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HISTORISCHES DENKEN EIN KOMPETENZ-STRUKTURMODELL · Zentrum die Zentralkategorie...

Date post: 08-Aug-2020
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HISTORISCHES DENKEN. EIN KOMPETENZ-STRUKTURMODELL Waltraud Schreiber Andreas Körber Bodo von Borries Reinhard Krammer Sibylla Leutner-Ramme Sylvia Mebus Alexander Schöner Béatrice Ziegler Kompetenzen: Grundlagen – Entwicklung – Förderung Band 1
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HISTORISCHES DENKEN.EIN KOMPETENZ-STRUKTURMODELL

Waltraud SchreiberAndreas Körber

Bodo von BorriesReinhard Krammer

Sibylla Leutner-RammeSylvia Mebus

Alexander SchönerBéatrice Ziegler

Kompetenzen: Grundlagen – Entwicklung – Förderung

Band 1

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BIBLIOGRAPHISCHE INFORMATION DER DEUTSCHEN BIBLIOTHEK

Die deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der DeutschenNationalbiographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internetüber http://dnb.ddb.de abrufbar.

ISBN 3-89391-720-9

LAYOUT UND SATZ: Beate Brosig

GRAFIKEN UND UMSCHLAGENTWURF: Thomas Wilm

© 2006 by ars una Verlagsgesellschaft mbH, 82061 NeuriedRechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten.Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf fotomechanischem Weg(Fotokopie, Mikrokopie, Xerokopie) zu vervielfältigen.

Druck und Bindung: TZ-Verlag & Print GmbH, Roßdorf

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Inhaltsverzeichnis

EINLEITUNG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 005

HISTORISCHES DENKEN. EIN KOMPETENZ-STRUKTURMODELL . . . . . . . 0013

I. ÜBERLEGUNGEN ZUR ABLEITUNG EINES HISTORISCHEN KOMPETENZ-MODELLS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .0013

II. EIN KOMPETENZ-STRUKTURMODELL DES HISTORISCHEN DENKENS . . . . . . . 018

1. Hinweise zur Terminologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 018

2. Die Kompetenzbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 019

3. Zusammenhänge zwischen den Kompetenzbereichen . . . . . . 029

4. Kompetenzbereiche und historische Kompetenzen (Kern-und Einzelkompetenzen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 031

III. GRADUIERUNG: DIE UNTERSCHEIDUNG DER KOMPETENZEN HISTORISCHEN

DENKENS NACH IHREM NIVEAU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 035

1. Zur allgemeinen Graduierungslogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 035

2. Grundsätze für auf dieser Graduierungslogik aufbauende Entwicklungslogiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 044

LITERATUR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 047

ZUR TERMINOLOGIE: GLOSSAR UND GRAFIKEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 051

AUTORENVERZEICHNIS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64

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Einleitung 1

Andreas Körber, Waltraud Schreiber

Die vorliegende Broschüre stellt ein Kompetenz-Strukturmodell histori-schen Denkens vor. Die Fragestellung entstammt nicht der Debatte inner-halb der Geschichtsdidaktik: Die Konzepte „Kompetenzmodell” und„(Bildungs)-Standards” sind vielmehr von außen an die Disziplin heran-getragen worden – von der empirischen Bildungsforschung und von derBildungspolitik.

Während die Bildungsforschung durchaus betont, dass empirisch ge-prüfte und zunächst theoretisch begründete Kompetenzmodelle eine Vo-raussetzung für solche Bildungsstandards sind, werden von Seiten derBildungspolitik schnelle Ergebnisse verlangt: Die deutsche Kultusminis-terkonferenz ließ z.B. für die in den PISA-Untersuchungen getestetenFächer umgehend „Bildungsstandards“ erarbeiten und Aufgaben erstel-len, die zur Überprüfung der erreichten Niveaus geeignet erscheinen. Ob-wohl für eine Reihe von Fächern die dahinter stehenden Kompetenzvor-stellungen noch nicht ausreichend herausgearbeitet und in zusammen-hängende Modellvorstellungen gebracht sind, werden die Aufgaben inaufwändigen Verfahren zur Zeit bereits normiert.2

Auch wenn das Fach Geschichte noch nicht unter denen war, für wel-che im Auftrag der KMK derartige Bildungsstandards erarbeitet werdensollten, betrifft die Problematik auch die Geschichtsdidaktik. Inzwischenwurden nämlich in einigen Ländern bereits Bildungsstandards entwickelt;länderübergreifende Initiativen in dieser Richtung sind angestoßen. Eben-so wird – ohne weitergehende theoretische Fundierung – an Aufgaben-sammlungen für Vergleichstests gearbeitet. Angesichts dieser Lage undder Gefahr, dass Gebiete, die nicht von offizieller Seite am Reformprozessbeteiligt sind, in Zukunft im Kanon der Fächer geringere Bedeutung zuge-

1 Die in dieser Broschüre veröffentlichten Beiträge erscheinen in leicht modifizierter Fas-sung in: Körber, Andreas/Schreiber, Waltraud (Hgg.): Kompetenzen historischen Den-kens. Ein Strukturmodell und Beiträge zur Entwicklung von Bildungsstandards. Neu-ried 2006 (in Vorbereitung). Dort finden sich auch umfassende Ausführungen zurAbleitung und Ausdifferenzierung der einzelnen Kompetenzbereiche, Graduierungs-und Operationalisierungsbeispiele sowie weitere Vorarbeiten für die Entwicklung vonBildungsstandards.

2 Vgl. hierzu z.B. die Informationen der KMK, des IQB, der Kultusministerien der einzel-nen Bundesländer, der Institute für Bildungsforschung im WWW.

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wiesen bekommen, besteht für die Geschichtsdidaktik aller Grund dazu,sich zu Wort zu melden: Auch ohne das Ziel einer baldigen Beteiligung anlarge-scale-assessments nach dem Vorbild von PISA sollte es der Geschichts-didaktik ein Anliegen sein, ihre in vielen Jahren der Diskussion erarbeite-ten Grundlagen und Prinzipien des historischen Denkens und Lernens indie Debatte um Kompetenzen einzubringen. Sie sollte also nicht schwei-gen, sondern ihrerseits die Initiative ergreifen, bevor Andere es tun, indemsie ältere oder theoretisch problematische Konzepte historischen Lernensin Bildungsstandards und Testaufgaben gießen.

Das Projektteam „FUER Geschichtsbewusstsein“3 nahm sich der Auf-gabe an: Wir stellen in diesem Band ein Kompetenz-Strukturmodell histo-rischen Denkens zur Diskussion. Es nutzt das Kapital, das die Geschichts-didaktik in den letzten dreißig Jahren aufgebaut hat: den grundsätzlichen,nicht auf Schule und schulische Vermittlung beschränkten Blick auf denKomplex „historisches Denken“ und die Integration geschichtstheoreti-scher Fragen in die Auseinandersetzung damit.

Welches aber sind die zentralen „Kompetenzbereiche“, in denen spezifischfachliches Denken- und Handeln-Können zum Ausdruck kommt? WelcheKern- und Einzelkompetenzen lassen sich ausweisen? Wie können sie ope-rationalisiert werden? Und wie können Unterschiede in der Verfügungüber diese Kompetenzen theoretisch gefasst werden? Dies sind die Fragen,auf welche diese Broschüre eine erste Antwort versucht und zur Diskus-sion stellt.

Der Anspruch ist dabei zugleich bescheiden und umfassend. Keineswegskann und soll dieses Modell der Endpunkt einer Entwicklung sein undgewissermaßen die Diskussion innerhalb der Disziplin abschließen, bevorsie richtig begonnen hat. Dafür fehlen nicht zuletzt empirische Daten. – Eshandelt sich also um einen Diskussionsbeitrag.

3 FUER Geschichtsbewusstsein steht als Akronym für ein internationales Forschungs-projekt, das in mehreren Teilprojekten, u.a. auch in gemeinsamer Grundlagenarbeit, die„Förderung und Entwicklung von reflektiertem und (selbst-)reflexivem Geschichtsbe-wusstsein“ ausdifferenziert, also weiterbaut am gemeinsamen Fundament, auf dem dieGeschichtsdidaktik seit ihrer Begründung als Wissenschaft fußt (zu FUER vgl. u.a. dasThemenheft ZGD 2 (2003). Informationen zu den Teilprojekten gibt die Homepage desProjekts www.fuer-geschichtsbewusstsein.de.) Die Koordination des Gesamtprojektsliegt in den Händen von Prof. Dr. Waltraud Schreiber, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt; die Projektleitung besteht aus Prof. Dr. Bodo von Borries, Hamburg, Prof. Dr.Andreas Körber, Hamburg, Prof. Dr. Reinhard Krammer, Salzburg, Sibylla Leutner-Ramme, Hamburg, PD Dr. Sylvia Mebus, Dresden, PD Dr. Béatrice Ziegler, Aarau. Ander erweiterten Projektleitung sind zudem beteiligt die Koordinatoren der Lehrer-arbeitskreise in Bayern, Belgien, Hamburg, Nordrhein-Westfalen, Rumänien, Sachsen,Schleswig-Holstein, der Schweiz, Südtirol, Tirol, Ungarn, Wien.

6 AN D R E A S KÖ R B E R/WA LT R AU D SC H R E I B E R

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Andererseits ist der Anspruch dieses Kompetenz-Strukturmodells austheoretischen wie pädagogischen Gründen aber ein umfassender: Für einFach, dessen Didaktik seit nunmehr drei Jahrzehnten den Blick über denTellerrand der Schule hinaus richtet, den Vorstellungen einer abbilddidak-tischen Vermittlung fachwissenschaftlicher Forschungsergebnisse anSchüler abgeschworen hat und den grundsätzlichen Zusammenhang deshistorischen Denkens mit allen gesellschaftlichen Bereichen betont, darfein Kompetenzmodell nicht nur im engen Blick auf Schule entwickelt wer-den. Der Bezugspunkt muss vielmehr das „historische Denken“ in allenBereichen sein, vom außer- und vor-schulischen alltagsweltlichen Ge-schichtsdenken der „Laien“ über das schulische Geschichtslernen, histori-sche Projektarbeit, Erinnerungs- und Geschichtskultur bis hin zu universi-tärer Forschung und Lehre.

Genau dieser übergreifende Zusammenhang ist in der deutschen Ge-schichtsdidaktik bereits weitgehend vorgedacht worden. Nicht zuletzt inder Rezeption der Analytischen Geschichtsphilosophie eines ArthurDanto4 wurde eine narrativistische Geschichtstheorie entwickelt, in derenZentrum die Zentralkategorie „Geschichtsbewusstsein“ steht.5 Hans-Michael Baumgartner6, Karl-Ernst Jeismann7, Jörn Rüsen8, Hans-JürgenPandel9 sind wichtige Protagonisten dieser Entwicklung. Rüsens „diszipli-näre Matrix“10 – ursprünglich gedacht als Konzept zur Erfassung des Tunsder Fachhistoriker – ist schnell und zu Recht als Grundmodell des spezi-fisch historischen Denkens auch für „Lebenswelt“ und andere Bereicherezipiert und genutzt worden. Das FUER-Team hat diese Überlegungenweitergeführt.11 – Auch das Kompetenz-Strukturmodell baut auf diesenVorarbeiten auf.

Die enge Bindung an die narrativistische Geschichtstheorie ermöglichteine Präzisierung, führt damit aber auch zu Einschränkungen: Nicht allemöglichen Kompetenzen, die bei der Beschäftigung mit Vergangenheit

4 Danto, Philosophie, 1965/1980.5 Vgl. Schreiber, Geschichtsbewusstsein, 2002.6 Vgl. die prägnante Zusammenfassung Baumgartner, Narrativität, 1997.7 Vgl. die beiden Festschriften zum 60. und 75. Geburtstag, die seine Schriften zusammen-

stellen Jeismann, Horizont, 1985; Jeismann, Geschichte, 2000.8 Aus der großen Zahl an Schriften vgl. Rüsen, Vernunft, 1983; Rüsen, Rekonstruktion,

1986; Rüsen, Geschichte, 1989.9 Vgl. z.B. Pandel, Dimensionen, 1987; Pandel, Erzählen, 1988; Pandel, Genese, 1994.10 Rüsen, Vernunft,1983, S. 29.11 Vgl. hierzu die Sechsermatrix im Glossar dieser Broschüre, vgl. ZGD 2 (2003).

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und Geschichte aktiviert werden können, werden durch das Kompetenz-Strukturmodell erfasst, sondern nur die genuin historischen. Damit sinddie Kompetenzen gemeint, die zur von unterschiedlichen Fragestellungengeleiteten mentalen Verarbeitung von Zeitlichkeit, zur (methodisch regu-lierten) Auseinandersetzung mit und zur Darstellung von Veränderungenin Zeit aktiviert werden müssen.

Die dabei betrachteten genuin historischen Operationen und Struktu-rierungen des Umgangs mit zeitlicher Differenz erfolgen jedoch notwendiginhalts-, methoden- und subjektbezogen. Damit bedarf historisches Den-ken auch des Rückgriffs auf Fragestellungen, Ergebnisse und Methodenanderer Disziplinen. Dadurch dass juristisches, theologisches, soziologi-sches oder wirtschaftswissenschaftliches Denken in historischen Narratio-nen zur Erklärung und Beschreibung von Entwicklung und Veränderunggenutzt wird, erfolgt ihre historische Aufladung. Analoges gilt im Blick aufden/die sich mit Geschichte Befassenden für kultur-, sozial- oder erzie-hungswissenschaftliches Denken. – Im Zentrum des Kompetenz-Struktur-modells stehen aber diejenigen Operationen und Strukturen, die derartigesDenken zu historischem machen.

Das hier vorgelegte Kompetenz-Strukturmodell ist also gemeint als einVersuch, die bisherige geschichtstheoretische und geschichtsdidaktischeDebatte mit Hilfe eines neuen kategorialen Instrumentariums auf Fragender Kompetenzentwicklung, -diagnose, -messung, -förderung zu fokus-sieren. Das Strukturmodell stellt die Grundlage für weitere Forschungenund Überlegungen dar, etwa für die theoretische wie empirische Bearbei-tung der Frage nach der Entwicklung dieser Kompetenzen oder verschie-dener Möglichkeiten der Förderung. Zusammen mit einem noch zu er-arbeitenden, auf ihm basierenden Kompetenz-Entwicklungsmodell legt esauch die Erarbeitung von Bildungsstandards Grund, also strukturellen,kategorial-formalen Beschreibungen dessen, was Schülerinnen und Schü-ler an bestimmten Schlüsselstellen ihrer schulischen Laufbahn können sol-len, um zur Teilnahme am gesellschaftlichen Umgang mit Geschichte be-fähigt zu sein.

Das hier vorgelegte Modell will Gespräche und Diskussionen anregenzwischen den an der Theorieentwicklung Beteiligten, den mit der Prag-matik historischen Lernens auf ganz unterschiedlichen Ebenen und inganz unterschiedlichen Institutionen Befassten und den an der empiri-schen Erforschung der Kompetenzentwicklung und -förderung Interes-sierten. Nur wenn es gelingt, die skizzierten weiteren Schritte, wenn nichtim einhelligen Einvernehmen, so doch in einer gemeinsamen Diskussionzu tun, besteht auch eine Hoffnung, den fast schon traditionellen Graben

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zwischen akademischer Geschichtsdidaktik und z.B. der Unterrichtspra-xis sowie den Bildungsverwaltungen zu überwinden. Das aber setzt sei-nerseits Kompetenzen voraus, nämlich kommunikative, also die Fähigkeitund Fertigkeit, aber auch die Bereitschaft, in gegenseitigem Respekt sichauf die Eigenheiten dieser Debatte einzulassen:

Von den Bildungsverwaltungen verlangt dies, dem verständlichenDrang danach, schnell Papiere vorzulegen, die „Bildungsstandards“heißen, zu widerstehen – ebenso wie den Verlockungen, einfach tradi-tionelle Inhalts- und Deutungskanones unter diesem Etikett als neueVerbindlichkeiten zu setzen. Vielmehr sollten die Ergebnisse der theo-retischen Klärung dessen, was unter historischen Kompetenzen zu ver-stehen ist, berücksichtigt und Raum für formale und kategorialeOperationalisierungen gelassen werden. Das ist nämlich die Vorausset-zung für eine Messung nicht nur gelernten „Wissens“, sondern erwor-bener Fähigkeiten. Zweifellos sind die empirischen Kompetenzen, die in den letzten Jahr-zehnten in der empirischen Bildungsforschung entwickelt wurden, uner-setzbar. Aber eine schlichte Übertragung psychometrischer Messun-gen auf historische Gegenstände, ein nicht theoretisch fundierterKorpus von Aufgaben als Grundlage einer Normierung kann den the-oretischen Anforderungen an historisches Denken und Lernen nichtgerecht werden. Die empirische Bildungsforschung sollte daher die indreißig (und mehr) Jahren geschichtstheoretischer und geschichts-didaktischer Reflexion und Forschung gewonnenen Erkenntnisse überNatur und Zweck historischen Denkens und die aus ihnen zu ziehen-den Konsequenzen für mögliche Erhebungsinstrumente und Aus-wertungsverfahren Ernst nehmen. Es geht hier um die fachspezifischenFormen des Denkens, die es verbieten, Verfahrensweisen, die für ande-re Fachkulturen entwickelt wurden undiskutiert zu übernehmen.Kompetenzmodelle unterstützen zwar nicht unmittelbar die Planungvon Unterricht. Dennoch sind sie auch für Lehrerinnen und Lehrer vonInteresse, weil sie die Bereiche, in denen eine Förderung durch denUnterricht erwartet wird und werden kann, „quer“ zu den Inhaltenausweisen. Zudem muss in die weitere Diskussion und Entwicklungvon Kompetenzmodellen die in der alltäglichen Praxis gründende Ex-pertise der Lehrerinnen und Lehrer einfließen. Sie sollten die im Ver-lauf und in der Folge dieser Diskussion entstehenden neuen Konzepteals Chance für ein historisches Lernen begreifen, welches Verbindlich-keit in formaler und kategorialer Ebene ermöglicht, und zugleich in-haltlich Freiräume schafft.

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Die akademische Geschichtsdidaktik schließlich muss sich – unter Bei-behaltung ihres Wissenschaftsanspruchs – auf diese neue Debatte umhistorische Kompetenzen einlassen. Es kann selbstverständlich nichtdarum gehen, einfach auf den gerade abfahrenden Zug der Bildungs-politik aufzuspringen, aber ebenso wenig darum, sich der Debatte völ-lig zu verweigern und sich in die vermeintlich reine Wissenschaft vomGeschichtsbewusstsein bzw. der Geschichtskultur zurückzuziehen. –Der Verbesserung des historischen Lernens und des Umgangs unsererGesellschaft mit Geschichte ist nur gedient, wenn die Geschichtsdidak-tik sich auf die Kompetenz-Debatte einlässt, und zwar nicht nur inForm einer Auseinandersetzung mit Einzelaspekten, sondern immermit Blick auf den Gesamtzusammenhang. Gerade weil die Geschichts-didaktik die Wissenschaft vom historischen Denken und Lernen ist,muss sie versuchen, die Diskussion zu Kompetenzen, Kompetenzent-wicklung und Messung erreichter Niveaus mitzuprägen. Dabei solltesie sowohl ihren Part als Instanz der theoretischen Reflexion und derempirischen Forschung als auch ihren Part in der – kompetenzorien-tierten – Aus-, Fort- und Weiterbildung u.a. von Geschichtslehrernernst nehmen.

Das hier vorgestellte Kompetenz-Strukturmodell ist Ergebnis einer intensi-ven Forschungskommunikation zwischen den Autoren dieser Broschüreund weiterer Gruppen, insbesondere den Mitarbeitern in Eichstätt12 undHamburg13, Vertretern der internationalen Lehrer-Arbeitskreise des FUER-Projekts sowie weiteren Kollegen der Geschichtsdidaktik. Über Jahre hin-weg war auch Wolfgang Hasberg (Köln) an der Entwicklungsarbeit betei-ligt. Gerade die intensiven Diskussionen um grundlegende Konzepte wieum Einzelaspekte der Terminologie haben – so hoffen wir – zu einem Mo-dell geführt, das sowohl abgerundet ist als auch Anknüpfungen und Wei-terarbeit ermöglicht.

Unterstützt wurde die Arbeit durch viele Geldgeber, u.a. durch denStifterverband der Wissenschaften, die EU, die Universitätsstiftungen derbeteiligten Universitäten sowie – wegen der strukturellen Nähe zu ihreneigenen Projekten Geschichtswettbewerb und EUSTORY – in der Schluss-phase auch durch die Körber-Stiftung. Ihnen sei ebenso Dank gesagt, wie

12 Gedankt sei insbesondere Alexander Schöner. Aktiv mitgearbeitet haben auch CarolaGruner, Simone Unger, Anna Wenzl, Michael Erber, ebenso die studentischen Mit-arbeiter Christian Karl, Ina Wester, Jakob Ackermann, Florian Sochatzy, Christof Klebl,Katharina Kestler, Johanna König.

13 Gedankt sei insbesondere Johannes Meyer-Hamme, Jan-Patrick Bauer sowie für die stu-dentischen Mitarbeiter, u.a. Jan Albroscheit und Sven Krüger.

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dem Eichstätter Publikationsteam: Thomas Wilm hat das Design der Gra-fiken und den Umschlag entworfen, Beate Brosig hat das Layout ent-wickelt und mit Umsicht und Weitsicht alle Verlagsarbeiten koordiniert.Die inhaltliche Verantwortung liegt wie immer bei den Autoren. Wir allehoffen, dass dieses Modell als Anstoß zu einer Weiterführung der Be-mühungen der Geschichtsdidaktik um Geschichte als Denkfach angenom-men wird.

LITERATUR

Baumgartner, Hans Michael: Narrativität, in: Bergmann, Klaus u.a. (Hgg.): Hand-buch der Geschichtsdidaktik, Seelze-Velber 51997, S. 157-160.

Danto, Arthur C.: Analytische Philosophie der Geschichte, Frankfurt/Main 1980.Jeismann, Karl-Ernst: Geschichte als Horizont der Gegenwart: über den Zusam-

menhang von Vergangenheitsdeutung, Gegenwartsverständnis und Zu-kunftsperspektive, Paderborn 1985.

Jeismann, Karl-Ernst: Geschichte und Bildung: Beiträge zur Geschichtsdidaktikund zur historischen Bildungsforschung, Paderborn u.a. 2000.

Körber, Andreas/Schreiber, Waltraud (Hgg.): Kompetenzen historischen Denkens.Ein Strukturmodell und Beiträge zur Entwicklung von Bildungsstandards.Neuried 2006 (in Vorbereitung).

Pandel, Hans-Jürgen: Dimensionen des Geschichtsbewußtseins. Ein Versuch, seineStruktur für Empirie und Pragmatik diskutierbar zu machen, in: Geschichts-didaktik 12 (1987), S. 130-142.

Pandel, Hans-Jürgen: Historisches Erzählen, in: Geschichte lernen 1,2 (1988), S. 8-12.

Pandel, Hans-Jürgen: Zur Genese narrativer Kompetenz, in: Borries, Bodo von/Pandel, Hans-Jürgen (Hgg.): Zur Genese historischer Denkformen. Qualitativ-und quantitativ-empirische Zugänge, Pfaffenweiler 1994, S. 99-121.

Rüsen, Jörn: Historische Vernunft. Grundzüge einer Historik I: Die Grundlagen derGeschichtswissenschaft, Göttingen 1983.

Rüsen, Jörn: Rekonstruktion der Vergangenheit. Grundzüge einer Historik II: DiePrinzipien der historischen Forschung, Göttingen 1986.

Rüsen, Jörn: Lebendige Geschichte. Grundzüge einer Historik III: Formen undFunktionen des historischen Wissens, Göttingen 1989.

Rüsen, Jörn: Historische Orientierung. Über die Arbeit des Geschichtsbewußtseins,sich in der Zeit zurechtzufinden, Köln 1994.

Schreiber, Waltraud: Reflektiertes und (selbst-) reflexives Geschichtsbewusstseindurch Geschichtsunterricht fördern – ein vielschichtiges Forschungsfeld derGeschichtsdidaktik, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 1 (2002), S. 18-43.

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Historisches Denken. Ein Kompetenz-Strukturmodell

Waltraud Schreiber, Andreas Körber, Bodo v. Borries, Reinhard Krammer, Sibylla Leutner-Ramme, Sylvia Mebus,

Alexander Schöner, Béatrice Ziegler

I. ÜBERLEGUNGEN ZUR ABLEITUNG EINES HISTORISCHEN KOMPETENZ-MODELLS

Überreste aus der Vergangenheit, gedeutete Geschichte(n), Erfahrungenmit der eigenen Geschichtlichkeit, generell mit der Historizität von Weltund Mensch gehören ganz selbstverständlich und unvermeidlich zur Le-benswelt jedes Menschen.1 Insofern steigert die Entwicklung historischerKompetenz,2 also der Fähigkeit, Fertigkeit und Bereitschaft, historisch zudenken, die Möglichkeiten, menschliches Leben zu bewältigen. Zu beden-

1 Diese Einsicht wird durch die Kategorie Geschichtsbewusstsein erfasst. „Geschichts-bewusstsein”, verstanden als mentale Struktur der Verarbeitung von Zeitlichkeit,gehört zur Grundausstattung jedes Menschen. Es ist allerdings immer kulturell, grup-penspezifisch und individuell geprägt, zudem von den aktuell gegebenen Orientie-rungsbedürfnissen abhängig. Geschichtsbewusstsein wurde in den 1970er Jahren alsLeitkategorie der Geschichtsdidaktik erkannt (vgl. insbesondere die Arbeiten von RolfSchörken, Karl-Ernst Jeismann, Jörn Rüsen; Vgl. z.B. Schörken, Geschichtsbewusstsein,1972; Jeismann, Funktion, 1974; Rüsen, Historik, 1977.)Geschichtsbewusstsein kann mehr oder weniger ausgeprägt sein. Die Verständigungdarüber, wodurch elaborierte Formen gekennzeichnet sind, stellt eine Herausforderungdar, für die Wissenschaften wie für Gesellschaften und Individuen. Den Zielen demo-kratisch pluraler Gesellschaften entspricht die Entwicklung eines „reflektierten und(selbst-)reflexiven Geschichtsbewusstseins“. Reflektiert steht für theoretisch und me-thodisch kontrolliert und dafür, dass der Stand der (historischen) Forschung und inner-wie interdisziplinäre Diskurse das Korrektiv für den Umgang mit Geschichte darstellen;(selbst-)reflexiv steht für die Einsicht, dass Geschichte notwendig gebunden ist an dieGegenwart dessen, der sich mit Vergangenem befasst, sowie für die Einsicht, dass in Ge-schichte(n) kollektiv und individuell Sinn gebildet wird (vgl. u.a. Schreiber, Geschichts-bewusstsein, 2002).

2 Von Kompetenzen kann immer nur dann gesprochen werden, wenn deklarative, kon-zeptuelle, prozedurale und volitionale Komponenten zusammenkommen. Dies spiegeltsich in der Umschreibung von Kompetenzen als „Fähigkeiten, Fertigkeiten und Bereit-schaften“ wider (vgl. Klieme, Entwicklung, 2003; u.a. in Anlehung an Franz E. Weinert).In Körber/Schreiber, Kompetenzen, 2006 setzt sich Andreas Körber ausführlich mit denGrundlagen der Kompetenzdiskussion auseinander: „Grundbegriffe und Konzepte:Kompetenzen und Kompetenzmodelle. Graduierung und Stufung, Niveaus und Stan-dards”.

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ken ist dabei, dass Gesellschaften bzw. gesellschaftliche Gruppierungenein Interesse haben, ihre Mitglieder mit bestimmten Geschichtsdeutungenzu konfrontieren, die eine gemeinsame Identität sichern. Deshalb solltenmündige Bürger in der Lage sein, solche Deutungen zu beurteilen und zukritisieren, auch abzugleichen und gegebenenfalls zu ersetzen.

Bezogen auf den Geschichtsunterricht folgt daraus, dass die Förde-rung der Kompetenzentwicklung eine Aufgabe ist, deren Bedeutung ausdem Leben kommt.3 Anders betrachtet, eröffnet (erst) die Kompetenzorien-tierung dem Schulfach Geschichte die Chance, seinen Platz im Leben derSchüler/der Gesellschaft, tatsächlich einzunehmen4 – und ihn nicht nur in

3 So erklärt sich u.a. die Entscheidung Heinz-Elmar Tenorths, unter den für alle anzustre-benden Bildungsinhalten („Allgemeinbildung”) auch historische aufzuführen (Tenorth,Möglichkeiten, 1994).

4 Seit Beginn der Institutionalisierung des Geschichtsunterrichts im 19. Jahrhundert warvon der Lebensrelevanz des Geschichtsunterrichts die Rede. Eingelöst wurde derAnspruch häufig nur einseitig, u.a. durch Auswahlentscheidungen, die die nachfolgen-de Generation, ohne ihr ausreichend Möglichkeiten der Reflexion einzuräumen, in dieTradition einbanden, bzw. auf Traditionsbrüche einschworen. (Vgl. u.a. Bergmann u.a.,Gesellschaft, 1982, Jeismann, Gymnasium, 1996; vgl. Handbücher zur Geschichte desBildungswesens). Inwiefern die Intentionen der Verantwortlichen in den Klassenzim-mern tatsächlich verfolgt wurden, vor allem, ob sie von den Schülern internalisiert wur-den, ist kaum erforscht. (Zur mangelnden empirischen Begleitung von Geschichts-unterricht vgl. Hasberg, Forschung, 2001). Dass die Beibehaltung von Unterrichts-methoden beabsichtigte Veränderungen unterlaufen kann, zeigt Reinhard Krammer inseiner Habilitation: Krammer, Intentionen, im Druck (voraussichtlich 2006).Die Auseinandersetzung um Geschichtsunterricht in der Umbruchsphase der 1960er/1970er Jahre lässt sich exemplarisch an der Diskussion um die Curricula und Richtlinienverfolgen. Einen Höhepunkt erlebte diese im Umfeld der hessischen RahmenrichtlinienGesellschaftslehre; vgl. Schreiber, Schulreform, 2005. Die Orientierung an den Methodender historischen Forschung und die Auseinandersetzung mit ihren Ergebnissen kanndurchaus als Reaktion auf diese nicht nur politisch, sondern auch theoretisch geführteDiskussion um Geschichtsunterricht gewertet werden, die die bloße Adaption ausge-wählter Deutungen ersetzen sollte. (Vgl. die unterschiedlichen Auflagen des HandbuchsGeschichtsdidaktik, Bergmann, Handbuch, 1979 bis 1997). Der Erfolg, die Lebensrele-vanz der postulierten Umorientierung des Geschichtsunterrichts wurde, obwohl empi-rische Untersuchungen dies nahe gelegt hätten (vgl. z.B. Borries u.a., Schulbuch-verständnis, 2005), bislang wenig diskutiert.Die durch FUER Geschichtsbewusstsein initiierten Forschungen versuchen dieGrundlagen zu sichern/zu erweitern, auf denen ein auf die Förderung reflektierten und(selbst-)reflexiven Geschichtsbewusstseins gerichteter Geschichtsunterricht aufbauenkann. Sie treiben die für das Hineinwirken in den Geschichtsunterricht notwendigenOperationalisierungen voran. Die Möglichkeiten, die die aktuelle Diskussion derKompetenzorientierung sichtbar macht, werden dabei genutzt. (Vgl. hierzu die vorlie-gende Broschüre, vor allem auch deren Vertiefung durch Körber/Schreiber, Kom-petenzen, 2006 und die weiteren Publikationen, die im Umfeld von FUER Geschichts-bewusstsein entstanden sind (www.fuer-geschichtsbewusstsein.de). Zu Bemühungen,die Ansätze für den Geschichtsunterricht zu operationalisieren vgl. insbesondere dieebenfalls im ars una Verlag Neuried erscheinende Reihe „Themenheft Geschichte“).

14 WA LT R AU D SC H R E I B E R/AN D R E A S KÖ R B E R U.A .

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den Präambeln von Richtlinien zu postulieren. Dies setzt zugleich voraus,die „Outcome-Orientierung“ ernst zu nehmen, die den Blick (stärker als inden 1970er Jahren die Lernzielorientierung5) auf das lenkt, worüber Schü-ler in ihrem aktuellen und späteren Leben tatsächlich verfügen können.

Eine konsequente Orientierung von Geschichtsunterricht auf die För-derung von Kompetenzen kann nicht durch die umstandslose Setzungvon „Bildungsstandards“ erfolgen. Sie setzt vielmehr klare und weitge-hend konsensfähige Vorstellungen darüber voraus, wie die historischenKompetenzen zu begründen, zu definieren und hinsichtlich möglicherQualitätsniveaus zu differenzieren sind. Die Rede ist hier von einem Kom-petenz-Strukturmodell. Erst auf dessen Grundlage können die Überle-gungen zur Kompetenzentwicklung, -förderung und -diagnose systemati-siert und eventuell in die Form weiterer Modelle gebracht werden.

In dieser Broschüre wird ein derartiges Kompetenz-Strukturmodell vorge-stellt. Es unterscheidet sich grundsätzlich von Modellen, die andere Fach-didaktiken für ihre Schulfächer vorgelegt haben: Es bezieht sich nämlichganz generell auf das historische Denken und nicht nur auf den SektorSchule. Es muss deshalb historisches Denken in allen Phasen von Lebens-läufen und in allen Bereichen des Lebens kategorial fassen können. DieEntscheidung dafür, ein Kompetenzmodell ganz generell für das histori-sche Denken zu entwickeln, ergibt sich aus der Bedeutung des historischenDenkens für die Bewältigung des menschlichen Lebens.

Die Grundlage für das Strukturmodell ist die narrativistische Ge-schichtstheorie. Diese versteht die Prinzipien und Operationen histori-schen Denkens der Geschichtswissenschaft als elaborierte Formen deslebensweltlichen Umgangs mit Geschichte, welcher letztlich in der Orien-tierungsfunktion begründet ist. Die als Ergebnis der Auseinandersetzungmit Vergangenheit entstehenden „Geschichten“ müssen notwendigerwei-se als „historische Narrationen“ vorliegen. – Bei der Ableitung des Kompe-tenzmodells wird insbesondere auf die „disziplinäre Matrix“ zurückge-griffen, die Jörn Rüsen 1983 im ersten Band seiner Historik vorstellte.6 Esbringt die Prinzipien und Operationen historischen Denkens in einen sy-stematischen Zusammenhang, der Lebenswelt und Geschichtswissen-schaft unauflöslich verknüpft 7, und stellt ihn als Regelkreis dar. Den bei

5 Zur Differenzierung gegenüber der Lernzieldiskussion der 1970er Jahre vgl. Borries,Curriculumdebatte, 2006.

6 Rüsen, Vernunft, 1983, v.a. S. 29.7 Zum Lebensweltbezug vgl. Schreiber, Positionen, 1995.

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Rüsen noch „kreisförmigen“ prozessualen Charakter dieser Lebenswelt-orientierung durch historisches Denken hat Andreas Körber in seiner Dis-sertation als spiralförmig, also als dynamisch herausgearbeitet.8

Die fundamentale Einsicht, dass der Urgrund der Geschichtswissenschaftdas Bedürfnis des Menschen ist, sich in der Zeit zu orientieren, ist nicht nurfür Narrativitätstheoretiker wie Jörn Rüsen der Schlüssel zum historischenDenken. Dass sich von diesem Bedürfnis aus historisches Denken und Tunerschließt, taucht implizit und explizit auch bei den meisten anderen Ge-schichtstheoretikern auf, bei vielen historisch Forschenden, bei fast allenGeschichtsdidaktikern. Mit dieser Einsicht korreliert auch die Zielsetzung,durch Geschichtsunterricht, durch Museum, Filme, durch andere Formender Beschäftigung mit Geschichte die Entwicklung eines reflektierten und(selbst-)reflexiven Geschichtsbewusstseins zu fördern.

8 Vgl. Körber, Stresemann, 1999. Körber weist dort auch darauf hin, dass „Erkenntnis“nicht nur an den wissenschaftlichen Umgang mit Geschichte gebunden ist.

9 Vgl. auch die Grafik in Körber, Stresemann, 1999, S. 47.

16 WA LT R AU D SC H R E I B E R/AN D R E A S KÖ R B E R U.A .

Abb. 1: Disziplinäre Matrix nach Jörn Rüsen (Rüsen, Jörn: Historische Vernunft,Göttingen 1983, S. 29.)9

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Hasberg/Körber haben die Rüsensche Matrix kürzlich unter dem Titel„Geschichtsbewusstsein dynamisch“10 zu einem Prozessmodell des histo-rischen Denkens ausdifferenziert. Sie greifen dabei die innerhalb desProjekts „FUER Geschichtsbewusstsein“ 11 erarbeitete Differenzierung derOperationen und Prinzipien historischen Denkens auf, die in der Sechser-matrix12 visualisiert werden. Hier werden die Basisoperationen des histo-rischen Denkens (Re- und De-Konstruktion) und die Fokussierungen, die

10 Der plakative Titel verkürzt die Intention: Es handelt sich um ein Prozessmodell deshistorischen Denkens/der historischen Orientierung. Es ermöglicht zu erklären, inwie-fern Prozesse des historischen Denkens auf Grund ihrer Orientierungsfunktion nichtnur in einem eigenständigen Neu- und Um-Erzählen von Geschichte bestehen, sonderngleichermaßen und konstitutiv den analytischen Umgang mit vorliegenden Narrationeneinschließen. Vgl. Hasberg/Körber, Geschichtsbewusstsein, 2003, S. 189, im Anschlussan Rüsen, Vernunft, 1983, S. 29.

11 FUER Geschichtsbewusstsein steht als Akronym für ein internationales Forschungs-projekt, das in mehreren Teilprojekten, u.a. auch in gemeinsamer Grundlagenarbeit, die„Förderung und Entwicklung von reflektiertem und (selbst-)reflexivem Geschichtsbe-wusstsein“ ausdifferenziert, also weiterbaut am gemeinsamen Fundament, auf dem dieGeschichtsdidaktik seit ihrer Begründung als Wissenschaft fußt (zu FUER vgl. u.a. dasThemenheft ZGD 2 (2003). Informationen zu den Teilprojekten gibt die Homepage desProjekts www.fuer-geschichtsbewusstsein.de).

12 Vgl. die Abbildung der Sechser-Matrix im Glossar, S. 53.

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Abb. 2: Geschichtsbewusstsein dynamisch. Das Prozessmodell historischen Denkens/his-torischer Orientierung; nach Hasberg/Körber, Geschichtsbewusstsein dynamisch, 2003, S. 187.

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der historisch Denkende einnehmen kann, systematisch aufeinander bezo-gen. Prinzipien und Operationen historischen Denkens werden ideal-typisch präzisiert.

Auf der Grundlage dieses Modells können die wesentlichen Kompetenz-bereiche eines historischen Denkens identifiziert werden,13 das einerseitsgrundsätzlich rationalen und daher wissenschaftsadäquaten Prinzipienfolgt, andererseits seine lebensweltliche Orientierungsfunktion wahr-nimmt. Ein Kompetenz-Strukturmodell, das sich aus der Matrix histori-schen Denkens ableitet, hat Gültigkeit für die gesamte Domäne des Um-gangs mit Vergangenheit. Es muss anwendbar sein, wo immer historischeKompetenzen gefordert sind bzw. ihre Entwicklung gefördert werden soll.

Eine Folge dieser allgemeinen Ausrichtung ist allerdings, dass das Mo-dell, wenn es auf einen Einzelbereich, wie z.B. den Geschichtsunterricht,bezogen werden soll, ausdifferenziert werden muss.

II. EIN KOMPETENZ-STRUKTURMODELL DES HISTORISCHEN DENKENS

1. HINWEISE ZUR TERMINOLOGIE 14

Die globale Kompetenz, die durch das Kompetenz-Struktur-Modell aus-differenziert wird, wird als „Kompetenz historischen Denkens“ bezeich-net.15

Die erste Aufgabe eines Kompetenz-Strukturmodells ist, klar unter-schiedene Kompetenzbereiche auszuweisen. Es handelt sich dabei umGruppen verwandter Kompetenzen, die aus der Systematik des histori-schen Denkens abzuleiten sind. Um den Vollzug des historischen Denkenszu charakterisieren, werden vier Kompetenzbereiche unterschieden. Dreidieser Kompetenzbereiche leiten sich unmittelbar aus dem Prozess histori-schen Denkens ab (vgl. das von Hasberg/Körber vorgelegte Modell). Eshandelt sich um die Bereiche der historischen Frage-, Methoden- und Ori-entierungskompetenz(en). Diese auf den Prozess des historischen Denkensbezogenen Bereiche werden ihrerseits durch „Operationen“ strukturiert.

13 An der Entwicklung des Kompetenzmodells hat über Jahre hinweg auch Wolfgang Has-berg mitgearbeitet.

14 Vgl. hierzu auch das Glossar im Anhang.15 Auch wenn die globale Kompetenz nicht als „narrative Kompetenz“ bezeichnet wird,

liegt ein narrativistisches Verständnis von Geschichte zugrunde. Davon war bereits dieRede.

18 WA LT R AU D SC H R E I B E R/AN D R E A S KÖ R B E R U.A .

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Der vierte Kompetenzbereich – historische Sachkompetenz(en) – wirddurch „Prinzipien“/„Konzepte“/„Kategorien“/„Scripts“ strukturiert. Hierwerden die Operationen, ihre Grundlagen und Ergebnisse „auf den Begriffgebracht” und stehen damit zur Strukturierung historischen Denkens zurVerfügung. Zwischen den vier Kompetenzbereichen bestehen notwendigZusammenhänge.

Die Kompetenzbereiche setzen sich aus systematisch von ihnen abzu-leitenden Kernkompetenzen zusammen. Diese werden, abhängig vomKompetenzbereich, entweder durch Operationen oder durch Strukturenbestimmt. Die Kernkompetenzen eines Bereiches sind klar voneinanderabzugrenzen. Zugleich gilt: Weil sie wegen ihrer Zugehörigkeit zum sel-ben Kompetenzbereich vergleichbare Funktionen haben, stützen sie sichgegenseitig.

Auf niedrigerem Abstraktionsniveau als die Kernkompetenzen liegendie Einzelkompetenzen. Sie werden definiert als Fähigkeit, Fertigkeit, Be-reitschaft, (konkrete) Prozesse des historischen Denkens zu vollziehenbzw. über Prinzipien/Konzepte/Kategorien/Scripts historischen Denkenszu verfügen.

Kompetenzen haben notwendig deklarative, konzeptuelle, prozedura-le und volitionale Bestandteile. Diese Komponenten spiegeln sich in derDefinition von Kompetenzen als Fähigkeiten, Fertigkeiten und Bereit-schaften wider.16

2. DIE KOMPETENZBEREICHE 17

Ausgehend vom Prozessmodell des historischen Denkens lassen sich dreiKompetenzbereiche identifizieren, die nötig sind, wenn sich Menschenangesichts von Wahrnehmungen zeitlicher Veränderungen oder von ausihrer Gegenwart rührenden Verunsicherungen historisch orientieren wol-len: historische Fragekompetenz(en), Methodenkompetenz(en), Orientie-rungskompetenz(en). Sie sind jeweils durch Operationen strukturiert. Zu

16 Vice versa bedeutet dies: Lassen sich, für vermeintliche Teilkompetenzen, nur einzelneKomponenten ausweisen (nur Fähigkeiten oder nur Bereitschaften oder nur Fertigkei-ten), haben wir es nicht mit Kompetenzen im vollen Sinne zu tun, sondern nur mit Be-standteilen.

17 Vgl. hierzu die Einzelbeiträge zu den Kompetenzbereichen: Schöner, KompetenzbereichSachkompetenz(en); Schreiber, Kompetenzbereich Fragekompetenz(en), Schreiber,Kompetenzbereich Methodenkompetenz(en), Schreiber, Kompetenzbereich Orientie-rungskompetenz(en), in Körber/Schreiber, Kompetenzen, 2006. Dort auch ausführlicheLiteraturangaben auf die fundierenden Forschungsergebnisse aus der Geschichtsdidak-tik und anderen Disziplinen.

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diesen Kompetenzbereichen tritt ein weiterer hinzu, der nicht prozesshaftangelegt, sondern durch Prinzipen/Konzepte/Kategorien/Scripts struktu-riert ist, die historischen Sachkompetenz(en). Darüber hinaus spielen auchüberfachliche Kompetenzen in historischer Wendung eine Rolle.18

a) Die drei den Prozess historischen Denkens charakterisierendenKompetenzbereiche

Historische Fragekompetenz(en):Ausgangspunkt von historischen Denkprozessen sind Verunsicherungen/Interesse, für deren Ausgleich Vergangenheit/Geschichte als relevant ange-sehen werden. Zugrunde liegen damit Orientierungsbedürfnisse. Ver-unsicherungen/Interesse können aus erfahrenen Veränderungen entsprin-gen, aus der Notwendigkeit, Position zu beziehen/sich zu verhalten/zuagieren, aus Unklarheiten über zeitliche Zusammenhänge, aus Irritationenangesichts der Darstellung bestimmter Zusammenhänge in historischenNarrationen, aus Neugierde an historischen Situationen oder Entwick-lungen, aus Forschungsanliegen etc. Um diese gegenwärtig erfahrenen19

Verunsicherungen/das entstandene Interesse denkend zu verarbeiten, be-

18 Vgl. dazu Schöner/Mebus, Kommunikationskompetenz, 2006.19 „Erfahren“ verweist darauf, dass die Verunsicherungen/das Interesse gegenwartsgebun-

den sind.

20 WA LT R AU D SC H R E I B E R/AN D R E A S KÖ R B E R U.A .

Abb. 3

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darf es einer Umwandlung in historische Fragen. Mit ihrer Hilfe wird einhistorischer Denk- und Orientierungsprozess in die Wege geleitet.

Im Kompetenzbereich der historischen Fragekompetenz(en) lassen sichzwei Kernkompetenzen unterscheiden:

Es kann einmal um die Fähigkeit, Fertigkeit und Bereitschaft gehen, eigeneFragen an Vergangenheit und Geschichte zu stellen (a). Zum anderen stehtdie Fähigkeit, Fertigkeit und Bereitschaft im Zentrum, die Fragen, welchevorliegende historische Narrationen behandeln, zu erkennen und zu ver-stehen und auf die eigene Fragestellung zu beziehen20. Diese zweite Kern-kompetenz schließt auch ein, Fragen, die man von anderen Personen ge-stellt bekommt, zu verstehen und im eigenen Denken zu verarbeiten(b). Inder „historischen Frage“ kommen die Prinzipien historischen Denkens21

zum Ausdruck.Fragen an die Vergangenheit werden retro-perspektivisch gestellt,

d.h. von der Gegenwart des Fragenden aus – somit notwendig im Nach-hinein und zwingend perspektivisch. Das Prinzip der Partikularitätkommt zum einen als Selektivität zum Ausdruck: Die Fragestellungenkönnen, sollen und wollen nur einzelne Aspekte, nie das Ganze der Ver-gangenheit in den Blick bringen. Die Fragestellung steuert die Kon-struktion der Geschichte, die später als Antwort angeboten wird. Dabeiwirkt ein zweiter Aspekt von „Partikularität“ in die historischen Fragenhinein, die Partialität: Weil nur Bruchteile der in der Vergangenheit ge-machten Erfahrungen manifest wurden (sich in später als solche nutzbareQuellen „objektivierten“), weil nur Bruchteile dieser potentiellen Quellenbis in die heutige Gegenwart hinein überliefert wurden, müssen historischFragende grundsätzlich wissen, dass Antworten nur bruchstückhaft mög-lich sind, dass es fallweise auch völlig unmöglich sein kann, Antworten zufinden. Zwischen „Vergangenheit“ und den historischen Narrationen überVergangenes (Geschichte) besteht aus diesen prinzipiellen Gründen einenotwendige Differenz. Der Konstruktcharakter von Geschichte ist dem-zufolge ein weiteres, unumstößlich geltendes Prinzip historischen Den-kens, das sich in den historischen Fragen niederschlägt. In den jeweiligenFragestellungen sind die für die Entwicklung der auf sie antwortenden

20 Dies ist eine Form historischen Denkens, die im schulischen Lernen oft gefordert ist.Schüler werden selten ihre ureigenen Fragen an die Vergangenheit verfolgen können.Umso wichtiger ist, dass sie lernen, die ihnen im Lehrplan und Unterricht vorgegebenenFragen zu verstehen und zu ihren eigenen in Beziehung zu setzen.

21 Als die für ein Verständnis von Geschichte als historische Narration konstitutiven Prin-zipien hat Michael Baumgartner die Retroperspektivität, die Partikularität, die Kon-struktivität herausgearbeitet. (Baumgartner, Narrativität, 1997).

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historischen Narrationen relevanten Konstruktionsprinzipien oftmals be-reits angelegt.

Im historischen Fragen kommen nicht nur die Prinzipien historischenDenkens zum Ausdruck, sie betreffen auch Methodisches und Inhaltlichesund beziehen die Träger und Adressaten des Denkprozesses ein: Dieinhaltsbezogenen Fragen stecken den Horizont ab, innerhalb dessen aufzugrunde liegende Verunsicherungen bzw. das auslösende Interesse Ant-worten gesucht werden. Methodenbezogene Fragen regulieren, wie dieInhalte, die in den Blick genommen werden sollen, erschlossen und syste-matisiert werden. Sie leiten die fachspezifischen Erschließungsverfahren.Subjektbezogene Fragen lenken den Blick auf die, die sich mit Vergangen-heit befassen, und auf die, für die historische Narrationen bestimmt sind.Durch historische Fragen werden Kommunikation und Diskurse über Ge-schichte(n) angeregt.

Die Kernkompetenzen, die die historische(n) Fragekompetenz(en) aus-machen, werden durch grundlegende Operationen systematisiert:

Zum einen geht es um das Formulieren und Stellen historischer Fra-gen, die Verunsicherungen/Interesse aufgreifen, das Suchen und Fin-den von Antworten grundlegen und so Orientierungschancen erst er-öffnen.Dann geht es um das Erschließen der Fragestellungen, die vorliegen-de historische Narrationen kennzeichnen. Dies ist Bedingung dafür,den Umgang (einer Kultur, der eigenen und fremder Gruppen, von In-dividuen) mit Geschichte zu erfassen und auf Möglichkeiten und Gren-zen historischer Orientierung aufmerksam zu werden.

Historische Methodenkompetenz(en):Dieser Kompetenzbereich umfasst die fachspezifischen Methoden derErkenntnisgewinnung und -verarbeitung.22 Es geht also um die Fähigkeit,Fertigkeit und Bereitschaft, Antworten auf historische Fragen zu erarbei-ten. Die Prinzipien historischen Denkens, gerade auch der Konstruktcha-rakter historischer Narrationen, bestimmen notwendigerweise die spezifi-schen Umgangsweisen mit Vergangenem/Geschichte. Diese Umgangs-weisen können als die Basisoperationen des De- und Re-Konstruierens

22 In einigen der Kompetenz-(Entwicklungs-)Modelle anderer Fächer wird ein vergleich-barer Kompetenzbereich mit dem Begriff „Erkenntnisgewinnung“ bezeichnet. Dieswürde den Aspekt des Re-Konstruierens überbetonen gegenüber dem Aspekt des De-Konstruierens.

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klassifiziert werden. Re- und De-Konstruktionskompetenz sind somit diebeiden zuzuordnenden Kernkompetenzen. Es geht damit um die Fähig-keit und Fertigkeit, historische Narrationen zu entwickeln (Re-Konstruk-tion) bzw. vorhandene historische Narrationen in ihrer (Tiefen-) Strukturzu erfassen (De-Konstruktion) und um die Bereitschaft, diese analytischenund synthetischen Fähigkeiten und Fertigkeiten im Lebensvollzug zu nut-zen.

Was der Kompetenzbereich der historischen Methodenkompetenz(en)umfasst, wird am besten mit Hilfe der Sechser-Matrix23 verdeutlicht: ImBlick steht die Beherrschung der „Basisoperationen des Re- und De-kon-struierens“, und zwar in den Fokussierungen auf Vergangenes wie in derFokussierung auf Gegenwart/Zukunft und in der Fokussierung auf„Geschichte“. In Letzterer wird auf einer Metaebene die vorliegende bzw.im Entstehen begriffene historische Narration, die vorliegende Geschichte,in den Blick genommen: Es geht um die Zusammenhänge, die innerhalbder jeweiligen Zeit und zwischen den Zeiten hergestellt, und um dieKontextualisierungen, die gewählt werden/wurden. Es geht um die Frage,wie bei der Entwicklung der historischen Narration sach-, adressaten- undmediengerecht vorgegangen werden soll/wurde. Letztlich ist der Blickdamit auf den Konstruktcharakter 24 von Geschichte gerichtet und dieFähigkeit, Fertigkeit und Bereitschaft, damit sowohl synthetisch als auchanalytisch umzugehen.25

Die zwei Operationen, die die historischen Methodenkompetenz(en)strukturieren, sind demzufolge das Re- und das De-Konstruieren.

Das Re-Konstruieren umfasst einerseits die von einer Fragestellunggeleitete Erschließung vergangener Phänomene, die letztlich mit Hilfevon Quellen erfolgt (Fokus Vergangenes). Von Bedeutung sind dabeisowohl Heuristik und Quellenkritik als auch das Herausarbeiten von„Vergangenheitspartikeln“, in der Regel durch den Vergleich verschie-dener Quellenaussagen und der Erkenntnisse aus historischen Dar-stellungen (Quelleninterpretation).

23 Vgl. hierzu das Glossar im Anhang.24 Konstruktivismus ist für die Geschichtswissenschaft nicht eine spezifische wissen-

schaftstheoretische Schule neben anderen, sondern die Grundbedingung, die man nichta limine leugnen, sondern nur verschieden scharf herausarbeiten kann. Vgl. hierzu dieprägnante Darstellung bei Völkel, Geschichte, 2002, S. 17-20.

25 Deshalb umfasst historische Methodenkompetenz mehr als den gattungsspezifischenMaterialumgang: Die Befähigung zu „Textquellenarbeit“, „Bildarbeit“, „Kartenarbeit“,„Filmarbeit“ u.a. sind nur ein Teilaspekt der historischen Methodenkompetenz(en).

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Die Basisoperation der Re-Konstruktion umfasst darüber hinaus im-mer auch die Herstellung von Zusammenhängen zwischen diesenPhänomenen (Fokus Geschichte). Das beinhaltet die Darstellung derErgebnisse in einer narrativen Form, in einer Geschichte, was dieEntscheidung für bestimmte Kontextualisierungen voraussetzt. Dabeiwerden nicht nur vergangene Entwicklungen erklärt, sondern insbe-sondere auch Bezüge zu Gegenwart und Zukunft hergestellt (FokusGegenwart/Zukunft). Diachrone Zusammenhänge werden immer mitHilfe von Sinnbildungsmustern konstruiert.26 – Beim Re-Konstruierenhandelt es sich also um einen Akt der Synthese, der auch die Beachtungder Triftigkeitskriterien27 umfasst, die die Geltung der entstehendenNarration absichern sollen.Das De-Konstruieren dagegen ist ein analytischer Akt. Vorliegendehistorische Narrationen werden in ihren Bestandteilen (Oberflächen-struktur) erfasst und auf die tiefer liegenden Strukturen hin unter-sucht. Dabei werden explizit sichtbare Strukturierungen (z.B. die fürBeschreibungen oder Erklärungen gewählten Kontexte) ebenso erho-ben wie solche, die nur implizit oder gar latent vorliegen. Mit Hilfemethodisierter Vorgehensweisen werden die Konstruktionsmustersichtbar, die zugrunde liegenden Intentionen, auch die verfolgtenOrientierungsabsichten. Die Tiefenstruktur der Narration wird so er-schlossen. Ein Teilaspekt der De-Konstruktion ist die Überprüfung derTriftigkeit der in der Darstellung vorgenommenen und durch die Ana-lyse sichtbar gemachten Entscheidungen. Eine transparente Präsenta-tion der Ergebnisse schließt den De-Konstruktionsprozess ab.28

Historische Orientierungs-Kompetenz(en): Dieser Kompetenzbereich umfasst die Kompetenzen, die nötig sind, umhistorisches Denken und seine Ergebnisse lebensweltlich wirksam werdenzu lassen. Es geht also um die Fähigkeit, Fertigkeit und Bereitschaft, dieErkenntnisse und Einsichten, die durch die Re- und De-Konstruktionspro-zesse – auf der Basis eigener oder fremder Fragestellungen – gewonnenwurden, auf die eigene Person und Lebenswelt bzw. die eigene Weltsichtzu beziehen.

26 Zu Sinnbildungsmustern vgl. die grundlegenden Überlegungen bei Jörn Rüsen, kom-pakt zusammengestellt in ders., Erzählen, 1997. Vgl. weiterführende Überlegungen beiHans-Jürgen Pandel, Erzählen, 2002, v. Borries, Bildung, 2003; Barricelli, Schüler, 2005,v.a. S. 68-80 und S. 220-232.

27 Zu „Triftigkeit“ vgl. u.a. Rüsen, Vernunft, 1983, v.a. S. 85-116.28 Vgl. hierzu den „Leitfaden“ zur De-Konstruktion historischer Narrationen in Gruner/

Schreiber, Geschichte, 2006.

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Es werden vier Kernkompetenzen eingeschlossen:

Erstens die Fähigkeit, Fertigkeit und Bereitschaft, das eigene Ge-schichtsbewusstsein zu re-organisieren und den jeweils neu gewonne-nen Kenntnissen, Einsichten, Verfahrensweisen, Haltungen etc. anzu-passen. Diese Kompetenz ist gewissermaßen auf der Metaebene an-zusiedeln: Erkenntniszuwächse, das Verfügen-Können über neueVerfahrensscripts, die Veränderung von Einstellungen werden erstwirkungsmächtig für den weiteren Umgang mit Geschichte, wenn siein die „mentale Struktur“ des eigenen Geschichtsbewusstseins über-nommen worden sind.29 Zusammengefasst geht es um die Fähigkeit,Fertigkeit und Bereitschaft, die eigene mentale Disposition für denUmgang mit Geschichte zu reflektieren und zu erweitern.Zweitens die Kompetenz zur Reflexion und Erweiterung des Welt- undFremdverstehens, also die Fähigkeit, Fertigkeit und Bereitschaft, dieeigenen Vorstellungen von der gegenwärtigen wie der vergangenenWelt und ihren Menschen auf der Basis gewonnener historischer Ein-sichten umzubauen. Ausdruck davon ist, dass die mit Hilfe der Ope-rationen des Re- und De-Konstruierens neu erarbeiteten Geschichtenin den ursprünglich vorhandenen Bestand an historischen Sinnbildun-gen eingebaut und zur Erklärung und Deutung herangezogen werden.Salopp gesprochen geht es darum, das eigene Geschichtsbild in Fragestellen und durch neue Erkenntnisse verändern zu können.30 Um die

29 Hier geht es also unter anderem darum, bislang verwendete und für valide gehalteneBegriffe und Klassifizierungen auf der Basis neu erworbenen Wissens zu revidieren,durch weitere zu ergänzen, ggf. ganz zu verwerfen etc. Zur Re-organisationskompetenzgehört aber auch, den Umgang mit Geschichte durch neu erlernte Methoden zu profes-sionalisieren oder die Fähigkeit und Bereitschaft, „lieb gewonnene“ Vorstellungen des-sen, was Geschichte will und kann, zu relativieren. Hierzu ein Beispiel: Wer eine frühergehegte Auffassung, Geschichte sei die möglichst vollständige Abbildung „der“ alsGesamtzusammenhang gedachten „Vergangenheit“ aufgibt, weil er die konstitutiveBedeutung der Perspektivität erkannt hat, beweist, dass er diese Kompetenz ausgeprägthat. Das Niveau der Ausprägung ist näher bestimmbar.

30 Auch hierfür ein Beispiel: Wir haben es mit einem veränderten Welt- und Fremdver-ständnis zu tun, wenn jemand lernt, dass die großen Hexenverfolgungen in Europa kei-neswegs dem Mittelalter, sondern der Frühen Neuzeit zuzurechnen sind. Die Neuorien-tierung kann sowohl derart geschehen, dass seine Vorstellung von „Mittelalter“ und„Neuzeit“ unverändert bleiben, er also nur die Zuordnung dieser Ereignisse umbaut.Weitergehende Orientierung gewinnt, wer durch das „Einbauen” dieser Informationauch seine bestehenden „Bilder“ der Epochen (etwa des Mittelalters als „dunkel“ und„abergläubisch“ und der Neuzeit als „aufgeklärt“) verflüssigt. Bei den eigenen Urteilenüber Hexenverfolgung „Alterität“ einzubeziehen, wäre Ausdruck von „Fremdverste-hen“; die Konsequenz muss dabei selbstverständlich nicht sein „alles zu verstehen undalles zu verzeihen“.

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Orientierungsmöglichkeiten der Geschichte zu nutzen, werden alsoVorstellungen über Vergangenes, über die Zusammenhänge innerhalbder und zwischen den früheren Zeitebenen sowie mit der Gegenwart/Zukunft überprüft, in Frage gestellt, revidiert oder erweitert. „Alteri-tätserfahrungen“, also zeitliche, kulturelle, aber auch intersubjektiveDifferenzen, stehen im Zentrum. Drittens die Fähigkeit, Fertigkeit und Bereitschaft zur Reflexion undErweiterung des Selbstverstehens. Das heißt, es werden diejenigenVorstellungen überprüft, die das Verhältnis der eigenen Person und/oder Gruppe zur historischen Welt und ihren Menschen betreffen.Während die Reflexion und Erweiterung des Welt- und Fremdver-stehens sich nicht zwingend auf die aktuelle Welt beziehen müssen,hat die Revision und Erweiterung des Selbstverständnisses notwendigmit dem eigenen Leben zu tun und verändert es. Damit geht es – inhistorischer Dimension – um „Identität“, darum das eigene Selbstdurch die Orientierung mit Hilfe der Vergangenheit tiefer zu verste-hen, indem das Gewordensein und die kulturelle Geprägtheit vonMensch und Welt einbezogen werden.31 Dazu gehört auch die Mög-lichkeit, sich seine eigenen „Vorfahren zu adoptieren“,32 z.B. indemman auf seine Weise versucht, von den Erfahrungen der Anderen zulernen. Zusammengefasst kann festgestellt werden, dass historischeIdentität im Blick steht.Viertens schließlich geht es bei der historischen Orientierungskom-petenz um die Kompetenz zur Reflexion und Erweiterung der Hand-lungsdispositionen. Dabei werden Bedingungen und Möglichkeiten,aber auch Ziele und Strategien eigenen Handelns auf historische Er-fahrungen bezogen. Die historische Dimension der Handlungsdispo-sition operationalisiert sich einmal darin, über ein Repertoire von his-torischen Vorbildern und Regeln für aktuelles Handeln zu verfügen.33

31 Zugrunde liegt ein dynamischer Identitätsbegriff, wie ihn, in durchaus unterscheidba-rer Weise Erikson, Mead und Krappmann vertreten, wie er auch im Zuge aktueller Über-legungen zur Interkulturalität dominiert.

32 Pandel, Dimensionen, 1987.33 „Regelkompetenz“ im Sinne der „exemplarischen Sinnbildung“ Rüsens ist nämlich nur

dann eine Kompetenz, wenn sie nicht in einer Regelhörigkeit, sondern in der flexiblenund kritischen Verfügung über ein Repertoire an Regeln besteht. Dabei geht es nicht nurum Handlungen im Sinne großer politischer Aktionen – etwa im Sinne einer Ableitungder Notwendigkeit feministischer Aktion aus der Erkenntnis historisch konstanterUnterdrückung der Frauen. Auch der Vorsatz, die etwa aus der Lektüre einer Unterneh-merbiographie gewonnenen Erkenntnisse über Führungsverhalten im eigenen Betriebumzusetzen, gehört z.B. hierher.

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Zugleich geht es darum, ihre Anwendbarkeit jeweils neu zu prüfen unddabei die möglicherweise veränderten Rahmenbedingungen zu be-rücksichtigen. Teil dieser Kompetenz ist auch die Fähigkeit, Fertigkeit,Bereitschaft, Handlungsbedingungen „historisch zu betrachten“.Dann werden in die eigenen Handlungsentscheidungen z.B. die histo-risch erklärbaren Erwartungen des Gegenübers einbezogen oder dieGewordenheit der Situationen, in denen gehandelt werden muss bzw.die kulturell geprägten Einstellungen, auf die reagiert werden muss. –Der Aspekt „Praxis“ steht also in Rede.34

b) Historische Sachkompetenz(en) 35

Historische Frage-, Methoden- und Orientierungskompetenz(en) als demProzess historischen Denkens zuzuordnende Kompetenzbereiche habengemeinsam, dass sie durch Operationen strukturiert werden. Der vierteKompetenzbereich der historischen Sachkompetenz(en) ist dagegen durchPrinzipien/Konzepte/Kategorien und Scripts strukturiert.

34 Obwohl Praxis die Leitidee ist, darf nicht von konkretem, auf einzelne Situationen bezo-genem „Handeln“ gesprochen werden. Es geht nicht um Performanz, sondern um eindurch die Beschäftigung mit Vergangenheit/Geschichte angelegtes „Handlungsreper-toire“, das in entsprechenden Situationen auch zu konkretem Handeln befähigt.

35 Zur näheren Erschließung dieses Kompetenzbreichs vgl. Schöner, KompetenzbereichSachkomptenz(en), 2006.

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Abb. 4

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Zunächst sind für die Systematisierung des Kompetenzbereichs dieepistemologischen Prinzipien von Bedeutung. Sie sind konstitutivfür historische Erkenntnis und schränken die Möglichkeit a priori ein,durch Geschichte eine vergangene „Wirklichkeit“ abzubilden. MitHans-Michael Baumgartner gesprochen sind das die Prinzipien derRetroperspektivität, der Partikularität und der Konstruktivität von Ge-schichte.36 Einzubeziehen sind auch deren kategoriale Substrukturie-rungen. Erkenntnisprozesse sind immer an Subjekte und deren Geschichts-bewusstsein gebunden. Auch die subjektbezogenen Konzepte – kon-kret sind das z.B. historische Identität und Alterität – dienen der Syste-matisierung des Kompetenzbereichs historischer Sachkompetenz(en).Damit kommt der sich mit Vergangenheit/Geschichte Befassende inseiner „Standort- und Gegenwartsgebundenheit“ in den Blick, undzwar als Individuum oder Mitglied von Gruppen.Auch inhaltsbezogene Kategorien und deren kategoriale Substruktu-rierungen spielen bei der Systematisierung historischen Denkens eineRolle. Es geht hier vor allem um allgemeine Kategorien, die vorrangigvon anderen Disziplinen ausdifferenziert werden (Politik, Gesellschaft,Wirtschaft …). Allerdings werden diese „historisch gewendet“. Dasheißt: Indem diese Kategorien zur Erklärung, Beschreibung und Struk-turierung von Kontinuität und Wandel herangezogen werden, werdensie mit der genuin historischen Kategorie „Zeit“ korreliert und so histo-risch aufgeladen. In einem weiteren Schritt leiten sich daraus Zeitver-laufsvorstellungen oder Muster historischer Sinnbildung ab.Der vierte Bestandteil betrifft die kategoriale, begriffliche Bestim-mung von (forschungs-) methodischen Verfahrensscripts (z.B. Heu-ristik, innere und äußere Quellenkritik, die kategoriale Unterschei-dung von Gattungen, von Quellen und Darstellungen etc.).

Der Kompetenzbereich historische Sachkompetenz(en) umfasst die Fä-higkeit, Fertigkeit, Bereitschaft, die Domäne des Historischen mit Hilfe dergenannten Prinzipien/Konzepte/Kategorien und Scripts zu strukturierenund mit dafür entwickelten bzw. adaptierten Begriffen zu erschließen. AlsKernkompetenzen können eine historische Begriffs- sowie eine histori-sche Strukturierungskompetenz unterschieden werden.

Begriffskompetent ist, wer fachspezifische Begriffe und die dahinterstehenden Konzepte kennt, daraus semantische Netze bilden kann, Begrif-fe der Quellen- und Gegenwartssprache, Fach- und Alltagssprache unter-

36 Vgl. Baumgartner, Narrativität, 1997, S. 157-160.

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scheiden und aufeinander beziehen kann. Begriffe und die zugrunde lie-genden gedanklichen Konzepte unterliegen, weil sie historisch geprägteKonstrukte sind, ihrerseits historischem Wandel.

Strukturierungskompetent ist, wer Domänenspezifisches theorie-,subjekts-, inhalts- und methodenbezogen systematisieren und hierfürstrukturierende Begriffe auf verschiedenen Abstraktionsniveaus nutzenkann. – Beide Kompetenzen bedingen und stützen sich gegenseitig, gehenaber nicht ineinander auf. Strukturierungskompetenz ermöglicht die Sys-tematisierung der verschiedensten – konventionellen und unkonventio-nellen – Themen. Begriffskompetenz erleichtert deren Erschließung.

Zusammenfassend kann festgehalten werden: Es geht bei den Sachkompe-tenz(en) nicht um schlichtes Daten- und Faktenwissen. Sachkompetenz istnicht an bestimmte Inhalts- und Wissenskanones gebunden und setztdiese auch nicht voraus. – Entgegen den alltagsweltlichen Vermutungensind zwar, wenn man historisch denken will, Inhalte unerlässlich, nichtaber bestimmte kanonisierte Inhalte. Orientierungsbedürfnisse und Frage-stellungen entscheiden situationsabhängig darüber, was von Bedeutungist. Dieselbe Offenheit gilt auch für die Systematisierung durch Prinzipien/Konzepte/Kategorien/Scripts.

Entbehrlich sind die jeweils eingeführten und konventionalisierten Be-griffe und Kategorien deshalb aber keineswegs: Die in „Konventionen“,also Abstimmungsprozessen verschiedener Individuen und Gruppen ent-standenen Strukturierungen und Begriffe ermöglichen Austausch undKommunikation. Sie erleichtern es auch, die Triftigkeit historischer Narra-tionen zu diskutieren. Zumindest eine Auswahl sollte man also kennen,anwenden, evaluieren, auch relativieren können, wenn man historischdenken will. Sie überspringen – und ohne Bezug auf sie, sofort eine eige-ne, noch so geniale Neuregelung wählen – kann man nicht.

3. ZUSAMMENHÄNGE ZWISCHEN DEN KOMPETENZBEREICHEN

Weil die vier Kompetenzbereiche systematisch aus der Matrix des histori-schen Denkens abgeleitet werden, sind sie klar voneinander zu unterschei-den. Zugleich bestehen notwendigerweise Zusammenhänge zwischen denKompetenzbereichen: Wegen der Prozesshaftigkeit des historischen Den-kens gibt es z.B. logische Bezüge zwischen historischen Frage-, Methoden-und Orientierungskompetenz(en). Zusätzlich gilt: Der Aufbau der am Pro-zess historischen Denkens orientierten Kompetenzen hängt eng mit derEntwicklung einer Sachkompetenz im oben verstandenen Sinne zusam-

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men: Eine solche Begriffs- und Strukturierungskompetenz ist Bedingungund Folge des Umgangs mit Geschichte zugleich. Damit ergeben sich zwi-schen der Sachkompetenz und den anderen Kompetenzbereichen Über-lappungsbereiche. Diese können, weil sie systematisch begründet sind,klar ausgewiesen werden. – Die nachfolgende Grafik visualisiert die Zu-sammenhänge:

Exemplarisch sollen die Zusammenhänge zwischen den Kompetenz-bereichen ausgehend von der Fragekompetenz dargestellt werden: Ideal-typisch betrachtet steht historisches Fragen am Anfang des Prozesses his-torischen Denkens, insofern Verunsicherungen/Interesse an historischenFragen übersetzt werden müssen, damit der Denkprozess in Gangkommt.37 Weil jede historische Frage mit der Erklärbarkeit durch eine„Geschichte“ rechnet, hängen historische Frage- und Orientierungskom-petenz(en) zusammen. Historisches Fragen zielt darauf, Zeitpunkte (ausverschiedenen Vergangenheiten bzw. aus Vergangenheit und Gegenwart/Zukunft) miteinander in Verbindung zu bringen und dadurch heutigesVerständnis, vielleicht auch Handeln zu orientieren. – Der Prozess ist nichtwie ein Kreismodell das suggeriert, im einmaligen Durchgang abgeschlos-sen, vielmehr kann jederzeit ein neuer Zyklus beginnen. Es handelt sichalso um eine spiralige Struktur.38

37 Zur Sprache als Werkzeug für die sprachliche Fassung und damit Externalisierung die-ser historischen Fragen vgl. Mebus/Schöner, Kommunikationskompetenz, 2006.

38 Vgl. hierzu noch einmal Körber, Stresemann, 1999.

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Abb. 5

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So notwendig wie historische Frage- und Orientierungskompe-tenz(en) hängen auch historische Frage- und Methodenkompetenz(en)zusammen: In ihrer verfahrensbezogenen Wendung steuert die Fragestel-lung z.B. welches Quellenmaterial bzw. welche Darstellungen zur Ant-wortsuche herangezogen werden. Methoden-/verfahrensbezogene Fragenregulieren den Re- und De-Konstruktionsprozess.

Die Verknüpfung mit der strukturbezogenen Sachkompetenz bestehtinsofern, als die Fähigkeit, Fragen an die Vergangenheit zu stellen, bzw.historische Fragestellungen zu „durchblicken“, elementar vom Grad dererreichten Begriffs- und Strukturierungskompetenz abhängt. Weil dasFragen auf Antworten und auf das Herstellen von Zusammenhängen ge-richtet ist, unterstützt historisches Fragen umgekehrt auch die Weiterent-wicklung von Sachkompetenz: Begriffe und die Möglichkeit, sie zurStrukturierung zu nutzen, werden geschärft, hinterfragt, bestätigt oderneu ausgehandelt und entwickelt.

Auf ähnliche Weise können die Zusammenhänge auch zwischen den an-deren Kompetenzbereichen ausdifferenziert werden. – Sich dieser Zu-sammenhänge bewusst zu sein, bedeutet, Prozesshaftigkeit und Kumu-lativität der Kompetenzentwicklung zu erkennen. Empirisch ist zu be-obachten, wie sich langsam ein Vorrat an historischen Fähigkeiten, Fer-tigkeiten, Bereitschaften sedimentiert, in den natürlich auch Irrtümer undMissverständnisse, Fehlhaltungen und Fehlschlüsse eingebaut sein kön-nen. Bei der späteren Erarbeitung von Kompetenz-Entwicklungs- bzw.Kompetenz-Förderungsmodellen muss dies berücksichtigt werden.

4. KOMPETENZBEREICHE UND HISTORISCHE KOMPETENZEN (KERN- UNDEINZELKOMPETENZEN)

a) Kernkompetenzen

Davon, dass Kompetenzbereiche sich mit systematischen Begründungenin Kernkompetenzen strukturieren lassen, war bereits bei der Ableitungund Beschreibung der Kompetenzbereiche die Rede. Die nachfolgendeGrafik visualisiert die Strukturierung der Kompetenzbereiche in Kern-kompetenzen.

Auch wenn die Kompetenzbereiche systematisch in Kernkompeten-zen differenziert werden können, gilt, dass das Ganze „mehr“ ist als dieSumme seiner Teilbereiche. Das sei am Beispiel der historischen Metho-denkompetenz(en), die durch die Kernkompetenzen der De- und Re-Kon-struktion bestimmt sind, verdeutlicht: Bei der Erschließung konkreter

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historischer Fragen werden De- und Re-Konstruktionsprozesse ständigaufeinander bezogen: Ein Geschichtsstudent findet in der Literatur ihnverunsichernde Interpretationen und Deutungen. Er beschließt, die vorlie-gende Narration zu de-konstruieren und betrachtet schließlich im Zusam-menhang mit der Triftigkeitsprüfung den zugrunde liegenden Quellen-bezug. Er beschließt, die in der Darstellung zitierten – eventuell darüberhinaus noch zusätzliche – Quellen selbst zu analysieren: Es wird also einRe-Konstruktionsprozess „eingeschoben“. Durch ihn kann die Qualitätder De-Konstruktionsergebnisse gesteigert werden; z.B. weil sich ergebenhat, dass der Autor wichtige Aspekte der Quellenanalyse ignoriert hat.Aus dieser Erkenntnis leiten sich neue Fragestellungen für die Erschlie-ßung der Tiefenstruktur der Narration ab. – Durch das Aufeinander-Be-ziehen von Re- und De-Konstruktion entsteht ein „Mehrwert“, ein „+ x“. –In der obigen Visualisierung zum Verhältnis Kompetenzbereiche – Kern-kompetenzen kommt dies dadurch zum Ausdruck, dass die Zylinder, diedie Kompetenzbereiche versinnbildlichen, durch die Säulen, die für dieKernkompetenzen stehen, nicht ganz ausgefüllt werden.

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Abb. 6

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b) Einzelkompetenzen

Anders als die Kompetenzbereiche und die Kernkompetenzen werdenEinzelkompetenzen nicht immer systematisch aus dem Modell histori-schen Denkens abgeleitet. Empirisch beobachtbar sind sie im Umgang mitkonkreten Themen. Die Zahl ausweisbarer Einzelkompetenzen ist insofernoffen, als unterschiedliche Grade der Differenzierung möglich sind. Da-durch ergeben sich im Verhältnis der Einzelkompetenzen zueinander so-wohl hierarchische Untergliederungen als auch Nebenordnungen undÜberschneidungen.

Einzelkompetenzen können auf unterschiedlichem Weg ausgewiesen wer-den.

Sie können aus den Kernkompetenzen bzw. aus Überlappungsberei-chen zwischen Kompetenzbereichen abgeleitet werden. So deduzierensich aus der Re-Konstruktionskompetenz als Einzelkompetenzen z.B.die Fähigkeit, Fertigkeit und Bereitschaft, aufgrund einer Fragestel-lung nach relevanten Quellen zu suchen39, oder die Fähigkeit, Fertig-keit und Bereitschaft, Quellen historisch einzuordnen40, oder dieFähigkeit, Fertigkeit und Bereitschaft, die Perspektivität der Quellen indie Beantwortung der Frage einzubeziehen.41

Einzelkompetenzen müssen nicht notwendig aus den Kernkompeten-zen abgeleitet werden: Beispiele für auf anderem Wege begründete his-torische Einzelkompetenzen sind „Gattungskompetenz“ (Pandel),„Perspektivenkompetenz“ (Schönemann), „Kartenkompetenz“ (Sau-er), „globalgeschichtliche Kompetenz“ (Kühberger), „interkulturelleKompetenz“ (Alavi). Wegen der Komplexität historischen Denkenskönnen noch zahllose weitere Einzelkompetenzen bestimmt werden.

39 Es handelt sich dabei um eine Einzelkompetenz, die neben den Elementen aus der Re-Konstruktionskompetenz (Operation: Heuristik) auch Elemente aus der Fragekompe-tenz (methodenbezogenes Fragen) und der Sachkompetenz enthält (wenn auf „Leit-fäden“, auf Verfahrensscripts zurückgegriffen werden kann).

40 Nunmehr bezieht sich die Einzelkompetenz neben der Re-Konstruktionskompetenz(Quelleninterpretation) auch auf inhaltsbezogene Kategorien (Sachkompetenz) und aufdie Fragekompetenz, insofern eine „Übersetzung“ in eine historische Frage erfolgt.

41 Die Einzelkompetenz besteht nunmehr aus Elementen der Sachkompetenz (Prinzip Per-spektivität muss als Begriff und Strukturierungsprinzip bekannt sein; dazu muss überinhaltsbezogene Kategorien verfügt werden können, auch über Verfahrensscripts), derRe-Konstruktionskompetenz (Operationen der Interpretation und der Erstellung einerNarration müssen ausgeführt werden können) sowie der Fragekompetenz (Überset-zung in geeignete historische Fragen muss möglich sein).

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Somit wird nicht Differenzierung (als Voraussetzung der Operationalisie-rung historischen Denkens) zum Problem, sondern Abstraktion und Kon-zentration. Ein Kompetenz-Strukturmodell historischen Denkens mussdem Anspruch genügen, die Vielfalt der Einzelkompetenzen zu ordnen.Das bedeutet nicht, dass ein Monopol auf Kompetenzbenennungen, -defi-nitionen, -ableitungen erhoben würde. Aber unabhängig davon, auf wel-chem Weg die Einzelkompetenzen gewonnen wurden: Wenn sie zum Um-gang mit Geschichte befähigen sollen, dann müssen sie sich auf die vieraus der Systematik des historischen Denkens abgeleiteten Kompetenz-bereiche zurückbeziehen lassen. Sie müssen damit auch in die hier vorge-stellte Terminologie übersetzt werden können.Die Grafik visualisiert dies mit Hilfe der Farbgebung. Optisch erkennbarwird dadurch auch, dass, je weiter der Umgang mit Geschichte durch dieEinzelkompetenzen ausdifferenziert wird, desto weniger eindeutig die Zu-ordnung zu den Kompetenzbereichen und Kernkompetenzen ist. Je detail-lierter eine Einzelkompetenz das historische Denken aufschließt, desto

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Abb. 7

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wahrscheinlicher korreliert sie mit unterschiedlichen historischen Kern-kompetenzen. Die oben erwähnte Einzelkompetenz, „mit der Perspek-tivität von Quellen umzugehen“, lässt sich der Re-Konstruktionskompe-tenz, die den methodisch geregelten Umgang mit Quellen umfasst (von derinneren und äußeren Quellenkritik zur Quelleninterpretation) ebenso zu-ordnen, wie den historischen Sachkompetenz(en), die den Umgang mit his-torischen Prinzipien einschließen (z.B. Perspektivität als epistemologischesPrinzip) oder der De-Konstruktionkompetenz, die die Überprüfung derTriftigkeiten als Teilaspekt umfasst oder der Kompetenz, historische Fra-gen zu stellen.

Der Gewinn dieser Erkenntnis liegt darin, die Einzelkompetenz durchdie Zuordnung zu unterschiedlichen Kernkompetenzen systematischerbestimmen zu können: Die auf die jeweiligen Kernkompetenzen verwei-senden Indikatoren erleichtern es, Nivaus der Ausprägung zu unterschei-den und in der Folge Ansatzpunkte für die Förderung zu geben.

III. GRADUIERUNG: DIE UNTERSCHEIDUNG DER KOMPETENZENHISTORISCHEN DENKENS NACH IHREM NIVEAU 42

Die Ausweisung von Kompetenzbereichen, die Ableitung von Kernkom-petenzen, Überlegungen zu Einzelkompetenzen ergeben noch kein voll-ständiges Kompetenz-Strukturmodell. Hinzu muss ein Vorschlag treten,wie diese Kompetenzen nach verschiedenen Niveaus ihrer Ausprägungunterschieden werden können.

Im Kompetenz-Strukturmodell geht es um die systematische Unter-scheidung von Niveaus und um Kriterien für die Unterscheidung, abernoch nicht um Überlegungen zur Kompetenzentwicklung und Kompe-tenzförderung. Diese systematische Niveaunterscheidung wird mit demTerminus „Graduierung“ bezeichnet. Auch diese Niveauunterscheidungist so angelegt, dass sie nicht nur für den Geschichtsunterricht relevant ist,sondern für alle Sektoren historischen Denkens.

1. ZUR ALLGEMEINEN GRADUIERUNGSLOGIK

Grundsätzlich wäre es möglich, für jede Kompetenz einzeln Niveaustufenzu beschreiben, und diese eventuell in einer großen, vermutlich nie ferti-gen Tabelle verfügbar zu machen. Das bedeutete aber nicht nur einen enor-

42 Die Überlegung zur nachfolgend dargestellten Graduierungslogik wurde in weiten Tei-len von der Hamburger FUER-Gruppe entwickelt.

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men Aufwand, viel Raum für Einzelkontroversen und somit einen über-großen Einigungsbedarf für die Graduierenden. Auch diejenigen, die spä-ter auf der Grundlage der Graduierungen die Kompetenzentwicklung,z.B. von Schülern, fördern sollten, wären überfordert, wenn jede Kom-petenz nach eigenen Kriterien gestuft würde. – Es muss also nach Wegengesucht werden, die Kompetenzen nach einer einheitlichen Grundlogik inNiveaus zu graduieren.43

Neben solche pragmatischen Gründe treten theoretische Überlegun-gen: Die grundsätzliche Bedeutung einer Graduierungslogik ist, dass siezeigt, in welcher Hinsicht Formen historischen Denkens qualitativ zuunterscheiden sind, anders gesagt, worin sich „basale“ und „elaborierte“Formen historischen Denkens auseinander halten lassen. Dabei wird dashistorische Denken nicht als eine additive Ansammlung voneinanderunabhängiger Fähigkeiten, Fertigkeiten und Haltungen verstanden, son-dern als ein Ganzes.44 Wie eine allgemeine Kompetenz des historischenDenkens hergeleitet, in Kompetenzbereiche strukturiert und in Einzel-kompetenzen differenziert werden kann, ist oben dargestellt worden. UmKompetenzen graduieren zu können, müssen nun noch Kriterien für dieUnterscheidung der Niveaus ausgewiesen (Parameter) und ein System er-dacht werden, nach dem die Graduierung funktioniert (Graduierungs-logik).

a) Die zugrunde liegende formale Graduierungslogik

Wir haben uns entschieden, zunächst rein formal drei Niveaus zu unter-scheiden, ein „basales“, eine „intermediäres“ und ein „elaboriertes“. Zwi-schen diesen liegen vielfach gestaffelte Zwischenniveaus.45 Begrenzt wirddie Skala von zwei realiter nicht aufzufindenden, nur idealtypisch zu defi-nierenden Niveaus: Das „Nullniveau“ ist durch das Fehlen jeglichen An-satzes einer Kompetenz gekennzeichnet, das „Maximalniveau“46 kenn-zeichnet die maximal denkbare, nie in der Realität erreichte Ausprägunghistorischer Kompetenz (vgl. Tabelle).

43 Vgl. dazu auch Pandel, Pisa, 2005, S. 56.44 Vgl. die Überlegungen in Teil I dieses Beitrags; vgl. aber auch Pandel, Quelleninterpre-

tation, 2000, S. 126.45 Beim Erwerb der Kompetenzen (also auch beim schulischen Lernen) sind wahrscheinlich

gerade die Abfolgen verschiedenster Konfigurationen dieser Zwischenniveaus die Indi-katoren für konkrete Lernprozesse.

46 Die Rede vom „Maximalniveau“ ist der unzureichende Versuch, die mathematische Idee„ “ in Worte zu fassen.

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Die Unterscheidung in „basal“, „intermediär“ und „elaboriert“ mit denzugehörigen Intervall-Niveaus ist soweit eine rein formale. Sie sagt nochnichts über das Unterscheidungskriterium zwischen den Niveaus aus, überden Graduierungsparameter.

b) Der allgemeine Graduierungsparameter für die Niveaustufen:„Verfügen über Konventionen“

Wir haben uns entschieden, als Kriterium den Grad und die Form der Ver-fügung über die kulturell geprägten und anerkannten Konventionendes historischen Denkens zu wählen.47 Es geht also um den Konsens fürden Umgang mit Operationen und Strukturen historischen Denkens, diein den Kompetenzbereichen ausgewiesen sind.

Noch einmal sei darauf verwiesen, dass das Kompetenz-Strukturmo-dell und damit auch die Graduierungslogik, sich generell auf historisches

47 Mit der Entscheidung, die Verfügung über und den Umgang mit „Konventionen“ alsGraduierungsparameter zu wählen, gerät das Modell in die Nähe der Theorie derMoralentwicklung von Lawrence Kohlberg. Anders als etwa das Entwicklungsmodelldes historischen Denkens von Dagmar Klose (Klose, Kinder, 2004) werden hier jedochnicht Entwicklungsstufen, sondern Niveauunterschiede definiert. Zur näheren Bestim-mung der Gemeinsamkeiten und Unterschiede vgl. Körber, Grundbegriffe, 2006.

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Formale Logik derNiveaustufenunterschei-dung individuellen (histo-rischen) Denkens

Konkrete Logik der Niveau-Unterschei-dung.Im Historischen: Art der Bezugnahme auf die in bestimmten Feldern der Ge-schichtskultur übliche Umgangsweise mit Geschichte

„Maximalniveau“

„elaboriert“ trans-konventionell

„intermediär“ konventionell

„basal“ a-konventionell

„Nullniveau“

Tab. 1

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Denken beziehen und nicht nur auf die Kompetenzausprägung in demo-kratischen Gesellschaften bzw. in den Sektoren Schule oder Wissenschaft.Im Folgenden werden die Niveaustufen zuerst generell gekennzeichnet.„Konventionen“ werden auf nicht näher bestimmte gesellschaftlicheGruppen bezogen. Im Anschluss an die Darstellung der Graduierungs-logik wird dann eine Spezifizierung für plurale, demokratische Gesell-schaften skizziert. Unser Kulturraum steht dann so im Blick, wie er auchals Horizont für die Kompetenzentwicklung in Schulen verstanden wer-den könnte.

(1) Das basale Niveau der Ausprägung historischer Kompetenz(en) wirdals „a-konventionell“ bezeichnet.Es ist dadurch charakterisiert, dass Kompetenzen nur in Ansätzen ent-wickelt sind und dass über sie nicht in der Systematik gruppenspezi-fischer Konventionen verfügt werden kann. Konzepte, Kategorien,Operationen und Verfahren historischen Denkens sind vorhanden,kommen aber gerade nicht in den gesellschaftlich entwickelten undüblichen Formen zur Anwendung, sondern statt dessen in situativ-eigener, spontan entwickelter und nicht zu Systematiken verbundenerWeise.

(2) Das intermediäre Niveau der Ausprägung historischer Kompe-tenz(en) wird als „konventionell“ bezeichnet.Es ist dadurch gekennzeichnet, dass der historisch Denkende über Ka-tegorien, Konzepte, Operationen und Verfahren in der in der jeweili-gen gesellschaftlichen Gruppe üblichen Weise verfügt, und bereit ist,sich beim eigenen historischen Denken ihrer zu bedienen. Dabei kanner sich an Leitfäden orientieren, an gesellschaftlich als relevant erach-tetem Grundwissen (inhaltlich und methodisch), an für die historischeIdentität bedeutsamen Sinnbildungsmustern, an Prinzipien histori-schen Denkens, die seine Gruppe für relevant erachtet.48

(3) Das elaborierte Niveau historischen Denkens wird als „trans-konven-tionell“ bezeichnet.Es ist dadurch gekennzeichnet, dass Konventionen und ihr Orientie-rungspotential als solche erkannt, thematisiert, reflektiert, eventuellrevidiert und abgewandelt werden können. Der historisch Denkendeverfügt also weiterhin über die konventionellen Konzepte, Kategorienund Operationen. Er ist allerdings dazu in der Lage, sie als Konventio-

48 Das intermediäre Niveau hat in allen Gesellschaften eminente Bedeutung für die Fest-legung dessen, was im Geschichtsunterricht gelernt werden soll.

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nen zu erkennen, ihre Reichweiten und Grenzen einzuschätzen, sieselbstständig zu differenzieren. Beim eigenen historischen Denkenbedient er sich ihrer damit auf eine reflektierte und (selbst-)reflexiveWeise. Er kann Konventionen abwandeln, kritisieren, neue, eigeneKonzepte aufbauen, er kann die in der Gesellschaft getroffenen Verein-barungen aber auch bewusst akzeptieren und nutzen.

(4) ZwischenniveausDiese drei grundlegenden Niveaus stehen selbst für eine Spanne mög-licher Kompetenzausprägungen. Zwischen ihnen befinden sich – wiebereits beschrieben – viele feine Abstufungen.

Zwischen dem „basalen“ und dem „intermediären“ Niveau lie-gen z.B. Niveaus, die von partieller, unsystematischer Verfügungüber konventionelle Konzepte, Kategorien und Verfahrensweisenhistorischen Denkens geprägt sind. Diese Ausprägungen könnendurch ganz verschiedene Entwicklungen zu Stande kommen, etwadurch das bewusste „Suchen“ nach Konventionen, also denWunsch des Lernenden, „wie die Anderen auch“ das im eigenenKulturraum Übliche zu beherrschen. Genauso ist eine ganz ande-re Weise der Annäherung an intermediäre Niveaus möglich, etwadurch die Systematisierung eigenständiger, zunächst noch auf denEinzelfall beschränkter Einsichten zu selbst entwickelten Begrif-fen, Konzepten und Operationen und den anschließenden Ab-gleich mit den „Konventionen“ der Gesellschaft/Kultur. Zwischen dem „intermediären“ und dem „elaborierten“ Niveauliegen Grade von Niveaus, in denen die idealtypischen Konven-tionen „verflüssigt“ und überschritten sind. Ein Zwischenschrittkann sein, die Konventionalität der Begriffe und Konzepte zwar zuerkennen, jedoch noch nicht in der Lage zu sein, sie zu überden-ken. Die Übergänge können in dem Bestreben bestehen, andere,bessere Konzepte an die Stelle der bislang verwendeten zu setzen.Sie können aber auch durch Kritik an Konventionalität überhauptcharakterisiert sein.

Es wurde bewusst darauf verzichtet, die Übergänge mit einer eigenenBezeichnung und Charakterisierung zu versehen.49 Mit der weiterenformalen Ausdifferenzierung würde man nicht nur Gefahr laufen,

49 Den Übergang zwischen der basalen und der intermediären Niveaustufe könnte manz.B. als „Niveaus partieller und unvollständiger Konventionalität“ bezeichnen oder als„proto-konventionell“, als „Konventions-Suche“. Den Übergang hin zur elaboriertenNiveaustufe als „Niveaus partieller Konventionsreflexion“.

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dem Graduierungsmodell seine Griffigkeit zu nehmen. Es bestündezudem das Risiko, die Vielfalt der für einzelne Kompetenzen denkba-ren Graduierungen einzuengen. – Gerade die Intervalle zwischen denNiveaus sind aber vermutlich als Übergangszonen für die Analyse vonKompetenzerwerbsprozessen und für Überlegungen zur Kompetenz-förderung von besonderer Bedeutung.

c) Präzisierungen der Graduierungslogik

Diese Graduierungslogik bedarf noch einiger Erläuterungen. Zunächst isthervorzuheben, dass die Überzeugung zugrunde liegt, dass historischDenkende auf allen Stufen, bezogen auf alle Kompetenzbereiche überKompetenzen des historischen Denkens verfügen können – nur eben auf je-weils unterschiedlichem Niveau, d.h. in qualitativ unterschiedlicher Form.Auch der „basal“ historisch Denkende ist demnach in der Lage, z.B. Pro-zesse der zeitlichen Orientierung zu vollziehen – wenn auch in einer Form,die verglichen mit den Konventionen als rudimentär erscheint. Er kann fürsich selbst einen Begriff von Unterschieden in zeitlicher Hinsicht machen,kann Fragen an Vergangenes stellen, kann auch Schlussfolgerungen fürseine Gegenwart daraus ziehen. Er kann es auf diesem Niveau jedoch nurin einer Art und Weise tun, die gerade keinen Gebrauch von allgemein an-erkannten Begriffen und Konzepten macht, die nicht auf die den anderenMitgliedern der Gesellschaft ebenfalls bekannten Unterscheidungen zu-rückgreift.

Sodann ist darauf hinzuweisen, dass schon die Charakteristik der for-malen Graduierungslogik notwendigerweise „idealtypisch“ erfolgt. Da-mit sind nicht nur Definitionen wie die voran stehenden gemeint, sondernauch die Unterscheidung von Merkmalen und Indikatoren für die jeweili-gen Niveaus oder das Bestimmen von Operatoren, die als Grundlage derDiagnose/Überprüfung herangezogen werden. In der nachfolgenden Ta-belle 2 ist idealtypisch zusammengestellt, wie die Niveaustufen beschrie-ben, erkannt, überprüft werden können.

Die Funktion von Graduierungsparametern ist bereits dargestellt worden:Sie benennen Kriterien für die Unterscheidung der Niveaus. Es müssenunterschiedliche Parameter ausgewiesen werden, die die Differenzierungzwischen den Niveaustufen ermöglichen. Solche Parameter sind z.B.Abstraktion, Erfahrungsnähe, Komplexität, Reflexivität, Selbständigkeit.Es ist sofort einsichtig, dass diese Parameter nicht nur für die Graduierungder Kompetenzen des historischen Denkens herangezogen werden kön-nen, sondern auch für andere Bereiche. Ihre Relevanz für die Graduierung

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Formale Logikder Niveaustu-fenunterschei-dung individuel-len (historischen)Denkens

Konkrete Logik derNiveau-Unterschei-dung. Im Historischen: Artder Bezugnahme aufdie in bestimmtenFeldern der Ge-schichtskultur übli-che Umgangsweisemit Geschichte

Charakteristikdes Umgangsmit Konventio-nen auf der jeweiligen Ni-veaustufe

Indikatoren, dieauf die Niveau-stufen verwei-sen

Formen der Über-prüfung

„Maximalniveau“

„elaboriert“ trans-konventionell Konventionenwerden als sol-che themati-siert, beurteiltund ggf. über-schritten

Eigenständig-keit der Argu-mentation,Plausibilität derBegründung,Einnahme einerMetaebene

nicht mit standar-disierten Erwar-tungshorizontenprüfbar; es müssenKriterien gefundenwerden, um dieneuen, anderen, ei-genständigen Denk-weisen zu erfassen

„intermediär“ konventionell die in der eige-nen Gruppeausgehandel-ten Konven-tionen werdengekannt und instandardisier-ter Form ge-nutzt

Kategorien,Prinzipien, Ver-fahrensweisekönnen in ide-altypischer Aus-prägung wie-dergegebenund angewandtwerden (dabeiwerden evtl.„Leitfäden“ be-achtet)

teilweise mit stan-dardisierten Auf-gaben und Erwar-tungshorizontenkonventionellerForm zu überprü-fen; geeigneteOperatoren müssenz.T. erst gefundenwerden

„basal“ a-konventionell keine Kenntnisvon Konventio-nen und Stan-dardisierungen

spontanes,nicht-systemati-siertes, nichtauf Konventio-nen zurückgrei-fendes histori-sches Denken

standardisierteAufgabenstellungensind ungeeignet;Operatoren für a-konventionellesDenken müssenerst gefunden wer-den

„Nullniveau“

Tab. 2: Merkmale zur Erfassung der Niveaustufen

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auch der historischen Kompetenzen steht aber außer Frage. Die nachfol-gende Tabelle 3 gibt – wiederum idealtypisch verstandene – Hinweise aufdie Ausdifferenzierung der einzelnen Niveaustufen mit Hilfe ausgewähl-ter Graduierungsparameter.

d) Zur spezifischen Ausfüllung der formalen Graduierungslogik:historisches Denken in pluralen demokratischen Gesellschaften

Im Folgenden werden plurale, demokratische Gesellschaften als Bezugs-punkte für die reale Ausfüllung der formalen Graduierungslogik gewählt.Die Konvention, die hier idealtypisch als die von Geschichtswissenschaftund Öffentlichkeit vereinbarte angesehen wird, ist der „reflektierte und(selbst-)reflexive Umgang mit Geschichte“. Diese Konvention wird auf diebasale, intermediäre und elaborierte Niveaustufe bezogen. Die Ausfüllungder formalen Graduierungslogik für plurale, demokratische Gesellschaf-ten ist auch deshalb von Bedeutung, weil sie einen Rahmen für die aufSchule bezogenen Kompetenz-Entwicklungs- und -Förderungsmodelledarstellt. – Im „Kompetenzenband“ Körber/Schreiber, Kompetenzen histo-rischen Denkens. Ein Strukturmodell und Beiträge zur Entwicklung vonBildungsstandards. werden konkrete Graduierungsbeispiele vorgelegt.

elaboriert/trans-konventionell:Der reflektierte und (selbst-)reflexive Umgang mit Vergangenheit/Ge-schichte ist die prinzipiell verfügbare Weise des historischen Denkens. DieKonventionalität auch des reflektierten und (selbst-)reflexiven Umgangsist dabei bewusst. Die Verflüssigung, Überprüfung, Erweiterung, auch Er-setzung einzelner inhalts-, methoden-, theoriebezogener Konventionen istmöglich, ebenso das Erdenken eines völlig neuartigen Modells für denUmgang mit Vergangenem/Geschichte.

intermediär/konventionell:Die in pluralen, demokratischen Gesellschaften von Geschichtswissen-schaft und Öffentlichkeit als relevant anerkannten Konventionen für denUmgang mit Vergangenem/Geschichte sind in Grundzügen bekannt undkönnen, z.T. unterstützt durch Leitfäden, angewendet werden. Sie bestehen in einem in elementarer Weise an die Konventionen der Ge-schichtswissenschaft gebundenen, methodisierten Umgang. Dabei wer-den Prinzipien historischen Denkens und die durch sie gesetzten Grenzenanerkannt. Die dadurch erworbenen Wissensbestände werden als Kon-strukte unterschiedlicher Triftigkeit und Plausibilität eingeschätzt, die kul-tur-, subjekt- und gegenwartsgebunden sind.

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Tab. 3: Niveaustufen-Unterscheidung (nicht nur) für historische Kompetenzen mit Hilfe aus-gewählter Graduierungsparameter (Entwurf: Bodo von Borries; Wolfgang Hasberg; AndreasKörber; Waltraud Schreiber; Jan Bauer).

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basal/a-konventionell:Es erfolgt ein situativ-spontaner Umgang mit Geschichte, der sich nichtauf die Konventionen rückbezieht, die für Reflektiertheit und (Selbst-)Re-flexivität stehen. Dies schließt keineswegs aus, dass auch die nicht-stan-dardisierten Formen Ausdruck von Reflexivität und Reflektiertheit sind.

2. GRUNDSÄTZE FÜR AUF DIESER GRADUIERUNGSLOGIK AUFBAUENDEENTWICKLUNGSLOGIKEN

Es ist nicht Aufgabe dieser Broschüre, bereits konkrete Entwicklungslogi-ken oder Kompetenz-Förderungsmodelle vorzulegen, zumal zu bedenkenist, dass auf der Basis des hier vorgelegten Kompetenz-Strukturmodellsdurchaus mehrere unterschiedliche Entwicklungskonzepte möglich wä-ren. Dennoch sind einige Punkte deutlich herauszustellen, die für alle Ent-wicklungsmodelle, die diese Niveau-Unterscheidung zugrunde legen,Geltung haben sollten. Dies gilt vor allem für die Überlegungen zu Bil-dungsstandards in pluralen, demokratischen Gesellschaften.

Denkt man an Bildungsstandards, so ist zunächst auf ein mögliches Miss-verständnis hinzuweisen: Die durch Bildungsstandards beschriebenenKompetenzniveaus sind als Minimalkriterien im Sinne der Outcome-Orientie-rung zu verstehen, nicht als Input-Vorgaben.

Das bedeutet konkret: Aus der Charakteristik des intermediärenNiveaus als Verfügung über konventionelle Formen historischen Denkensund des elaborierten Niveaus als der Verfügung über diese Konventionen,plus der Fähigkeit ihrer Reflexion und Infragestellung darf nicht gefolgertwerden, Unterricht hätte zunächst ausschließlich die Konventionen zu ver-mitteln, bevor ab einer bestimmten Stufe die Infragestellung und das eigen-ständige Denken „dran“ seien. Das Gegenteil ist der Fall: Wenn das inter-mediäre Niveau die Verfügung über Konventionen erfordert, dann ist damitnicht nur die affirmative Verfügung gemeint. Daraus aber ergibt sich, dassauch die Vermittlung der Konventionen immer bereits mit dem „Stachelder Kritik” und der Relativierung erfolgen darf, ja muss, um den Bruchzwischen Konventionsaufbau und -relativierung gar nicht erst entstehenzu lassen. „Geschichte denken statt pauken“50 ist eine Leitlinie für Ge-schichtsunterricht ab der ersten Jahrgangsstufe, die dies zum Ausdruck

50 Vgl. hierzu den unter diesem Titel von Sylvia Mebus und Waltraud Schreiber herausge-gebenen Band: Mebus/Schreiber, Geschichte, 2005; Für den Anfangsunterricht vgl. auchSchreiber, Begegnungen 22004.

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bringt. Das Verfügen-Lernen über Konventionen kann und soll von Anfangan den Werkzeugcharakter von Konventionen betonen, und damit auf Re-lativierung und Erweiterung angelegt sein.

Das hat für Unterricht ganz eminente Konsequenzen: Die Lernendensollen also von Anfang an darin gefördert werden, die Konventionen alsKonventionen, mit ihren je spezifischen Stärken und Schwächen, Reich-weiten und Grenzen zu erwerben. Es wäre ein groteskes Missverständnis,aus diesem Modell zu folgern, dass kritische und relativierende Zugriffezunächst zugunsten einer unkritischen Form des Denkens zurück zu stel-len seien. Wohl aber dürfen Lernende, die die kritischen Zugriffe aufStrukturen und Operationen nicht oder nicht von Anfang an mit aufbau-en, nicht schon deshalb als inkompetent abgestempelt werden. Wenn siedie Konventionen kennen, mit denen die Gesellschaft sich Geschichteerschließt und über sie kommuniziert, dann sind sie zumindest in derLage, daran teilzuhaben – wenn auch in unkritischer Form. Sie verfügendann über das intermediäre Niveau, auch wenn dies vom Standpunkteiner auf Reflexionsförderung zielenden Didaktik noch immer als unbe-friedigend erscheinen mag und diese die Förderung hin zu elaborierterenUmgangsweisen als Ziel setzt.

Bei der Auseinandersetzung mit Bildungsstandards muss also immer imAuge behalten werden, dass die Kompetenzniveaus Mindestanforderungensind, nicht aber umfassende oder abschließende Beschreibungen der zu er-reichenden Zustände historischen Denkens. Eine frühzeitige Förderungauch kritisch-reflexiver Formen, ja der gleichzeitige Aufbau der Einsichtenin die Begrenztheit der Konzepte, in Partikularität und Perspektivität, inden Konventionscharakter ist nicht nur wünschenswert, sondern er-wünscht: Die Kompetenzentwicklung darf nicht in logisch völlig unter-schiedliche Phasen zerfallen.

Wenn in einem nächsten Forschungsvorhaben die Überlegungen zurKompetenzentwicklung systematisiert werden sollen, wird es u.a. darumgehen, für die unterschiedlichen Niveaus auch jeweilige Möglichkeitenkritischer Reflexion mit zu bedenken. Bei der Entwicklung von Konzeptenist eine enge Vernetzung mit konkreter Unterrichtspraxis unerlässlich, so-wohl wenn Ausprägungen von Kompetenzen auf unterschiedlichen Ni-veaus bestimmt werden sollen als auch wenn es um Formen der Relati-vierung und kritischen Wendung geht. – Mit der Aufgabe, hierfür geeig-nete Indikatoren zu bestimmen, steht die empirische Unterrichtsforschungvor neuen Herausforderungen.

Vermutlich ist die mit dem Aufbau von Konventionen einhergehendeRelativierung geradezu ausschlaggebend, wenn das Ziel der Kompetenz-

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entwicklung der reflektierte und (selbst-)reflexive Umgang mit Vergange-nem/Geschichte ist.51

Die mittleren Stufen der Kompetenzentwicklung müssen dann sowohldie Verfügung über die Konventionen vorsehen als auch ein bestimmtesAusmaß an Relativierung.

Wenn ein so definiertes intermediäres Niveau, etwa durch die Bil-dungsstandards für den mittleren Schulabschluss, als Mindestanforde-rung für Schüler der 10. Klasse gesetzt wird, hat das wiederum Konse-quenzen für die Formulierung von Aufgaben. Dies gilt gleichermaßen fürAufgaben, mit deren Hilfe die Kompetenzen erworben werden sollen, wiefür solche, die der Überprüfung der Kompetenzniveaus von ganzenKlassen dienen, sowie für Aufgaben, die die Individualdiagnostik zum Zielhaben.

Über geschlossene Aufgaben kann lediglich abgeprüft werden, ob je-mand über ganz bestimmte Konventionen verfügt: Im Umfeld der Begriffs-kompetenz könnte z.B. durch multiple-choice-Fragen erhoben werden, obSchüler dazu in der Lage sind, ein bestimmtes Konzept und den dazu gehö-rigen Terminus „zusammenzubringen“. Damit sind Aussagen bezogen aufeinen bestimmten Aspekt und bestimmte Komponenten der Begriffskom-petenz möglich.

Wenn es aber nicht nur um das Verfügen über einzelne Konventionengeht, sondern auch um erste Einsichten in deren Prinzip und Funktion,dann gilt es, Aufgaben zu formulieren, die nicht nur entweder zu erfüllensind oder nicht. Aufgaben, die historisches Denken verlangen, können viel-mehr auf verschiedene Art und Weise erfüllt werden, wobei die Art derAufgabenerfüllung auf das jeweilige Kompetenzniveau hinweist. Indemgeeignete Indikatoren entwickelt werden, ist durch die Analyse der Ant-worten das Niveau der Kompetenzentwicklung zu bestimmen.

51 Ob es gelingen wird, ausgehend von konkreten Kompetenzen generalisierende Kompe-tenz-Entwicklungsmodelle bzw. -Förderungsmodelle zu erarbeiten, wird sich zeigen.

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Zur Terminologie:

Glossar und Grafiken

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I. BASISGRAFIKEN

SECHSER-MATRIX: HISTORISCHES DENKEN IDEALTYPISCH

Die Basisoperationen des historischen Denkens (Re- und De-Konstruk-tion) und die Fokussierungen, die der historisch Denkende einnehmenkann, werden systematisch aufeinander bezogen. In den Fokussierungenkommt ein narrativistisches Verständnis von Geschichte zum Ausdruck:Notwendig retrospektiv, notwendig perspektivisch gebunden und ausunterschiedlichen Motivationen schafft bzw. analysiert der sich mitVergangenem Beschäftigende historische Narrationen. A priori sind dieseNarrationen Konstruktionen, die Vergangenes weder abbilden könnennoch wollen. In der Fokussierung auf Geschichte wird dies dezidiert inden Blick genommen. – In der Sechser-Matrix werden die Operationenhistorischen Denkens, bezogen auf die unterschiedlichen Fokussierungen,idealtypisch beschrieben.

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ZU R TE R M I N O L O G I E: GL O S S A R U N D GR A F I K E N 53

Schreiber, Waltraud/Mebus, Sylvia (Hgg.): Durchblicken. Dekonstruktion von Schulbüchern,Eichstätt 2005, S. 16.

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DAS PROZESSMODELL DES HISTORISCHEN DENKENS/DER HISTORISCHENORIENTIERUNG

In diesem Modell wird das in der Sechser-Matrix visualisierte historischeDenken in ein Prozessmodell gebracht. Dabei wird auf die „disziplinäreMatrix“ zurückgegriffen, in der Jörn Rüsen 1983 die Prinzipien und Ope-rationen historischen Denkens in einen systematischen Zusammenhangbrachte, der Lebenswelt und Geschichtswissenschaft unauflöslich ver-knüpft. Die Weiterführung durch Hasberg/Körber erklärt, inwiefern Pro-zesse des historischen Denkens aufgrund ihrer Orientierungsfunktionnicht nur in einem eigenständigen Neu- und Um-Erzählen von Geschichtebestehen, sondern gleichermaßen und konstitutiv den analytischen Um-gang mit vorliegenden Narrationen einschließen.

(Vgl. Hasberg, Wolfgang/Körber, Andreas: Geschichtsbewusstsein dyna-misch, in: Körber, Andreas (Hg.): Geschichte – Leben – Lernen. Bodo vonBorries zum 60. Geburtstag, Schwalbach/Ts. 2003, S. 189, im Anschluss anRüsen, Jörn: Historische Vernunft: Grundzüge einer Historik I: Die Grund-lagen der Geschichtswissenschaft, Göttingen 1983, S. 29).

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ZU R TE R M I N O L O G I E: GL O S S A R U N D GR A F I K E N 55

Geschichtsbewusstsein dynamisch. Das Prozessmodell historischen Denkens/historischerOrientierung; nach Hasberg/Körber, Geschichtsbewusstsein dynamisch, 2003, S. 187.

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II. KOMPETENZEN

GLOBALE KOMPETENZ: Die globale Kompetenz im Umgang mit Vergange-nem/Geschichte betrifft die Domäne als Ganze. Folgerichtig wird sie als„Kompetenz historischen Denkens“ bezeichnet.

KOMPETENZBEREICHE:

Kompetenzbereiche umfassen Gruppen verwandter Kompetenzen, diesich aus der Systematik des historischen Denkens ergeben: historische Fra-gekompetenz(en), historische Methodenkompetenz(en), historische Ori-entierungskompetenz(en), historische Sachkompetenz(en).

Systematisierung der Kompetenzbereiche: Die drei Kompetenzberei-che „historische Fragekompetenz(en)“, „historische Methodenkompe-tenz(en)“, „historische Orientierungskompetenz(en)“ sind diejenigen Kom-petenzbereiche, die sich unmittelbar aus dem Prozessmodell historischenDenkens ableiten lassen. Sie werden durch „Operationen“ systematisiert,die für den Ablauf historischen Denkens stehen.

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Im Kompetenzbereich historische Sachkompetenz(en) schlagen sich derAufbau historischen Denkens, seine Voraussetzungen und Ergebnisse nie-der. Sie werden systematisiert durch Strukturen, nämlich Prinzipien histo-rischen Denkens, subjektbezogene Konzepte, inhaltsbezogene Kategorien(= genuin historische Kategorien bzw. fachspezifisch gewendete allgemei-ne Kategorien), methodische Verfahrensscripts.

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KERNKOMPETENZEN:

Kernkompetenzen strukturieren den jeweiligen Kompetenzbereich, sindsystematisch abgeleitet, und deshalb eindeutig zuordnungsfähig:

(1) historische Fragekompetenz(en): a. Kompetenz, historische Fragen zu stellen, um auf „Verunsicherun-

gen“/Interesse zu reagierenb. Kompetenz, historische Fragestellungen Anderer zu erschließen

und mit „Verunsicherungen“/Interesse in Zusammenhang zu brin-gen

(2) historische Methodenkompetenz(en):a. Kompetenz, Vergangenes zu re-konstruierenb. Kompetenz, historische Narrationen zu de-konstruieren

(3) historische Orientierungskompetenz(en):a. Kompetenz, das Geschichtsbewusstsein zu reorganisieren (menta-

le Disposition)b. Kompetenz, das eigene historische Welt- und Fremdverständnis

zu reflektieren und zu erweitern (Alterität)c. Kompetenz, das eigene historische Selbstverständnis zu reflektie-

ren und zu erweitern (Identität)d. Kompetenz, historisch fundierte Dispositionen gegenwärtiger und

zukünftiger Handlungen zu reflektieren und zu erweitern (Praxis)

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(4) historische Sachkompetenz(en):a. Kompetenz, über Begriffskonzepte/Termini zu verfügen (Begriffs-

kompetenz)b. Kompetenz, über Prinzipien/Konzepte/Kategorien/Scripts zur

Strukturierung der Domäne zu verfügen (Strukturierungskompe-tenz).

EINZELKOMPETENZEN:

Einzelkompetenzen sind Fähigkeiten, Fertigkeiten und Bereitschaftenzum Vollzug ausgewählter Prozesse des historischen Denkens bzw. zumVerfügen über ausgewählte Strukturen historischen Denkens. – Einzel-kompetenzen können entweder den Kernkompetenzen eindeutig zuge-ordnet sein oder für mehrere Kernkompetenzen eine Rolle spielen. Siekönnen entweder deduktiv aus Kompetenzbereichen und Kernkompe-

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tenzen bzw. Überlappungsbereichen gewonnen werden oder induktivausgehend von konkreten Vollzügen historischen Denkens.

Auch die induktiv gewonnenen Einzelkompetenzen können zu denKompetenzbereichen und deren Kernkompetenzen in Beziehung gesetztwerden, wobei es sich in der Regel nicht um Beziehung auf nur eine einzi-ge Kernkompetenz bzw. einen einzigen Kompetenzbereich handeln wird.Je geringer das Abstraktionsniveau der Einzelkompetenzen ist, desto un-bestimmter ist die Zuordnungsfähigkeit zu Kompetenzbereichen bzw.Kernkompetenzen.

KOMPONENTEN VON KOMPETENZEN:

Komponenten von Kompetenzen sind deren deklarative, konzeptuelle,prozedurale und volitionale Bestandteile; sie spiegeln sich in der Defini-tion von Kompetenzen als Fähigkeiten, Fertigkeiten und Bereitschaftenwider.

III. GRADUIERUNG

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GRADUIERUNG: Systematische Unterscheidung von Niveaus innerhalb his-torischer Kompetenzbereiche, Kernkompetenzen, Einzelkompetenzen.

Graduierungsparameter sind Kriterien für die Unterscheidung der Ni-veaus.

Graduierungslogik: Denksystem, das Parameter zur Graduierung liefert.

ENTWICKLUNGSLOGIK: Denksystem, das Entwicklungsprozesse bei der Kompetenzentwicklungin Sequenzen beschreibt und Faktoren und Bedingungen für (progressivewie regressive) Übergänge von einem Niveau zu anderen benennt.

FORMALE NIVEAUSTUFEN DES GRADUIERUNGSMODELLS:

Idealtypisches Nullniveau: Idealtypische Kennzeichnung für das Fehlenjeglichen Ansatzes einer Kompetenz.

a-konventionell: Charakteristik des basalen Niveaus der Ausprägunghistorischer Kompetenzen: Verfügung über die Kompetenzen nur in An-sätzen, nicht aber in einer Systematik gruppenspezifischer Konventionen.

konventionell: Charakteristik des intermediären Niveaus historischerKompetenzen: Verfügung über die Kompetenzen in einer in der jeweiligengesellschaftlichen Gruppe üblichen Systematik (konventionelle Prinzipi-en/Konzepte/Kategorien/Scripts).

trans-konventionell: Charakteristik des elaborierten Niveaus histori-scher Kompetenzen: Verfügung über die Kompetenzen in einer Art undWeise, dass Konventionen und ihr Orientierungspotential als solcheerkannt, thematisiert, reflektiert, eventuell revidiert und abgewandeltwerden können (reflektiert und (selbst-)reflexiv).

Idealtypisches Maximalniveau: Idealtypische Kennzeichnung für diemaximale Ausprägung historischer Kompetenz.

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ZUR SPEZIFISCHEN AUSFÜLLUNG DER FORMALEN GRADUIERUNGSLOGIK:HISTORISCHES DENKEN IN PLURALEN DEMOKRATISCHEN GESELLSCHAFTEN

Die Konvention, die hier idealtypisch als die von Geschichtswissenschaftund Öffentlichkeit vereinbarte angesehen wird, ist der „reflektierte und(selbst-)reflexive Umgang mit Geschichte“.

elaboriert/transkonventionell:Der reflektierte und (selbst-)reflexive Umgang mit Vergangenheit/Ge-schichte ist die prinzipiell verfügbare Weise des historischen Denkens. DieKonventionalität auch des reflektierten und (selbst-)reflexiven Umgangsist dabei bewusst. Die Verflüssigung, Überprüfung, Erweiterung, auch Er-setzung einzelner inhalts-, methoden-, theoriebezogener Konventionen istmöglich, ebenso das Erdenken eines völlig neuartigen Modells für denUmgang mit Vergangenem/Geschichte.

intermediär/konventionell:Die in pluralen, demokratischen Gesellschaften von Geschichtswissen-schaft und Öffentlichkeit als relevant anerkannten Konventionen für denUmgang mit Vergangem/Geschichte sind in Grundzügen bekannt undkönnen, z.T. unterstützt durch Leitfäden, angewendet werden. Sie bestehen in einem in elementarer Weise an die Konventionen derGeschichtswissenschaft gebundenen, methodisierten Umgang. Dabei wer-den Prinzipien historischen Denkens und die durch sie gesetzten Grenzenanerkannt. Die dadurch erworbenen Wissensbestände werden als Kon-strukte unterschiedlicher Triftigkeit und Plausibilität eingeschätzt, die kul-tur-, subjekt- und gegenwartsgebunden sind.

basal/a-konventionell:Es erfolgt ein situativ-spontaner Umgang mit Geschichte, der sich nichtauf die Konventionen rückbezieht, die für Reflektiertheit und (Selbst-)Re-flexivität stehen. Dies schließt keineswegs aus, dass auch die nicht-stan-dardisierten Formen Ausdruck von Reflexivität und Reflektiertheit sind.

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Niveaustufen-Unterscheidung (nicht nur) für historische Kompetenzen mit Hilfe ausgewähl-ter Graduierungsparameter (Entwurf: Bodo von Borries; Wolfgang Hasberg; Andreas Körber;Waltraud Schreiber; Jan Bauer).

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Autorenverzeichnis

PROF. DR. BODO VON BORRIES: Universitäts-Professor für Erziehungswissen-schaft unter besonderer Berücksichtigung der Didaktik der Geschichte an derUniversität Hamburg, Mitglied der Projektleitung von „FUER Geschichts-bewusstsein“.

PROF. DR. ANDREAS KÖRBER: Universitäts-Professor für Erziehungswissenschaftunter besonderer Berücksichtigung der Didaktik der Geschichte und derPolitik an der Universität Hamburg, Mitglied der Projektleitung von „FUERGeschichtsbewusstsein“.

PROF. DR. REINHARD KRAMMER: Universitätsprofessor, Fachbereich Geschichts-und Politikwissenschaft der Universität Salzburg, Fachdidaktik Geschichte.Mitglied der Projektleitung von „FUER Geschichtsbewusstsein“.

PD DR. SYLVIA MEBUS: Fachleiterin für Gesellschaftswissenschaften und Lehre-rin für Geschichte, Privatdozentin für Didaktik der Geschichte an der Techni-schen Universität Dresden, Koordinatorin des Forschungsprojekts „FUERGeschichtsbewusstsein“ (Sachsen), Mitglied der Projektleitung von „FUER Ge-schichtsbewusstsein“.

SIBYLLA LEUTNER-RAMME: Leiterin des Audio-visuellen Zentrums, einer Abtei-lung des Medienbildungszentrums am Fachbereich Erziehungswissenschaftder Universität Hamburg. Mitglied der Projektleitung von „FUER Geschichts-bewusstsein“.

ALEXANDER SCHÖNER, M.A.: Wissenschaftlicher Projektmitarbeiter an der Profes-sur für Theorie und Didaktik der Geschichte an der Katholischen UniversitätEichstätt-Ingolstadt (Teilprojekt Schulbuchanalyse).

PROF. DR. WALTRAUD SCHREIBER: Universitäts-Professorin für Theorie und Di-daktik der Geschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt.Gesamtkoordinatorin des Projektes „FUER Geschichtsbewusstsein“.

PD DR. BÉATRICE ZIEGLER: Leiterin Forschungsschwerpunkt Individuum undGesellschaft, Zentrum Politische Bildung, im Institut Wissen und Vermittlungan der Pädagogischen Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz(FHNW).


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