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Husserls Begriff der Kinästhese und seine Entwicklung

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Husserls Begriff der Kina ¨sthese und seine Entwicklung Christian Ferencz-Flatz Ó Springer Science+Business Media Dordrecht 2013 1 Einleitung Der Begriff Kina ¨sthese ist in der Husserl-Literatur durchaus gela ¨ufig. Trotzdem fehlt bis heute eine umfassende Ero ¨rterung seiner Bedeutung und seiner Spielfor- men sowie auch seiner konkreten Entwicklungsgeschichte bei Husserl. 1 Vermutlich wu ¨rde fast jeder Husserl-Kenner – wenn danach fragt – ohne weiteres antworten, Kina ¨sthesen seien jene Bewegungsmo ¨glichkeiten des leiblichen Subjekts, durch die sich seine Wahrnehmungsgegensta ¨nde auf ihrer elementarsten Stufe (jene der sogenannten ,,Sinnesdinge‘‘) konstituieren. Das ist bestimmt richtig, da fu ¨r Husserl in der Tat Wahrnehmung ihre Gegensta ¨nde eben nicht in einer augenblicklichen ,,Impression‘‘ voll erschließt, sondern sie vielmehr in mannigfaltigen Zu- sammenha ¨ngen von ,,Abschattungen‘‘, d. h. in zusammenha ¨ngenden Sequenzen partieller Darstellung kontinuierlich aufbaut, wobei eben im Rahmen dieses Prozesses die leibliche Bewegungsfreiheit des Subjekts unter dem Titel ,,Kina ¨s- these‘‘ eine entscheidende Rolle spielt. Obwohl nun also tatsa ¨chlich Vieles bei Husserl diese Auffassung ohne weiteres unterstu ¨tzt, muss dennoch beru ¨cksichtigt werden: (1) dass dies keineswegs der u ¨berlieferten Bedeutung des Terminus entspricht, so wie sie Husserl zuna ¨chst vorfindet und (2) dass es eigentlich auch nicht der Weise entspricht, in der Husserl selbst den Begriff in seiner Fru ¨hzeit gebraucht. Kurz gefasst: Der Begriff Kina ¨sthese erfa ¨hrt einen pra ¨gnanten Die vorliegende Arbeit wurde von CNCS-UEFISCDI (Projekt PN II-RU TE-156/2010) unterstu ¨tzt. C. Ferencz-Flatz (&) Romanian Society for Phenomenology, Blvd. M. Kogalniceanu 49, ap. 45, 050104 Bucharest, Romania e-mail: [email protected] 1 Zu erwa ¨hnen wa ¨ren in dieser Hinsicht besonders: Claesges (1964), Claesges’ ,,Einleitung des Herausgebers‘‘ zu Hua XVI, Drummond (1984), Melle (1983), S. 114–120, Piedade (2001), Przybylski (2006) und Mattens (2009). 123 Husserl Stud DOI 10.1007/s10743-013-9137-6
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Page 1: Husserls Begriff der Kinästhese und seine Entwicklung

Husserls Begriff der Kinasthese und seine Entwicklung

Christian Ferencz-Flatz

� Springer Science+Business Media Dordrecht 2013

1 Einleitung

Der Begriff Kinasthese ist in der Husserl-Literatur durchaus gelaufig. Trotzdem

fehlt bis heute eine umfassende Erorterung seiner Bedeutung und seiner Spielfor-

men sowie auch seiner konkreten Entwicklungsgeschichte bei Husserl.1 Vermutlich

wurde fast jeder Husserl-Kenner – wenn danach fragt – ohne weiteres antworten,

Kinasthesen seien jene Bewegungsmoglichkeiten des leiblichen Subjekts, durch die

sich seine Wahrnehmungsgegenstande auf ihrer elementarsten Stufe (jene der

sogenannten ,,Sinnesdinge‘‘) konstituieren. Das ist bestimmt richtig, da fur Husserl

in der Tat Wahrnehmung ihre Gegenstande eben nicht in einer augenblicklichen

,,Impression‘‘ voll erschließt, sondern sie vielmehr in mannigfaltigen Zu-

sammenhangen von ,,Abschattungen‘‘, d. h. in zusammenhangenden Sequenzen

partieller Darstellung kontinuierlich aufbaut, wobei eben im Rahmen dieses

Prozesses die leibliche Bewegungsfreiheit des Subjekts unter dem Titel ,,Kinas-

these‘‘ eine entscheidende Rolle spielt. Obwohl nun also tatsachlich Vieles bei

Husserl diese Auffassung ohne weiteres unterstutzt, muss dennoch berucksichtigt

werden: (1) dass dies keineswegs der uberlieferten Bedeutung des Terminus

entspricht, so wie sie Husserl zunachst vorfindet und (2) dass es eigentlich auch

nicht der Weise entspricht, in der Husserl selbst den Begriff in seiner Fruhzeit

gebraucht. Kurz gefasst: Der Begriff Kinasthese erfahrt einen pragnanten

Die vorliegende Arbeit wurde von CNCS-UEFISCDI (Projekt PN II-RU TE-156/2010) unterstutzt.

C. Ferencz-Flatz (&)

Romanian Society for Phenomenology, Blvd. M. Kogalniceanu 49, ap. 45, 050104 Bucharest,

Romania

e-mail: [email protected]

1 Zu erwahnen waren in dieser Hinsicht besonders: Claesges (1964), Claesges’ ,,Einleitung des

Herausgebers‘‘ zu Hua XVI, Drummond (1984), Melle (1983), S. 114–120, Piedade (2001), Przybylski

(2006) und Mattens (2009).

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DOI 10.1007/s10743-013-9137-6

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Bedeutungswandel bei Husserl und eben dieser Entwicklung soll hier nachgegangen

werden.

2 Begriffsgeschichte

Der Begriff Kinasthese geht wie bekannt auf zwei griechische Worte zuruck (kinesis

und aisthesis). Der zusammengesetzte Ausdruck ist indessen neuzeitig und bezieht

sich ursprunglich auf die eigentumliche Empfindung leiblicher Bewegungen. Mit

Bezug darauf erhellt zugleich auch die von Husserl vorgenommene, schon

angedeutete Bedeutungsverschiebung des Begriffs, da der Terminus in seiner

spateren Auffassung eben nicht mehr die Empfindung der eigenen leiblichen

Bewegung, sondern vielmehr die leiblichen ,,Bewegungen, die zum Wesen der

Wahrnehmung gehoren‘‘2, wie es in Erfahrung und Urteil heißt – d. h. nicht die

Wahrnehmungsgegebenheit der Bewegung, sondern vielmehr den Bewegungsfaktor

der Wahrnehmung – bezeichnet. Auf diesen Bedeutungswandel, wodurch das

Verhaltnis von kinesis und aisthesis in der Bedeutungsstruktur des Ausdrucks

schlichtweg umgekehrt wird, soll gleich naher eingegangen werden. Zunachst seien

hier noch kurz einige Ausfuhrungen zur fruheren Bedeutungsgeschichte des

Begriffs vorangestellt.3

Anscheinend ist zwar nicht der Terminus ,,Kinasthese‘‘ selbst, wohl aber der

Gedanke dahinter schon wahrend der Renaissance belegt. Der italienische

Humanist, Aristoteles-Interpret und Naturforscher Giulio Caesare della Scala

behauptete schon 1557, in seinen Exoterischen Exerzitien zu Hieronymus Cardanus’

Traktat De subtilitate, Bewegung sei eigentlich nicht, wie damals weithin geglaubt,

durch den Tastsinn vernommen. Im Gegenteil bemuhte della Scala dafur eine

eigentumliche ,,Bewegungskraft‘‘, auch ,,Bewegungssinn‘‘ oder ,,Bewegungsemp-

findung‘‘ genannt. Dieser Begriff einer Bewegungs- oder auch Muskelempfindung

taucht dann zwar ofters, in unterschiedlichen Zusammenhangen, wahrend des 17.

und 18. Jahrhunderts auf, findet aber seine endgultige und fur uns wesentliche

wissenschaftliche Pragung erst in psycho-physiologischen und philosophischen

Auslaufern des englischen Empirismus in der ersten Halfte des 19. Jahrhunderts.

Bedeutend ist dabei zum einen die vom Physiologen Charles Bell 1811 eingefuhrte

Unterscheidung von sensitiven und motorischen Nerven, woraufhin der Muskelsinn

schon 1826 als sechster Sinn gefeiert wird, und zum anderen die Berufung des

Philosophen William Hamilton, einem Erben der schottischen Common Sense

Philosophie, auf einen eigentumlichen ,,Bewegungssinn‘‘, eine Vorstellung auf die

sich einige Jahre fruher schon Thomas Brown, ein anderer schottischer Denker

derselben Schule, bezieht. In seiner Dissertation zu der 1836 begonnenen Ausgabe

der Werke Thomas Reids, unterscheidet Hamilton ausdrucklich, entgegen ihrer

traditionellen Identifizierung, zwischen Bewegungskraft (locomotive faculty) und

Muskelsinn (muscle sense) und spricht der Ersteren die Erfassung der von ihm

2 EU, S. 89.3 Die folgende Darstellung grundet auf W. Hamiltons Fußnote in Reid (1895), S. 864 f., und Wade

(2005).

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sogenannten ,,sekundo-primaren‘‘ Qualitaten zu. Das sind Qualitaten, die nicht bloß

als objektiv wie die primaren, aber auch nicht bloß als subjektiv wie die sekundaren

gelten, sondern eben auf einer Interaktion von Subjekt und Objekt beruhen. Dazu

zahlt Hamilton ausdrucklich auch Bewegung. Hamiltons Unterscheidung bezieht

sich im Wesentlichen darauf, dass der Muskelsinn als eine passive Empfindung, der

Bewegungssinn aber als eine aktive Anspannung verstanden werden.

In seinem 1855 erschienenen Werk, The senses and the intellect, bestreitet der

englische Physiologe, Psychologe und Philosoph Alexander Bain Hamiltons

Unterscheidung. Er behauptet im Gegenteil, das Gefuhl aktiver Anspannung, das

Hamilton der locomotive faculty zuschreibt, sei eben das Wesenskennzeichen des

Muskelbewusstseins. In seiner physiologisch zentrierten Psychologie erhalt die

Muskel- oder eben auch Bewegungsempfindung eine durchaus zentrale Stellung

gegenuber allen sogenannten normalen Sinnesempfindungen. Diese theoretische

Aufwertung der Bewegungsempfindung hangt offensichtlich auch mit wichtigen

Durchbruchen in der ersten Halfte des 19. Jahrhunderts im Bereich der empirischen

Erforschung des Vestibularapparats und der damit verbundenen Schwindelgefuhle

zusammen. 1880 wird dann endlich auch der Begriff Kinasthese vom englischen

Physiologen Henry Charlton Bastian in seinem Werk The Brain as an organ of the

mind als alternativer Terminus zur bis dahin ublichen ,,Muskelempfindung‘‘

eingefuhrt. Der Begriff erweist sich der fruheren Bezeichnung gegenuber als

allgemeiner und wird ihr deshalb vorgezogen, weil in der Erfassung der leiblichen

Bewegung nicht nur Muskelempfindungen, sondern eben auch solche der Sehnen

und Gelenke mitspielen. Heute wird in der Physiologie vorwiegend ein wiederum

anderer Terminus – und zwar der von Charles Scott Sherrington 1906 eingefuhrte

Begriff der Propriozeption4 – vorgezogen.

Fur Husserl selbst ist nun zunachst, laut Ulrich Claesges, gerade Alexander Bains

Konzeption von Einfluss gewesen.5 Bekannt war ihm dessen Werk, The senses and

the intellect auf jeden Fall aus Stumpfs Arbeit Vom psychologischen Ursprung der

Raumvorstellung (1873), wo es eingehend referiert wird. Unmittelbar kannte

Husserl – laut Schumanns Husserl-Chronik – schon aus den achtziger und neunziger

Jahren zwei spatere Werke Bains: Mental and Moral Science (1868) und Mind and

Body (1872), das Husserl in deutscher Ubersetzung besaß.6 Ob er auch The Senses

and the Intellect direkt gelesen hat ist ungewiss. Jedenfalls hat Husserl die

Darstellung Stumpfs intensiv studiert und mit zahlreichen Randbemerkungen

versehen. Wichtig ist ihm dabei bestimmt Bains Behauptung gewesen, Raum sei in

Tast- und Sichtempfindungen allein nicht erschließbar, sondern eben nur mittels

einer zusatzlichen ,,Bewegungsempfindung‘‘.

Aus Sicht unserer Untersuchung ist allerdings bloß die Herkunft des Hus-

serl‘schen Terminus aus diesem gesamten Problemhorizont von Belang, da Husserl

selbst ihn zunachst gerade mit Bezug auf den traditionellen Begriff der

4 Sherrington unterscheidet grundsatzlich zwischen Introzeption und Extrozeption und teilt dann die

Introzeptionen in Propriozeptionen (Empfindungen von Lage und Bewegung) und Viszerozeptionen

(Empfindungen der inneren Organe und ihrer Tatigkeit) ein.5 Vgl. U. Claesges, ,,Einleitung des Herausgebers‘‘, in: Hua XVI, S. XXIV.6 Schuhmann (1977), S. 8 und 34.

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Bewegungsempfindung einfuhrt: ,,Doch muß ich terminologisch gleich bemerken,

dass das Wort Bewegungsempfindung fur uns unbrauchbar ist, da nicht gemeint sein

soll, dass wir die Bewegung des Dinges empfinden oder auch nur, dass sich in ihnen

Bewegung des Dinges darstellt. Bekanntlich bezieht sich das Wort auf den sich

Bewegenden und will psychologisch verstanden sein. Wir werden unter Ausschluß

der psychologischen Bedeutung das Wort kinasthetische Empfindung, das als

Fremdwort weniger beirrend ist, verwenden.‘‘7

3 Die kinasthetischen Empfindungen in Ding und Raum (1907)

Laut Dorion Cairns Schilderung in seinen Gesprachen mit Husserl und Fink soll

Husserl schon in einer geplanten Beilage zu den Logischen Untersuchungen das

Problem der Kinasthesen in Angriff genommen haben.8 Da die Darstellung aber als

ungenugend empfunden wurde, wurde sie letztendlich in die Veroffentlichung nicht

aufgenommen. Dieser erste misslungene Ansatz Husserls zur Frage der Kinasthesen

ist nicht erhalten.9 Die Wahrnehmungsanalysen der Vorlesung des WS 1904/05,

Hauptstucke aus der Phanomenologie und Theorie der Erkenntnis, gehen auf diesen

spater so bedeutenden Punkt gar nicht ein. Deshalb gelten die eingehenden

Betrachtungen der Vorlesung des Sommersemesters 1907, Ding und Raum, mit

gutem Grund weithin als erster bedeutender Ausdruck der Husserl’schen Kin-

asthesenlehre. Im Folgenden soll zunachst dieser erste klar ausgearbeitete Ansatz

Husserls erlautert werden, um dann etliche Zweideutigkeiten aufzuzeigen, zu denen

die weitere Ausarbeitung dieses ersten Ansatzes gefuhrt hat. Mit Bezug auf diese

wollen wir dann schließlich die spateren Entwicklungen des Begriffs als Losungs-

versuche deuten.

In der Dingvorlesung ist allerdings uberraschenderweise der Begriff Kinasthese

als solcher gar nicht zu finden. Dies ist in der Tat insofern sonderbar, als der

Herausgeber der Vorlesung, Ulrich Claesges, ihn dennoch ohne Weiteres als Titel

eines gesamten Kapitels einsetzt. Gesprochen wird in der Dingvorlesung des

Ofteren von ,,kinasthetischen Verlaufen‘‘, ,,kinasthetischen Lagen‘‘, oder sogar von

,,kinasthetischen Bildern‘‘ und ,,kinasthetischen Situationen‘‘, aber eben nicht

schlechthin von ,,Kinasthesen‘‘. Der zentrale Terminus ist dagegen zweifelsohne

jener der ,,kinasthetischen Empfindung‘‘, ein Ausdruck der, wie schon angedeutet,

an Stelle der fur unpassend erachteten ,,Bewegungsempfindung‘‘ tritt.

Es geht hier also, in Husserls Betrachtungen, grundsatzlich um eine Empfindung –

und zwar eine Empfindung eigener leiblicher Bewegung – doch ihre genaue

Umgrenzung als solche erweist sich als gar nicht so einfach. Husserl unterscheidet

namlich die kinasthetischen Empfindungen grundsatzlich von allen eigentlich

7 Hua XVI, S. 161.8 Cairns (1976), S. 6.9 Eine bundige Besprechung der Augen- und Kopfbewegungen ist allerdings schon in einer

Aufzeichnung aus 1893 ohne Bezugnahme auf den Terminus ,,Kinasthese‘‘ zu finden, vgl. Hua X, S.

144–151. Die Darstellung scheint einige bedeutende Ideen der Dingvorlesung vorwegzunehmen.

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,,darstellenden‘‘ Empfindungen.10 Letztere sind Empfindungen mit einem

entsprechenden Empfindungsfeld, in dem sich qualitative Merkmale des sinnlich

gegebenen Dinges darstellend projizieren. Hingegen gehoren kinasthetische

Empfindungen nicht zu der darstellenden Projektion des Dinges, da ihnen eben

nichts Qualitatives am Ding direkt entspricht. Obwohl, laut Husserl, ohne ihre

Mitwirkung kein Ding fur uns als solches da sein kann, ,,ermoglichen‘‘ sie bloß seine

Darstellung, aber sie stellen selbst nicht dar. Allerdings bemerkt Husserl, dass

kinasthetische Empfindungen dennoch darstellend fungieren konnen, und zwar mit

Bezug auf den eigenen Leib, aber darin soll letzten Endes bloß eine mogliche

Auffassungsmodifikation dieser Empfindungen liegen: sie konnen in subjektivieren-

der Einstellung aufgefasst werden, und vergegenstandlichen so tatsachlich darstel-

lend den Leib, aber in ihrer ursprunglichen objektivierenden Funktion im Rahmen

der Dingkonstitution fungieren sie eben nicht darstellend, sondern nur ,,Darstellung

ermoglichend‘‘.

Die grundsatzliche Unterscheidung von kinasthetischer und darstellender Emp-

findung wird allerdings im Vorlesungsmanuskript nicht ganz streng durchgehalten,

da Husserl z.B. die Frage offen lasst, ob kinasthetische Empfindungen nicht doch

einem weiteren Begriff der Tastempfindungen eingeordnet werden konnen.11 Ein

spaterer Erganzungstext aus 1916 scheint dies letztendlich eindeutig zu bestreiten,

darauf bestehend, dass das kinasthetische Feld als solches nicht als ein eigentliches

Sinnesfeld gelten kann; insofern kann freilich auch nicht von einem ,,kinasthetis-

chen Sinn‘‘ gesprochen werden. So klar steht aber die Sache 1907 noch lange nicht,

da Husserl hier offensichtlich darum bestrebt ist, die Kinasthesen als einen

eigentumlichen Bereich sinnlicher Empfindungen zu denken.

Bezeichnend ist in dieser Hinsicht das Verhaltnis der kinasthetischen

Empfindungen zu den Leibbewegungen im Begriff der ,,kinasthetischen Verlaufe‘‘:

,,Naturlich haben wir es bei ‘Augen-, Kopf-, Handbewegungen’ usw. mit

kontinuierlichen Empfindungsverlaufen zu tun, die sich beliebig terminieren und

deren jede Phase sich bei unverandertem Inhalt in eine Dauer ausbreiten laßt. Diese

unveranderten Empfindungen ergeben uns also die schlichten kinasthetischen

Empfindungen im Gegensatz zu den kinasthetischen Veranderungen oder Verlau-

fen.‘‘12 Die Leibbewegungen werden hier offensichtlich noch keineswegs als

,,Vermoglichkeiten‘‘, als praktische Moglichkeiten des ,,Ich kann‘‘ usw. gedacht –

wie Husserls Auffassung gewohnlich auf Grund seiner spateren Texte gedeutet wird –

sondern sie werden einfach als kontinuierliche Empfindungsreihen betrachtet, denen

allerdings das sonderbare Merkmal eignet, dass sie ,,sich beliebig terminieren‘‘

lassen. Die Rede von ,,Verlaufen‘‘ ist dabei freilich auch insofern bedeutend, als

kinasthetische Empfindungen ihre eigentliche konstitutive Funktion eben nur in

zeitlichen Ablaufen entfalten13, wobei Husserl in dieser Hinsicht zwischen stetigen

10 Hua XVI, S. 151.11 Hua XVI, S. 161: ,,Ob sie eine grundwesentliche neue Grundgattung von Empfindungen ausmachen

oder nicht vielmehr mit den Tastempfindungen in eine obere Gattung zusammengehoren, das ist eine

Doktorfrage.‘‘12 Hua XVI, S. 161.13 Vgl. Hua XVI, S. 170.

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und sich verandernden Reihen kinasthetischer Empfindungen unterscheidet. Als

,,Verlauf‘‘ wird dabei oft einfach eine nicht stetige kinasthetische Reihe bezeich-

net.14 Trotz der pragnanten Unterscheidung von Selbstbewegung und passiver

Lokomotion und trotz Husserls Versicherung, die kinasthetischen Empfindungen

seien konstant mit Leibbewegungen ,,verbunden‘‘15, werden letztere dennoch als

solche stets auf Bewegungsempfindungen reduziert. Eine Leibbewegung vollziehen

bedeutet daher fur Husserl zunachst einfach ,,einen kinasthetischen Verlauf

inszenieren‘‘16, wobei der Nachdruck nicht auf dem ,,Inszenieren‘‘, sondern eben

auf dem Empfindungsverlauf als solchem liegt. Deutlicher noch im folgenden

Absatz: ,,Damit ist aber gesagt, dass die Konstitution der objektiven Lage und

objektiven Raumlichkeit wesentlich vermittelt ist durch die Leibesbewegung,

phanomenologisch gesprochen, durch die kinasthetischen Empfindungen, sei es

durch konstante, sei es durch verlaufende, durch kinasthetische Verlaufe.‘‘17

,,Phanomenologisch gesprochen‘‘ sind also fur Husserl zunachst Leibbewegungen

nichts Anderes als kinasthetische Empfindungen.

Wie dem auch sei, wesentlich werden fur Husserls Ansatz nicht so sehr die

Eigentumlichkeiten der Bewegungsempfindung selbst, sondern ihre Funktion als

nicht darstellende, aber ,,Darstellung ermoglichende‘‘ Wahrnehmungskomponente.

Die Erorterung dieser Funktion erfolgt wie bekannt mittels einer eingehenden

Besprechung der Zusammenwirkung kinasthetischer Empfindungen mit visuellen

Empfindungen in der Konstitution des Raumdinges. Die jeweilige Gegebenheit

eines Raumdinges baut sich namlich fur Husserl stets aus zwei Faktoren oder

Komponenten auf, die als K-Faktor (die kinasthetische Empfindung) und b-Faktor

(,,Bild‘‘ oder visuelle Abschattung) bezeichnet werden. Ihr Zusammenhang ist kein

wesentlicher – d.h. ein bestimmtes K hangt nicht notwendig mit einem bestimmten

b zusammen, da jedem K uberhaupt jedes b zukommen kann –, sondern ein

funktioneller, und das heißt eben: Jedes Anderungsdifferential des K bedingt als

solches ein entsprechendes Anderungsdifferential des b in gegenseitiger Ab-

hangigkeit ihrer Variation. Trotz dieser von Husserl ofters beteuerten ,,Ge-

genseitigkeit‘‘ – er spricht die beiden Faktoren ubrigens auch als ,,gleich

machtig‘‘ an – kommt ihnen im Prozess der Dingkonstitution eine durchaus

asymmetrische Funktion zu: wahrend das b als Erscheinung des Dinges gilt und

demnach auch eigens vermeint wird, ist das K stets nur peripher mitfungierend, als

Umstand betrachtet. ,,Umstand‘‘ und ,,Erscheinung‘‘ bilden somit eine eigentumli-

che Auffassungseinheit, in der allein sich das Ding als solches fur uns darstellen

kann, in seiner Ruhe oder Veranderung.18

14 Vgl. auch Hua XVI, S. 176.15 Hua XVI, S. 282.16 Hua XVI, S. 278.17 Hua XVI, S. 176.18 Ruhe und Veranderung sind ihrerseits, laut Husserl, als dingliche Zustandlichkeiten keineswegs rein

darstellend gegeben, sondern eben nur in der Zuordnung der erscheinungsmaßigen Darstellung zu

kinasthetischen Umstanden zu erfassen; vgl. Hua XVI, S. 277: ,,Der ganze Unterschied zwischen Ruhe

und Veranderung besteht ja in der kinasthetischen Zuordnung.’’

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Die eigentumliche Zuordnung von b und K-Faktoren wird aus genetischer Sicht

durch Assoziation, in deskriptiver Hinsicht aber als Motivation gedeutet. Allerdings

ist von Assoziation hier in einem eigentumlichen Sinn die Rede, da es eben, wie

gesehen, nicht um die Verbindung eines bestimmten K mit einem bestimmten b

geht, d.h. um die Verbindung zweier gegebener Inhalte als solcher, sondern

vielmehr um die Zusammenstellung eines vorbekannten Verlaufs von K mit einer

typisch zu erwartenden, aber eben noch inhaltlich unbestimmten Verlaufsform des

b: ,,die K-Empfindungen sind das uberall in gleicher Bestimmtheit und Form

Gegebene oder Ablaufende. Die Bilder sind das uberall Neue, oder vielmehr die Art

der Bedeckung des uberall identisch gegebenen visuellen Ortsfeldes ist das uberall

Neue, und nur die Form ihres Verlaufes in paralleler Einheit mit dem K-Verlauf ist

das Gemeinsame.‘‘19

In der deskriptiven Auffassung dieser Einheit als Motivationszusammenhang

kommt es indessen explizite auf den Funktionsunterschied der beiden Faktoren an.

Dies bezieht sich bei Husserl vornehmlich darauf, dass das K als Motivant oder

Motivationstrager, das b hingegen als Motiviertes oder als terminus ad quem der

Motivation gilt. Dasselbe kann auch folgendermaßen ausgedruckt werden: Jeder

Verlauf von Erscheinungen ist entweder direkt als Erscheinung infolge eines

kinasthetischen Verlaufes aufgefasst – und d.h. eben: er steht in einem direkten

Verhaltnis des wenn-so mit jenem – oder aber, falls die Variationsreihe des b von

den Vorzeichnungen des K abweicht, es gelten eben dadurch jene Erscheinungen als

Erscheinungen von Veranderung statt Ruhe.20 Die Erscheinung steht demnach in

beiden Fallen wesentlich unter motivierenden Umstanden, wobei bloß fraglich

bleibt, ob sie, in Hinsicht ihrer kinasthetischen Motivationsgrundlage, er-

wartungsgemaß oder nicht erwartungsgemaß ablauft. Motivation ist dabei

grundsatzlich als eine Zusammenhangsform der Erwartung zu verstehen, wobei

im Verhaltnis von K und b das Eigentumliche darin liegt, dass in der jeweiligen

Dingerscheinung sich stets eine doppelte Ablauferwartung verflicht. Zum einen

gibt es hier namlich eine Erwartung der Darstellung, d.h. die darstellende Intention

geht durch das jeweilige b auf je weitere, kunftig aktualisierbare Bilderverlaufe.

Zum anderen aber entsprechen auch den K selber eigene erwartungsmaßige

Ablaufintentionen, die keineswegs mit den Ersteren zusammenfallen. Husserl

unterscheidet also zwar schon ausdrucklich zur Zeit der Dingvorlesung die

Moglichkeiten von K und die Moglichkeiten von b und weist auf ihr Verhaltnis

hin, er spricht aber in beiden Fallen einformig bloß von einem ,,Hof von quasi-

Intentionen‘‘ und eben keineswegs schon in Bezug auf Letztere von praktischen

,,Vermoglichkeiten‘‘. Das Wesentliche liegt fur ihn vielmehr darin, dass die

Moglichkeiten des b als motivierte Moglichkeiten21 – und genauer als funktional

motivierte Moglichkeiten – gegenuber den motivierenden Moglichkeiten von K

begriffen werden.

19 Hua XVI, S. 184.20 Hua XVI, S. 240.21 Der Begriff der ,,motivierten Moglichkeit‘‘ ist hier schon als terminus technicus gefasst; vgl. dazu Hua

III/1, S. 324 f. Bezeichnend ist dabei allerdings die Tatsache, dass Husserl hier, um den Unterschied von

motivierten und leeren oder logischen Moglichkeiten zu umgrenzen, gerade auf die von den

Wahrnehmungs-,,Umstanden‘‘ abhangigen Wahrnehmungsmoglichkeiten zuruckgreift.

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Das Zusammenspiel der beiden Faktoren kann in der Tat auch als ein

konditioneller Erwartungszusammenhang bezeichnet werden. Dabei entspricht

jeder moglichen Mannigfaltigkeit kinasthetischer Umstande eine mogliche Mannig-

faltigkeit von Erscheinungen. Da erstere sich fur Husserl grundsatzlich in partielle,

relativ eigenstandige Systeme von Verlaufen gliedern (jene der verschiedenen

Organbewegungen etwa), entsprechen ihnen als solche auch partielle Systeme der

Erscheinung, in denen sich dann graduell Schichten der Raumdinglichkeit aufbauen.

Im kinasthetischen Gesamtsystem, das sie umfasst, gilt jede einzelne kinasthetische

Mannigfaltigkeit als ein variables System, und zwar so, dass ihre entsprechenden

Verlaufe sowohl in Stilllegung der anderen als auch in Zusammenstellung mit ihnen

inszeniert werden konnen, mit korrelativen Modifikationen der Erscheinung.22 Aus

Sicht dieser Betrachtungen bemerkt Husserl allerdings auch, dass sich die

Erscheinungen als solche, konkret gefasst, eigentlich stets auf einen Gesamtkom-

plex kinasthetischer Umstande und nicht bloß auf einzelne, partielle kinasthetische

Indizes beziehen, genauer: sie sind stets auf die kinasthetische Situation als Ganzes

bezogen, die somit als ihre konkrete Motivationslage fungiert.23 Dieser durchaus

zentrale Begriff der kinasthetischen Situation wird nicht genauer erlautert, er wird

aber ofters auch mit ,,Leibstellung‘‘24 im Allgemeinen oder auch mit ,,Lage‘‘25

gleichgesetzt und umschreibt damit eben die Gesamtheit der jeweiligen

erscheinungsrelevanten kinasthetischen Umstande. In Bezug darauf konstituiert sich,

wie aus einer spateren Beilage zum Vorlesungsmanuskript erhellt, die Orientierung

des Dinges: ,,Indem das sinnliche ‘Bild‘, die Abschattung als solche, konstituiert ist,

also bezogen ist auf das kinasthetische System und seine Stelle, ist das Objekt in

einer bestimmten Orientierung gegeben.‘‘26 Aus dieser Sicht bilden also Orientierung

und Situation korrelative Begriffe im sogenannten ,,K/b Komplex‘‘.

4 Der kinasthetische Ablauf als Empfindnis und Leibbewegung in den Ideen II

Etliche Begriffe dieser ersten Husserl’schen Interpretation der Kinasthesen werden in

der Folgezeit, und zwar vornehmlich im zweiten Buch der Ideen, eingehend vertieft.

Zwei besonders relevante Themen der Dingvorlesung sind hier genauer ausgefuhrt:

der Begriff der Umstande und jener der Motivation. Daruber hinaus entwickelt

Husserl nun auch die Idee der ,,praktischen Moglichkeiten‘‘ (des ,,Ich kann‘‘), die kurz

nach der Ausarbeitung der Ideen die zentrale Rolle in der Erlauterung des Begriffs

ubernehmen sollte, sowie auch eine komplexe Auffassung der Leiblichkeit als

,,Organ‘‘. Aus all dem erwachsen auch neue Einsichten in die Problemstellung der

Kinasthesen, die aber tatsachlich erst in der Folgezeit zu einer sicheren,

22 Dabei erwahnt Husserl auch die eigentumliche Moglichkeit, dass Verlaufe des einen Systems fur

solche eines anderen ,,vikarieren‘‘ oder ,,surrogieren‘‘.23 Vgl. Hua XVI, S. 245.24 Vgl. Hua XVI, S. 267.25 Vgl. Hua XVI, S. 271 f.26 Hua XVI, S. 299.

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zusammenhangenden Kristallisation gelangen. Dabei ist bezeichnenderweise der

Begriff Kinasthese zur Zeit der Ideen II als solcher noch immer nicht zu finden.

a) Kinasthetische Verlaufe als ,,Umstande’’. Der Begriff der Umstande bestimmt

im Argumentationsschema der Ideen II den Ubergang von der Konstitutionsstufe

der bloßen aistheta (der ,,Sinnesdinge‘‘) zu jener der realen Dinglichkeit. Reale

Eigenschaften sind namlich uberhaupt nicht auf der Stufe rein sinnlicher Ersche-

inung (was Husserl als ,,Dingphantom‘‘ oder ,,Schema‘‘ bezeichnet) und prinzipiell

nicht in isolierter Betrachtung eines Einzeldinges zu erfassen, sondern eben stets nur

mit Bezug auf Umstande. Was die reale Dingauffassung als solche von der bloßen

Phantomauffassung trennt, ist daher gerade die Tatsache, dass hier verschiedene,

parallel ablaufende Abwandlungen der sinnlichen Schemen nicht einfach zu einem

Gesamtschema oder -phantom zusammenfließen, sondern vielmehr eine eigentumli-

che funktionelle Verbindung eingehen. Erscheinung und Umstand bilden somit

einen Zusammenhang des wenn-so, wobei sich die Realitat des erscheinenden

Dinges und seiner Eigenschaften eben in diesem Verhaltnis bewahrt. Husserl

erlautert dies am Beispiel der Konstitution der realen Dingfarbe unter wechselnder

Beleuchtung. Er bezeichnet diese eigentumliche Auffassungseinheit – der ,,Bekun-

dung unter Umstanden‘‘27 – als ,,realisierende Auffassung‘‘. Sie bewirkt nicht nur

allgemein die Konstitution realer Eigenschaften als solcher, sondern daruber hinaus

auch die Apperzeption ihres grundlegenden Abhangigkeitsverhaltnisses von ihren

bestimmten Umstanden als eine kausale Beziehung. Die reale Auffassung eines

Dinges ist also zugleich auch seine kausale Betrachtung.

Von dieser bestimmten Art von Umstanden, die Husserl auch als ,,objektive‘‘

bezeichnet, unterscheidet er nun die subjektiven Umstande. Diese bestimmen –

zunachst eben am Beispiel der kinasthetischen Verlaufe – schon die Stufe der rein

asthetischen Dingkonstitution. Dabei scheint Husserl zunachst die kinasthetischen

Umstande grundsatzlich weiterhin bloß als Empfindungen zu betrachten, doch

schreibt er ihnen nun auch eine seltsame Spontaneitat zu: ,,Zugleich geht hervor,

dass zu jeder Wahrnehmung Funktionen der Spontaneitat gehoren. Die Verlaufe

kinasthetischer Empfindungen sind hier freie Verlaufe, und diese Freiheit im

Ablaufsbewusstsein ist ein wesentliches Stuck der Konstitution von Raumlich-

keit.‘‘28 Dass Empfindungskomplexe als solche ,,frei‘‘ sein konnten, mag erstaunen.

Allerdings bleibt diese Bemerkung zunachst eher unsicher, da nur einige Seiten

weiter oben eine andere Stelle vielmehr anzudeuten scheint, dass nicht die

kinasthetischen Verlaufe selber, sondern die mit ihnen verflochtenen darstellenden

Empfindungsakte als spontane gelten sollen: ,,Zur Moglichkeit der Erfahrung gehort

aber die Spontaneitat der Ablaufe der von kinasthetischen Empfindungsreihen

begleiteten und von ihnen als abhangig motivierten darstellenden Emp-

findungsakte‘‘29. Was hier wohl als ,,Empfindungsakt‘‘ bezeichnet wird, ist nicht

ganz deutlich zu ermitteln.

An einer weiteren Stelle der Ideen II kommt Husserl indessen wiederum dazu,

die Abhangigkeit der wahrnehmungsmaßigen Dingkonstitution von den

27 Zu Husserls Begriff der ,,Bekundung‘‘, vgl. Ferencz-Flatz (2010), S. 189–203.28 Hua IV, S. 58.29 Hua IV, S. 56.

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kinasthetischen Umstanden zu erlautern und spricht dabei vom ,,kontinuierlichen

Ablauf der zugehorigen kinasthetischen Empfindungskomplexe, bzw. der entspre-

chenden Ubergangsphanomene (‘Bewegungsphanomene‘) der Empfindungskompl-

exe‘‘30. Die Stelle lasst Husserls Verlegenheit deutlich erkennen, im Falle der

kinasthetischen Ablaufe im eigentlichen Sinne von ,,Bewegung‘‘ zu sprechen, wobei

gleich anschließend dasselbe Phanomen aus einer ,,objektiven‘‘ Sicht als ,,Aug-

enbewegung‘‘ bezeichnet wird. Zwischen den beiden Auffassungen herrscht eine

eigentumliche Spannung. Dabei scheinen fur Husserl zunachst die kinasthetischen

Verlaufe nur mittels ihrer Lokalisation im Leib, und somit ihrer ,,Objektivierung‘‘,

eigentlich als spontane Bewegungen bezeichnet werden zu konnen.31 Dagegen

spricht eine andere Stelle der Arbeit, an der Husserl direkt von der ,,Freiheit des

Kinasthetischen‘‘32, sowie auch von den ,,mit der Freiheit der kinasthetischen

Ablaufe Hand in Hand gehende[n] freie[n] Bewegungen‘‘ des Leibes redet.

Allerdings sind beide Wendungen in einer eher riskanten Uberlegung Husserls zu

finden, die sich auf die Frage bezieht, ob ein bloß optisch bestimmtes Subjekt einen

eigenen Leib haben konnte oder nicht. Husserl spricht einem solchen Subjekt ohne

weiteres kinasthetische Motivationen zu, die wohl den optischen Zu- und

Abwendungen entsprechen, doch betont er zugleich, dass diese eben nicht leiblich

aufgefasst werden konnen. Letztere Bemerkung scheint in der Tat die Moglichkeit

leibloser Kinasthesen theoretisch offen zu lassen. Wie diese aber konkret als

,,Empfindungen‘‘ zu verstehen waren, ist nicht ganz deutlich.

b) Die Leiblichkeit der Kinasthesen. Husserl kommt im weiteren Verlauf der

Abhandlung, und zwar in seiner Besprechung der ,,aesthesiologischen‘‘ Konstitution

der Leiblichkeit – d.h. in der Betrachtung des Leibes als Empfindungstrager –

wiederum auf die Frage der Kinasthesen zuruck. Das Beispiel einer tastenden

Handbewegung erlauternd, unterscheidet er dabei zunachst, genau wie in der

Dingvorlesung, zwischen ,,darstellenden‘‘ und ,,kinasthetischen‘‘ Empfindungen,

allerdings unter der neuen Bezeichnung der ,,reprasentierenden‘‘ Tastempfindungen

einerseits und der bloß ,,anzeigenden‘‘ Bewegungsempfindungen andererseits.33

Dabei bemerkt Husserl sogleich, dass im Bereich des Taktilen eine eigentumliche

Doppelauffassung vorliegt, infolge welcher jede Tastempfindung als solche

zugleich eine entsprechende eigentumliche Empfindung des eigenen Leibes

aufweist, die Husserl auch als ,,Empfindnis‘‘ bezeichnet.34 Letztere Empfindungen

werden zwar im Leib lokalisiert, konstituieren aber zunachst keine dinglichen

Eigenschaften. Dabei bemerkt Husserl ausdrucklich, diese eigentumliche Ver-

doppelung der Empfindungen sei dem Tastsinn spezifisch und habe somit keine

Entsprechung im Bereich des Optischen.

Uberraschenderweise scheint Husserl nun zunachst die Bewegungsempfindungen

ohne weiteres mit zur Sphare der Empfindnisse zu rechnen: ,,[Die Hand] uber den

Tisch bewegend erfahre ich von ihm und seinen dinglichen Bestimmungen.

30 Hua IV, S. 128.31 Vgl. dazu auch Hua IV, S. 56.32 Hua IV, S. 150.33 Hua IV, S. 144 f.34 Hua IV, S. 146 f.

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Zugleich aber kann ich jederzeit auf die Hand achten und finde auf ihr von

Tastempfindungen, Glatte- und Kalteempfindungen usw., im Inneren der Hand, der

erfahrenen Bewegung parallel laufend, Bewegungsempfindungen usw. […] Und so

bietet uberhaupt mein Leib […] nicht bloß die Erfahrung physischer Vorkommnisse

dar, auf den Leib und die Dinge bezogen, sondern auch spezifische Leib-

vorkommnisse der Art, die wir Empfindnisse nennen.‘‘35 Das Verhaltnis von

erfahrener Leibbewegung und Bewegungsempfindung wird hier schlichtweg dem

von darstellender Tastempfindung und leiblich lokalisierter Beruhrungsempfindung

gleichgestellt, wobei die Bewegungsempfindung nun offensichtlich als wesentlich

leiblich lokalisiert zu betrachten ware. Andernorts scheint Husserl anzudeuten, die

Empfindnisse seien allgemein in Beruhrungsempfindungen und Bewegungsemp-

findungen (letztere allerdings bezeichnenderweise unter dem Titel ,,Muskelemp-

findungen‘‘!) einzuteilen, wobei aber beiden gleichermaßen leibliche Lokalisation

zukomme.36 An einer weiteren Stelle erklart Husserl indessen, die leibliche

Lokalisation der kinasthetischen Empfindungen sei dennoch unterschiedlicher Art:

,,Im Grunde verdanken wohl die Bewegungsempfindungen ihre Lokalisation nur der

standigen Verflechtung mit primar lokalisierten Empfindungen. Da aber hier keine

genau abgestufte Parallelitat waltet wie zwischen Temperaturempfindungen und

Tastempfindungen, so breiten sich die kinasthetischen Empfindungen nicht

abgestuft durch die erscheinende Extension aus, sie erfahren nur eine ziemlich

unbestimmte Lokalisation.‘‘37 Letzteres widerspricht aber freilich keineswegs der

grundsatzlichen Bestimmung dieser Empfindungen als Empfindnisse und somit als

leiblich lokalisierter Widerpart einer außerlich erfahrenen Leibbewegung.

Die Lokalisation der Empfindungen im Leib stellt fur Husserl allgemein die

Grundschicht der Konstitution des Leibes dar. Ofters wiederholt er, der Leib werde

eigentlich zum Leib erst dank der lokalisierten Empfindung.38 Daher ist der

aesthesiologische Leib fur Husserl die Voraussetzung aller weiteren Bestimmungen

der Leiblichkeit und insbesondere das Fundament seiner Betrachtung als ,,Willens-

organ‘‘39. Letzterem entspricht tatsachlich eine eigene Auffassung des Leibes, da

sich dieser laut Husserl im Feld erfahrener Gegenstande dadurch ausgezeichnet,

dass er fur den Willen unmittelbar spontan beweglich ist, und d. h. eben nicht bloß

mechanisch und mittelbar wie alle anderen materiellen Gegenstande. Der Leib ist

somit frei bewegliches Organ des Willens, gegliedert in eine Vielfalt frei

beweglicher Teilorgane. Husserl scheint diesen Charakter leiblicher Beweglichkeit

ohne weiteres als eine eigene Realitatsschicht zu betrachten,40 die er von der

aesthesiologischen Schicht streng unterscheidet. Aus Sicht dieses Verhaltnisses wird

der Leib ausdrucklich auch als eine ,,zweiseitige‘‘ Realitat angesprochen. Dabei

fehlen die Uberschneidungen der beiden Schichten keineswegs, insofern Husserl

des Ofteren die zunachst rein aesthesiologisch verstandenen kinasthetischen

35 Hua IV, S. 146.36 Hua IV, S. 148.37 Hua IV, S. 151.38 Vgl. etwa Hua IV, S. 151.39 Hua IV, S. 151.40 Vgl. Hua IV, S. 286.

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Verlaufe trotzdem auch der freien Beweglichkeit zurechnet,41 doch Husserl besteht

– in einer allerdings durchaus zweideutigen Ausfuhrung – darauf, die aesthestio-

logische Schicht als einseitiges Fundament der freien Beweglichkeit anzusehen:

,,Dabei ist die aesthesiologische Schicht fur die Schicht ‘Freibewegliches‘ die

Unterlage. Das Bewegliche ist schon vorausgesetzt als Aesthesiologisches, die

Unterschicht ist aber einseitig ablosbar. Ein unbeweglicher Leib ist als Grenzfall, als

bloß empfindender denkbar, aber es fragt sich, ob dann das Unbewegliche nicht das

Null des Bewegens besagt als gelahmter Leib – und das ist sicher so.‘‘42 Letztere

Bemerkung, von Husserl wohl spater eingefugt, scheint in der Tat die gesamte

Ausfuhrung umzuwerfen und somit die Hierarchie von Willensleib und Sinnesleib

in Frage zu stellen.

c) Die ,,Ichlichkeit’’ der Leibbewegungen. Ein besonderes Problem wirft in

diesem Zusammenhang auch die Frage auf, ob die kinasthetischen Verlaufe – qua

verleiblichte Bewegungen – als eigentlich ,,ichliche‘‘ zu gelten haben. Husserl

scheint dies zunachst schlichtweg zu verneinen, indem er (sogar in der ,,personalen‘‘

Einstellung) den Leib schlichtweg als ,,Gegenuber‘‘ des Ich betrachtet.43 Aus dieser

Sicht ist der Leib zwar nicht bloß (wie in der ,,naturalen‘‘ Einstellung) ein

,,Naturobjekt‘‘, aber doch als ,,Umgebungsobjekt‘‘ grundsatzlich ein ,,Nicht-Ich‘‘.

Als primar ,,subjektiv‘‘ oder ,,ichlich‘‘ kennzeichnet Husserl ausschließlich die

eigentlichen Betatigungen, Akte und Zustande des Ich, so wie diese mittels der

Reflexion gegeben werden. Das ursprunglich Subjektive ist das ,,Ich der Freiheit‘‘,

das aktive Ich, welches Husserl zunachst nur auf rein geistige Akte begrenzt:

Vergleichen, Aufmerken usw.44 Dagegen sind sowohl das subjektiv vermeinte

,,Gegenuber‘‘ des Ich (d.h. sein intentionaler Gegenstand) wie auch die hyletische,

empfindungsmaßige Unterlage seiner Verhalten bloß als ,,Habe‘‘ des Subjekts zu

betrachten und somit wohl als ,,ich-zugehorig‘‘, aber eben nicht eigentlich als

,,ichlich‘‘. Zwar ist der Leib in diesem Zusammenhang doch in einem aus-

gezeichneten Sinne subjektiv – als Empfindungstrager und unmittelbares Willens-

organ – doch ist diese ,,Ichlichkeit‘‘ letzten Endes doch nur abgeleitet, ,,von

Gnaden‘‘ jener ursprunglichen Ichlichkeit.45 Letzteres erhellt ubrigens schon daraus,

dass, zum einen, Empfindungen fur Husserl uberhaupt nur als ichliche Habe und

nicht als eigentliche Ichlichkeit gelten und, zum anderen, der aesthesiologische Leib

als Empfindungstrager das Fundament der gesamten Leibkonzeption bildet.

Fraglich wird diese gesamte Auffassung allerdings in der Behandlung des Leibes

als ,,frei bewegliches‘‘ Organ, da hiermit offensichtlich eine eigene Sphare

,,praktischer Moglichkeiten‘‘ und somit auch ichlicher Tatigkeiten ins Spiel kommt.

In seiner allgemeinen Besprechung der ,,praktischen Moglichkeiten‘‘, teilt Husserl

diese ausdrucklich in geistiges Konnen einerseits und leibliches oder leiblich

vermitteltes ,,physisches‘‘ Konnen andererseits ein. Insofern nun ofters betont wird,

41 Vgl. etwa Hua IV, S. 159.42 Hua IV, S. 284.43 Hua IV, S. 203 und 212.44 Hua IV, S. 213.45 Hua IV, S. 212.

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der Leib sei als solcher unmittelbar frei beweglich,46 und eben nicht nur mechanisch

oder mittelbar, so musste konsequenterweise – ware das Pradikat der Unmit-

telbarkeit in der Tat ernst genommen – der leiblichen Bewegung ebenfalls derselbe

Status primarer Ichlichkeit eingeraumt werden, den Husserl aber den freien Ichakten

des cogito vorbehalt. Und tatsachlich kann man in den Ideen II einen erstaunlichen

Satz wie den folgenden lesen: ,,Man kann sagen, auch das ‘ich stoße‘, ‘ich

tanze‘u.dgl. ist ein cogito, nur ein solches, das eine Transzendenz-Thesis mit in sich

schließt, und es birgt auch in dieser gemischten Form das ‘ego sum‘in sich.‘‘47 Die

in Frage stehende Transzendenz-Thesis ware wohl, im Falle des ,,Ich tanze‘‘, jene

des Leibes selbst als realer Umgebungsgegenstand (obzwar Husserl hier vornehm-

lich die phanomenalen Leibbewegungen in Inneneinstellung im Auge hat). Freilich

ist auch in Husserls Sicht die Unmittelbarkeit der leiblichen Beweglichkeit bloß

Korrelat einer bedingten Beherrschung des Leibes, die zum einen der Ubung bedarf

– Husserl betont ausdrucklich, die gemeinsten Leibbetatigungen wurden ,,gewohn-

lich‘‘ nicht außer Ubung kommen – und zum anderen, im Falle von Krankheit usw.,

doch in Verlust geraten kann. Im letzteren Falle, etwa bei einer Lahmung, erhalt der

Leib als solcher den praktischen Charakter des Widerstandes, d.h. eines Unbeweg-

lichen, an dem sich kein ichliches Tun mehr vollziehen lasst. Diese Auf-

fassungsanderung bestimmt offensichtlich als Moglichkeit die Leibapperzeption

als solche und somit auch Sinn und Grenzen seiner subjektiven Handhabung.

Ungeachtet dessen scheint Husserl nun bezeichnenderweise in den Ideen II das

eminent Ichliche des Leibes letzten Endes doch nicht in seiner freien Beweglichkeit,

und somit in seiner Zugehorigkeit zu jenem ,,Ich der Freiheit‘‘, zu sehen, sondern

vielmehr wiederum im Bereich des Empfindungsmaßigen: ,,Das Ichliche, Subjektiv-

Geistige hat besondere ‘Verbindung‘mit dem eigenen Leib; freilich primar besteht diese

Verbindung hinsichtlich besonderer Empfindungen (Bewegungsempfindungen, von

Leibesempfindungen ausstrahlende Tendenzen zu Bewegungsempfindungsablaufen),

die leiblich apperzipiert in alles Leibliche mit eingehen.‘‘48 Die Stelle ist insofern

erhellend, als Husserl hier tatsachlich die ichliche Verbindung des Leibes primar im

Bereich seiner Beweglichkeit sieht, diese aber doch ohne weiteres grundsatzlich

aesthesiologisch deutet.

d) Psychophysische Konditionalitat, Motivation und Kausalitat. Wie vorhin

schon angedeutet, bezeichnet Husserl die ,,subjektiven Umstande‘‘ von der Art der

kinasthetischen Verlaufe zunachst allgemein als aisthetische Unterlage, d.h. als rein

sinnliche Grundstufe aller hoheren Arten der Bezogenheit von Dinglichem auf

Umstande der Subjektivitat. Er unterscheidet diese Art Umstande dabei ausdruck-

lich von den (schon zur Stufe der realisierenden Auffassung gehorenden)

Bezogenheit der Dingkonstitution auf die Normalitat und Anormalitat der leiblichen

Funktionen. Letztere werden eingehend besprochen anhand von Beispielen wie: die

Wahrnehmung mit einem schielenden Auge, das Tasten mit einer Blase am Finger

oder die Wirkungen der Einnahme von Santonin. Die Erwagung dieser letzteren Art

subjektiver Umstande fuhrt Husserl zum Begriff der psychophysischen

46 Hua IV, S. 152.47 Hua IV, S. 218.48 Hua IV, S. 282.

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Konditionalitat. Es handelt sich dabei um bedingte Wandlungen der Erscheinung,

die nicht als eigentliche Dingveranderung, sondern bloß als ,,Scheinveranderung‘‘

gedeutet werden konnen. Die psychophysische Konditionalitat wird somit grund-

satzlich von der Kausalitat – als Verhaltnis einer Realitat zu ihren realen Umstanden

– unterschieden, insofern nun das Verhaltnis von Realem zu einem grundsatzlich

Irrealem, namlich zur Subjektivitat oder zum ,,Geist‘‘, in Frage steht. Diesem weit

gefassten Begriff der psychophysischen Konditionalitat, der in Husserls Sicht ,,alle

konditionellen Verhaltnisse, die zwischen dinglichem und subjektiven Sein heruber-

und hinuberlaufen‘‘49 umfasst, werden dann auch die Blickwendungen von der Art

kinasthetischer Ablaufe als eine Sonderart subsumiert.

Im Falle der Verhaltnisse der Dingerscheinung zu ihren kinasthetischen Umstan-

den hat diese Konditionalitat fur Husserl grundsatzlich weiterhin den Charakter der

Motivation.50 Indessen impliziert dieses Verhaltnis als solches dennoch, in seiner

Beziehung zum Leib, eine gewisse Kausalitat, insofern der Leib im kausalen

Zusammenhang der Natur steht und seine Bewegungen daher einer kausalen Deutung

im Lichte der ,,Willenskausalitat‘‘ unterstehen. Dieser Punkt ist wiederum in Husserls

Darstellung der Ideen II eher schwankend behandelt. Zum einen behauptet Husserl

namlich ausdrucklich, zu jeder psychophysischen Konditionalitat gehore als solcher

notwendig ,,somatologische Kausalitat‘‘51, die unmittelbar eben das Verhaltnis des

subjektiven Willens zum Leib als Realitat betrafe, zum anderen aber bestreitet er

ofters gerade die Moglichkeit eines eigentlich kausalen Bezugs zwischen Geist und

Realitat uberhaupt und somit auch jede schlichtweg als Kausalitat verstandene

Beziehung zum eigenen Leib. Die Auslegung der Kinasthesen in den Ideen II ist

wesentlich von dieser Unsicherheit bestimmt.

Husserl unterscheidet zwar bezuglich des Leibes zwischen seiner Betrachtung in

reiner ,,Inneneinstellung‘‘ und jener in ,,Außeneinstellung‘‘, wobei der Leib im

Lichte der Ersteren rein phanomenal als Empfindungstrager und Willensorgan (als

,,Gespensterleib‘‘, wie Husserl ihn missverstandlich auch bezeichnet) und nur im

Sinne der Letzteren als reales, materielles Ding erscheint. Aus dieser letzteren Sicht

49 Hua IV, S. 65.50 In seiner ausfuhrlichen Darstellung dieses Begriffs, der hier der Kausalitat scharf entgegengesetzt

wird, unterscheidet Husserl zunachst die Motivation im Bereich tatiger Akte von der bloß passiven

Motivation. Zur Ersteren rechnet er sowohl reine Vernunftmotivationen, die ihr wichtigstes Beispiel im

Bereich theoretischer Begrundungs- und Ausweisungszusammenhange finden, als auch relativ vernunf-

tige Motivationen, die auf bloßen Niederschlagen von Vernunftakten beruhen, wie auch letztendlich

durchaus unvernunftige Motivationen, von der Art der Triebmotivation. Zu den passiven Motivationen

gehort indessen zunachst die Assoziation, die Husserl grundsatzlich auf die Ahnlichkeitsassoziation

beschrankt und der er somit auch eine gewisse Vernunftigkeit zuerkennt. Davon unterscheidet er die

sogenannten Erfahrungsmotivationen, die – so Husserl – in jeder Wahrnehmung, Erinnerung oder

Phantasie wirksam sind, indem sie kontinuierliche oder diskrete ,,Verbindungen der Zu-

sammengehorigkeit‘‘ auf noetischer und noematischer Seite stiften. Ihre Darstellung nimmt nicht direkt

auf die Sphare des kinasthetischen ,,K/b Komplexes‘‘ Bezug, doch ist daraus dennoch deutlich zu

entnehmen, dass ihre Behandlung seinerseits hierher gehoren wurde. Obwohl Husserl zu Zeiten schwankt,

ob die Erfahrungsmotivationen, in genetischer Hinsicht, nicht dennoch zur Klasse der Assoziationen zu

rechnen sind, scheint er dies letztendlich bundig zu verneinen. Darin liegt freilich – obzwar nicht deutlich

ausgesprochen – ein gewisser Unterschied zur fruheren Konzeption der Dingvorlesung, den spatere

Aufzeichnungen dann tatsachlich bestatigen.51 Hua IV, S. 65.

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ist der Leib tatsachlich als ,,Umschlagspunkt‘‘ kausaler und konditioneller

Beziehungen betrachtet.52 Den beiden Einstellungen entspricht offensichtlich eine

unterschiedliche Deutung der Leibbewegung, doch ihre gesamte Unterscheidung

wird sogleich durch Husserls eigene Behauptung relativiert, ,,[d]as in Außenein-

stellung und das in Inneneinstellung Konstituierte [sei] miteinander da:

komprasent.‘‘53

Letztendlich scheint Husserl die kausale Interpretation des Leibes uberhaupt bloß

der ,,naturalen Einstellung‘‘ zuschreiben zu wollen, wahrend die ,,personale

Einstellung‘‘ der realen Auffassung eine intentionale, motivationsbestimmte

entgegensetzt. Tatsachlich wiederholt Husserl des Ofteren den Gedanken, dasselbe

Phanomen der Leibbewegung konne, je nach Einstellung, sowohl kausal qua

mechanische Bewegung, als auch rein intentional qua ,,Ich bewege‘‘ aufgefasst

werden. Wenn im Falle der Ersteren, tatsachlich die Rede von einer psychophy-

sischen Kausalitat gerechtfertigt ist, so wird diese in der Sphare der Letzteren eben

nicht als Beziehung zweier Realitaten kausal oder real aufgefasst, sondern im

Zeichen der intentionalen Leibapperzeption als Motivation gedeutet. Die Frage

,,weshalb erfolgt eine bestimmte Leibbewegung?‘‘ wurde aus dieser Sicht eben nicht

die reale, psychophysische Ursache jenes Vorganges, sondern das praktische

,,Weil‘‘ der bewussten oder unbewussten subjektiven Intention betreffen: ,,Freilich

ist meine Hand auch ein Ding, und wenn ich ein subjektives ‘ich bewege’ vollziehe

und nicht traume und mich tausche, so vollzieht sich auch in der Natur ein

physischer Vorgang. Gewiß ist in der Wahrnehmung des ‘ich bewege’ auch die

Wahrnehmung der physischen Bewegung im Raum beschlossen, somit kann da

auch die Frage der physischen Kausalitat gestellt werden. Andererseits aber muß sie

nicht gestellt werden, und sie ist nicht zu stellen in der personalen Einstellung, in

der allein die tatige und leidende Person als Motivationssubjekt und Subjekt ihrer

Umwelt gesetzt ist.‘‘54 Die Deutung der Leibbewegung als ,,ich bewege‘‘ wird somit

als rein intentionale der Sphare kausalen Denkens uberhaupt entzogen.

Indessen muss Husserl schon in seinen ,,personal‘‘ gefuhrten Betrachtungen zur

Einheit von Geist und Leib zugeben, dass eine rein motivationsmaßige Betrachtung

dieser Einheit an sich unzureichend ist, seelische Auswirkungen leiblicher

Vorkommnisse (z. B. Krankheit) und leibliche Auswirkungen seelischer Vor-

kommnisse (z. B. die leiblichen Nebenwirkungen von Gefuhlen, aber eben auch die

,,Willenskausalitat‘‘) zu deuten.55 Daruber hinaus sieht er sich ebenfalls genotigt, im

sogenannten ,,Untergrund der Subjektivitat‘‘ eine ,,Naturseite‘‘ des Geistes zu

umgrenzen, worin die beiden zunachst durchaus parallel konzipierten Einstellungen

sowie auch die ihnen entsprechenden Realitaten sich grundsatzlich uberschneiden

und in Beziehung treten.56 Zwar werden zunachst zu diesem Bereich bloß

,,seelische‘‘ Vorkommnisse der Passivitat gezahlt wie die Assoziation, das

Triebleben oder das niedere Gefuhlsleben, dennoch ist fur Husserl zum einen

52 Hua IV, S. 161.53 Hua IV, S. 161.54 Hua IV, S. 260.55 Hua IV, S. 246 f.56 Hua IV, S. 279 f.

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dieser gesamte Bereich wesentlich leiblich bestimmt57, und zum anderen wird der

Leib selbst grundsatzlich – nun auch aus Sicht der ,,personalistischen‘‘ Betrachtung

– als gegenseitige ,,Umschlagsstelle‘‘ geistiger und naturlicher Abhangigkeiten und

somit als Verbindungspunkt der beiden Einstellungen bezeichnet. Im selben Absatz

bezeichnet Husserl zugleich den frei beweglichen Leib schlichtweg als ,,geistige

Realitat‘‘, sein Verhaltnis zum Ich aber als ,,ein geistiges und ein kausales‘‘58. Alle

schon ofters angefuhrten Zweideutigkeiten und Unsicherheiten der Husserl‘schen

Entgegensetzung von naturaler und personaler Einstellung in den Ideen II bekunden

sich damit fortwahrend in der hier angefuhrten Auffassung des Leibes und somit

zugleich in der Deutung der kinasthetischen Ablaufe.

5 Spatere Entwicklungen

Vor diesem Hintergrund heben sich in Husserls spaterem Denken etliche

bedeutende Entwicklungen ab. Sie sind allesamt schon im zweiten Buch der Ideen,

allerdings noch in einer schwankenden und unsicheren Darstellung, angelegt. Vier

davon sollen nun kurz ausgefuhrt werden: a) die explizite Auslegung der

Kinasthesen als ichliche ,,Tatigkeiten‘‘; b) der Begriff des ,,Waltens im Leib‘‘; c)

die genetische Betrachtung der Kinasthesen und d) die Unterscheidung perzeptiver

und praktischer Kinasthesen.

a) Die Kinasthese als ,,Ich tue‘‘ /,,Ich kann‘‘. In seinen spateren Aufzeichnungen

der zwanziger und dreißiger Jahren bestimmt Husserl die Kinasthesen durchgehend

als ichliche Tatigkeiten. So etwa in den Ausfuhrungen der Krisis, wo den

,,kinasthetischen Verlaufen‘‘ ausdrucklich der ,,eigentumliche Charakter des ‘Ich

tue‘, ‘ich bewege‘‘‘59 zugeschrieben wird; dabei ist das Stillhalten ebenfalls als

eigenartige kinasthetische Leistung betrachtet. Dass diese spatere Auffassung

Husserls von seiner fruheren, am Begriff der Empfindung orientierten, deutlich

abweicht – obzwar beide im Rahmen einer ,,immanenten‘‘, ,,phanomenologischen‘‘

Betrachtung der leiblichen Bewegung verbleiben – verzeichnet er selbst des Ofteren

ausdrucklich. So erklart Husserl beispielsweise in einem Gesprach mit Dorion

Cairns: ,,Kinaesthesis differs from Empfindung (sensation) by having an intimate

relation to subjective potentiality’’.60 Auf ahnliche Weise wird diese Unterschei-

dung schon in einer Aufzeichnung vom Anfang der zwanziger Jahre hervorgehoben,

worin Husserl die Kinasthesen ,,nicht als bloße immanente Daten, sondern als

praktische Vermogen (‘Ich kann mich dahin und dorthin wenden’)’’61 bestimmt

haben will.

Allerdings bedeutet dies keineswegs, dass in der spateren Auffassung der

Kinasthesen das Moment der Empfindung durchaus beseitigt wird. Im Gegenteil

bespricht Husserl nun des Ofteren die empfindungsmaßige Dimension der

57 Hua IV, S. 294.58 Hua IV, S. 283.59 Hua VI, S. 164.60 Cairns (1976), S. 4.61 Hua XXXIX, S. 12.

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Kinasthesen unter dem Titel der ,,kinasthetischen Hyle’’. Hyletische Daten spielen

aus dieser Sicht gewiss eine bedeutende Rolle in der Konstitution der Kinasthesen,

doch werden sie nun bloß als ein passives oder affektives Moment im Zusammen-

hang eines wesentlich als Aktivitat konzipierten Phanomens betrachtet. Eben in

dieser Hinsicht behauptet Husserl ausdrucklich in einer Aufzeichnung aus 1932:

,,Die Kinasthese hat von vornherein ihre Begleitung an ‘kinasthetischen Empfin-

dungen’, mitlaufenden Empfindungsdaten.’’62 Wenn Husserl in der Dingvorlesung

die Leibbewegung als solche – aus ,,phanomenologischer’’ Sicht wie es dort hieß –

mit der kinasthetischen Empfindung schlichtweg gleichstellte und diese Letzteren

noch in den Ideen II als zentrale Schicht des Phanomens erachtete, so erteilt er ihnen

nun offenkundig nur noch die sekundare Rolle einer mitlaufenden Begleitung.

Der erste ausdruckliche Beleg der neuen Auffassung der Kinasthesen als

,,praktische Moglichkeiten‘‘ ist in der Beilage XI der Ideen II zu finden. Hier kann

schon ein Satz wie der folgende gelesen werden: ,,Eine Stellungsnahme ist nicht

eine praktische Moglichkeit wie irgend eine Kinasthese im System meines

kinasthetischen ‘Ich kann‘‘‘63. Darin ist sowohl die begriffliche Pragung ,,Kinas-

these‘‘, wie auch deren explizite Bestimmung als praktische Moglichkeit offen-

kundig enthalten. Der Text der Beilage stammt aus dem sogenannten H-Folianten

und wurde 1913, unmittelbar nach der ersten Redaktion des gesamten Ideenprojekts,

verzeichnet. Da beides – der eigentliche Begriff Kinasthese und seine explizite und

einstimmige Deutung als ichliche ,,Vermoglichkeit‘‘ – in der Manuskriptaus-

arbeitung der Ideen II, wie gesehen, zwar schon ansatzweise vorgezeichnet, aber

doch nicht ausdrucklich durchgefuhrt war, und da eben mit den Ausfuhrungen der

Ideen II zum Begriff der praktischen Moglichkeiten der Weg fur diese Auslegung

eingehend vorbereitet ist, so liegt es nahe zu vermuten, dass seine Entwicklung als

solche gerade im unmittelbaren Nachspiel jenes Werkes erfolgt.

Die in den Ideen II getroffene Bestimmung der ,,praktischen Moglichkeiten‘‘

zeigt ohne Weiteres – in ihrer spateren expliziten Anwendung auf den Bereich der

kinasthetischen Verlaufe – den wesentlichen Unterschied der spateren Hus-

serl‘schen Auffassung der Kinasthesen gegenuber seiner fruheren Konzeption der

Dingvorlesung an. Fur Husserl entspricht namlich schon in den Ideen II dem

praktischen Konnen das freie Bewusstsein des ,,Ich tue‘‘. Dies freie Tun wird als

,,zentripetaler‘‘ Ichakt bestimmt und ausdrucklich vom bloßen Verlauf eines

empfindungsmaßigen Geschehens abgegrenzt: ,,Es sind Tatigkeiten und in ihrem

ganzen Ablauf liegt eben nicht ein bloß dahinlaufendes Geschehen vor, sondern

immerfort ist der Ablauf aus dem Ichzentrum hervorgegangen, und solange das der

Fall ist, reicht das Bewußtsein des ‘ich tue‘, ‘ich handle‘.‘‘64 Eben in dieser Hinsicht

werden die Kinasthesen spaterhin nicht bloß allgemein als ,,ichliche Vorgange‘‘

oder ,,subjektive Verlaufe‘‘ sondern eben als frei tatige subjektive Verlaufe

definiert,65 wahrend die Ideen II noch bestrebt sind, diesem Sachverhalt durch den

eher paradoxalen Begriff eines freien Empfindungsablaufs gerecht zu werden.

62 Hua Mat VIII, S. 326.63 Hua IV, S. 330.64 Hua IV, S. 257.65 Vgl. etwa EU, S. 89.

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Page 18: Husserls Begriff der Kinästhese und seine Entwicklung

Der Auffassung der Kinasthesen als freien ichlichen Tatigkeiten entspricht

zugleich eine eigentumliche Art von Erwartungsintentionen, die sie von jedem

ichfremden Verlauf durchaus unterscheiden. Die Ideen II sprechen dies schon

allgemein mit Bezug auf praktische Betatigungen uberhaupt aus, bleiben aber

bezuglich der Leibbewegungen selbst eher zweideutig: ,,Im Falle der Freiheit

besteht fur die kunftigen im unmittelbaren Horizont liegenden Phasen des Tuns in

Beziehung auf den Horizont unerfullter praktischer Intentionen das Bewußtsein des

freien ‘ich kann‘ und nicht das bloße Bewußtsein ‘es wird kommen‘, ‘es wird

geschehen‘.‘‘66 Diese Unterscheidung war in der Dingvorlesung noch gar nicht

angelegt und in den Ideen II nur ausnahmsweise den Kinasthesen zugeschrieben. In

seinen spateren Aufzeichnungen spricht Husserl indessen die Kinasthesen durchge-

hend als ,,praktische Antizipationen‘‘67, als Modi des ,,Ich kann‘‘ an, und betrachtet

zugleich auch das ,,kinasthetische System‘‘ uberhaupt als ein ,,System von

Vermoglichkeiten‘‘68.

Husserl unterscheidet zwar schon in den Ideen II im Bereich des ichlichen Tuns

zwischen der eigentlich willkurlichen Tatigkeit und dem bloß triebmaßigen Tun der

unwillkurlichen Bewegung,69 doch sind ihm beide grundsatzlich – als Formen der

Praxis, der ichlichen Betatigung – von jedem subjektiven leiblichen Verlauf

außerhalb unseres Machtbereichs verschieden (z.B. einem Zucken im Arm). Dies

wird allerdings noch nicht explizit auf die Frage kinasthetischer Bezuge angewandt.

Die Unterscheidung willkurlicher und unwillkurlicher Tatigkeiten ist indessen fur

die Bestimmung der Kinasthesen in der Folgezeit insofern relevant, als Husserl

spaterhin die Kinasthesen gewohnlich eher zum Bereich unwillkurlicher, tendenz-

bestimmter Tatigkeit rechnet als zu jenem der eigentlich willkurlichen Handlung:

,,Sie sind Auswirkungen der Tendenzen der Wahrnehmung, in gewissem Sinne

‘Tatigkeiten‘, obschon nicht willkurliche Handlungen. Ich vollziehe damit (im

allgemeinen) keine willkurlichen Akte. Unwillkurlich bewege ich die Augen usw.,

‘ohne dabei an die Augen zu denken’‘‘70. Husserl bemerkt hier zugleich, dass diese

tatigen Ablaufe als solche auch vor der eigentlichen ichlichen Zuwendung moglich

sind und unterscheidet dabei zwischen einem ,,Tun vor der Zuwendung‘‘ und einem

eigentlichen ,,Ich tue‘‘, das aber seinerseits noch durchaus unwillkurlich sein kann.

Jedenfalls stellen die Kinasthesen auch als unwillkurliche oder halb-willkurliche

Tatigkeiten eben Vorformen des willentlichen Tuns dar,71 die unter Umstanden

ebenso wohl voll bewusst inszeniert werden konnen.

b) Das ,,Walten im Leib‘‘. Husserls Auffassung des Leibes als Willensorgan, die

in den Ideen II seine Auslegung der Kinasthesen der cartesianischen Sackgasse

einer dualistisch interpretierten ,,Willenskausalitat‘‘ zuzufuhren drohte, findet in

66 Hua IV, S. 257.67 Vgl. Hua Mat VIII, S. 234.68 Hua VI, S. 164.69 Hua IV, S. 258.70 EU, S. 89.71 Vgl. etwa Hua Mat VIII, S. 326, wo Husserl wiederum auch die zur Kinasthese ,,zugehorigen‘‘

Empfindungskomplexe anfuhrt.

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seinem spateren Denken ihre entschiedene Gestaltung im Begriff des leiblichen

,,Waltens‘‘. Die Darstellungen der Krisis sind in dieser Hinsicht beispielhaft.

Die Kinasthesen werden hier als solche von den bloß korperlich dargestellten

Leibbewegungen unterschieden, obwohl sie letzten Endes doch eigentlich mit ihnen

eins sind. Husserl druckt dies in der Feststellung aus, die Kinasthesen seien ,,dem

eigenen Leib in dieser Doppelseitigkeit (innerer Kinasthesen - außerer korperlich-

realer Bewegungen)‘‘ 72 zugehorig. Diese Unterscheidung einer ,,inneren‘‘ und einer

,,außeren‘‘ Leibauffassung wird schon in den Ideen II mit der Moglichkeit einer

Betrachtung des Leibes in Inneneinstellung oder in Außeneinstellung eingefuhrt und

sie spielt, wie bekannt, eine grundsatzliche Rolle in Husserls Intersubjektivitatslehre,

wo die Konstitution des alter ego eben auf der Apprasentation einer anschaulich nie

erfullbaren Innenperspektive beruht, die in der Prasentation einer gegebenen

Außenperspektive des fremden Leibkorpers grundet. Wichtig ist hier allenfalls die

Tatsache, dass Husserl nun die Kinasthesen ausdrucklich der Innenperspektive der

Leiblichkeit zuschreibt, sie aber deshalb keineswegs mit Empfindungskomplexen

gleichsetzt, um sie somit der eigentlichen Bewegung gegenuberzustellen. Im

Gegenteil setzt er sie zwar von den außerlich aufgefassten, ,,dargestellten‘‘

Leibbewegungen ab, interpretiert sie aber trotzdem als ,,innere Beweglichkeit‘‘. Im

Zusammenhang ahnlicher Erorterungen taucht nun auch wiederum die Frage auf, ob

Kinasthesen letztendlich nicht doch auch ohne einen vorgestellten Leib ihre

konstitutive Leistung entfalten konnten.73 Sie waren somit aber nicht durchaus

leiblos, sondern bloß einer rein immanenten Leiblichkeit zugehorig.

Bezeichnend ist nun auch, dass Husserl den innerlich betrachteten Leib

wiederum als ,,Organ‘‘ ansieht, den Begriff auf seine ,,ursprungliche‘‘ Bedeutung

beziehend, doch scheidet er nun nicht mehr zwischen einer aesthesiologischen

Schicht des Leibes als ,,Wahrnehmungsorgan‘‘ und einer fundierten Schicht des

Leibes als ,,Willensorgan‘‘. Vielmehr werden nun beide Bestimmungen in ihrer

unmittelbaren Einheit gesehen: ,,Dabei ist selbstverstandlich und unweigerlich

beteiligt unser im Wahrnehmungsfeld nie fehlender Leib, und zwar mit seinen

entsprechenden ‘Wahrnehmungsorganen‘ (Augen, Handen, Ohren usw.). Be-

wußtseinsmaßig spielen sie hier bestandig eine Rolle, und zwar fungieren sie im

Sehen, Horen usw. in eins mit der ihnen zugehorigen ichlichen Beweglichkeit, der

sogenannten Kinasthese.‘‘74 Dieses einheitlich wahrnehmend und tatig bestimmte

Fungieren des Leibes bezeichnet Husserl nun terminologisch als ichliches

,,Walten‘‘. Die Kinasthesen werden somit ausdrucklich als Modi des ,,Waltens im

Leib‘‘ bestimmt – und es ist gewiss bezeichnend, dass Husserl eben diesen Terminus

dafur wahlt, der in den Ideen II, trotz aller Beteuerung der Unmittelbarkeit leiblicher

Bewegungen, bloß dem Verhaltnis des Ich zu seinen eigenen Bewusstseinsakten

vorbehalten war.75 Das ,,Walten‘‘ – das an manchen Stellen auch ,,Bewalten‘‘

geschrieben wird, wahrend in den Cartesianischen Meditationen vom sprichwort-

lichen ,,Schalten und Walten‘‘ die Rede ist – deutet zunachst auf eine direkte,

72 Hua VI, S. 164.73 Vgl. Hua XIV, S. 547.74 Hua VI, S. 108.75 Vgl. etwa Hua IV, S. 97.

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unvermittelte Herrschaft hin, was oft genug auch dadurch betont wird, dass dem

noch ausdrucklich wiederum das Beiwort ,,unmittelbar‘‘ hinzugefugt wird. Die

leibliche Bewegung wird nun namlich ohne jede Distanz als Vollstreckung ichlicher

Betatigung gesehen: ,,Der Leib ist in ganz einziger Weise standig im

Wahrnehmungsfeld, ganz unmittelbar, in einem ganz einzigen Seinssinn, eben in

dem, der durch das Wort Organ (hier in seiner Urbedeutung) bezeichnet ist: das,

wobei ich als Ich der Affektionen und Aktionen in ganz einziger Weise und ganz

unmittelbar bin, als worin ich ganz unmittelbar kinasthetisch walte‘‘76. Viermal

erscheint in diesem Satz der Ausdruck ,,ganz unmittelbar‘‘, dreimal ,,ganz einzig‘‘.

Eben auf diese Einzigartigkeit des leiblichen Tuns kommt es nun an, die in keinem

Hantieren mit Gebrauchsgegenstanden je ihr Analogon findet. Die gesamte

Problemstellung der Willenskausalitat, die trotz aller gegenteiligen Einsichten doch

noch die Darstellung der Ideen II in einigen ihrer Schwankungen bestimmte,

unterlegt dagegen noch immer stillschweigend die Vorstellung, der Leib sei als

solcher, wie irgend ein Instrument, außerlich vom Willen aufzugreifen und in

Gebrauch zu nehmen. Dieser Auffassung wirkt die Begriffspragung des ,,Waltens

im Leib‘‘ entschiedener entgegen.

c) Die Genesis der Kinasthesen. Wenn Husserl die Frage der ursprunglichen

Genesis der Kinasthesen zunachst mit einem sparlichen Hinweis auf die Assoziation

abtut, so sind in seinem spateren Nachlass doch auch eingehendere Betrachtungen

dazu zu finden. Zwar spielt Assoziation auch weiterhin in diesem Zusammenhang

eine bedeutende Rolle, doch ist ihre Funktion nun nicht mehr jene, Erscheinung und

Kinasthese miteinander zu verknupfen, sondern vielmehr die, kinasthetische

Verlaufe als solche zu praktischen Vermogen auszubilden: ,,Hier die merkwurdigen

Assoziationen, in denen sich Kinasthesen nicht als bloße immanente Daten, sondern

als praktische Vermogen (‘Ich kann mich dahin und dorthin wenden‘) zu einem

praktischen System ‘assoziieren‘‘‘77. Dies geschieht durch Wiederholung und

streckenweise Abhebung kinasthetischer Betatigungen, was Husserl auch einleuch-

tend als praktische ,,Ubung‘‘ bezeichnet. Ihr liegt ,,praktische Assoziation‘‘78 zu

Grunde. Indessen gilt die Korrelation von Kinasthese und Erscheinungsfeld

schlichtweg nicht als Produkt der Assoziation, sondern vielmehr als ,,angeboren‘‘

(das Wort allerdings auch bei Husserl nur zwischen unter Anfuhrungszeichen):

,,‘Angeboren’ ist der Zusammenhang zwischen Kinasthese und Feld, durch Ubung

zu beherrschen.‘‘79

Wenn Kinasthesen in ihrem deskriptiven Endzustand, unter dem Titel ,,Walten

im Leib‘‘ usw., in direkter, unvermittelter Herrschaft uber den Leib als Organ

verfugen, so gilt ihre genetische Betrachtung vielmehr der Herausbildung eben

dieser Herrschaft aus einem rein instinktiven Stadium. Mit ,,Instinkt‘‘ oder auch

,,instinktiver Trieb‘‘ ist hier ein leeres, ,,noch der ‘Zielvorstellung‘entbehrende[s]‘‘

76 Hua VI, S. 109.77 Hua XXXIX, S. 12.78 Vgl. Hua IV, S. 330.79 Hua Mat VIII, S. 273.

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Streben gemeint,80 das sich als solches erst in seiner tatsachlichen Erfullung

enthullt. In dieser Hinsicht gilt der Trieb also schlichtweg als ,,Vorform der

Vorhabe‘‘81. Husserl beschreibt diesen gesamten Prozess der Herausbildung von

Kinasthesen als frei verfugbaren praktischen Moglichkeiten rein konstruktiv am

Beispiel eines Sauglings in seinem Bezug zur Mutterbrust82: der Geruch der

Mutterbrust ruft da eine ,,ursprunglich angepasste Kinasthese‘‘ auf, die sich dann, in

ihrer periodischen Wiederholung, zur ,,Einheit einer gerichteten Intention‘‘83

ausbildet. Aus der Periodizitat solcher Triebe und instinktiver Trieberfullungen

schließt Husserl auf den wesentlich ,,intermediaren‘‘ Charakter der entsprechenden

kinasthetischen Betatigungen.84 Ahnliche Uberlegungen gelten auch den ,,Strampel-

Kinasthesen‘‘, wobei dem Komplex von Hunger einerseits und Geruch der

Mutterbrust andererseits nun einfach die ,,Freude am Strampeln‘‘ als auslosender

Reiz entspricht. Auch hier bilden sich also gleichfalls hyletische Urprozesse

triebmaßiger Bewaltigung von Reizen, mit ihrer ,,angeborenen Systematik‘‘, durch

ihre erfullende Enthullung und wiederholende Aneignung, zu einer eigentlichen

,,Herrschaft uber diese Bewegungen‘‘ und damit zu einem ,,frei verfugbaren

kinasthetischen System‘‘ aus.85 Dies schließt allerdings auch die Moglichkeit ein,

jene Bewegungen nun als eigentliches Telos, d. h. als ,,Vorhabe‘‘ thematisch zu

machen, um sie somit bewusst zu inszenieren.86 Kinasthesen gehen somit auch der

eigentlichen Apperzeption des Leibes als Willensorgan voraus.

d) ,,Perzeptive‘‘ und ,,praktische‘‘ Kinasthesen. Was in den vorhin erwahnten

Uberlegungen am Gebrauch des Terminus ,,Kinasthese‘‘ vor allem uberraschen

mag, ist gewiss die Tatsache, dass er ohne weiteres auch zur Bezeichnung von

Tatigkeiten eingesetzt wird, die mit ,,Wahrnehmung‘‘ im engeren Sinn eigentlich

nichts mehr zu tun haben. So werden, in der angefuhrten Aufzeichnung, das

Schlucken, das Strampeln und das Atmen, in einer Randbemerkung zu den Ideen II

sogar das sprachliche Verlautbaren,87 als Kinasthesen angesprochen – was bestimmt

nicht dem ublichen Begriff von ,,Bewegungen, die zum Wesen der Wahrnehmung

gehoren‘‘88 subsumierbar ist.

Husserl ist sich dieser Tatsache wohl bewusst. In einer Aufzeichnung aus 1927,

unternimmt er den Versuch, die Kinasthesen im ublichen Sinn nach ihrer

konstitutiven Funktion in solche einzuteilen, die zur Konstitution der Gestalt oder

des Phantoms und solche, die zur Konstitution von Lage und Bewegung beitragen.

Dabei fallt ihm aber in einer Randbemerkung gleich auf, dass im Bereich der

80 Hua Mat VIII, S. 326.81 Hua Mat VIII, S. 326.82 Das Verfahren hat allerdings, wie Husserl in einer Randbemerkung festhalt, seine Bedenken (Vgl. Hua

Mat VIII, S. 327, Fn. 1).83 Hua Mat VIII, S. 326 f.84 Hua Mat VIII, S. 327.85 Hua Mat VIII, S. 327.86 Hua Mat VIII, S. 328.87 Hua IV, S. 95, Fn. 1.88 EU, S. 89.

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Augenbewegungen, die sogenannten Augendeckelkinasthesen – die eben als solche

angefuhrt wurden – eigentlich zu keiner der beiden Klassen gehoren.89 Allerdings

wird hier zugleich auch der anscheinend tautologische Ausdruck ,,perzeptive

Kinasthesen‘‘ gebraucht, als ob es eigentlich selbstverstandlich ware, dass es auch

nicht-perzeptive Kinasthesen gibt.90

Tatsachlich kommt Husserl in einer spateren Aufzeichnung aus 1931 dazu, die

,,bloß wahrnehmend fungierenden Kinasthesen‘‘ von den ,,praktisch fungierenden

Kinasthesen‘‘ zu unterscheiden.91 Wichtig ist ihm dabei, dass die zwei keineswegs

als abgesonderte Arten gelten: ,,Es handelt sich nicht um zwei getrennte Sorten

von Kinasthesen, sondern um zweierlei Weisen des Zusammenfungierens der in

der Einheit des kinasthetischen Systems mannigfach sich gliedernden Kinasthe-

sen.‘‘92 Dies fuhrt Husserl auf die Bemerkung zuruck, dass sich eigentlich jede

Kinasthese als solche durch zwei unterschiedliche Momente kennzeichnet: ein

Moment der Lage, oder genauer gesagt: der Zugehorigkeit zu einem bestimmten

kinasthetischen System als Mannigfaltigkeit von Lagen, und einem Moment der

Kraft, oder der Anspannung.93 Husserl bezieht die beiden Momente zunachst

dadurch aufeinander, dass er der Null-Lage im kinasthetischen System die

kraftmaßige Null-Intensitat der Entspannung entsprechen lasst, doch muss er

gleich dazu bemerken, dass das in der Tat nicht so einfach ist, da doch auch

Unterstutzungen verschiedener Art der Ruhestellung des Leibes oder eines Gliedes

dienen konnen. Entspannung wird dabei nicht einfach als Einhalten eines

erreichten Kraftniveaus, sondern als Nicht-Aufwendung von Kraft gedacht, was

allerdings noch immer einen Modus der Kraft darstellt. Die Totallage hingegen,

auf welche sich jede Kinasthese durch ihr Lagemoment bezieht, wird wiederum als

,,kinasthetische Situation‘‘ angesprochen.

Die notwendige Zusammenwirkung dieser beiden Momente – Kraft und Lage –

stellt daher gerade den Punkt dar, an dem sich alle Kinasthesen im Wesentlichen

gleichen, indem sie als solche stets sowohl praktisch als auch wahrnehmungsmaßig

fungieren. Eben in dieser Hinsicht sind Kinasthesen notwendig ,,komplex‘‘: ,,Die

Kinasthesen sind konkret immer schon komplex und bilden eine einzige totale

Mannigfaltigkeit, die als systematische sich erst konstituiert und dann also stets

bewusst wird an jeder aktuellen komplexen Kinasthese als Horizont der

Vermoglichkeit.‘‘94 Als Beleg fur diese grundsatzliche Ubereinstimmung prakti-

scher und wahrnehmungsmaßiger Kinasthesen zieht Husserl die haptischen

Kinasthesen heran, die in ihrem noch un-praktisch gerichtetem Tasten und

Beruhren einen unmittelbaren Ubergang zum eigentlich praktischen Eingriff

vorzeichnen.

89 Hua XIV, S. 552, Fn. 1.90 Hua XIV, S. 552, Fn. 1.91 Hua XXXIX, S. 396 f.92 Hua XXXIX, S. 397.93 Hua XXXIX, S. 397.94 Hua XXXIX, S. 397.

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Page 23: Husserls Begriff der Kinästhese und seine Entwicklung

6 Schluss: Kinasthese und Situation

Mit dieser letzteren Wendung im Gebrauch des Terminus kommt in der Tat auch die

eigentumliche Spannung zwischen den beiden Anfangs erwahnten Deu-

tungsmoglichkeiten der Zusammenstellung von kinesis und aisthesis im Begriff

der Kinasthese letztendlich zum Ausgleich. Daruber hinaus hangen letztere

Bemerkungen gewiss auch mit einer wesentlichen und viel besprochenen Neube-

wertung der Praxis in Husserls spaterem Denken zusammen. So betont Husserl noch

in der vorhin erwahnten Aufzeichnung, zur vollen Realitat unserer Welt gehore,

,,dass sie fur uns praktische Welt ist und unsere Wahrnehmungswelt, dass sie fur uns

ursprunglich und d.i. in ursprunglichster Weise, in wahrnehmungsmassiger,

praktisch ist.‘‘95 Wahrnehmungsmaßige Betatigung und praktischer Eingriff sind

wesentlich miteinander verflochten, ihr Ubergang ist fließend. Perzeptive Beweg-

ungen konnen als reine Gesten in praktische umschlagen, so wie auch letztere, etwa

als Experiment, bloß perzeptiv eingesetzt werden konnen. Gerade darauf beruht

letztendlich auch die Aufstellung eines gemeinsamen Begriffs fur praktische und

bloß perzeptive Kinasthesen. Als weitere Konsequenz erwachst hier offensichtlich

auch die Aufgabe, im Bereich konkreter, ,,handanlegender‘‘ Praxis dieselbe

konditionelle ,,Korrelativitat‘‘ von Erscheinung und Betatigung konkret aufzuzei-

gen, die im Bereich der perzeptiven Kinasthesen so eingehend dargelegt wurde.

Dazu kommt es bei Husserl nicht mehr.

Im Lichte dieser Bemerkung lasst sich allerdings auch ein weiterer Begriff der

,,Situation‘‘ – als ,,praktische Situation‘‘ – denken. Husserl selbst nimmt in seinen

spateren Aufzeichnungen ofters darauf Bezug. Dabei setzt er aber stets, noch in der

Krisis-Abhandlung, das Gesamtsystem der Kinasthesen, das ,,in der jeweiligen

kinasthetischen Situation‘‘ aktualisiert wird, und die damit verbundene

,,Korpererscheinungssituation‘‘ als zweierlei ,,Situationen‘‘ einander gegenuber.

Dieselbe abwechselnde Einseitigkeit in der Auffassung des Begriffs Situation

beherrscht durchgehend auch seine spatere Behandlung im Bereich der Praxis.96

Indessen ware, im Hinblick auf die Zusammengehorigkeit von erscheinungsmaßiger

Orientierung und kinasthetischer Lage, wohl eher die beide umfassende Einheit der

Intentionalitat, die K/b Komplexion selbst – gemaß auch dem alltaglichen Gebrauch

des Terminus – als ,,Situation‘‘ anzusprechen. Dies wurde zunachst erlauben, den

Unterschied von praktischer Moglichkeit (der Kinasthese) und motivierter

Moglichkeit (der Erscheinung) als situationelle Auffassungseinheit zu begreifen.

Dieser Zusammenhang scheint schon in etlichen spaten Formulierungen Husserls

deutlich durch. So betont eine Stelle aus Erfahrung und Urteil, die von der

jeweiligen Erscheinung vorgezeichneten wahrnehmungsmaßigen Ubergange zu

weiteren Erscheinungen seien als solche eben praktische Moglichkeiten, wahrend

eine andere Aufzeichnung aus den C-Manuskripten die subtile gegenseitige

Dynamik der beiden aufweist: ,,Der Ablauf der optischen und kinasthetischen

Wandlung verlauft nicht nebeneinander, sondern in der Einheit der Intentionalitat,

die vom optischen Datum in die Kinasthese ubergeht und durch sie hindurch wieder

95 Hua XXXIX, S. 399.96 Vgl. etwa Beilage XIV und Text Nr. 48 in Hua XXXIX.

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ins optische fuhrt, und so, dass jedes Optische terminus ad quem ist, aber zugleich

als terminus a quo fungiert.‘‘97 Ins Praktische gewendet ist diese Struktur

gegenseitiger Verweisung gar nicht weit von Heideggers ,,Bezugsganzheit‘‘ der

,,Bedeutsamkeit‘‘ entfernt, die das ,,Worumwillen‘‘ des eigenen Seinkonnens mit

der in der Wobei/Womit Struktur der ,,Bewandtnis‘‘ eingespannten Zeugwelt

verschrankt98 – denn was ist da Anderes gemeint als gerade das gegenseitige

Verhaltnis der praktischen Moglichkeit (des ,,Seinskonnens‘‘) des Daseins zu den

darin ,,motivierten‘‘ Moglichkeiten (die ,,Gebrauchsmoglichkeiten‘‘) der Um-

gangsgegenstande? Wie dem auch sei, bedeutend ist hier allenfalls, dass mit der

Husserl’schen Problematik der Kinasthesen nicht nur allgemein eine ,,ontologische‘‘

Abhangigkeit jedes Objektiven von Leistungen der Subjektivitat, oder auch nur die

stets notwendige Mitgegebenheit eines fungierenden Leibes fur jede sinnliche

Gegebenheit, befurwortet, sondern daruber hinaus der Anspruch erhoben wird,

Erscheinung uberhaupt konkret als Spielraum von Freiheit zu denken, und eben

dieser, schon in der Wahrnehmung belegte interaktive Zusammenhang liegt auch

dem zugrunde, was wir alltaglich als ,,Situation‘‘ bezeichnen.

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