkennt-lichkeit verbrannt war. Die Hitzewaffe des Flugdämonen hatte eine unglaubliche Kraft.

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Die Menschen stoben kreischend nach links und rechts davon. Zum Alten Landtag hin, zum Rietscheldenkmal oder hinunter zur Münzgasse. Das konnte mir nur recht sein. Je mehr Unbetei-ligte aus der Gefahrenzone kamen, desto besser.

Als die Flammen auf uns zuschossen, hatte ich einen wahren Panthersprung gemacht und Bernhard von Ottberg zur Seite gerissen. Das schwarzmagische Feuer verfehlte uns nur knapp. Obwohl wir nicht von der Glut getroffen wurden, nahm uns die Hitze den Atem. Wenn uns der Drache mit seinem Brandatem erwischte, waren wir erledigt.

Pit zog den Stecher seiner SIG durch. Der Hauptkommissar hatte die Waffe im Beidhandanschlag. Der Drache war so groß, daß mein Freund ihn unmöglich verfehlen konnte.

Und das tat er auch nicht. Die Silberkugel, ich hatte ihm ein Magazin mit den Spezialgeschossen überlassen, schlug in den schwarzmagischen Leib. Die Bestie zuckte überrascht. Aus ihren Nüstern drang dunkler Qualm. Aber sie brach den Angriff nicht ab!

Ich biß die Lippen zusammen. Stellte mich schützend vor den Sechzigjährigen, dem die Attacke galt. Auch ich richtete nun meine Waffe auf den Lindwurm. Er schlug eine Art Looping und peitschte mit seinem langen Schwanz. Die Telefonzelle neben uns wurde zerschmettert. Die Glasscherben flogen uns um die Ohren.

»Achtung, Pit!« brüllte ich. Aber das war überflüssig. Auch mein Freund hatte verstanden, daß der Drache erneut angreifen wollte. Wir machten uns bereit, ihn gebührend zu empfangen. Mit blieb gerade noch Zeit, um meinen Einsatzkoffer zu öffnen, den ich im Auto auf dem Schoß gehabt und danach nicht mehr aus der Hand gegeben hatte.

Meine Holzkreuze würden mir wohl nichts nützen. So wie die-ser Drache aussah, kam er aus einem nichtchristlichen Kultur-

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kreis. Auch das Weihwasser würde aus demselben Grund nichts bringen. Blieben die Patronen und der Dolch aus Silber. Dieses Edelmetall hat auch in asiatischen Traditionen eine weißmagi-sche Wirkung. Leider kannte ich keine Beschwörungsformel, mit der ich einen chinesischen Drachendämon bannen konnte.

Das Untier hatte mich sozusagen kalt erwischt. Ich war nicht vorbereitet. Mußte das Beste aus der Situation machen.

Pit und ich nahmen den Drachen ins Kreuzfeuer. Wir leerten die Magazine unserer SIGs in seinen riesigen schwarzmagischen Körper. Die Bestie röhrte auf und bewegte die Krallen. Um sie uns in die Leiber zu schlagen?

Der Drache wurde von den Silberkugeln nicht vernichtet! Ich ließ die Pistole fallen und richtete mich auf. Meine letzte

Hoffnung war der armenische Silberdolch mit den geheimnis-vollen Symbolen. Wenn diese Stichwaffe nichts brachte, waren wir verloren.

Mit meiner ganzen Kraft schleuderte ich den Silberdolch in das geöffnete Maul der Bestie.

Einen Wimpernschlag später war der angreifende Drache ver-schwunden, als hätte er nie existiert! Mein Dolch klirrte zu Boden, direkt neben der Balustrade.

Ich atmete langsam aus. Erst jetzt bemerkte ich, wie meine Ner-ven flatterten.

»Es ist vorbei«, murmelte Pit. Ich schüttelte den Kopf. »Es ist noch lange nicht vorbei, Alter.« Ich hatte eine üble Vorahnung. So, als ob das Entsetzen durch

den Drachen erst richtig beginnen würde. Oder durch die »Schlange des Grauens«, wie Nostradamus ihn genannt hatte…

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Die Unterirdischen waren gewarnt. In dieser Stadt namens Dres-

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den schien es einen Mann zu geben, der sich ihnen entgegenstel-len konnte: Mark Hellmann. Noch hatte er freilich nicht die rich-tigen Mittel gefunden, um wirklich eine Bedrohung für die Dämonen aus weiter Ferne darzustellen. Aber wenn noch etwas Zeit verging, würde er die Weisheit vielleicht erlangen. Das mußte verhindert werden.

Die körperlosen Wesen spürten, wie ihre Kraft wuchs. Die hun-dert Jahre Schlaf hatten sie gestärkt. Ihre Macht zeigte sich den Menschen in Form eines riesigen bösen Drachen. Im Reich der Mitte hatten sie mit dieser Erscheinung schon vor Jahrhunderten Grauen und Entsetzen verbreitet. Warum sollte das hier anders sein?

Der Drache der Dämonen hatte sich in die vierte Dimension gerettet, als die weißmagische Energie von Hellmanns Dolch auf ihn zuraste. Die Unterirdischen hofften, den blonden Mann dadurch in Sicherheit gewiegt zu haben. Denn sie würden zurückkehren. Für die endgültige Abrechnung…

*

Bernhard von Ottberg war ziemlich verstört. Das konnten wir ihm nicht verdenken. Pit und ich verfrachteten den zitternden Mann in den Omega und fuhren ihn dann nach Hause. Diesmal im normalen Tempo. Der Hauptkommissar gab unterwegs über Funk einen kurzen Lagebericht an das Polizeipräsidium. An der Brühischen Terrasse hatten wir die Katastrophe gerade noch ein-mal abwenden können. Außer dem Totalschaden an der Telefon-zelle gab es keine Verluste zu beklagen. Die Telekom hatte eigentlich schon genug Ärger mit Vandalismus. Doch feuerspei-ende Drachen waren wohl nur höchst selten die Täter…

Während Pit unseren Wagen Richtung Weißer Hirsch lenkte, lehnte ich mich über meinen Sitz zurück und unterhielt mich

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mit dem Sechzigjährigen, der beinahe der Bestie zum Opfer gefallen wäre. So wie sein Neffe Pascal.

Es stellte sich heraus, daß Bernhard von Ottberg der einzige Mann in seiner Familie war, der nicht die Armeelaufbahn einge-schlagen hatte. Ein angeborenes Augenleiden schloß ihn vom Wehrdienst aus. Der Sechzigjährige hatte den größten Teil seines Arbeitslebens als Buchhändler verbracht. Als seine Familie nach der Wende nach Dresden zurückgekehrt war, hatte er sich mit einem kleinen Laden in der Neustadt selbständig gemacht.

»Und da haben Sie Zeit, am hellichten Tag auf der Brühischen Terrasse einen Spaziergang zu machen?« fragte ich. Wir hatten uns ihm inzwischen vorgestellt.

Sein Gesicht verdüsterte sich. »Bestimmt nicht freiwillig, Herr Hellmann! Irgendein Hooligan hat letzte Nacht einen Brandsatz in meinen Laden geworfen. Was das Feuer nicht vernichtet hat, haben die Spritzen der Feuerwehr ruiniert. Zum Glück bin ich versichert. Sonst…«

Er hielt inne und schaute mich erschrocken an. Wahrscheinlich konnte er mir meine Gedanken an der Nasenspitze ablesen.

Dieser Rowdy war gewiß kein Mensch gewesen. Sondern die-selbe Bestie, die wir vor wenigen Minuten vertrieben hatten. Nicht vernichtet. Mein Instinkt als Kämpfer des Rings sagte mir, daß die schwarzmagische Existenz des Drachen noch nicht Ver-gangenheit war.

»Was könnte die Bestie von Ihnen wollen, Herr von Ottberg?« Der alte Buchhändler starrte mich durch seine dicken Bril-

lengläser an und zuckte dann hilflos mit den Schultern. Als wir in der Villa ankamen, hatte sich Bernhard von Ottberg

schon wieder halbwegs beruhigt. Doch als er seinem Bruder und dem Rest der Familie von seiner Rettung durch Pit und mich berichtete, konnte man das erlebte Grauen von seinen Gesichts-zügen wieder eindeutig ablesen.

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Die Augen des Ex-Offiziers ruhten auf mir. Daß mir sein Bru-der das Leben verdankte, hatte mir in seinen Augen offenbar einige Pluspunkte eingebracht. Das war mir egal. Von der gan-zen Sippschaft gefiel mir eigentlich nur Nicole…

Ich mußte das Rätsel um den Drachenfluch lösen! Nostrada-mus hatte mir den Schlüssel in die Hand gegeben. Ich brauchte nur noch das dazu passende Schloß zu finden.

Mutter Karin servierte Kaffee für alle. Pit, Bernhard, Ludwig, Nicole und ich saßen im Wohnzimmer. Auch Arno Wulf war anwesend, wenn man ihn auf den ersten Blick auch nicht bemerkte. Wie ein bockiges Kind hockte er mit verschränkten Armen auf einem Stuhl in einer Ecke. Von dem plötzlichen Auf-tauchen des Nostradamus schien er sich wieder erholt zu haben. Den Bericht von unserem Kampf gegen den Drachen hatte er mit einem Gesichtsausdruck verfolgt, als wäre er der einzige nor-male Mensch in einer Nervenheilanstalt. Nun, das war sein Pro-blem.

Ich hatte mir die Worte des berühmten französischen Prophe-ten aus dem 16. Jahrhundert genau eingeprägt. Satz für Satz nahm ich sie auseinander. Dabei bemühte ich mich redlich, mich von den attraktiven Beinen der Jurastudentin nicht allzusehr ablenken zu lassen.

»Die Schlange des Grauens erhebt erneut ihr Haupt«, zitierte ich Nostradamus. »Damit ist natürlich dieses Höllenvieh gemeint, dem wir ein paar Silberkugeln in den Pelz gebrannt haben.«

»Wenn auch ohne Wirkung«, warf der Hauptkommissar bitter ein. Auch er war inzwischen der Meinung, daß der Drache wie-der zurückkehren würde. Pit wußte, daß er sich auf mein Urteil verlassen konnte.

»Weit aus dem Osten kommt das Unglück«, fuhr ich fort. »Der Ferne Osten – damit könnte zum Beispiel China gemeint sein.

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Dafür spricht auch der nächste Satz: Aus dem Reich des Großen Kaisers. Der letzte chinesische Kaiser hat zwar schon am Anfang dieses Jahrhunderts abgedankt, aber…«

»China!« rief Nicole von Ottberg dazwischen und schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. »Das ist die Lösung!«

»Was für ein Unsinn!« zischte ihr Vater schlechtgelaunt. »Was haben wir mit China zu tun? Ich war vor sieben oder acht Jahren das letzte Mal in einem chinesischen Restaurant. Ich hasse Flüh-lingslollen!«

»Wir nicht, Papa. Aber was ist mit – Hjalmar?« Die Brünette zwinkerte ihren Vater triumphierend an.

»Wer ist das?« »Hjalmar von Ottberg war ein Vorfahre von uns, Mark. Der

Mann, der dieses Haus erbaut hat. Er war Oberleutnant im 3. Seebataillon der Kaiserlichen Marine, am Ende des 19. Jahrhun-derts. Er hat einen Teil seiner Dienstzeit in Tsingtau verbracht, in China.«

»In der damaligen deutschen Kolonie«, ergänzte ich. Pit sah mich verblüfft an. »Eine deutsche Kolonie in China? Da

muß ich wohl in der Penne gefehlt haben.« »Laß es dir von einem alten Geschichtsstudenten gesagt sein«,

brummte ich. Ich hatte wirklich mal ein Seminar über deutsche Kolonien im 19. Jahrhundert gemacht. Das Thema interessierte mich zwar nur mäßig. Aber in dem Kurs gab es eine Mitstuden-tin, deren Oberweite einem selbst die langweiligsten Referate versüßte. »Von 1897 bis 1914 hatte das Deutsche Reich eine kleine Niederlassung an der chinesischen Küste, in der Provinz Tsingtau. Offiziell gepachtet von der Regierung in Peking. Prak-tisch war Tsingtau ein kleiner deutscher Staat auf dem chinesi-schen Festland. Mit eigener Gerichtsbarkeit, eigenem Geld und selbstgebrautem Bier. Die Brauerei existiert noch heute.«

»Gut.« Pit leckte sich seinen imposanten Schnurrbart, als

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stünde ein frischgezapftes Pils direkt vor ihm. Damit schien das Thema für ihn erledigt zu sein. Aber ich hatte das Gefühl, der Lösung des Rätsels mit Riesenschritten näher zu kommen.

»Hjalmar von Ottberg war als Offizier der Schutztruppe in Tsingtau«, erzählte seine attraktive Nachfahrin Nicole. »1899 kehrte er nach Deutschland zurück. Hier in seiner Heimatstadt Dresden ließ er das Haus bauen, in dem wir uns befinden. Die meiste Zeit war er in Wilhelmshaven, bei seinem Regiment. Er starb 1914.«

Ich hob die Augenbrauen. »Gleich zu Beginn des 1. Weltkriegs gefallen?«

»Keine Spur«, erklärte Ludwig von Ottberg. Es schien ihm unangenehm zu sein, daß seine Tochter soviel über den Vorfah-ren berichtete. »Der alte Hjalmar krepierte an den Revolver-schüssen eines Kredithais, der vergeblich Rückstände bei ihm eintreiben wollte. Mein Ahnherr war ein Spieler und Hurenbock, Herr Hellmann. Während seine Kameraden an der Front ver-heizt wurden, gab er in einer Ganovenspelunke den Löffel ab. Sind Sie nun zufrieden?«

Sein kahler Kopf hatte sich vor Wut oder Beschämung gerötet. Mit leerem Blick ließ sich von Ottberg wieder in seinen Sessel zurückfallen.

»Ich plaudere nicht über Ihre Familiengeheimnisse«, sagte ich ruhig. »Mich interessiert nur, wie ich diesen Drachen zur Strecke bringen kann.«

Was hatte Nostradamus noch vorausgesagt? Dem Schoß der Erde wurde entrissen, was im Felsengrab verborgen lag. Erst wenn das Grab geschlossen ist, wird die Bestie überwunden.

Ein Grab unter der Erde… Angenommen, dieser Hjalmar von Ottberg hatte sich in China etwas unter den Nagel gerissen, was ihm nicht gehörte? Vielleicht in einer Gruft? Etwas, das rund hundert Jahre später den Fluch aktivierte? Dieser Diebstahl,

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wenn es ihn denn gegeben hatte konnte das die »Sünde des Sol-daten« sein, von der der Seher sprach?

»Gibt es exotische Erinnerungsstücke an Hjalmar?« fragte ich. Mit einer mürrischen Kopfbewegung deutete der Ex-Offizier

der Bundeswehr auf eines der Ölgemälde seiner Ahnengalerie. »Das da ist seine Verbrechervisage! Dieses Erinnerungsstück hat er anfertigen lassen.«

Nicole stand wortlos auf und verließ das Wohnzimmer. Sie wirkte allerdings nicht beleidigt, sondern schien nur dringend etwas erledigen zu wollen. Auch ich erhob mich, um den Porträ-tierten näher zu beäugen.

Ein stechender Blick schien auf dem Betrachter des Bildes zu ruhen. Fast erinnerten mich seine Augen an den Ritter mit dem bösen Blick, mit dem ich vor einiger Zeit Ärger gehabt hatte. Hjalmar von Ottberg trug die weiße Uniform eines Offiziers der Kaiserlichen Seesoldaten in den Tropen. Sein Schnurrbart war nach dem Vorbild von Wilhelm II. hochgezwirbelt. Eine Mode, die damals viele deutsche Männer mitmachten. Im Hintergrund sah man eine Bucht, in der einige altertümliche Kriegsschiffe unter Dampf lagen. Und eine Stadt mit teilweise deutscher Architektur, aber auch mit buddhistischen Tempeln und den typisch asiatisch geschwungenen Giebeln. Zweifellos Tsingtau.

Obwohl sich mein Siegelring ruhig verhielt, spürte ich die böse Ausstrahlung dieses Bildes. Dem Porträtierten traute ich einiges an Untaten zu, von denen ein Diebstahl noch die harmloseste war.

In diesem Moment öffnete sich wieder die Wohnzimmertür. Die Jurastudentin hatte sie mit dem Ellenbogen aufgedrückt. Denn sie hielt eine kleine Kiste in beiden Händen, die ziemlich schwer zu sein schien.

»Weißt du noch, Papa?« keuchte sie. »Vor Jahren hast du mich mal dazu verdonnert, den Speicher aufzuräumen. Da habe ich

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diesen Kasten entdeckt. Wollte ihn immer schon mal untersu-chen. Aber dann habe ich es wieder vergessen. Jetzt fiel es mir wieder ein.«

Sie setzte die hölzerne Truhe ab. Ein verblichener Aufdruck war zu erkennen: »Kaiserlich Deutscher Reichspostdampfer-Dienst«. Und die Jahreszahl 1899.

»Exakt vor hundert Jahren«, murmelte Pit. Die Holzkiste war nur mit einem kleinen Vorhängeschloß gesichert. Gespannt öff-nete ich meinen Einsatzkoffer und nahm den armenischen Sil-berdolch zur Hand. Schob seine Klinge unter das Schloß und knackte es damit.

Nicole hielt den Atem an. Sie öffnete den Deckel. Die Kiste ent-hielt offenbar Erinnerungen an die Chinazeit des Hjalmar von Ottberg. Banknoten der damaligen Währung von Tsingtau. Eine längst vergilbte Zeitung, die »Kiautschou-Post«. Gelackte Eßstäbchen, wie man sie in jedem Chinarestaurant erhält. Und eine kleine Statuette.

Ich erstarrte. Das Kunstwerk stellte einen Drachen dar. Er sah genauso aus wie sein riesenhaftes Gegenstück, das wir vor kur-zem vertrieben hatten.

Ich hielt immer noch meinen Silberdolch in der rechten Hand. Das rettete mir vermutlich das Leben. Denn kaum stand der Deckel offen, wurde der kleine Drache lebendig.

Und sprang mir ins Gesicht!

*

Irgend etwas mußte dieser Bronzekreatur dämonisches Leben eingeflößt haben. Obwohl ich eigentlich reaktionsschnell bin, traf sie mich mit voller Wucht. Ihre Krallen gruben sich in meine Gesichtshaut. Der Aufprall war so heftig, daß ich rückwärts zu Boden knallte. Mein Hinterkopf schlug auf den Fußboden, der

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zum Glück mit einem dicken Perserteppich bedeckt war. Ein ekelhaft schrilles Kreischen drang aus der Kehle des

Untiers. Wenigstens schien es nicht Feuer speien zu können wie sein enormes Ebenbild. Doch das war nur ein geringer Trost. Das Blut floß mir am Hals hinunter. Wenn ich die Bestie nicht schleunigst wieder loswurde, würde ich es ab sofort an Häßlich-keit mit meinem Erzfeind Dracomar aufnehmen können. Seit ich sein Gesicht mit Weihwasser verätzt hatte, konnte er jeden Wett-bewerb als widerwärtigster Dämon der Hölle problemlos gewin-nen.

Pit Langenbach packte zu. Er wollte den Mini-Drachen von mir herunterreißen. Aber als seine Hände den schwarzmagischen Leib berührten, fuhr der Hauptkommissar mit einem unter-drückten Schmerzlaut zurück. Mein Ring glomm wild auf, als ich meine linke Hand zwischen mein Gesicht und die rasiermes-serscharfen Krallen der Bestie zu schieben versuchte. Es tat wahnsinnig weh. Ich hatte das Gefühl, der Drache würde mir die Nase abreißen. Vielleicht tat er das auch. Ich war durch mein eigenes Blut halb blind.

Endlich schaffte ich es, mit der rechten Hand und dem Silber-dolch hochzukommen. Als ich rückwärts gefallen war, hatte ich meine Stichwaffe zwischen meinem Körper und dem Fußboden eingeklemmt. Die Entsetzensschreie von Nicole und ihrer Mutter Karin gellten in meinen Ohren. Der Anblick, wie mir die Bestie das Fleisch vom Gesicht riß, mußte furchtbar sein.

Meine Stichwaffe war meine einzige Hoffnung. Ich packte den Griff so fest wie möglich. Und jagte die Klinge mit meiner gan-zen Kraft in den schwarzmagischen Körper der Drachenstatue. Das Gekreische der Bestie wurde noch schriller. Aber die Krallen schienen sich um eine Winzigkeit zu lockern. Das gab mir Hoff-nung. Ich biß die Zähne zusammen und stach weiter zu.

Es sprach für die weißmagische Energie der armenischen

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Waffe, daß sie in eine Masse aus Bronze dringen konnte. Das wäre unter normalen Umständen nicht möglich gewesen. Aber was war schon normal an diesem Fall?

Durch meinen vom Blut verschleierten Blick bemerkte ich, wie eine hell strahlende Aura meine Hand mit dem Dolch umgab. Der Angreifer ließ mich nun endgültig los. Er schien sich zurückziehen zu wollen.

Ich ließ nicht locker. Immer und immer wieder stach ich zu. Mit jedem Einschnitt in den schwarzmagischen Leib schienen dessen Kräfte zu erlahmen. Schließlich verstummte die Höllen-brut.

Keuchend vor Anstrengung beobachtete ich, wie sich die Statu-ette auflöste. Es war, als ob sie plötzlich in einen Schmelzofen geworfen worden wäre. Nur noch eine unförmige Masse aus Bronze zeugte von dem Schrecken, der uns gerade widerfahren war.

Und wahrscheinlich der Anblick meines Gesichts. Nicole schlug jedenfalls die Hände vor die Augen, als sie ihren

Blick auf mich richtete. Und alle anderen Anwesenden betrach-teten mich mit einem Ausdruck, der irgendwo zwischen Mitleid und Abscheu schwankte. Alle. Bis auf Pit Langenbrach.

Er war mein Freund. Außerdem hatten wir zusammen schon ganz andere Situationen durchgestanden. Und waren von Ver-letzungen genesen. Ich hatte den Hauptkommissar erst vor kur-zem praktisch vom Totenbett zurückgeholt.

Ich grinste, obwohl mir nicht danach zumute war. »Für die Wahl des Mr. Universum kann ich mich wohl gerade nicht bewerben, was?«

Pit ging auf meinen flapsigen Ton ein. Auch er wollte das Grauen überspielen, das gerade auf uns eingedrungen war. »Wenn ich dich so bei Tessa abliefere, kratzt sie mir die Augen aus.« Er reichte mir einen Taschenspiegel.

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Ich hielt ihn mir vor das Gesicht. Oder sollte ich sagen: Vor die Ruine, die einmal ein menschliches Gesicht gewesen war?

*

Die Schmerzen waren nicht so stark, wie sie eigentlich hätten sein müssen. Das lag an dem Adrenalin, das in meinem Inneren noch kräftig zirkulierte. Trotzdem, bald würden die Reserven meines Körpers aufgebraucht sein. Der Zusammenbruch mußte unweigerlich folgen. Soweit wollte ich es allerdings nicht kom-men lassen.

Die Heilung meines völlig zerfleischten und zerfetzten Gesichts hätte ein ganzes Team von plastischen Chirurgen gefor-dert. Doch so lange konnte und wollte ich nicht warten. Ich hatte ja ein besseres Mittel zur Hand.

Die schwarzmagische Energie der Drachenstatue hatte sich noch nicht ganz verflüchtigt. Es war daher kein Problem, meinen Siegelring zu aktivieren. Ich drückte das aufglimmende und sich erwärmende Kleinod an das fünfmarkstückgroße Mal auf mei-ner linken Brustseite. Sofort entsprang ein leuchtender blauer Strahl, einem Laser ähnlich, aus dem Ring.

Die Familie von Ottberg und Kommissar Arno Wulf starrten mich an wie ein seltsames Wundertier. Aber Pit blieb cool. Er hatte schon oft genug gesehen, wie ich die Kräfte des Schmuck-stücks freisetzte.

Ich benutzte den Lichtstrahl, um das keltische Wort für »Hei-lung« aus dem altgermanischen Futhark-Alphabet auf mein eigenes Gesicht zu schreiben. Das war nicht ganz einfach, denn ich mußte ja in Spiegelschrift schreiben.

Im Kampf gegen die Ghuls von Ostberlin hatte mir diese weiß-magische Beschwörung meinen Arm gerettet. Und es funktio-nierte auch diesmal.

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Ich spürte, wie die Kraft des Guten den dämonischen Zauber wieder aufhob, der für meine Wunden verantwortlich war. Ein warmes, angenehmes Gefühl legte sich auf mein Gesicht. Es war fast wie auf der Sonnenbank. Ich schloß die Augen und überließ dem Ring mit seinen unerklärlichen Kräften die Arbeit.

Nach einigen Minuten waren die Schmerzen bis auf ein leichtes Ziehen weg. Das Kleinod hörte auf zu strahlen. Ich strich mir mit der rechten Hand prüfend über die Wangen und die Nase. Sie war völlig zerfleischt gewesen. Aber nun war sie gerade wie immer. Die Wunden hatten sich geschlossen. Ich warf noch einen kurzen Kontrollblick in den Spiegel. Aber im Grunde war das nicht mehr nötig. Ich kannte inzwischen die Fähigkeiten meines Rings. Wenn ich auch das Gefühl hatte, daß er noch viel mehr konnte, als ich bisher ausprobiert hatte…

»Wenn ich das nicht meinen eigenen Augen gesehen hätte – ich würde es nicht glauben«, sagte Ludwig von Ottberg. Er kam an diesem Tag nicht aus dem Staunen heraus. Die anderen Anwe-senden wohl auch nicht. Nur Arno Wulf zeigte sich nach wie vor verstockt.

Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Da meldete sich sein Handy. Der Kripobeamte nahm das Gespräch entgegen. Wäh-rend er sich anhörte, was am anderen Ende gesprochen wurde, ging er zur Wohnzimmertür und machte sie von außen zu. Ich konnte nicht behaupten, daß ich ihn vermißte.

Nicole kam zu mir und legte ihre Hand auf meinen Arm. »Das ist ein Wunder, Mark! Du warst so schwer verletzt…«

»Ja, es ist wundervoller Ring, ein Ring voller Wunder.« Ich grinste. »Wir waren gerade dabei, die Kiste zu durchsuchen.«

Nun paßten wir natürlich höllisch auf, während wir die Gegen-stände aus der Truhe auf dem Teppich aufreihten. Aber es war nichts weiter dabei, was schwarzmagisch aufgeladen war. Das zuverlässige »Frühwarnsystem« meines Rings rührte sich jeden-

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falls nicht. Ganz unten, auf dem Boden der Truhe, lag ein etwas dickeres

Heft mit blauem Einband. Nicole schlug es auf. Ihre Augen-brauen hoben sich.

»Das ist wohl das Tagebuch von Hjalmar!« Ich linste ihr über die Schulter. Nicole begann zu lesen. Nach

einigen Minuten wurde sie knallrot. Ich griente. »Was ist los?« fragte Pit. »Dieser Kaiserliche Offizier muß einen ungeheuren Frauenver-

schleiß gehabt haben. Er läßt sich hier lang und breit über seine Bettgeschichten aus und über die Besuche in den Bordellen von Tsingtau. War wohl ein ganz potenter Knochen!«

»Da kenne ich auch einen…«, brummte der Hauptkommissar und schaute mich vielsagend an.

Genervt blätterte die Jurastudentin weiter. Plötzlich fuhr sie auf. »Moment mal! Hier geht es plötzlich um eine unterirdische Grotte!«

Ich war alarmiert. Neigte mich noch näher zu Nicole hin, bis sich unsere Köpfe fast berührten.

»Lesen Sie doch bitte vor!« drängte Pit Langenbach. Das tat sie. »Welche teuflischen Mächte gönnen mir meinen

Reichtum nicht?« hatte Hjalmar von Ottberg geschrieben. »Ich weiß genau, wo sich der zweite Ausgang der Goldhöhle befun-den hat. Durch ihn habe ich die Stätte des Drachen ja verlassen, nachdem ich mir Z. vom Hals geschafft hatte. Doch heute wollte ich zurückkehren, um mir mehr von meinem Vermögen zu holen. Aber der zweite Ausgang ist verschwunden, als wäre er nie dagewesen. Auch den ersten, wo uns die Boxer hineingejagt haben, scheint es nie gegeben zu haben. Verfluchtes Pech! Mit all dem Gold hätte ich der reichste Mann von ganz Dresden werden können. So wird es wohl nur für das Gröbste reichen…«

»Was für Boxer?« fragte der Kripohauptkommissar.

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»So wurde eine chinesische Geheimgesellschaft genannt«, erin-nerte ich mich an mein Tsingtau-Seminar. »Sie wollten die frem-den Kolonialmächte aus ihrem Land vertreiben.«

Aber das interessierte jetzt nicht. Viel wichtiger war: Hjalmar von Ottberg gab hier mit seinen eigenen Worten zu, daß er in einer »Goldhöhle« wertvolle Dinge zusammengerafft hatte. Bei dieser Gelegenheit hatte er sich auch einen gewissen ›Z.‹ vom Hals geschafft – vermutlich ermordet.

Ich stand auf und wandte mich an die gesamte Familie von Ottberg.

»Wir sehen nun klarer, denke ich. Ihr Vorfahr Hjalmar von Ott-berg hat 1899 in Tsingtau einen Fluch auf sich geladen, indem er Wertsachen aus einer Grotte entwendet hat. Warum erst heute, genau hundert Jahre später, dieser Fluch erfüllt wird, kann ich noch nicht sagen. Aber der Zorn des Drachen richtet sich nur gegen Mitglieder der Familie von Ottberg. Und gegen mich, weil ich Ihnen helfe. Aber der eigentliche Fluch betrifft nur die von Ottbergs. Und daher…«

»Blödsinn!« Dieser Einwurf war von Arno Wulf gekommen. Der Kom-

missar hatte sein Telefonat beendet. Er hatte das Wohnzimmer wieder betreten und drückte die Tür hinter sich zu. Ein siegessi-cheres Grinsen erschien auf seinem Gesicht.

Pit Langenbachs Augenbrauen zogen sich zusammen. »Wie meinen Sie das, Wulf?«

»Wie ich es sage, Herr Hauptkommissar«, höhnte der Unterge-bene. »Ich habe gerade eine Nachricht von den Kollegen bekom-men. Es gibt einen zweiten Toten. Er ist nach ersten Erkenntnis-sen genauso verbrannt wie Pascal von Ottberg.« Der kleine Kri-pomann machte eine Kunstpause, um seinen Triumph auszu-kosten. »Aber dieses Opfer ist kein von Ottberg, sondern der polizeibekannte Robert Bobby Dombrowski! Ein Subjekt, mehr-

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fach vorbestraft wegen Schlägereien und Zuhälterei. Was sagen Sie dazu, Herr Hauptkommissar und Geisterseher?«

*

Ich bemerkte, wie Ludwig von Ottberg kreidebleich wurde. Aber ich war wohl der einzige, dem das in diesem Moment auf-fiel. Daß es einen zweiten Toten gegeben hatte, war schlimm genug. Das war für mich Grund genug dafür, diesen Drachen so schnell wie möglich zu erledigen. Bevor es noch mehr Terror und Vernichtung gab.

Aber wie? Ich hatte keine Waffe, die mächtig genug war. Mit dem armeni-

schen Silberdolch hatte ich das riesige Monstrum nur zeitweise vertreiben können. Okay, die Stichwaffe hatte ausgereicht, um die kleine Drachenstatue aus der Truhe zu zerstören. Ihre schwarzmagische Energie war vergleichsweise schwach gewe-sen. Obwohl es mir völlig gereicht hatte. Man konnte auch nicht wissen, ob die geheimnisvolle Macht hinter dem Drachen noch einmal auf die Idee kam, glühende Energiekugeln wie im Dres-dener Hauptbahnhof herumfliegen zu lassen. Ausschließen konnte man auch das nicht.

Was hatte Nostradamus noch gesagt? Erst wenn das Felsen-grab geschlossen ist, wird die Bestie überwunden. Aber dieses Grab oder diese Grotte lag irgendwo in China, in der Provinz Shantung. Wie sollte ich die genaue Lage herausfinden?

Allein schaffte ich das nicht. Ich brauchte Hilfe. Und ich wußte auch, wo ich sie bekommen konnte.

Ich entschuldigte mich bei den von Ottbergs und zog mich in die Bibliothek neben dem Wohnzimmer zurück, um in Ruhe telefonieren zu können. Ich rief in meinem Handy die Kurzwahl-nummer meiner Eltern auf. Mein Vater meldete sich. Er hörte

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schon an meiner Stimme, daß es Probleme gab. »Was ist los, Mark?« Ulrich Hellmann ist ein rüstiger Pensionär mit vollem Haar

und Schnauzbart. Früher arbeitete er bei der Kripo und war der direkte Vorgesetzte von Pit Langenbach. Seit er nicht mehr im Staatsdienst ist, hat Ulrich nach und nach ein beeindruckendes Archiv aufgebaut, in dem er Informationen über magische Phä-nomene und Okkultes sammelt. Mehr noch: Er pflegt per Inter-net Kontakte zu ernsthaften Okkultisten in aller Welt.

Mit ihnen haben wir ein antidämonisches Netzwerk gegründet, das sich schlicht »die Liga« nennt. Ich hoffte, von diesem Zusam-menschluß nun in meinem Kampf gegen den Drachenfluch zu profitieren.

Mit einigen knappen Sätzen machte, ich meinen Vater mit der Lage vertraut.

»China…«, wiederholte der ehemalige Kripobeamte. »Da könnten wir Glück haben, Mark. Ich habe vor kurzem einen chi-nesischen Wissenschaftler kontaktiert, der die Geistermythen seiner Heimat erforscht.«

»Ein Geisterforscher im kommunistischen China?« fragte ich ungläubig. Aber ich hörte, wie mein Vater in seinem Reihenhaus in Weimar lachte.

»Die Zeiten haben sich geändert, Mark. Die Kommunisten in Peking haben keine Probleme damit, die Kapitalisten in Hong-kong zu dulden, solange sie da mitverdienen. Eine Hand wäscht die andere, nicht wahr? Aber zurück zu deinem Problem. Ich werde Dr. Zaifeng sofort eine e-mail schicken. Mit etwas Glück habe ich in einer Stunde eine Antwort. Der Mann scheint nie zu schlafen.«

»Dr. Zaifeng – ist das dein Kontaktmann, Vater?« »Ja, Dr. Zaifeng von der Universität Peking. Er hat einen Lehr-

stuhl für paranormale Erscheinungen in Vergangenheit und

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Gegenwart.« »Mach es bitte dringend, Vater. Ich habe das Gefühl, über Dres-

den braut sich ein furchtbares Unglück zusammen…« Damit sollte ich recht behalten.

*

Pit Langenbach und Arno Wulf fuhren in dem Opel Omega zu dem Gewerbegebiet, wo man die Leiche von Bobby Dombrow-ski gefunden hatte. »Eine Hochburg des horizontalen Gewerbes in Dresden«, informierte der Kommissar den Ranghöheren aus Weimar mit öliger Stimme. »Dort empfangen die Prostituierten ihre Freier in Wohnmobilen. Wir zeigen dort Präsenz, haben das Gebiet in unserem Streifenplan besonders berücksichtigt. Verzei-hen Sie, wenn ich Sie langweile. Aber Zombies oder Geister haben sich dort noch keinen runterho… ähem, ich meine…«

»Wir verstehen schon.« Der Hauptkommissar ließ den Spott des jüngeren Mannes an sich abprallen. Er zündete sich unge-rührt einen Zigarillo an und hüllte sich in Rauchwolken und in Schweigen.

In einem Punkt hatte dieser dämliche Wulf recht. Wie konnte man von einem Familienfluch reden, wenn der Drache plötzlich einen wildfremden Kleinkriminellen getötet hatte?

Pit lief ein eiskalter Schauer über den Rücken. Was, wenn der fliegende Dämon einfach wahllos Menschen tötet? Wie kann man dann die Öffentlichkeit vor ihm schützen? Nicht auszuden-ken!

Als die beiden Beamten am Tatort eintrafen, war die Spurensi-cherung bereits an der Arbeit. Die verkohlten Reste von Dom-browski waren ins Gerichtsmedizinische Institut geschafft wor-den. Einige uniformierte Polizisten hatten alle Hände voll damit zu tun, die aufgebrachten Zuhälter und Liebesdienerinnen

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zurückzuhalten. »Ihr verdammten Bullen müßt uns beistehen!« kreischte eine

Frau mit enormer Oberweite und weißblonder Perücke. »Das verdammte Vieh hatte ein Maul, das war sooooo groß!«

Sie streckte beide Arme aus, um die Größe des Drachenmauls zu zeigen. Pit hatte den Ruf gehört. Er trat auf die Prostituierte zu und zeigte seine Marke.

»Hauptkommissar Langenbach, Kripo. Sie können das Tier beschreiben, das Herrn Dombrowski getötet hat?«

Die Weißblonde wollte etwas sagen, da wurde sie von einem Zuhälter brutal zur Seite gestoßen. Der Lude war genauso groß wie Pit. Er hatte die gebrochene Nase und die Blumenkohlohren eines Faustkämpfers, der schon viele Niederlagen hatte einste-cken müssen. »Hau ab! Du hast deinen Mund nicht zum Quat-schen, sondern anschaffen. Kapiert?«

»Lassen Sie die Frau sprechen«, sagte Pit so ruhig wie möglich. »Sonst kriegen Sie Ärger!«

»Ärger?« dehnte Boxernase. »Vielleicht mit dir, du Würstchen?«

Er wollte Pit mit der flachen Hand vor die Brust stoßen. Mein Freund war kein Mann, der sich leicht provozieren ließ. Aber hier durfte er nicht klein beigeben. Sonst würde sich die Zeugin einschüchtern lassen und nie eine Aussage machen.

Pit Langenbach knickte leicht in den Knien ein und bog den Oberkörper zur Seite. Noch bevor ihn die Hand erreicht hatte, drehte er sich. Dabei blieb sein linkes Bein dort stehen, wo er sich eben noch befunden hatte. Der Zuhälter wurde durch sei-nen eigenen Schwung nach vorne gerissen und stolperte über Pits Fuß.

Er strauchelte und wäre beinahe hingefallen. Die Umstehenden lachten. Das stachelte ihn nur noch mehr an. Mit geballten Fäus-ten ging er auf den Hauptkommissar los. Als Polizist kennt Pit

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alle miesen Tricks, mit denen solche Schlägertypen einen Kampf für sich entscheiden wollen.

Er machte kurzen Prozeß. Die rechte Faust des Luden raste auf sein Kinn zu. Pit lenkte sie blitzschnell mit der flachen Linken ab. Dadurch brach die ohnehin unzureichende Deckung von Boxernase auf. Pit feuerte dann seine eigene rechte Faust auf kürzeste Distanz gegen die Kinnspitze des Zuhälters.

Der reaktionsschnelle Gegenangriff hatte den Mann aus dem Konzept gebracht. Er versuchte es nun mit einem miesen Trick. Wie eine Kralle kam seine rechte Hand von unten her hochge-schossen, um die Hoden des Polizisten zu quetschen.

Pit hatte mit so etwas schon gerechnet. Er drehte seinen Unter-leib und riß das linke Bein auf Bauchhöhe, um damit abzublo-cken. Gleichzeitig stieß er beide Fäuste vor wie eine Dampf-ramme.

Es riß den Luden förmlich von den Beinen. Seine Kollegen sahen nicht so aus, als ob sie Lust hätten, ihm nachzueifern und ebenfalls k.o. zu gehen. Mürrisch murmelnd verdrückten sie sich jenseits des Polizeikordons.

Pit geleitete die Weißblonde zu dem Opel Omega. Er wollte gerade ihre Aussage aufnehmen, als sein Handy

zirpte. »Langenbach!« »Hier ist Mark, Alter. Es wäre gut, wenn du so schnell wie

möglich in die Ottberg-Villa zurückkommen könntest…« »Schwierig. Ich habe hier eine Zeugin, die den Drachen gese-

hen hat. Die Familienfluch-Theorie können wir ja nun wohl ver-gessen, Mark. Deshalb müssen wir…«

»Falsch, Pit. Die Familienfluch-Theorie stimmt. Das Opfer war doch dieser Zuhälter Bobby Dombrowski, oder?«

»Ja, aber wieso…?« »Warte doch ab. Der alte Ludwig von Ottberg hat bei mir sozu-

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sagen gebeichtet. Dombrowski ist sein unehelicher Sohn gewe-sen! Also zum Mitschreiben: Das Opfer war mit einem von Ott-berg direkt verwandt!«

»Das ist ja ein Ding!« Pit zündete sich schon wieder einen Ziga-rillo an. Er lehnte sich gegen die Kühlerhaube des Dienstwagens und ließ seinen Blick gedankenverloren über die aufgereihten Wohnmobile schweifen.

»Außerdem mußt du auswärts was für mich erledigen«, hörte er nun wieder die Stimme von Mark Hellmann sagen. »Ich selbst kann hier aus Dresden nicht weg. Aber du mußt dafür sorgen, daß wir diesen Drachenfluch endlich beenden.«

»Und wo soll ich was für dich erledigen?« fragte Pit. »In China.«

*

»Ich glaube, du spinnst!« polterte Pit, als er das Wohnzimmer der von Ottbergs wieder betrat. Arno Wulf folgte ihm dicht. Sei-nem Gesichtsausdruck war zu entnehmen, daß er diesen Satz meines Freundes für den ersten vernünftigen hielt, den er wäh-rend ihrer Bekanntschaft von sich gegeben hatte. Aber ich ließ mich nicht beirren.

Ich saß auf dem Sofa und trank Kaffee. Während Pit am Tatort gewesen war, hatte ich ebenfalls mit Hochdruck gearbeitet. Auch wenn man es mir in diesem Moment nicht anmerkte.

»Ich spinne durchaus nicht, Pit. Hier, das ist für dich. Wurde soeben von einem Motorradboten gebracht.« Ich schob einen länglichen Umschlag zu ihm hinüber.

»Was ist das?« »Dein Rückflugticket nach Peking, Alter. Vom Dresdener Flug-

hafen Klotzsche nach Berlin-Schönefeld. Von dort nach Peking. Das ist natürlich noch nicht die Endsta-

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tion. Es geht weiter nach Tsingtau. In Peking wird sich dir ein gewisser Dr. Zaifeng anschließen. Aber jetzt beeil dich. Dein Flieger geht in zwanzig Minuten!«

Der imposante Schnurrbart meines Freundes sträubte sich. »Ich habe ja noch nicht mal meinen Reisepaß dabei…«

»Die Chinesen lassen dich trotzdem einreisen. Dr. Zaifeng hat erstklassige Verbindungen…«

»Ich kann als Beamter nicht einfach während der Arbeitszeit um die Welt reisen…«

»Der sächsische Innenminister wünscht dir einen guten Flug, auch im Namen seines thüringischen Kollegen. Ich habe gerade mit ihm telefoniert.«

»Du hast was?« Pit war einiges von mir gewohnt. Aber er spürte wohl, daß ich. ihn nicht auf den Arm nahm.

»Ich habe ihm erklärt, daß ein deutscher Beamter – also du – nach Tsingtau reisen muß, um eine Katastrophe von Dresden abzuwenden. Nun beeil dich schon, Mann! Die Zeit läuft!«

»Was wird Susanne sagen, wenn ich einfach nach Peking fliege?«

»Du kommst ja wieder. Außerdem kannst du deiner Frau einen Seidenschal aus China mitbringen.«

»Außerdem habe ich kein Gepäck…« »Mann, sei doch nicht so unflexibel! China ist ein zivilisiertes

Land. Dort kann man überall Zahnbürsten und Unterhosen kau-fen. Ich will Dresden vor dem Drachen retten, und du denkst nur an deine dreckigen Socken!«

Zögernd steckte Pit das Ticket ein. Ich kannte ihn. Wenn man diesen Dickschädel erst mal überzeugt hatte, dann war auf ihn Verlaß.

»Verrätst du mir auch noch, warum ich überhaupt nach China reisen soll?«

»Sicher, Pit. Dr. Zaifeng ist ein Experte für Geister und Dämo-

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nen. Vater kennt ihn. Mit seiner Hilfe wirst du das Felsengrab finden, von dem in Nostradamus' Prophezeiung die Rede war. Ihr schließt das Grab, und die Bestie wird überwunden. Ich halte hier die Stellung und versuche währenddessen, die Aufmerk-samkeit des Drachen auf mich zu lenken.«

*

Die Unterirdischen haßten diesen Mann, der Mark Hellmann hieß. Sie spürten deutlich die Gefahr, die von ihm ausging. Er bedrohte ihre schwarzmagische Existenz. Er hatte es sogar schon geschafft, einen Teil ihrer Energie zu vernichten. Wenn auch einen sehr kleinen.

Die Drachenstatue in der Truhe des Soldaten stammte natür-lich aus der Grotte der Unterirdischen. Die alte Kraft war immer noch in dem Kunstwerk gewesen.

Der große Drache hatte sich in die vierte Dimension abgesetzt, wo er für Menschen unsichtbar war. Aber das mächtige Unge-heuer schwebte immer noch über Dresden. Seine schwarze »Seele« bestand aus der Energie der körperlosen Unterirdischen.

Sie würden diesen Mark Hellmann in eine Falle locken. Ihren fliegenden Kraftkugeln war er offenbar gewachsen. Aber es gab noch andere Mittel. Doch bis es soweit war, konzentrierte der Drache seine schwarzmagischen Fähigkeiten. Der fliegende Dämon würde Hellmann noch ein wenig zappeln lassen.

Und dann erbarmungslos zuschlagen…

*

Karin von Ottberg hatte ein Gästezimmer in der weitläufigen�Villa für mich vorbereitet. Wir alle waren uns einig, daß ich bes-ser im Haus übernachtete. Falls der Drache angriff, konnte ich�

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ihn mit meinem armenischen Silberdolch zurückschlagen. Ich hoffte jedenfalls, daß es wieder funktionieren würde. Bei schwarzmagischen Gegnern konnte man sich nie darauf verlas-sen, daß sie ihre Macht nicht plötzlich mit dunklen Mitteln ver-stärkten.

Ich hoffte nur, daß Pit Langenbach in China Erfolg haben würde. Denn wie ich den Drachen besiegen sollte, wußte ich noch überhaupt nicht.

Nach einem Abendessen mit der Familie hatte ich mich auf mein Zimmer zurückgezogen. Arno Wulf war schon am späten Nachmittag abgedampft. Er drohte Pit Langenbach mit einem Disziplinarverfahren, weil es in den Dienstvorschriften keine Rechtfertigung für die spontane Chinareise gab…

Im Grunde waren alle froh, den kleinen Paragrafenreiter loszu-sein.

Ich zog mir das T-Shirt über den Kopf. Wollte mir in der klei-nen Naßzelle eine Dusche gönnen. Erst jetzt merkte ich so rich-tig, wie mich der Tag angestrengt hatte.

Es klopfte an der Tür. »Herein!« rief ich, ohne lange nachzudenken. Nicole von Ottberg betrat den Raum. Mir stockte der Atem. Die

Jurastudentin hatte sich in ein durchsichtiges Baby-Doll-Nacht-gewand gehüllt. Eines von der Sorte, die mehr zeigen als verber-gen.

Ohne ihr lachsfarbenes Business-Kostüm wurde erst richtig deutlich, was für eine Superfigur sie hatte. Ich wußte gar nicht, wo ich zuerst hinschauen sollte. Auf die langen Beine oder die kecken Brüste, die nach jeder Bewegung noch nachschwangen. Oder in ihr schönes Gesicht, das mich auffordernd anlächelte. Das Haar fiel ihr in sanften Wellen auf die Schultern.

»Ich habe mich noch gar nicht richtig bei dir bedankt, Mark.« Ihre Stimme hatte nun keinen geschäftsmäßigen Tonfall, son-

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dern einen rauchigen Klang. »Für meine Rettung. Und für die Rettung meines armen Onkels. Und dafür, was du bisher schon alles für uns getan hast.«

Sie trat näher an mich heran. Mir schwoll der Kamm. Ihre Bli-cke wanderten über die Muskeln an meinen nackten Oberarmen. Blieben an meinem geheimnisvollen Mal hängen, das auf meiner linken Brusthälfte deutlich zu erkennen war. Dann schaute sie tiefer, staunte und murmelte: »Ich helfe gerne anderen Men-schen.«

Auch meine Haltung war steif. Ich schluckte. Die Kehle ausge-trocknet, versuchte ich an meine Freundin Tessa zu denken.

Nicole schnurrte und schlich um mich herum wie eine Katze, versuchte das und jenes, was die Frauen halt so drauf haben, wenn sie einen rumkriegen wollen, doch ich, Mark Hellmann blieb hart! Kurz nur umarmte ich Nicole, gab ihr einen Gute-nachtkuß, strich ihr durchs Haar, und da ließ mich das Biest nicht mehr los!

»Du mußt jetzt gehen, Nicole!« sagte ich so sanft wie möglich, als sie mich endlich losließ und aus dem Zimmer huschte:

Sekunden später griff ich mir mein Handy und rief Tessa an. Die Fahnderin meldete sich sofort.

»Tessa, Schatz? Ich wollte dir nur sagen, daß ich dich liebe…«

*

Pit fühlte sich wie in einem Traum, als seine Maschine über dem Pekinger Flughafen einschwebte. Einerseits war er völlig erledigt durch die lange Reise. Andererseits fühlte er sich plötzlich in eine völlig andere Welt versetzt. Nicht nur, weil er die berühmte chinesische Mauer von seinem Fensterplatz aus gesehen hatte.

Es kam ihm so verrückt vor, daß er hierher nach China fliegen mußte, um Dresden vor den Angriffen des Drachendämonen zu

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retten. Doch mußte er sich eingestehen, daß er mit seinem Freund Mark zusammen schon viel seltsamere und fremdere Welten gesehen hatte.

Ein Transferbus brachte die Passagiere nach der Landung in den Transitbereich. Für die meisten war hier in Peking die Reise zuende. Sie würden den Kaiserpalast und die anderen Sehens-würdigkeiten der Stadt besichtigen.

Ich bin wohl der einzige, der hergekommen ist, um einen hun-dert Jahre alten Fluch zu beenden, dachte Pit grinsend.

»Mr. Langenbach?« Ein Chinese hatte ihn angesprochen. Der Hauptkommissar wandte sich ihm zu.

Der Einheimische war ungefähr in Pits Alter, aber einen Kopf kleiner. Sein Körper wirkte allerdings kräftig und durchtrainiert. Er sah überhaupt nicht so aus, wie sich der Mann aus Weimar einen asiatischen Geisterforscher vorgestellt hatte. Sein Gesicht erinnerte Pit eher an den Action-Schauspieler Jackie Chan. Der Chinese trug einen hellen Freizeitanzug im Safari-Look.

»Ich bin Dr. Zaifeng. Willkommen in China.« Die beiden Männer schüttelten sich die Hände. Sie waren sich

auf Anhieb sympathisch. Pit strich mit der Linken über sein unrasiertes Kinn und lächelte entschuldigend. »Ich konnte noch nicht mal einen Rasierapparat einpacken…«

»Das macht nichts.« Beruhigt stellte der deutsche Kripomann fest, daß Dr. Zaifengs Schulenglisch auch nicht besser war als sein eigenes. »Wir haben Wichtigeres zu tun, als uns zu rasieren. Kommen Sie – die Maschine nach Tsingtau wartet nicht!«

Mark Hellmann hatte anscheinend nicht zuviel versprochen. Dr. Zaifeng hatte alles organisiert. Pit Langenbrachs Einreise nach China war so unkompliziert, als ob er von Deutschland nach Holland gefahren wäre.

Erst in der Maschine nach Tsingtau wurde dem Hauptkom-missar wirklich klar, daß er nun im Fernen Osten war. Bei die-

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sem innerchinesischen Flug war er der einzige Europäer an Bord. Dr. Zaifeng lächelte ihm beruhigend zu.

»Ich habe in der Nacht noch viele e-mails mit Ulrich Hellmann ausgetauscht. Es ist ein böser Zauber, der da bei Ihnen aufgetre-ten ist.«

Pit Langenbach schaute sich um. Aber keiner der vor und neben ihnen sitzenden chinesischen Soldaten und Touristen schien die englischen Worte des Geisterforschers verstanden zu haben.

»Wissen Sie Näheres über diesen Drachenfluch, Dr. Zaifeng?« »Ich glaube ja. Ich habe fast die ganze Nacht gearbeitet, um

dem Rätsel auf die Spur zu kommen. Es gibt da eine uralte Legende aus der Shantung-Provinz. Die Unterirdischen…«

»Die Unterirdischen?« wiederholte Pit. Ihm fielen Nostrada-mus' Worte ein. Dem Schoß der Erde wurde entrissen, was im Felsengrab verborgen lag.

»Genau«, bestätigte der Wissenschaftler. »Das ist eine Dämo-nenrasse, die schon vor der Thronbesteigung des ersten chinesi-schen Kaisers hier ihr Unwesen getrieben haben soll. Also vor sehr langer Zeit. Die Menschen lebten in Furcht und Schrecken vor den Unterirdischen. Dann kam ein Bodhisattva…«

»Was, bitte?« »Sie würden sagen – ein Heiliger. Ein Buddha, der noch auf

Erden wandelt, obwohl er schon erleuchtet ist. Mit seinen uner-meßlichen Kräften des Guten hat er die Unterirdischen unter die Erde gezwängt. Dort haben sie ihre schwarzen Seelen an dem Gold und den Edelsteinen erfreut, die sie den Menschen wäh-rend vieler Jahrhunderte gestohlen haben.«

Pit starrte gedankenverloren vor sich hin. »Wir vermuten, daß ein deutscher Offizier vor hundert Jahren etwas weggenommen hat vom Schatz dieser Unterirdischen.«

»Hundert Jahren…«, wiederholte der Chinese. »Ja, das paßt.

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Die Unterirdischen sind Dämonen, die angeblich nur alle hun-dert Jahre aktiv werden können. Darum ist es so wichtig, daß wir sie jetzt stoppen…«

»Warum?« wollte Pit wissen. »Wenn wir es nicht so schnell wie möglich tun«, sagte Dr. Zai-

feng mit sorgenumwölktem Gesicht, »dann werden sie hundert Jahre lang wüten, bevor die Menschheit wieder Ruhe vor ihnen hat!«

*

Der Hubschrauber kam vom Südosten her. Von der tschechi-schen Grenze. Die Maschine war eine Alouette II des Bundes-grenzschutzes. Mit einer Reichweite von über siebenhundert Kilometern konnte sie über fünf Stunden ohne Auftanken in der Luft bleiben.

Der Pilot Michael Heubier und sein Copilot Andreas Wilk hoff-ten allerdings, daß ihr Einsatz nicht so lange dauern würde. Sie hatten während der Nacht Bereitschaftsdienst gehabt. Erst vor dreißig Minuten war der Befehl zum Aufsteigen gekommen.

Es ging um einen Rauschgifttransport. Der BGS hatte von den tschechischen Kollegen einen Tip bekommen. Bundesgrenz-schutz, Polizei und Zoll hatten sich aufgemacht, den Drogen-schmugglern einen gebührenden Empfang zu bereiten. Doch in der mondlosen Nacht waren ihnen die Dealer trotz Nachtsicht-geräten durch die Lappen gegangen. Wahrscheinlich kannten sie das unübersichtliche Gelände im Elbsandsteingebirge wie ihre Westentasche.

Darum war die Alouette aufgestiegen. Sobald sich der Morgen-nebel gelichtet hatte. Sie flog in geringer Höhe elbabwärts. Vor-bei an Bad Schandau, dem 412 m hohen Lilienstein und der Stadt Wehlen. Auf Pirna zu. Am Horizont konnte man schon die

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Vororte von Dresden erkennen. Es war kalt und klar. »Zentrale an H 3!« quäkte eine metallisch klingende Stimme im

Funkgerät. »Erbitten aktuellen Standort!« Andreas Wilk ließ seinen Blick über das Elbtal unter sich

schweifen. Er war gebürtiger Sachse. Auch ohne die General-stabskarte vor sich hätte er genau sagen können, wo sie sich befanden.

»Hier H 3. Standort südliches Elbufer Höhe Königstein. Flug-richtung Nordnordwest. Zielobjekt bisher negativ.«

Angeblich fuhren die Schmuggler einen nachtblauen BMW der Dreier-Serie. Wenn sie in der Nacht gut durchgekommen waren, konnten sie schon weit im Westen sein. Aber angeblich sollte die Ware hier irgendwo östlich von Dresden an einen Zwischen-händler übergeben werden. Angeblich.

»Fliegen Sie Richtung Bad Gottleuba!« befahl der Mann in der Zentrale. Besonderes Augenmerk auf Nebenstrecken und Forst-wege. Im gesamten Abschnitt sind zehn Fahrzeuge im Einsatz.

»He, Andreas!« Der Pilot Michael Heubier zerrte seinen Kolle-gen am Uniformärmel. Andreas Wilk war so mit dem Funkver-kehr beschäftigt gewesen, daß er noch nicht bemerkt hatte, wor-auf der Mann am Steuerknüppel ihn nun hinwies.

Michael Heubiers behandschuhte Rechte wies nach vorne. Aber es war gar nicht nötig, daß er dem Copiloten die Richtung zeigte. Denn der Anblick war nicht zu übersehen.

Vor ihnen, im Licht der gerade aufgegangenen Sonne, die Sky-line von Dresden! Die Frauenkirche, die orientalischen Minarette des ehemaligen Tabakkontors Yenidze, die Baustelle des Resi-denzschlosses.

Und darüber schwebte ein riesiger chinesischer Drache!

*

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»Kneif mich«, murmelte Michael Heubier. »Ich glaub, ich träume.«

Wie die meisten technikbegeisterten Menschen war der BGS-Pilot Realist. Für ihn existierte nur, was er sah. Aber diese rot und grün schillernde Märchengestalt mit den gezackten Flügeln und dem langen, peitschenden Schwanz konnte es nicht geben. Also war er nicht wach, sondern mußte träumen. Doch er lag nicht im Bett, sondern saß auf dem Pilotensitz! Michael Heubier erstarrte. Er befürchtete schon, für den Rest seiner BGS-Dienst-zeit Verhaftungsprotokolle sortieren zu müssen, wenn er das Gesehene meldete.

Doch da sagte Andreas Wilk: »Ein Drache? Verdammte Scheiße, wer denkt sich denn immer diesen Reklamemist aus?«

Michael Heubier atmete erleichtert durch. Er war nicht ver-rückt geworden. Andreas hatte das Vieh auch erspäht!

»H 3?« mischte sich nun die Zentrale per Funk ein. »Was ist da los bei Ihnen?«

»Sichtung eines unbekannten Flugobjekts«, schnarrte der Copi-lot vorschriftsmäßig. »Vermutlich Werbeballon in Drachenform. Liegt Euch eine diesbezügliche Genehmigung vor, Zentrale?«

Doch bevor der Kollege am Boden etwas erwidern konnte, überstürzten sich die Ereignisse.

Der Drache war noch mindestens zehn Kilometer von dem Hubschrauber entfernt. Doch er bemerkte natürlich die Stahlli-belle, die sich ihm rasch näherte. Das sagenhafte Tier drehte sei-nen mächtigen Schädel. Schüttelte ihn, als wollte es die BGS-Beamten verhöhnen.

Bisher hatte sich das Monstrum mit wellenförmigen Bewegun-gen durch die Luft geschoben. Wie eine Seeschlange in einem Fantasy-Film.

Doch nun streckte es sich. Schoß nach vorne. Mit einem blitzar-tigen Vorstoß. Seine Attacke galt einem der Hochhäuser an der

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Prager Straße. Jedenfalls, soweit es die Männer in der Alouette auf die Entfernung erkennen konnten.

Der Drache riß sein mächtiges Maul auf. Eine lange und wild flackernde Feuerlanze wurde herausgeschleudert. Die obersten Stockwerke des Gebäudes gingen sofort im Flammen auf.

Die beiden BGS-Leute tauschten einen entsetzten Blick. Das konnte kein Reklametrick sein! Das war blutiger Ernst…

»H 3 an Zen-tra-le…«, stammelte Andreas Wilk. Er war kein Feigling, ganz bestimmt nicht. Aber was er nun erlebte, über-stieg sein Fassungsvermögen. »Drachenförmiges Flugobjekt greift Häuser in der Dresdener Innenstadt an. Erbitten Instruk-tionen!«

»Seid ihr besoffen?« »Negativ, Zentrale«, gab der Copilot gereizt zurück. »Wir sind

gewiß nicht die einzigen, die gerade das Scheißvieh vor Augen haben.«

Andreas Wilk schwieg und staunte, denn jetzt ließ der Drache von dem lichterloh brennenden Hochhaus ab.

Und raste auf die Alouette zu!

*

Militär und Polizei in aller Welt schätzen die Alouette II wegen ihrer Wendigkeit. Diese Eigenschaft kam der Maschine nun zugute.

Der Pilot Michael Heubier hatte aufgehört, sich wegen des unmöglichen Phantasiebildes Gedanken zu machen. Dieser Dra-che war real! Und der Angriff ebenfalls. Nun reagierte der BGS-Mann nur noch mit antrainierten Reflexen.

Er ließ den Drehflügler plötzlich nach vorne wegsacken. Diese Bestie da vor ihm war schnell, verdammt schnell. Heubier und Wilk rasten auf das Schloß in Pillnitz zu.

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Der Drache fauchte. Sein Gebrüll schien die Luft erzittern zu lassen. Es übertönte sogar den Rotorenlärm der Alouette. Heu-bier riß die Maschine wieder hoch. Beschleunigte. Die Alouette II hatte Rückenwind, während sie vor dem Monstrum Reißaus nahm.

»Zentrale an H 3!« Der Kollege am Funkgerät klang nun etwas kleinlauter. Andreas Wilk riß das Mikrophon an sich. Die Erklä-rung folgte sofort. »Hier gehen zahlreiche Alarmmeldungen ein, H 3. Wegen – wegen eines Drachen…«

»Wem sagst du das!« brüllte der Copilot. »Das verdammte Vieh will uns den Arsch grillen!«

Michael Heubier beschleunigte noch mehr. Der Drache schien trotzdem mühelos an ihnen dranzubleiben.

»H 3! Sie haben ab sofort offizielle Kampferlaubnis vom Kom-mandanten! Ich wiederhole: Kampferlaubnis erteilt! Holen Sie diese Bestie vom Himmel!«

»Verstanden! Over and out!« Andreas Wilk rammte das Mikrophon zurück in die Aufhän-

gung. Der Pilot neben ihm hatte alles mitbekommen. Er grinste grimmig.

»Okay, Andreas. Dann wollen wir doch mal sehen, ob diese Märchengestalt auch kugelfest ist…«

Michael Heubier flog eine weite Ellipse. Er befand sich nun schon fast über der Dresdener Innenstadt. Während der Hub-schrauber den Bogen schlug, zog der Pilot die Maschine immer weiter hoch. Er verstand sein Handwerk.

An sich war die Alouette II des Bundesgrenzschutzes unbe-waffnet gewesen, diente hauptsächlich der Aufklärung. Doch die immer brutaler werdenden internationalen Verbrecherban-den verfügten neuerdings auch über schwere automatische Waf-fen aus den Beständen der ehemaligen Sowjetarmee. Daher hatte man die Maschine zur Selbstverteidigung mit einem schweren

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MG ausgerüstet. Es war seitwärts im unteren Drittel der Kanzel aufmontiert, an der Copilotenseite.

Der Pilot grinste zufrieden. Sein Plan schien Erfolg zu haben. Er hatte nun genug Abstand zwischen die Alouette und den sie verfolgenden Drachen gebracht. Nun tauchte die Alouette auf der linken Seite des unheimlichen Wesens auf. Nun waren sie es, die angriffen!

Der fliegende Lindwurm ließ sich dadurch nicht aus der Ruhe bringen. Er hatte anscheinend schon wieder ein neues Opfer ent-deckt. Auf der Elbe tuckerte ein Binnenschiff dahin. Der Drache ließ sich im Sturzflug auf den langgestreckten eisernen Kahn fal-len.

»Verdammt!« fluchte Michael Heubier. »Gib ihm Saures, Andreas!«

Der Copilot hatte den riesenhaften rot und grün glitzernden Leib des Drachen bereits in der Zielvorrichtung. Das Maschinen-gewehr hämmerte los. Der Abstand zwischen dem Drachen und dem Hubschrauber schrumpfte von Sekunde zu Sekunde. Die Männer in der Kanzel hatten das Monster unter Dauerfeuer genommen.

Aber es nützte nichts. Überhaupt nichts. Entsetzt beobachteten sie, wie eine Geschoßgarbe nach der

nächsten von der Flanke des Drachen förmlich geschluckt zu werden schien. Aber egal, wie viele Kugeln auch in seinen schwarzmagischen Leib einschlugen. Sie bewirkten keine Verän-derung.

Immerhin schien ihm nun das Spiel mit dem Binnenschiff lang-weilig geworden zu sein. Der Drache änderte seine Flugbahn. Nur mit seinem kräftigen Schwanz hieb er einmal kurz auf das Deck des Flußschiffes. Die Aufbauten wurden zerfetzt wie durch den Wurf einer Handgranate.

Der Alptraum in Rot und Grün wandte sich nun wieder dem

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Hubschrauber zu. Michael Heubier und Andreas Wilk erstarr-ten. Nun blickten sie plötzlich in die abgrundtief bösen Augen der Kreatur. Der Pilot schien unfähig, seine Flugrichtung zu ändern. Und auch Andreas Wilks Daumen schien auf dem Feu-erknopf wie versteinert zu sein. Die schweren Geschosse hieben in den Drachenkörper. Aber die Bestie schien darüber nur zu lachen.

Der Drache und der Hubschrauber flogen aufeinander zu. Michael Heubier schien wie hypnotisiert von dem Entsetzen zu sein. Die Bestie riß ihr Maul auf. Es war so groß, daß die Kanzel der Alouette darin fast Platz gefunden hätte.

Als die lodernde Flammenzunge den BGS-Hubschrauber erreichte, verwandelte er sich im Handumdrehen in einen Feuer-ball. Abrupt hörte das MG-Feuer auf.

Tausende von entsetzten Dresdnern mußten als Augenzeugen miterleben, wie die lichterloh brennende Maschine über der Elbe ins Trudeln geriet und dann in den Fluß stürzte.

Für Michael Heubier und Andreas Wilk kam jede Hilfe zu spät.

*

Der Flug von Peking nach Tsingtau dauerte zum Glück nicht allzu lange. Pit Langenbach erlebte diesen letzten Teil seiner Reise wie in Trance. Immer wieder gingen ihm Dr. Zaifengs Worte durch den Kopf. Hundert Jahre… Hundert Jahre Schre-ckensherrschaft der Dämonen! Er erinnerte sich, wie er mit Mark Hellmann zusammen vergeblich gegen den Drachen gekämpft hatte.

Ihre weißmagischen Kugeln waren praktisch wirkungslos gewesen.

Dem chinesischen Geisterforscher war seine gedrückte Stim-mung nicht entgangen. »Das Böse ist stark, Mr. Langenbach.

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Aber das Gute wird trotzdem siegen. Das ist das Gesetz des Uni-versums. Man muß nur mit reinem Herzen daran glauben.«

Pit Langenbach nickte. Die unerschütterliche Ruhe von Dr. Zai-feng hatte etwas Ansteckendes. Wenn ich nicht an unsere Sache glauben würde, sagte sich der deutsche Hauptkommissar, hätte ich mir den weiten Weg hierher sparen können…

In Tsingtau wartete bereits ein Leihwagen auf sie, ein fast schon antiker russischer Moskwitsch. Erstaunt blickte sich Pit Langenbach um, als sie durch die Stadt fuhren. Man konnte sich an einigen Ecken fast nach Weimar versetzt fühlen. Viele der drei – oder viergeschossigen Häuser waren im deutschen Grün-derstil der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts erbaut worden. Doch der lebhafte Fahrrad – und Mopedverkehr, die fremdarti-gen Schriftzeichen an den Straßen und die ungewohnten Düfte bewiesen ihm, daß er in China war.

»Wohin fahren wir überhaupt, Dr. Zaifeng?« »Ich habe letzte Nacht die Legenden und Sagen dieser Provinz

genau studiert, Mr. Langenbach. Ich glaube, daß ich die Lage der Grotte jetzt kenne. Es handelt sich um die Grotte, in die dieser Hjalmar von Ottberg eingedrungen ist. Der Ort gilt bei den Ein-heimischen als verflucht. Er wird von Baumgeistern bewacht. Aber ich habe mich gut vorbereitet.«

Mehr sagte der Chinese nicht zu diesem Thema. Schon bald hatten sie die Stadt verlassen. Bauern mit breitkrempigen Stroh-hüten arbeiteten auf terrassenförmigen Feldern, die an Berghän-gen gelegen waren. Der Straßenbelag wurde schlechter. Der Moskwitsch tat ächzend seinen Dienst.

Schließlich endete die Straße an einem kleinen Trampelpfad. Pit Langenbach blickte über die Schulter zurück. Die Bucht, an der Tsingtau lag, befand sich weit unter ihnen. Vor der Kühler-haube des Wagens ragte ein nackter unwirtlicher Felsen auf. Er war mit schwarzen Bäumen bewachsen. Sie alle schienen irgend-

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wann einmal vom Blitz getroffen worden zu sein. »Wir sind da«, sagte Dr. Zaifeng. »Spüren Sie das Böse, Mr.

Langenbach?« Der Deutsche nickte nur. Er hatte schon oft gegen die Kräfte

der Hölle gekämpft. Dieser Ort hier war verflucht. Jeder, der ein Herz im Leib hatte, mußte das sofort bemerken.

Der Hauptkommissar wollte aussteigen, aber der Geisterfor-scher hielt ihn noch zurück. Der Chinese zog zwei lange Papier-streifen aus seiner Umhängetasche. Mit einem Tuschpinsel waren chinesische Schriftzeichen darauf gemalt. Außerdem hatte der Wissenschaftler zwei Plastikbecher und eine Mineral-wasserflasche dabei.

Verblüfft beobachtete Pit, wie Dr. Zaifeng die beiden Papiere anzündete, dann die Asche in die Becher streute und sie in dem Wasser auflöste. Er reichte seinem deutschen Gast eines der Behältnisse.

»Trinken Sie das, Mr. Langenbach. Ein Zauber, um die Bud-dhas des Schutzes für uns anzurufen.«

Der Weimarer schluckte die Asche hinunter. Er vertraute den weißmagischen Fähigkeiten des Chinesen. Und hoffte nur, daß sie ähnlich stark waren wie die von Mark Hellmanns Ring…

»Wir müssen zuerst den verfluchten Zauberwald überwinden«, erklärte Dr. Zaifeng. »Bleiben Sie dicht bei mir, Mr. Langenbach. Aber es wird nicht lange dauern, bis wir die Höhle erreicht haben. Ich weiß genau, wo sie liegt.«

»Entschuldigen Sie, Dr. Zaifeng, aber woher wissen Sie das so genau? Ich habe gedacht, Sie wären noch nie in Tsingtau gewe-sen?«

»Bin ich auch nicht«, erwiderte der Chinese. »Jedenfalls nicht in diesem Leben.«

Pit Langenbach nickte. Er wußte, daß es im Buddhismus die Lehre von der Wiedergeburt gab. Noch vor kurzem hätte er

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diese Idee als Unsinn abgetan. Aber seit er an der Seite von Mark Hellmann durch Zeiten und Dimensionen gereist war, erschien ihm auch eine Reinkarnation nicht mehr undenkbar.

Die beiden Männer machten sich auf den Weg. Sie stiegen den Hügel hinauf, wie vor fast genau hundert Jahren Hjalmar von Ottberg, Klaus Burmeister und jener andere Zaifeng.

Pit Langenbach fühlte sich unbehaglich. Er hatte noch nicht mal seine Dienstwaffe bei sich. Wegen der Auslandsreise hatte er sie in Dresden zurücklassen müssen. Er kam mit leeren Hän-den. War ganz auf die Hilfe des Geisterforschers angewiesen.

Plötzlich schoß ein schwarzer Ast hinunter und umklammerte den Hauptkommissar in der Körpermitte!

*

Struppy erkannte sofort die Gefahr. An diesem Vormittag führte das Weimarer Girl in dem Squaw-

Kostüm eine Hamburger Reisegruppe durch Dresden. Es war leicht, die Männer und Frauen im Auge zu behalten. Sie alle tru-gen ein weißes T-Shirt mit der Aufschrift »Karl May«-Fanclub Hamburg-Barmbek e.V. über den Winterklamotten.

Der Neunzehnjährigen mit den blaßblauen »Hans Albers«-Augen schwante nichts Gutes, als sie den riesigen Drachen über der Fußgängerzone Prager Straße auftauchen sah. Doch die Besucher aus Dresdens Partnerstadt Hamburg waren begeistert.

»Dascha gediegen!« rief eine ergraute Frührentnerin namens Ellie, deutete auf das chinesisch wirkende Untier. »Das hätte sich der Meister nicht besser ausdenken können!«

Die »Karl May«-Fans« sprachen von dem sächsischen Schrift-steller nur als dem »Meister«.

Das ist ein Fall für Mark! dachte sich Struppy. Ich will nicht Mechthild Schaumburg-Klöten heißen, wenn dieses Biest nicht

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ein fliegender Dämon ist! Schnell griff sie ihr Handy, das die moderne Squaw in einer

Umhängetasche mit dem Aufdruck »Weimar 1999« bei sich trug. Marks Mobiltelefonnummer befand sich zum Glück in ihrem elektronischen Telefonbuch. Schon nach dem dritten Klingeln meldete sich der Dämonenjäger.

*

Ich saß mit den von Ottbergs am Frühstückstisch, als der Anruf von Struppy kam. Das Telefon lag griffbereit neben meinem Tel-ler.

Gerade hatte ich mich gefragt, wie ich den Drachen in seine Schranken verweisen konnte, bis Pit und Dr. Zaifeng es geschafft hatten, das Grab zu schließen und Nostradamus' Prophezeiung zu erfüllen.

Aber als Struppy von dem fliegenden Drachen berichtete, wurde mir klar, daß es zu spät war.

»Jetzt speit er auch noch Flammen!« rief die grünhaarige Schönheit mit sich überschlagender Stimme. »Der macht glatt die Hochhäuser hier an der Prager Straße platt! Du mußt sofort kommen, Mark!«

Ich bedankte mich und sprang auf. Schnell setzte ich die Fami-lie von Ottberg ins Bild.

»Deine Autoschlüssel!« sagte ich zu der Jurastudentin und ließ meine offene Handfläche vorschießen. Nicole gab mir sofort die Schlüssel zu ihrem Mini Cooper.

»Ihr bleibt alle hier im Haus, bis ich zurück bin!« komman-dierte ich. »Der Drache will jetzt mich. Er nimmt die Stadt aus-einander, um mich herauszufordern!«

»Eingebildet bist du wohl überhaupt nicht, was?« murmelte Nicole von Ottberg.

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Ich erwiderte nichts. Jetzt zählte jede Sekunde. Den Einsatzkof-fer hatte ich bereits hinter meinem Stuhl im Eßzimmer depo-niert. Ich klemmte ihn mir unter den Arm und eilte im Lauf-schritt zur Garage. Mit Mühe und Not quetschte ich mich hinter das Lenkrad der englischen Straßenwanze, die es an Enge mit jedem Trabant aufnehmen konnte.

Mit radierenden Reifen fuhr ich los. Ich kannte mich in Dres-den gut genug aus, um sofort den Weg in die Innenstadt zu fin-den. Aber selbst, wenn ich völlig fremd gewesen wäre – das Zer-störungswerk des fliegenden Drachen wies mir den Weg. Ich sah die brennenden Hochhäuser an der Prager Straße. Und als ich gerade die Loschwitzer Brücke überquerte, hörte ich das MG-Gehämmer eines Helikopters. Wenig später mußte ich mit anse-hen, wie der Drache den Hubschrauber mit einer riesigen Flamme verbrannte.

Ich biß die Zähne zusammen. Diese Bestie mußte gestoppt wer-den, bevor es noch mehr Tote gab. Aber konnte ich sie stoppen?

*

Pit Langenbach schlug wild um sich, als der Baumgeist ihn packte. Seine Abwehrbewegungen waren automatisch. Obwohl der Kripohauptkommissar regelmäßig Boxen und Ringen trai-nierte, waren seine Schläge gegen den dämonischen Gegner nicht mehr wert als die Fäuste eines Vierjährigen gegen einen Boxprofi.

Dr. Zaifeng schien mit dem Angriff schon gerechnet zu haben. Er sprang leichtfüßig zur Seite. Gleichzeitig streckte er beide Arme vor und richtete seine geballten Fäuste auf den toten schwarzen Baum, der Pit Langenbach zu zerquetschen drohte.

»Im Namen von Mila-Fu! Wind, Feuer, Donner, Blitz!« Ein gewaltiger Energiestoß, wie eine elektrische Entladung,

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fuhr aus den Fäusten des Gelehrten. Der Hauptkommissar spürte die Kraft des Guten, als die geballte Ladung an ihm vor-bei in den knorrigen Stamm des Baumgeistes fuhr. Pit Langen-bach flog die tote Borke nur so um die Ohren. Der dämonische Baum kippte um. Die Äste lösten sich von dem Deutschen. Pit fiel zu Boden, federte aber sogleich wieder hoch. Ein stechender Schmerz durchzuckte seine Brust. Doch er konnte atmen. Die Rippen schienen nicht gebrochen zu sein.

»Alles in Ordnung?« fragte Dr. Zaifeng. Dabei schaute er sich um. Alle Bäume um sie herum schienen von untotem Leben erfüllt zu sein. Und nur auf eine Gelegenheit zu warten, um diese beiden Menschen zu zermalmen.

»Ja, vielen Dank. Was ist das für eine Energie, die Sie da einge-setzt haben?«

»Die Kraft des reinen Herzens, aktiviert mit fünftausend Jahre alten Beschwörungen. Aber die Zeit drängt, Mr. Langenbach. Wir müssen in die Höhle, bevor die Baumgeister zu mächtig werden!«

Kaum hatte er den Satz ausgesprochen, als schon zwei weitere riesige Baumleichen ihre Wurzeln aus der verdorrten Erde zogen. Sie schienen ihnen den Weg versperren zu wollen.

Dr. Zaifeng und Pit hasteten weiter den Hügel hinauf. Die bösen Geister kamen immer näher. Der Chinese drehte sich um.

»Im Namen von Mila-Fu! Wind, Feuer, Donner, Blitz!« Wie ein Kugelblitz jagte die Kraft aus den geballten Fäusten

des Forschers. Die Baumstämme wurden zerstrahlt, sahen danach aus, als ob sie mit einer Landmine Bekanntschaft gemacht hätten. Die beiden Männer setzten ihren beschwerli-chen Weg fort.

»Hier ist es«, hörte Pit Langenbach plötzlich seinen Begleiter sagen. Erstaunt starrte der Hauptkommissar auf einen Felsvor-sprung. Wie konnte der Geisterforscher das wissen?

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»Ich muß schon einmal hier gewesen sein«, erklärte der Chi-nese mit unerschütterlicher Ruhe. »Der Eingang ist verschlossen. Aber der Kraft von Mila-Fu wird er nicht widerstehen!«

Dr. Zaifeng murmelte eine Beschwörungsformel, die Pit Lan-genbach nicht verstand. Einige Augenblicke später schmolzen Felsbrocken in sich zusammen und gaben den Blick auf einen Höhleneingang frei.

»Das«, erklärte der Geisterforscher, »ist der Eingang zum Reich der Unterirdischen. Dort werden wir die Prophezeiung erfüllen, von der mir Mr. Ulrich Hellmann in seiner e-mail berichtet hat.«

»Hoffentlich«, murmelte Pit. Sie traten gebückt in die Grotte, die seit hundert Jahren kein

Mensch mehr gesehen hatte.

*

In der Dresdener Innenstadt regierte das nackte Chaos. Seit dem Absturz des BGS-Hubschraubers über der Elbe war der Teufel los. Autos stauten sich auf der St. Petersburger Straße. Viele Fah-rer hatten ihren Wagen in Panik einfach mit laufendem Motor stehenlassen und waren zu Fuß geflüchtet. Deshalb konnte die Feuerwehr auch nicht durchkommen. Überall dröhnten die Mar-tinshörner von Streifenwagen und von Einsatzfahrzeugen von Feuerwehr und Technischem Hilfswerk.

Der Drache demolierte die Hochhäuser an der Prager Straße. Ich hoffte nur, daß die Menschen dort noch rechtzeitig hatten flüchten können. Am Georgplatz kam ich mit dem Mini Cooper nicht mehr weiter. Ich ließ ihn noch ein Stück über die Grünflä-che Richtung Waisenhausstraße rollen. Dann bremste ich und eilte zu Fuß weiter. Den Einsatzkoffer hatte ich in der rechten Hand.

Vor mir flüchteten die Menschen in Panik vor dem Monster.

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Die Prager Straße ist die beliebteste Fußgängerzone der sächsi-schen Landeshauptstadt. Jetzt, am hellen Vormittag, war sie voll mit bummelnden Dresdnern und Touristen gewesen.

Plötzlich erkannte ich eine Indianerperücke, die mir sehr bekannt vorkam.

»Struppy!« »Mark!« Ich drückte sie kurz an mich. War glücklich, daß sie unverletzt

zu sein schien. Um sie herum eine Gruppe von ängstlichen Men-schen, die im Hamburger Dialekt aufgeregt durcheinander-schnatterten.

»Ein starkes Stück!« »Wo bleiben die Udels (Hamburgisch für Polizisten)?« Struppy sah mich hilfesuchend an. »Schaff die Leute hier weg«, bat ich sie. »Ich werde mir jetzt

den Drachen vorknöpfen!« Oder er mich, dachte ich bei mir, verschwieg jedoch meine

Bedenken. Die Prager Straße war wie leergefegt. Ich lief über die weiten

Flächen zwischen den Hochhäusern. Der Drache peitschte mit seinem Schweif. Die Fensterscheiben gingen gleich dutzend-weise zu Bruch.

»He, du Wechselbalg-Reptil!« brüllte ich. »Hier bin ich!« Das dämonische Geschöpf schien mich genau gehört und ver-

standen zu haben. Es wandte mir den Kopf zu. Ich erschrak, ohne es mir anmerken zu lassen. Im Vergleich zu unserer ersten Begegnung war er noch weiter angewachsen.

Außer meinem armenischen Silberdolch hatte ich keine Waffe, die eine nennenswerte Wirkung bei ihm gezeigt hatte. Trotzdem öffnete ich meinen Einsatzkoffer. Vergangene Woche war ich mit Sprengkörpern und Weihwasser gegen solche Biester erfolgreich gewesen, doch hier draußen und bei dem Höllentempo, das

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diese Bestie an den Tag legte, hätte ich damit alt ausgesehen. Ein anderer Plan mußte her. Ich holte die Stichwaffe heraus. Das kühle Metall übte eine beruhigende Wirkung aus. Mein Siegel-ring hingegen glomm wild auf. Kein Wunder. Die Energie des Bösen war so nahe, daß ich sie in Wellen her anbranden spürte.

Der Kopf des Drachen schoß plötzlich und ohne Vorwarnung auf mich zu!

*

Automatisch wich ich ihm aus. Ich mußte ihm den Dolch in sein böses Herz rammen. Das war meine einzige Chance. Aber wie sollte ich so nahe an ihn herankommen, ohne vorher gegrillt zu werden?

Ich wußte es nicht. Mir blieb nichts anderes übrig, als auf Zeit zu spielen. Das Untier war zu früh wieder erschienen. Es war beinahe unmöglich, daß Pit noch rechtzeitig gemeinsam mit Dr. Zaifeng das Felsengrab fand, von dem der Seher Nostradamus gesprochen hatte. Das wurde mir in diesem Moment klar. Pit war schließlich ans andere Ende der Welt unterwegs.

Ich würde niemals so lange gegen den Drachen bestehen kön-nen, bis mein Freund seinen Auftrag erfüllt hatte. Dieser Gedanke nahm mir für Sekunden den Mut.

Die Bestie mußte meine plötzliche Unsicherheit gespürt haben. Ihr Schädel folgte meiner Ausweichbewegung. Gleichzeitig schoß sie eine Flamme in meine Richtung ab.

Zum Glück stehen überall auf der Prager Straße große flache Brunnen mit Wasserspielen herum. Ich landete in einem dieser Bassins. Der heiße Atem des Todes fegte über mich hinweg. Aber wie oft würde ich diesen Trick noch anwenden können?

Prustend kam ich wieder hoch. Riesig erschien der Kopf mit den Hornplatten und den heimtückischen Augen über mir. Das

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Untier hob die vorderen Krallen, um mich damit festzuhalten. Das war meine Chance! Ich setzte alles auf eine Karte. Ich versuchte, den vor Entsetzen

Gelähmten zu spielen. Den meisten Leuten wäre das nicht schwergefallen. Als die Krallen beinahe schon in meinen Körper schlugen, machte ich einen gewaltigen Satz nach vorn.

In der Schule hatte ich in Anatomie natürlich nie den Körper-bau eines Drachen durchgenommen. Aber von anderen Tieren her wußte ich ungefähr, wo das Herz sitzen mußte. Viele Versu-che würden mir nicht bleiben.

Nun half mir einerseits meine Größe. Andererseits die Tatsa-che, daß sich der Drache weit hinuntergebeugt hatte, um mich zu zermalmen.

Der armenische Dolch mit den geheimnisvollen Inschriften blitzte in meiner Hand. Ich schnellte hoch. Mit beiden Händen hielt ich die Stichwaffe am Heft umklammert. Mit der ganzen Kraft meiner durchtrainierten Muskeln rammte ich den Dolch in der Herzgegend des Drachen in seinen Körper. Bis die Klinge ganz in ihm steckte.

Die Zeit schien stillzustehen. Für einen Moment passierte überhaupt nichts. Ich war so nahe an ihm dran, wie ich es nur sein konnte. Und

dann begriff ich die furchtbare Wahrheit. Dieses Untier hatte überhaupt kein Herz. Es bestand ausschließlich aus dämonischer Energie. Es gab keinen Weg, wie ich es vernichten konnte.

Der Drache schüttelte sich. Mein Stich hatte ihm wohl Unbeha-gen bereitet. So wie ein Mensch sich durch einen Mückenstich gestört fühlt. Am vorigen Tag war mein Dolchangriff noch unan-genehmer für ihn gewesen. Nun aber stand er sozusagen über den Dingen. Kein Wunder. Seine Kraft war ja in der Zwischen-zeit noch mehr angewachsen.

Höhnisch richtete er sich hoch über mir auf. Ich hätte weglau-

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fen können. Aber es war sinnlos. Der Radius seiner Krallen betrug mindestens fünfundzwanzig Meter! Damit und mit den Flammen aus seinem Maul konnte er mich jederzeit erledigen.

Ich starrte den dämonischen Drachen wütend an. Und wartete auf mein grausames Ende.

*

Im Licht der phosphoreszierenden Steine eilten Dr. Zaifeng und Pit Langenbach durch den Gang mit den unheimlichen Fresken. Dem Hauptkommissar liefen beim Anblick der entsetzlichen Darstellungen an den Wänden kalte Schauer über den Rücken.

Der Geisterforscher schien das zu spüren. »Die Macht der Unterirdischen ist sehr alt«, erklärte er. »Aber

vor Mila-Fu müssen sogar sie sich beugen!« »Wer ist Mila-Fu eigentlich?« »Der Buddha der Zukunft, der kommen wird. Seine Güte ist so

unermeßlich, daß sogar die Dämonen ihre Bosheit ablegen wer-den. Und weil sie das wissen, fürchten sie ihn. Denn wenn Mila-Fu erscheint, gibt es keinen Haß und keine Gier mehr. Also genau das, wovon die Unterirdischen und andere böse Kräfte leben.«

Während Dr. Zaifeng sprach, hasteten sie weiter vorwärts. Das Böse war nun fast körperlich spürbar. Aber die beiden Männer wurden offenbar durch den weißmagischen Bann geschützt, mit dem sie sich durch das Trinken der Asche gewappnet hatten.

Endlich kamen sie dort an, wo das Unglück seinen Anfang genommen hatte. Die riesige goldene Halle des Drachen lag vor ihnen. Pit Langenbach kniff die Augen zusammen. Der Reich-tum blendete ihn für einen Moment. Er bemerkte die riesige gol-dene Drachenstatue.

Die Worte von Nostradamus fielen ihm wieder ein. Erst wenn

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das Grab geschlossen ist, wird die Bestie überwunden… »Das hier ist offenbar das Grab«, dachte der Hauptkommissar

laut nach. »Aber wie sollen wir es schließen? Es ist so groß…« »Allein schaffen wir das nicht«, pflichtete ihm Dr. Zaifeng bei.

»Wir flehen Mila-Fu um Hilfe an! Aber schließen Sie bitte die Augen, Mr. Langenbach. Menschen dürfen den kommenden Buddha noch nicht sehen. Die Zeit ist noch nicht reif…«

Der Hauptkommissar tat, worum ihn der Chinese gebeten hatte. Nicht eine Sekunde dachte er daran, etwas von dem über-all herumliegenden Gold einzustecken. Pit war kein Heiliger, sondern ein Mensch mit Schwächen. Aber trotzdem. Er hatte gesehen, was für Unglück über den gekommen war, der sich hier bereichert hatte. Und über seine Nachkommen… Wenn sich Pit vorstellte, daß seiner Tochter Floh wegen seiner eigenen Gier etwas passieren könnte…

Fest kniff Pit die Augen zusammen. Er hatte inzwischen gelernt, daß man sich bei magischen Dingen besser an die Spiel-regeln hielt. Aber obwohl er nichts erkennen konnte, formte sich in den nächsten Minuten vor seinem geistigen Auge ein Bild.

Dr. Zaifeng murmelte ununterbrochen in seiner Muttersprache vor sich hin. Währenddessen wurde das Bild klarer. Es zeigte einen goldfarbenen Buddha, der mindestens zehn Meter groß war. Er trug eine Krone auf dem Kopf. In der einen Hand hielt er eine Flasche Ambrosia, in der anderen eine Lotusblume. Dann streckte der Buddha segnend die Arme aus.

Ein ohrenbetäubend höllisches Gekreische brandete auf. Wurde von den Wänden der Grotte zurückgeworfen. Pit glaubte, seine Trommelfelle würden platzen. Er spürte tief in sei-nem Inneren, daß Mila-Fu gekommen war, um das Böse zu ver-treiben.

Heiße und kalte Böen zerrten an der Kleidung des Hauptkom-missars. Er spürte, wie etwas über seine Schuhe floß. War das

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Wasser – oder flüssiges Gold? Was immer in dieser Höhle genau geschah, er würde es nie erfahren. Aber nach einer langen Zeit verblaßte das Bild des Buddhas langsam vor seinem inneren Auge.

»Sie können jetzt wieder die Augenlider heben, Mr. Langen-bach«, sagte Dr. Zaifeng. Seine Stimme klang erschöpft.

Das tat der Mann aus Weimar. Er blinzelte erstaunt. Sie stan-den nicht mehr dort, wo sie vorhin noch gewesen waren. Nicht mehr in der Höhle des Drachen. Auch nicht mehr in dem Gang mit den grausamen Fresken. Sondern ganz vorne, in dem ersten Eingangsbereich der Höhle. Es war, als ob die Grotte der Unter-irdischen nie existiert hätte.

»Dort, wo das Böse hauste, liegen jetzt nur noch Steine«, sagte der Chinese. »Ich habe eine mumifizierte Leiche gesehen, Mr. Langenbach. Und ich weiß genau, daß ich einmal dieser Mann gewesen bin. In einem früheren Leben wurde ich dort ermordet. Von Hjalmar von Ottberg. Das hat mir Mila-Fu verraten. Und er hat mir auch gesagt, daß der Drache tot ist. Der Drache war nur eine grausame Illusion. Er lebte durch die Energie der Unterirdi-schen. Die Dämonen sind besiegt. Sie können nach Hause zurückkehren, Mr. Langenbach.«

Pit grinste erleichtert und zündete sich einen Zigarillo an. »Ich danke Ihnen sehr, Dr. Zaifeng. Ohne Ihre Hilfe hätten wir die Prophezeiung nie erfüllen können.« Er machte eine Pause. Etwas schien ihm noch einzufallen. »Wissen Sie eigentlich auch, wo ich ein hübsches Seidentuch für meine Frau kaufen kann?«

*

Ich wartete noch immer auf den Tod. Statt dessen löste sich der�fliegende Drachendämon plötzlich in Luft auf. Ich blinzelte�überrascht. Noch traute ich dem Braten nicht. Vielleicht wollte er�

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mich ja nur weiter quälen, indem er mir eine Hoffnung gab, die nicht zu erfüllen war.

Doch im nächsten Moment erschien die feinstoffliche Gestalt meines väterlichen Freundes Nostradamus. Mein Ring hatte auf-gehört zu strahlen. Beides gab mir die Gewißheit, daß ich wieder einmal in letzter Minute dem Tod von der Schippe gesprungen war.

»Der weise Mann aus dem Reich der Mitte und der tapfere Mann mit dem großen Schnurrbart haben das Grab geschlossen«, verkündete der Seher mit einer seiner üblichen Umschreibungen. »Von nun an wird auch die Familie des sündi-gen Soldaten in Frieden leben können.«

»Ich bin sehr froh«, erwiderte ich. »Aber eigentlich ist es unmöglich, daß Pit schon in Tsingtau eingetroffen ist. Selbst mit unseren modernen Flugmaschinen…«

Nostradamus lächelte verschmitzt. »Was ist schon Zeit im Angesicht der Ewigkeit? Zeit verrinnt, Markus, Mal langsam, mal schnell. Darum genieße jeden Atemzug deines Lebens.«

Mit diesen Worten verabschiedete sich mein geheimnisvoller Mentor wieder. Ich war mir sicher, daß er daran »gedreht« hatte, daß Pit so schnell das Felsengrab der Unterirdischen hatte finden können.

Mir konnte es nur recht sein.

*

An diesem Sonntag kamen Tessa und ich nicht aus dem Bett. Das lag nun nicht etwa daran, daß wir faul gewesen wären. Im Gegenteil. Wir waren sogar sehr aktiv, jedenfalls im Bett, aber raus wollten wir nicht.

Keuchend ließ ich mich zur Seite fallen, nachdem ich wieder einmal meine Freundin und mich selbst auf das höchste Plateau

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der Extase befördert hatte. Zufrieden ließ ich meinen Bück und meine Hand über ihren Busen gleiten. Tessa reckte sich wohlig. Dabei fiel ihr Blick auf den Wecker, der in sicherer Entfernung von uns stand.

»Mark! Weißt du, wie spät es ist?« Ich verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Nein. Interessiert

mich auch nicht. Du hast dein freies Wochenende. Und ich habe ein gutes Honorar von den von Ottbergs kassiert. Da habe ich mir einen gemütlichen Sonntag im Bett redlich verdient…«

»Kann sein.« Tessa sprang bereits auf und fuhr in ihre schwar-zen Spitzendessous, die ich ihr einmal geschenkt hatte. »Aber du hast Lydia und Ulrich versprochen, sie heute zu besuchen.«

Ich schlug mir mit der flachen Hand vor den Kopf. Natürlich! Und was man verspricht, muß man auch halten. Also zog ich mich an.

»Gibt es heute eigentlich einen besonderen Grund für einen Besuch?« fragte Tessa, die sich in ihr grünes Minikleid zwängte.

»Du meinst, außer Lydias Sahnetorte? Na klar – meine Eltern haben Besuch von Manfred Hellmann bekommen.«

»Manfred?« Tessa legte fragend einen Zeigefinger an ihre sinn-lichen Lippen. »Müßte ich den kennen?«

»Ein entfernter Verwandter von uns aus Celle. Netter Typ.« Wir fuhren in meinem stahlblauen BMW, den ich inzwischen

aus der Werkstatt geholt hatte, Richtung Landfried. In dieser Siedlung am Rand von Weimar bewohnen meine Eltern ein Rei-henhaus.

Wir waren beinahe pünktlich. Manfred Hellmann und Familie waren bereits da und saßen um die Kaffeetafel versammelt.

»Mark, altes Haus!« rief er und schüttelte mir die Hand. »Ich habe dir was mitgebracht!«

Er überreichte mir ein kleines Päckchen. Gespannt öffnete ich es.

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»Habe ich auf einem Flohmarkt gefunden«, sagte mein Ver-wandter. Ich hob den Deckel von der Schachtel – und prallte zurück!

Ein kleiner Drachen saß in dem Pappkistchen. Seine Augen glitzerten böse. Meine Rechte fuhr zum Gürtelhalfter, das ich allerdings nicht umgeschnallt hatte. Ich ließ das Paket fallen. Manfred fing die kleine Statue geschickt auf.

Mein Blick fiel auf meinen Siegelring. Er blieb kalt und leuch-tete auch nicht. Warum hätte er das tun sollen? Der Drache war doch aus Marzipan.

»Bist du aber schreckhaft!« rief Manfred und lachte. »Den habe ich dir mitgebracht, weil er so unheimliche Augen hat. Aber das wird ihm auch nichts nützen, wenn du ihn aufißt.«

Ein paar Sekunden später hatte ich ihm schon den Kopf abge-bissen, sicher war sicher…

ENDE

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Zeitreise Meine Blicke wanderten während der Sklavenverstei-gerung über die Gesichter der Wikinger. Alle auf dem Marktplatz starrten mich an, versuchten mich zu berühren, während mich der große Vorsitzende anpries: »Er kann arbeiten wie ein Ochse und kämpfen wie ein Stier!« »Ich will ihn!« meldete sich dann lautstark ein Schwertkämpfer. Es war Harald, der grausame Seekö-nig, und ich fragte mich, wohin meine Reise nun ging…

Die Wikinger-Zombies von�Haithabu�

heißt C. W. Bachs 40. Hellmann-Roman. Holt ihn Euch!

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